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Der Kilimanjaro per Direttissima

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Merci, Paris!

Merci, Paris!

Vor 49 Jahren war noch vieles anders, und das überall. Die Liebe zu den Bergen und der Wille, sie zu besteigen, ist aber zeitlos. Auch in Afrika.

Beitrag von Peter Widmoser

Er war gut zu sehen durch das Flugzeugfenster: Die Sonne schob sich langsam über den rötlichen Rand der Steppe. Und in dieser Steppe stand ein riesiger Koloss, etwas zerfranst an seinen Rändern, aber mit einem mächtigen Haupt, bedeckt mit weißen Streifen. Das Flugzeug drehte vor seiner Landung in Dar es Salaam Runden um den Kilimanjaro. In meiner Innsbrucker Schulzeit vor etwa 75 Jahren hatte ich viele Wochenenden mit Kameraden in den Bergen verbracht. Da waren Berge mehr oder weniger eingeordnet in langen Reihen, geteilt durch Täler. Wir entdeckten sie damals mit Zug und Bus. Hier aber stand ein einzelner Klotz, weite Steppenebenen um sich herum beherrschend. Nur ein Konkurrent stand im Hintergrund: das dunkle Massiv des Mount Meru. Es war mein erster Flug nach Tansania. Bei späteren Flügen blieb dieses Extraangebot des Flugkapitäns aus.

Wink des Berges

Ich war dabei, eine Stelle als Dozent an der – mit Unterstützung Deutschlands und der Schweiz – neu gegründeten, ersten Technischen Hochschule Tansanias anzutreten. Meine Frau konnte erst später nachkommen. Mit Recht beklagte sie sich später, dass ich in meinem ersten Schreiben aus Tansania vorwiegend über mein Kili-Flug-Erlebnis berichtete. Ihr wären Hinweise zu unserer künftigen Lebensgestaltung in der Fremde dringlicher erschienen.

Tatsächlich gab es an meiner neuen Arbeitsstelle eine Palette verschiedener Alltagseindrücke zu verarbeiten. Der „Wink“ des Kilimanjaros zum Flugzeug aber blieb ein unauslöschlicher Eindruck. Ich erkundigte mich bei einem meiner Studenten, ein Chagga aus dem Distrikt Kilimanjaro, nach „seinem“ Berg. Er beschrieb mir die damals einzige offizielle Aufstiegsmöglichkeit über Marangu, ein Dorf nordwestlich von Moshi, der Hauptstadt des Distriktes Kilimanjaro. Eine andere Aufstiegsmöglichkeit deutete er nur an:

von Moshi aus direkt nach oben mit zwei nicht bewirtschafteten Blechhütten als Übernachtungsmöglichkeit. Aber kein Träger würde uns auf diesem Weg folgen. Das kam mir entgegen: Ich wollte gar keine Träger.

Nach vielen Umfragen lernte ich einen jungen Münchner kennen. Er kannte diese Route und war bereit, sie nochmals mit mir zu begehen. Vier weitere schlossen sich uns an. Darunter ein Bergkamerad aus der Schweiz, der extra für diese Tour nach Tansania flog. Im Juni 1975 – gleich nach der Regenzeit – war es dann so weit. Wir fuhren von Dar es Salaam nach Moshi, eine Fahrstrecke von ca. 500 km. Ich fuhr ein Auto mit meinem Kollegen Pierre aus Zürich als Begleiter. Von einer früheren Fahrt wusste ich, dass man nach einer bestimmten Kurve zum ersten Mal den Kili sieht. Ich machte es sehr spannend und bereitete Pierre gründlich auf diesen Blick vor. Dann hielt ich an dieser Kurve an. Wir sahen nur Wolken!!? Pierre war natürlich enttäuscht. Und da – plötzlich erkannten wir den Gipfel. Er ragte schneeweiß über die Wolken, von denen er sich visuell kaum abhob.

So marschierten wir stundenlang. Nur einmal gab es einen kurzen Blick zu freiem Himmel.
Foto: Peter Widmoser

Ausgangspunkt Moshi

Wir übernachteten in einem Hotel am Stadtrand von Moshi. Moshi hatte damals etwa 50.000 Einwohner, 2022 dann bereits 220.000. Am Abend vor dem Aufstieg kauften wir Proviant ein: Reis, einheimische Mandarinen und Nüsse, sogar etwas Fleisch. Weiters hatten wir einen Kocher, einen 5-Liter-Plastik-Wasserbehälter aus dem Uni-Labor, Höhenmesser, warme Wäsche einschließlich langer Unterhosen, Taschenlampen, Verbandzeug, Taschenmesser, WC-Papier etc. dabei. Wir hatten gute Bergschuhe, aber keine Bergstöcke, wie sie heute üblich sind.

Wir starteten die Tour gegen 10 Uhr vormittags, Etwa 6 Stunden mittelsteile Wanderung bis zum ersten Lager auf etwa 3.000 m lag vor uns. Zunächst gingen wir entlang einer Straße, umgeben von Feldern meist mit Mais, die dann immer mehr von Kaffeeplantagen mit eingestreuten WohnHütten abgelöst wurden. Gelegentlich gab es auch ein kleines „Einkaufszentrum“. Nach einer Halbwildnis (Rodungsflächen?) begann dann ziemlich unmittelbar Urwald, in den ein gut erkennbarer Trampelpfad führte (heute wahrscheinlich das „Mweka“-Gate). Eine schwarz-weiße Affenherde beschimpfte uns. Das waren – außer ein paar Vögeln auf der Hochfläche –die einzigen Tiere, die wir auf der ganzen Tour sahen. Neben den Urwaldbäumen, von denen ich keinen kannte, gab es anfangs noch übermannshohe Farne und Erikagewächse. Schließlich waren wir nur noch von riesigen Bäumen umgeben, am Boden ganz selten ein einsames Blümlein. Große Flechten hingen von den Zweigen. Die Stimmung war wie in einer gotischen Kathedrale: dämmrig, still, erhaben. So marschierten wir stundenlang. Nur einmal gab es einen kurzen Blick zu freiem Himmel.

Flugaufnahme vom Kilimanjaro im Vordergrund (5.895 m), im Hintergrund der Mount Meru, 4.562 m.
Foto: Peter Widmoser

Die „Heide“-Landschaft

Dann, ziemlich genau auf einer Höhe von 3.000 m, brach der Urwald ab. Eine riesige, geneigte Hochebene, bedeckt mit grünen, meist etwa bis kniehohen, gelegentlich auch mannshohen Pflanzen, lag vor uns. Der Kili-Gipfelrand begrüßte uns aus einem Luftlinien-Abstand von etwa 6 km. Bald danach erreichten wir unser Tagesziel: zwei Blechhütten, keine Fenster, ohne jegliche Einrichtung, ein blanker Erdboden. Diese Hütten waren sicherlich von einer Regierung (der Engländer oder gar noch aus deutscher Kolonialzeit) für KiliGeher errichtet worden, vielleicht für Forscher, Klimakundler etc.

Nahebei gab es eine Quelle und wir kochten Tee und Reis. In einem späteren Bericht hörte ich, dass durch den Klimawandel der Gletscher zunehmend kleiner wird und damit auch viele Quellen versiegen. Ziemlich genau um 7 Uhr abends ging die Sonne – wie am Äquator üblich – rasch unter. Wir richteten uns mit dem Schlafsack auf dem blanken Boden ein. Diese erste Nacht verbrachten wir erstaunlich erholsam.

Am nächsten Morgen war zunächst Nebel. Wir waren also gefangen in dem Wolkenring, den man so oft um den Kili herum aus der Ebene beobachtet. Die eigenartige Vegetation hat sich angepasst: relativ wenig Sonnenstunden, dafür aber extrem hohe Sonnenstrahlung; wenig Niederschlag, aber viel Nebel. Im Lauf des Vormittags löste sich der Nebel auf. An diesem Tag mussten wir bis zu einer weiteren Blechhütte auf etwa 4.500 m aufsteigen. Mit Höhenzuschlag rechneten wir mit etwa 5 Stunden Gehzeit.

Der Weg war zwar lang, aber mit gleichmäßig geringer Steigung und mit wunderschönem Rundblick. Im Vordergrund winkte der Kili. Die tiefliegende Steppenebene von Moshi war nicht immer sichtbar. Wolken, unterhalb von uns liegend, verdeckten diese. Mein Gepäck hatte um 5 kg = 5 Liter zugenommen. Auf der nächsten Station gab es nämlich kein Wasser. Diesmal gab es nur noch eine Blechhütte, aber von derselben kargen Art, wie wir sie schon von der letzten Nacht her kannten. Gegenüber dem Kili lag der markante Nebengipfel, der Mawenzi mit 5.148 m. Einer seiner Zacken trägt den Namen „Purtscheller Peak“. Purtscheller war der Großvater eines meiner Bergkameraden aus Tirol.

Der Ausblick auf den Kilimanjaro von Lager 1 auf 3.000 m Höhe.
Foto: Peter Widmoser

Anstieg, Gipfel, Abstieg

Die Nacht war sehr unerfreulich. Nicht nur die Kälte war brutal, vermutlich beschäftigten sich unsere Körper unbewusst auch noch mit der Höhenanpassung. Um 4 Uhr morgens brachen wir diese jammervollen Schlafversuche ab. Was danach geschah, weiß ich nur bruchstückhaft. Zum Beispiel merkte ich erst nach einiger Zeit, dass wir nur zu dritt unterwegs waren. Der Rest unserer Gruppe hatte anscheinend aufgegeben. Unter den Fehlenden waren mein Kollege aus Zürich und der deutsche „Bergführer“.

Der Weg war nicht markiert und auch kaum erkennbar. Aber die Gehrichtung war eindeutig: so gerade wie möglich aufwärts. Zuerst ging es lange einer eher steilen Schotterrinne entlang. In dieser streifte uns die aufgehende Sonne, die dann ihren nördlichen Tageslauf nahm: Wir waren ja 2° südlich des Äquators. Nebelfetzen lösten sich allmählich auf. Nach der Rinne wurde es eher felsig und noch steiler. Jeder Schritt verlangte große Überwindung. Ich hatte eine Mandarine in der Jackentasche. Ich nahm einen Schnitz, presste mit Lippen und Zähnen nur den Saft aus und spuckte die Haut aus. Ich hatte das Gefühl, ich müsste erbrechen, wenn ich das Mandarinenhäutchen mitschlucken würde.

Ich bilde mir ein, dass ich den Gipfel nur wegen dieses Mandarinenschnitzes erreichte. Als ich den Kraterrand erklommen hatte, merkte ich, dass einer unserer Dreier-Aufstiegsgruppe hinter mir verschwunden war. Die einzige Dame unserer Gruppe und ich gingen dann noch etwa eine Dreiviertelstunde bis zum Gipfel. Ich bin mir nicht sicher, ob es der Uhuru Peak oder der Gillman’s Point war. Wir waren so oder so glücklich, so weit gekommen zu sein. Doch, wenn ich jetzt auf die Karte schaue: Wir gingen nach Erreichen des Kraterrandes nach links: also zum Uhuru-Gipfel.

Wir schafften ein gegenseitiges Gipfelfoto. Der 4.500-m-Tiefblick in die Steppe war nur kurz wolkenfrei. Die Kälte war tolerierbar. Ich hatte meinen 40. Geburtstag. Zu zweit stiegen wir ab. Das Lager 2 war verlassen und wir gingen lieber daran vorbei, als nochmals dort zu übernachten. Gegen 5 Uhr abends erreichten wir Lager 1, wo unsere vermissten Kollegen Tee für uns vorbereitet hatten. Wir Gipfelstürmer waren an diesem Tag über 12 Stunden unterwegs gewesen. Ich schlief prächtig.

Angekommen am Gipfel.
Foto: Peter Widmoser

Zurück in die Steppenebene

Dann kam der Abschiedstag vom Kili. Wir wanderten durch die Urwald-Kathedrale auf dem gleichen Weg, auf dem wir aufgestiegen waren. Als wir die erste offene Geschäftsbar in Moshi erreichten, tranken wir deren gesamten Getränkevorrat leer. Wir waren völlig „ausgetrocknet“.

Als wir im Hotel unsere Sachen auspackten, gab es noch eine Überraschung: Der Wasserbehälter war im Lager 2 auf 4.500 m geleert und zufällig luftdicht verschlossen worden. Auf etwa 1.000 m zeigte er eine eindrückliche Verformung.

Tansania, inklusive Ruanda und Sansibar, waren von etwa 1888 bis zum Ende des 1. Weltkrieges deutsche Kolonie. Das erklärt, dass ein deutschsprechendes Team, nämlich Hans Meyer und Ludwig Purtscheller, zusammen mit dem Einheimischen Yohane Lauwo (Chagga), im Oktober 1889 den Berg bestieg.

Offiziell sind sie die ersten Gipfelbesteiger. Ludwig Purtscheller war aus Tirol. Die Chaggas hinderte lange Ehrfurcht und Angst vor dem Berg, den sie in ihrer Sprache den „Schwarz-Weißen Berg“ nennen, am Besteigen.

Autor: Peter Widmoser wurde in Innsbruck geboren und vollendete in Wien an der Hochschule für Bodenkultur den Studiengang Kulturtechnik. Nach einem zweijährigen Forschungsaufenthalt in Neu-Delhi übernahm er nach kurzem Dienst beim Land Tirol einen Forschungsauftrag an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, wo er im Fach Wasserwirtschaft habilitierte. Zwischendurch war er zwei Jahre als Gastprofessor in Dar es Salaam. Seine berufliche Laufbahn endete als Direktor am Institut für Wasserwirtschaft der Universität Kiel. Nunmehr im Ruhestand lebt er in der Schweiz, wo seine Frau beheimatet ist.

Info Podcast

Der Mount Kenya ist nach dem Kilimanjaro der zweithöchste Berg Afrikas. Dort ist vor ein paar Jahren die erste digitale Wanderkarte des Alpenvereins entstanden. Im Alpenvereinspodcast #17 „Expeditionskarte Mount Kenya“ geht es um das Warum. Mehr dazu: www.alpenverein.at/ podcast

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