Drei Schüler der „Zwergschule“ von St. Oswald verbringen die Pause im Freien.
Schule als Idyll An der Grundschule von St. Oswald ticken die Uhren anders. An einer der letzten Zwergschulen des Landes sind fünf Klassen in Wirklichkeit eine. Daraus ergibt sich ein unwirklich harmonisch anmutender Mix aus ländlichem Idyll und reformpädagogischen Methoden.
I „Ist das hier wirklich die Grundschule?“, frage ich mich, als ich das gepflegte kleine Gebäude gegenüber der Feuerwehrhalle betrete. Bunte Papierbilder schmücken die Fenster, es wirkt still und friedlich, wie alles hier im kleinen Kastelruther Weiler St. Oswald. Die Türen im Untergeschoss sind weit geöffnet. Im großen Klassenzimmer machen vier Kinder Leseübungen. Sie sind konzentriert, nehmen freundlich, beiläufig Notiz vom angekündigten Besuch. In der kleinen Bibliothek sitzt ein Mädchen mit Zöpfen und liest. Ponys zieren den Buchumschlag. Im oberen Stock rätseln zwei kleine Jungen an ihren Italienischaufgaben. Zwei ältere Kinder spielen eine Gesprächssituation nach. Ein Mädchen sei krank zuhause geblieben, erzählt eine junge Lehrerin. Und das waren sie dann auch schon, die Volksschüler von St. Oswald. Es sind tatsächlich nur zehn. Damit ist dies eine von Südtirols letzten Einklassenschulen, auch „Zwergschulen“ genannt, die bis in die 1960er Jahre überall in ländlichen Gebieten die Basis des Bildungssystems bildeten – nicht nur im Alpenraum.
Text: Sabine Funk Fotos: Helmuth Rier
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Heute sind diese Kleinstformen stark bedroht. Der Personalaufwand pro Schüler ist vergleichsweise hoch. Ebenso der Aufwand für die Lehrerinnen, erzählt Integrations- und Mathematiklehrerin Johanna Pattis. Denn tatsächlich müssen Unterrichtsmaterialien und Lehrstoff in einer Einklassen-
schule oft für einen oder zwei Schüler vorbereitet werden. Für bis zu zehn Schüler ist eine Lehrstelle vorgesehen, die alle Fächer außer Religion und Italienisch abdeckt. Aktuell ist die Grundschule personell jedoch geradezu üppig besetzt, denn unter den zehn Schülern sind zwei Kinder mit Down-Syndrom. Beobachtet man die beiden lebhaften, fröhlichen Mädchen, erschließt sich sofort, wie optimal sich die ruhige, persönliche Atmosphäre der »
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Kleinstschulen gelten heute als schützenswerter Bestandteil der sozialen Infrastruktur im ländlichen Raum.
Kleinstschule eignet, sie einzubinden und zu fördern. Umgekehrt profitiert aber auch die Schule, da durch die Anwesenheit der beiden Schülerinnen zusätzlich eine Integrationslehrerin und eine Integrationsmitarbeiterin bereitgestellt werden. Die Dorfgemeinschaft von St. Oswald steht geschlossen hinter „ihrer“ Grundschule. Wiederholt seien die Eltern beim Schulamt des Landes vorstellig geworden, um für den Erhalt zu plädieren. Die Schule sei ein wichtiges Element für die Lebensqualität in dieser eher abgelegenen Fraktion. Bei der Weihnachtsfeier sei praktisch das ganze Dorf anwesend, nicht nur die Eltern, deren Kinder aktuell die Schule besuchen. Die Identifikation ist stark. Auch die Politik scheint die Form der Minischule als schützenswert erkannt zu haben. Das Wohnen im ländlichen Raum durch die Schaffung von Infrastruktur attraktiv und lebenswert zu erhalten, ist ein zentrales Anliegen der Südtiroler Landespolitik. Und Infrastruktur bedeutet eben nicht nur Straßen- und Tunnelbau, sondern auch der Erhalt gesellschaftlich relevanter Institutionen. Der Unterricht an solchen Zwergschulen hat sich über die Jahrzehnte gewandelt. Es scheint auch ganz überflüssig, den höflichen kleinen Besuchern der Schule St. Oswald Fleiß und Disziplin einzuschärfen. Einklassenschulen hatten immer schon eine eigene Dynamik, da hier ganz von alleine Mechanismen wirksam werden, die man eher aus der Reformpädagogik kennt. Die jüngeren Schüler orientieren sich an den Älteren, Lernprozesse sind offen und sehr kooperativ. Teilweise greift man sogar bewusst auf Materialien aus der Montessoripädagogik zurück, einfach, weil diese sich für eine jahrgangsstufenübergreifende Arbeit gut eignen. Vor- und Nachteile habe diese Schulform, sagt Johanna Pattis. Wenn die Kinder nach fünf Grundschuljahren an die Mittelschule in Kastelruth wechselten und plötzlich in Klassen mit bis zu 20 Schülern säßen, wären viele komplett eingeschüchtert. Aber in ihren sozialen Kompetenzen seien die Kinder von der Zwergschule oft reifer. In Zeiten, in denen die Medien voll von Horrorgeschichten aus dem Schulbetrieb sind, scheint das Idyll von St. Oswald geradezu unwirklich. Dessen Zukunft ist ungewiss, doch kann man nicht anders, als noch vielen Kindern einen solch beschaulichen Start auf ihrem Bildungs- und Lebensweg zu wünschen. «
Schulmuseum Tagusens In eine wesentlich melancholischere, seltsam anrührende Atmosphäre taucht man beim Besuch eines anderen kleinen Schulhauses ein – der nunmehr ehemaligen Volksschule im abgelegenen Weiler Tagusens. Der helle Raum, den in der unmittelbaren Nachkriegszeit die Stimmen von bis zu 45 Kindern füllten, ist heute zu einem kleinen Schulmuseum geworden. Nicht nur ältere Besucher werden sich angesichts der altmodischen Bänke, Rechen hilfen und vergilbten Wandkarten an die eigene Schulzeit erinnert fühlen. Doch bei aller Nostalgie profitiert das Museum vor allem von seiner lebendigen Brücke in die Vergangenheit: Paula Malfertheiner, die das Ober geschoss bewohnt, war bis zur Schließung der Schule im Jahr 1993 hier Schuldienerin (Hausmeisterin). Ihre lebendigen Erinnerungen und Geschichten zur Herkunft der Exponate teilt sie gerne mit, die Freude über die regel mäßigen Besuche von Schulklassen ist ihr anzumerken. Ein Besuch ist von Ostern bis Allerheiligen möglich. Tagusens ist auf leichten, malerischen Wegen von Kastelruth in weniger als zwei Stunden erreichbar, die gute Anbindung mit dem Linienbus macht die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs empfehlenswert.
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