Die Kastelruther Tracht

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Der Kunsthistoriker Christoph Gasser aus Seis am Schlern gilt als fundieter Kenner des Trachtenwesens.

Die Kastelruther Tracht In Kastelruth hat sich durch ein stark ausgeprägtes Traditions­ bewusstsein ein ebenso starker Gemeinsinn für die Tracht gebildet. Der Kulturhistoriker Christoph Gasser ist überzeugt, dass auch kommende Generationen die Tracht lebendig halten werden.

D Der Heimatpflegeverein Schlern gibt eine umfassende Dokumentation der Kastelruther Frauenund Männertrachten heraus. Autor des detaillierten zweibändigen Nachschlagewerkes „Tracht in Kastelruth - Ursprünge, Entwicklung und Vielfalt“ (bisher nur in deutscher Sprache erschienen) ist Christoph Gasser, studierter Kulturhistoriker, ausgebildeter Archivar und Direktor des Stadtmuseums Klausen. Gasser, der in Seis am Schlern aufgewachsen ist und dort wohnt, gilt als fundierter Kenner der Tracht im Schlerngebiet. „Als langjähriges Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Lebendige Tracht im Heimatpflegeverband Südtirol konnte Christoph Gasser sein großes Fachwissen in dieses Trachtenbuch einfließen lassen“, unterstreicht die Obfrau des Heimatpflegevereins Schlern Christine Rabanser Rier die Fachkompetenz des Autors. ALPE spricht mit dem Kulturhistoriker über den Ursprung, die Entwicklung und die Zukunft der Kastelruther Tracht.

ALPE: Dr. Gasser, die zwei Bände des Werkes sind reich bebildert und beschreiben sehr detailliert die verschiedensten Ausprägungen der Kastelruther Tracht. Zu welchem Zweck? Christoph Gasser: Ich wurde vom Heimatpflegeverein Schlern beauftragt, eine umfassende Dokumentation der bis zur jetzigen Zeit gebräuchlichen heimischen Trachten zu verfassen. Bisher haben die traditionellen Überlieferungsformen von Generation zu Generation genügt, dass die Tracht zum normalen Alltagsverständnis zählte. Dieses Buch soll eine Hilfe sein, auch in Zukunft die Kastelruther Tracht lebendig zu erhalten. Was unterscheidet die Kastelruther Tracht von anderen Trachten? Das Besondere an der Kastelruther Tracht besteht darin, dass sie lebendig geblieben ist und durch ihre Vielfalt und Bedeutung beeindruckt. Einzigartig ist der

historische Entwicklungsprozess, weil nicht wie andernorts Vorläuferformen durch nachfolgende Trachten verdrängt bzw. ersetzt wurden, sondern bis auf wenige Ausnahmen bis heute erhalten geblieben sind und zu besonderen Anlässen wie etwa bei Prozessionen und hohen Feiertagen noch getragen werden. Was unterscheidet eine Tracht von anderen ländlichen Bekleidungsformen? Tracht ist Kleidung mit traditionellen Wurzeln und regionaler Ausprägung. Alle Trachten sind

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Interview: Rosa Maria Erlacher Fotos: Helmuth Rier

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Mit ihrem stark ausgeprägten Traditionsbewusstsein erhalten die Kastelruther ihr altes Brauchtum am Leben. Bei der „Kastelruther Baunerhochzeit“ (Bild unten) lassen sich die Trachten bestaunen.

das Ergebnis langwieriger Entwicklungen. Die Ursprünge der Kastelruther Tracht gehen auf das 17. Jahrhundert zurück, wo eigene Standesbekleidungen etwa bei Bruderschaften oder Schützengilden Einzug hielten. Im 18. Jahrhundert, bedingt durch zunehmenden Wohlstand, erfasste die Ausprägung

Ein zweibändiges Nachschlagewerk dokumentiert die Entstehung und Entwicklung der Kastelruther Tracht.

Es gibt aber auch Kastelruther Trachten, die neueren Ursprungs sind? Ab den 1830er Jahren kamen die Langbäurischen, die „Lodenen“, für die Männer und die Tücheltrachten in verschiedenen Kombi-

Neue Trachtenelemente des 19. Jahrhunderts sind unter anderen der lange Hochzeitsmantel des Bräutigams und die „Schmelmbn“ (getrockneten Grannen eines Federgrass). Noch im 20. Jahrhundert kam es zu einer Ausprägung einer eigenen Werktagstracht für Frauen. In der Kastelruther Tracht gibt es so viele unterschiedliche Stilelelemente. Wie kam es zu dieser Differenzierung? Es gibt kirchliche und weltliche Anlässe, die entsprechend würdig gefeiert werden wollen. Prozessionen, Hochzeiten, Tauf- und Erstkommunionfeiern, Begräbnisse erfordern festliche Bekleidungen. In der Trachtenentwicklung war es auch wichtig zu zeigen, ob man ledig oder verheiratet war und welche Rolle man in den Festtagsakten einnahm. Die Musikkapellen und Schützen haben ihre eigenen Trachten entwickelt. Für den Alltag hingegen kamen eher praktische Überlegungen zum Zuge, einfachere Stoffe und bequemere Tragformen.

bestimmter Bekleidungsstile immer breitere Bevölkerungsschichten. Die Tracht wurde zum Alltags- bzw. Festtagsgewand der ländlichen, nicht adeligen, Bevölkerung. Und ab welchem Zeitpunkt tritt die Kastelruther Tracht in Erscheinung? Aus Dokumenten wissen wir, dass 1822 zum Anlass eines Besuches des österreichischen Kaisers und des russischen Zaren in Bozen die „Standesschützen und Musikbande“ von Kastelruth sowie ein Kastelruther Hochzeitszug mit 13 Personen zum Empfang erschienen. Kurz später, 1824, wurde Erzherzog Franz Karl ein

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Kastelruther Hochzeitszug in Bozen „vorgestellt“.

nationen für die Frauen zu den historischen Trachten dazu. Vorher musste sich die bäuerliche Bevölkerung mit den Materialien begnügen, die sie selbst herstellte, etwa Rupfen, Leinen und Loden. Später konnte sich auch die Landbevölkerung teure Stoffe wie Seide und Brokat leisten, die bisher ausschließlich den reichen Ständen vorbehalten waren. Die Kastelruther Tracht ist also eine sehr lebendige Tracht… Das macht auch die besondere Dynamik für unser Trachtengebiet aus, die immer wieder innovative Einflüsse zulässt, weil die Tracht als lebendiges Kulturgut zum Allgemeinverständnis zählt.

Wie sehen Sie die Zukunft der Kastelruther Tracht? Mir scheint, dass sich gerade in Kastelruth durch ein stark ausgeprägtes Traditionsbewusstsein ein ebenso starker Gemeinsinn für die Tracht gebildet hat, dass auch kommende Generationen die Tracht lebendig halten. In nächster Zeit wird in Kastelruth ein Trachtenmuseum eingerichtet, dazu eine Trachtenwerkstatt, wo Trachten neu gefertigt und alte Trachten sachgemäß gepflegt werden können. Die Kastelruther Bäuerinnen veranstalten regelmäßig Informationsveranstaltungen zur Pflege und zum richtigen Anziehen der Trachten, die sehr gut besucht sind. «


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