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Absurd hohe Preise
Patient vs. Patent
Zahlreiche Organisationen fordern eine Aufhebung des Patentschutzes auf unentbehrliche Medikamente. Doch die Pharmaindustrie hält an ihrem lukrativen Geschäftsmodell fest. Von Uta von Schrenk
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Nandita Venkatesan und Phumeza Tisile überlebten, doch beide verloren ihr Gehör. Die Inderin Venkatesan erkrankte 2013, Tisile aus Südafrika 2010 an multiresistenter Tuberkulose. Die damals verfügbare Behandlung ging mit schweren Folgeschäden einher. Inzwischen gibt es zwar Bedaquilin, ein schonenderes Mittel gegen diese Form der Tuberkulose, die auf die Standardbehandlung nicht anspricht. Doch auf dem Medikament liegt ein Patent, und das macht es teuer, zu teuer für viele Erkrankte weltweit.
Um anderen Betroffenen ihre Behinderung zu ersparen, haben Venkatesan und Tisile Anfang 2019 beim Patentamt in Mumbai die Patentverlängerung von Bedaquilin angefochten. Sie werden dabei von Ärzte ohne Grenzen unterstützt. Das Patent auf Sirturo, so der Markenname Bedaquilins, läuft in Indien 2023 ab. Durch ein weiteres Patent auf eine andere Darreichungsform des Präparats will der Hersteller Johnson & Johnson den Patentschutz bis 2027 verlängern. Dies würde die Produktion des Mittels als günstiges Nachahmerprodukt weiterhin blockieren – und so vielen Erkrankten eine Behandlung vorenthalten.
Tuberkulose ist eine der Haupttodesursachen weltweit. Jährlich sterben 1,5 Millionen Menschen an der Krankheit. Und die Zahl der Patient_innen mit arzneimittelresistenten Formen nimmt zu. Eine »Bedrohung für die Gesundheitssicherheit«, schreibt die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Dass eine Behandlung mit dem von der WHO empfohlenen Bedaquilin pro Tagesdosis 1,5 US-Dollar und in manchen Ländern weit darüber kostet, sei »ein immenser Preis für die Heilung einer Armutskrankheit«, sagt Elisabeth Massute, politische Referentin bei Ärzte ohne Grenzen. Das Medikament muss über 24 Wochen eingenommen werden. So wurden der NGO zufolge im Herbst 2019 nur 20 Prozent der Patient_innen, die es bräuchten, mit Bedaquilin behandelt. »Patente töten«, heißt ein Aufruf der BUKO Pharma-Kampagne und der Organisationen medico international (Deutschland), Outras Palavras (Brasilien), People’s Health Movement und Society for International Development, die eine Aufhebung des Patentschutzes auf alle unentbehrlichen Medikamente fordern. »Die WHO schätzt, dass ein Drittel aller Patient_innen weltweit wegen hoher Preise und anderer struktureller Hindernisse keinen Zugang zu dringend benötigten Medikamenten hat«, schreiben die Initiatoren. Der Acess to medicine index, finanziert von der britischen und niederländischen Regierung sowie privaten Stiftungen und Fonds, geht von zwei Milliarden Betroffenen aus. Der Index hat 53 patentgeschützte Arzneimittel untersucht, die nach Angaben der WHO für die Weltgesundheit von besonderer Bedeutung sind. Laut Index ist zwar die Mehrheit der untersuchten Arzneimittel mit einer Zugangsinitiative verknüpft, sie werden also aus staatlichen Programmen oder von karitativen Organisationen (teil)finanziert. Doch seien diese Initiativen in »Umfang und Reichweite begrenzt« – sie gelten nur für eine Handvoll der ärmsten Länder. Das schließt Millionen arme Menschen in den Schwellenländern aus.
Absurd hohe Preise
Das Patentsystem der Pharmaindustrie belastet die weltweiten Gesundheitssysteme auf vielfältige Weise. Zum einen treibt es die Kosten immens in die Höhe. So wurde das Medikament Sofosbuvir, mit dem Hepatitis-C erstmals heilbar war, bei seiner Einführung 2014 als »Eintausend-Dollar-Pille« bekannt. Herstellen lässt sich das Medikament Schätzungen zufolge indes für weniger als einen US-Dollar pro Tablette. In Deutschland kostet die Therapie mit dem Sofosbuvir-Kombinationspräparat heutzutage immer noch rund 30.000 Euro. Unerschwinglich für Patient_innen in besonders betroffenen Ländern wie China, Brasilien, Ägypten oder der Ukraine. Diese haben daher eine Zwangslizenz erteilt. Die Therapie mit Generika kostet dort inzwischen weit unter 100 US-Dollar. Die Preise, die für patentgeschützte Medikamente teils aufgerufen würden, seien geradezu »absurd«, kritisiert Massute. »Ein Airbag kostet nicht Zehntausende Euro – und er rettet auch Leben.«
Welche Bedeutung der Preis in der öffentlichen Gesundheitsversorgung hat, zeigen die Impfungen gegen Pneumokokken. Seit Ende 2019 ist ein neuer Impfstoff auf dem Markt, der um 30 Prozent günstiger ist als die bisher verfügbaren. Ein Preisunterschied auf Leben und Tod: Jedes Jahr sterben fast eine Million Kinder an Lungenentzündung, die durch diese Bakterien verursacht wird. Laut Ärzte ohne Grenzen könnten mit dem günstigen Serum mehr als 55 Millionen Kinder zusätzlich geimpft werden.
Lobbyisten der Pharmaindustrie, wie etwa der Verband der forschenden Arzneimittelunternehmen in Deutschland, verteidigen hingegen den Patentschutz wegen der immensen Entwicklungskosten in Milliardenhöhe. »Deshalb sind Firmen darauf angewiesen, dass sie ihre erfolgreich entwickelten Medikamente auch eine Zeit lang allein vermarkten und so wieder Geld hereinholen können«, heißt es vonseiten des Verbandes.
Das Kostenargument sei schwierig zu beurteilen, kritisieren NGOs. Denn die Firmen legten in der Regel nicht offen, was sie für die Entwicklung ausgeben. »Dieser Mangel an Transparenz untergräbt die Möglichkeiten von Regierungen und Kunden, faire Preise für lebenswichtige Medikamente auszuhandeln«, sagt Massute von Ärzte ohne Grenzen. 2019 wollte die Weltgesundheitsversammlung, das höchste Entscheidungsgremium der WHO, mit einer Resolution über mehr Transparenz zu fairen Medikamentenpreisen weltweit beitragen. Der Vorstoß wurde jedoch unter anderem von der deutschen Regierung blockiert.
Hilfsorganisationen fürchten auch eine Fehlsteuerung in der Arzneimittelforschung infolge der immensen Gewinne, die sich mit patentgeschützten Medikamenten erzielen lassen: Entwickelt wird, was sich lohnt. Bedaquilin war mit einem anderen Medikament nach mehr als 40 Jahren die erste Innovation in der Behandlung der multiresistenten Tuberkulose. »Ohne eine grundlegende Änderung des bestehenden pharmazeutischen Forschungsmodells könnten künftig eher Arzneimittel für Verdauungsstörungen von Haustieren produziert werden, als Medikamente für Arme«, warnte Thomas Gebauer, Sprecher der Stiftung medico bereits vor Jahren.
Die Initiativen, die hinter dem Aufruf »Patente töten« stehen, kritisieren das Patentsystem noch aus einem weiteren Grund: Es sorge dafür, »dass auch jene Medikamente hochpreisig gehalten werden, deren Entwicklung auf öffentlich finanzierter Forschung basiert«. So ergab eine unabhängige Analyse im
Es droht eine Fehlsteuerung in der Forschung: Entwickelt wird nur, was sich lohnt.
Auftrag der US-amerikanischen Gesundheitsinitiative Treatment Action Group, dass die öffentlichen Investitionen in die Entwicklung des Tuberkulosemittels Bedaquilin bis zu fünfmal höher waren als die von Johnson & Johnson selbst. Auch die »Eintausend-Dollar-Pille« gegen Hepatitis C basiert laut BUKO Pharma-Kampagne auf universitärer Forschung.
Fairer und schneller Zugang zu Arzneimitteln
Was also tun? Zum einen lassen sich Patentrechte auf juristischem Wege einschränken oder aussetzen. Staaten können nach dem internationalen Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS) etwa Zwangslizenzen einfordern. Dafür muss ein nationaler Gesundheitsnotstand vorliegen. Oder sie können Medikamente aus einem Land importieren, in dem das Medikament günstiger ist. Dies ist aber nur legal, wenn der Hersteller in jenem Land seine Patentrechte beim Verkauf bereits geltend gemacht hat. »Für viele ärmere Länder sind diese Wege ein wichtiger Beitrag, um den Zugang zu unentbehrlichen Medikamenten zu erleichtern«, sagt die Rechtsanwältin Miriam Saage-Maaß vom European Center for Constitutional and Human Rights.
Seit Jahren beteiligen sich viele Pharmaunternehmen an Arzneispenden und freiwilligen Patentpools wie dem Medicine Patent Pool, mit dessen Hilfe bereits die Versorgung Millionen HIV-infizierter Menschen weltweit erschwinglicher wurde. Tine Hanrieder, Professorin für Health and International Development an der London School of Economics and Political Science, betrachtet freiwillige Patentpools und Arzneispenden jedoch lediglich als »karitative Notlösung«, wie sie in einem Zeitungsbeitrag schreibt. Die Wissenschaftlerin empfiehlt eine andere Strategie. Forschende und zivilgesellschaftliche Netzwerke hätten »längst eine Reihe von Modellen entwickelt, mit denen sich die Forschung und Entwicklung vom Patentsystem entkoppeln lässt, im Sinne des Gemeinwohls«.
Dass das geht, hat die Drugs for Neglected Diseases initiative (DNDi) bewiesen, ein weltweiter Zusammenschluss von Forschungsinstitutionen. So hat die Initiative mit öffentlicher Finanzierung und in Zusammenarbeit mit dem Pharmakonzern Sanofi-Aventis das Malaria-Medikament ASAQ entwickelt. Es wird seit 2007 zum Selbstkostenpreis verkauft. Während die Pharmaindustrie Entwicklungskosten in Milliardenhöhe anführt, kann die DNDi nach eigenen Kalkulationen neue Wirkstoffe für 60 bis 190 Millionen Euro entwickeln und zulassen.
Dass ein fairer und schneller Zugang zu Arzneimitteln für die gesamte Weltbevölkerung von vitalem Interesse ist, zeigt abermals der Fall Bedaquilin: Wissenschaftler_innen haben im vergangenen Jahr einen neuen Tuberkulosestamm identifiziert, der bereits auch gegen Bedaquilin unempfindlich ist.
Heilsamer Druck
HIV-Medikamente waren einst unbezahlbar teuer. Nun gehören sie zu den bezahlbaren Massenprodukten. Wie es dazu kam. Von Malte Göbel
Nicht nur Corona, auch Aids fing mit Lungenerkrankungen an: 1981 gab es Meldungen aus San Francisco über eine Krankheit, die Lungenentzündungen bei schwulen Männern auslöste. Berichte aus New York stellten eine hohe Rate an seltenem Hautkrebs fest, dem Kaposi-Sarkom. Im Juni 1982 wurde klar: Es handelt sich um ein neues Virus, das das Immunsystem lahmlegt. Es bekam den Namen »HI« für »Humane Immundefizienz«, die Krankheit nannte man »Aids«.
Die medikamentöse Behandlung von HIV und Aids ist kompliziert: »Das liegt an der genetischen Vielfalt und raschen Veränderbarkeit der unterschiedlichen Virusstämme und den spezifischen Zielzellen, die sich das HI-Virus zur Vermehrung aussucht«, erklärt Peter Wiessner vom Aktionsbündnis gegen Aids, einem Netzwerk aus 300 Organisationen, die die HIV-Prävention, Behandlung, Betreuung und Pflege für alle Menschen weltweit verbessern wollen. »Seit 30 Jahren wird versprochen, dass ein HIV-Impfstoff in naher Zukunft liege. Doch alle erfolgversprechenden Ansätze stellten sich letztlich als erfolglos heraus.«
Erfolgreicher als die Impfstoffsuche war es, die Vermehrung des HI-Virus im Körper zu bremsen. Dafür wurde 1987 als erstes Medikament das als Krebsmittel entwickelte AZT vorgestellt, ein Hoffnungsschimmer mit Einschränkungen: Die Nebenwirkungen waren hoch, viele Behandelte bildeten Resistenzen, die Behandlung kostete pro Patient und Jahr 10.000 US-Dollar.
Den Durchbruch brachte 1996 die Entdeckung, dass die Kombination mehrerer Wirkstoffe erfolgreicher ist als ein einzelnes Medikament. Diese Antiretrovirale Therapie senkt die Viruslast im Blut unter die Nachweisgrenze, so dass Infizierte das HI-Virus nicht mehr weitergeben können. Das gilt jedoch nur, wenn regelmäßig Medikamente genommen werden. Aids ist damit zumindest im Westen zu einer beherrschbaren chronischen Erkrankung geworden. Seit 2015 wird in Deutschland jede bekannte HIV-Infektion antiretroviral behandelt.
Auch die Kosten sind erschwinglicher geworden, vor allem durch Druck auf die Pharmaindustrie. Gruppen wie »Act Up!« in den USA zwangen die Firmen mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen, auf Teile ihres Gewinns zu verzichten. »Das war keine moralische Einsicht, kranken Menschen zu helfen«, erklärt Peter Wiessner. »Es war Zwang und die Angst vor Gesichtsverlust.« Südafrika drohte den Firmen 1997 damit, den Patentschutz für Aids-Medikamente außer Kraft zu setzen, um die Bevölkerung versorgen zu können. 2001 kam es zu einem Kompromiss mit den Pharmakonzernen, und die Mittel wurden billiger.
Die Versorgung in Ländern des globalen Südens ist aber immer noch schlechter als im Westen: »Auch heute sterben jedes Jahr global 690.000 Menschen an Aids, zwölf Millionen Menschen mit HIV haben immer noch keinen Zugang zu lebensrettenden Therapien.« Neuartige Medikamente kommen zuerst im Westen zur Anwendung, ärmere Länder müssen warten. »Der Patentschutz, der für die Medikamente der neuen Generation besteht, trägt dazu bei, dass Menschen im globalen Süden oft nicht optimal versorgt werden können«, sagt Wiessner.
Aktionsbündnis gegen Aids: www.aids-kampagne.de
Auf Kosten anderer
Um Geld zu sparen, verlagern westliche Pharmaunternehmen klinische Studien in ärmere Länder – nicht selten mit tödlichen Konsequenzen. Von Tobias Oellig
Bevor ein Medikament oder ein Impfstoff zugelassen wird, ist es ein langer Weg. Der Vorlauf ist aufwändig, kostenintensiv und kann Jahre dauern. Klinische Studien an freiwillig Teilnehmenden sind ein unverzichtbarer Bestandteil, um das therapeutische Potenzial und mögliche Nebenwirkungen zu erforschen.
Die Pharmaindustrie hat einen hohen Bedarf an freiwilligen Testpersonen, doch gibt es in der westlichen Welt viele Vorbehalte, was die Teilnahme an klinischen Studien angeht. Pharmafirmen weichen deshalb häufig in ärmere Länder aus, wo sie schneller und günstiger Teilnehmende finden.
Die Durchführung der klinischen Studien wird dabei oft anderen Organisationen übertragen. Gesundheitsaktivist_innen kritisieren diese Praxis. Denn häufig finden die Studien in Ländern statt, in denen es keine gute Gesundheitsversorgung für die Bevölkerung gibt und medizinische Entscheidungen weniger hinterfragt werden. Durch den Druck, Ergebnisse liefern zu müssen, können Interessenskonflikte entstehen. Und wenn das Budget des durchführenden Krankenhauses davon abhängt, wie viele Menschen sich an der Studie beteiligen, kann es passieren, dass Sorgfaltspflichten verletzt werden, zum Beispiel, wenn es darum geht, über die Risiken aufzuklären.
Die Beispiele Indien und Nigeria
In Indien, das sich nach dem Willen der Regierung zum führenden Pharmastandort Asiens entwickeln soll, war das im Jahr 2009 der Fall. Im Rahmen einer Studie erhielten 24.000 Mädchen eine Impfung gegen das humane Papillomavirus, das Gebärmutterhalskrebs verursachen kann. Durchgeführt wurde das Projekt von der US-amerikanischen NGO PATH (Program for Appropriate Technology in Health), der Impfstoff kam von Glaxo SmithKline und Merck. Während der Testphase starben mindestens sieben Mädchen. Ihr Tod stehe nicht in Zusammenhang mit der Impfung, betonten PATH und die indische Regierung; drei Mädchen seien an Malaria gestorben, eines nach einem Schlangenbiss, eines sei ertrunken, und zwei hätten Suizid begangen.
Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss kam 2011 zu dem Ergebnis, dass die Versuche teilweise ohne korrekte Aufklärung und ohne die notwendige Aufsicht stattgefunden hätten. Zudem hätten in einigen Fällen Lehrer_innen die Aufklärungsbögen für ihre Schülerinnen unterzeichnet. Da die Fälle erst bekannt wurden, als die toten Mädchen beigesetzt waren, war eine genaue Untersuchung unmöglich. Bis heute sind die Vorfälle nicht restlos aufgeklärt worden.
Auch ohne körperliche Verletzung oder Todesfolge kann eine Menschenrechtsverletzung vorliegen, nämlich bereits dann, wenn die Aufklärung mangelhaft war. So heißt es in Artikel 7 des UN-Pakts über bürgerliche und politische Rechte: Niemand darf »ohne seine freiwillige Zustimmung medizinischen oder wissenschaftlichen Versuchen unterworfen werden«.
Mangelnde Aufklärung spielte auch bei einem Vorfall in Nigeria im Jahr 1996 eine Rolle, als dort im Bundesstaat Kano eine Meningitis-Epidemie wütete. Der US-Pharmahersteller Pfizer schickte Forscher, um das noch nicht zugelassene Antibiotikum Trovafloxacin (Trovan) zu testen. Im Zuge einer Studie wurden 100 Kinder mit dem Medikament behandelt. Mindestens fünf von ihnen starben, nach Angaben der Behörden in Kano sogar mehr als 50, andere erlitten Hirnschäden oder Lähmungen, wurden taub oder blind.
In einem Gerichtsverfahren warfen die Kläger Pfizer vor, das Medikament ohne Einwilligung der Angehörigen getestet zu haben. Pfizer gab an, man habe »eine mündliche Einverständnis erklärung eingeholt«. Im Laufe des Verfahrens kamen viele Ungereimtheiten ans Licht. Laut BUKO Pharma-Kampagne war der Prüfarzt ein »Strohmann für Pfizer-Forscher, die die Studie tatsächlich durchführten«. Außerdem sei die nigerianische Regierung, anders als von Pfizer behauptet, nicht über die Versuche informiert worden.
Pfizer beharrte auf seiner These, die Todesfälle und Gesundheitsschäden seien nicht auf das Medikament, sondern auf die Meningitis-Erkrankung zurückzuführen. Nach jahrelangem Rechtsstreit einigten sich das Pharmaunternehmen und die Kläger 2011 außergerichtlich.
Kranke ohne Lobby
In entlegenen Regionen von Entwicklungs- und Schwellenländern leiden Menschen an sogenannten vernachlässigten Tropenkrankheiten. Muss das so bleiben? Von Heike Haarhoff
Vielleicht muss man mit der afrikanischen Schlafkrankheit beginnen, um zu begreifen, was auf dem Spiel steht. »Nur noch 1.000 Fälle«, ruft Heinz Hänel ins Telefon, in der Demokratischen Republik Kongo seien »es nur noch 1.000 gemeldete Fälle pro Jahr!« Ermutigend seien diese Zahlen, sagt Hänel, Euphorie in jeder Silbe. Er ist beim Pharmaunternehmen Sanofi für die Wirkstoffentwicklung gegen die Schlafkrankheit zuständig. In den 1990er-Jahren seien in dem afrikanischen Land jedes Jahr bis zu 35.000 neue Fälle diagnostiziert worden, von der Dunkelziffer ganz zu schweigen.
Doch seit zwei Jahren gibt es Fexinidazol zur Behandlung der Schlafkrankheit, dieser tückischen, von der Tsetsefliege übertragenen Infektion, die das zentrale Nervensystem befällt. Die Erkrankung führt zunächst zu Schlaf-, Empfindungs- und psychiatrischen Störungen, später zu Krampfanfällen und Koma, schließlich zum Tod. Fexinidazol war der Durchbruch: Eine Tablette, billig zu produzieren, leicht zu transportieren, einfach zu schlucken. Ein Medikament, das es ohne Hänel nicht gäbe.
Frühere Wirkstoffe konnten nur gespritzt werden, die Patientinnen und Patienten mussten oft tagelange Fußmärsche bis in die nächste Klinik auf sich nehmen, die Nebenwirkungen waren extrem, viele brachen die Therapie ab. Heute bleiben sie zu Hause, nehmen zehn Tage lang die Tabletten ein – und werden gesund. Insofern, sagt Hänel, sollte demnächst die Ausrottung der Humanen Afrikanischen Trypanosomiasis gelingen. So lautet die medizinische Bezeichnung der Schlafkrankheit.
Normalerweise jedenfalls. Wäre da nicht Corona.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnt, dass die Covid-19-Pandemie das Engagement von Regierungen, Stiftungen, NGOs und Pharmaunternehmen zur Bekämpfung der sogenannten Neglected Tropical Diseases (NTDs) beeinträchtigen könnte. An diesen vernachlässigten Tropenkrankheiten erkranken fast ausnahmslos sozial marginalisierte Menschen in entlegenen Regionen afrikanischer und asiatischer Entwicklungs- und Schwellenländer. Julien Potet von Ärzte ohne Grenzen nennt sie die »Krankheiten für Patienten ohne Lobby«.
Wer an diesen Tropenkrankheiten leide, gerate wegen der Priorisierung von Covid-19-Erkrankten ins Hintertreffen, beklagt die WHO. Ein weiteres Problem sei das hohe Corona-Infektionsrisiko, dem das Personal im Gesundheitswesen ausgesetzt sei. Zudem würden durch Flughafenschließungen und erhöhte Frachtpreise die Lieferketten für Medikamente unterbrochen.
Bei der Schlafkrankheit besteht die Herausforderung darin, Menschen in schwer zugänglichen, manchmal auch umkämpften Gebieten aufzusuchen, Erkrankte zu identifizieren und ihr Blut zu untersuchen, erklärt der Mediziner Achim Hörauf vom Deutschen Zentrum für Infektionsforschung. Heinz Hänel will sich dennoch nicht geschlagen geben. Es sei schon möglich, dass es wegen Corona länger dauern werde, sagt er. »Aber dass wir die Krankheit eliminieren, daran gibt es keinen Zweifel.«
Es wäre ein Lichtblick im mühsamen Kampf gegen die vernachlässigten Tropenkrankheiten, von denen nach Angaben der Organisation Drugs for Neglected Diseases initiative (DNDi) mehr als eine Milliarde Menschen in 149 Ländern betroffen sind, die Hälfte davon Kinder. Weitere zwei Milliarden sind von diesen Krankheiten bedroht. Die Verläufe sind schleichend, sie gehen bei Jugendlichen mit Entwicklungsverzögerungen einher und führen bei Erwachsenen zu dauerhaften Behinderungen oder im schlimmsten Fall zum Tod. Eine weitere Konsequenz ist der wirtschaftliche Niedergang ganzer Regionen infolge der weiten Verbreitung der Krankheiten. Ein Teufelskreis für drei Milliarden Menschen, 38 Prozent der Weltbevölkerung, der durchbrochen werden muss.
Imagegewinn für Sanofi
Die WHO hat gerade einen neuen Aktionsplan zur Bekämpfung der NTDs bis zum Jahr 2030 vorgestellt. Zuletzt formulierte sie 2012 das Ziel, bis 2020 zehn vernachlässigte Tropenkrankheiten unter Kontrolle zu bringen. Dies wurde nur zum Teil erreicht. Zurückgedrängt wurden Elephantiasis, viszerale Leishmaniose und afrikanische Schlafkrankheit; die Medinawurm-Erkrankung steht vor der Ausrottung. Der Kampf gegen Bilharziose, Flussblindheit oder die Chagas-Krankheit war weniger erfolgreich. »Die Gründe sind komplex«, sagt die Politikwissenschaftlerin Anna Holzscheiter, die am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Berlin die Forschungsgruppe Governance for Global Health leitet. Das Budget der WHO lasse wenig Spielraum für autonome Schwerpunktsetzungen; die Entscheidungsmacht konzentriere sich auf wenige Konzerne und Stiftungen, die einzelne, sinnvolle Projekte förderten, selten aber zu nachhaltigen strukturellen Veränderungen beitrügen.
Kaum ein Land des globalen Südens verfüge über Res sour cen, um aus eigener Kraft Auswege zu beschreiten, sagt Holzscheiter. »Das ist nicht nur eine Frage des Geldes.« Es mangele auch am wissenschaftlichen Know-how und an der Logistik, Arzneimittel herzustellen und zu verteilen. In abgelegenen Landesteilen gebe es weder Zugang zu sauberem Wasser noch zu medizinischer Basisversorgung, was jedoch Grundvoraussetzung im
Kampf gegen NTDs sei. Dieter Müller, Projektkoordinator Globale Gesundheit bei medico international, kann das bestätigen: »Gebraucht wird eine umfassende Gesundheitsvorsorge und -versorgung, gepaart mit Wissens- und Technologietransfer.«
Tatsächlich könnten die meisten dieser Krankheiten durch Medikamente wirksam bekämpft werden, schreibt der Verband forschender Arzneimittelhersteller. »Doch für die Unternehmen ist die Erforschung dieser Medikamente weder attraktiv noch profitabel, weil die Menschen, die sie brauchen, sie nicht bezahlen können«, sagt Julien Potet von Ärzte ohne Grenzen.
Und doch ist es im Fall der Schlafkrankheit gelungen, mit Fexinidazol ein neues, wirksames Medikament zur Zulassung zu bringen, das die Pharmafirma Sanofi auf eigene Kosten produziert und mit dem sie die Demokratische Republik Kongo gratis beliefert. Ist Sanofi plötzlich eine karitative Einrichtung? »I wo«, sagt Heinz Hänel. »Die Anfänge davon fanden heimlich statt.« 1979 machte Hänel, damals noch Biologiestudent, ein Praktikum bei der Hoechst AG, wie Sanofi früher hieß. Er erforschte Moleküle, die Parasiten wie den von der Tsetsefliege übertragenen Erreger Trypanosoma unter Kontrolle bringen sollten. Doch Hoechst stoppte die Forschung: unrentabel. Hänels Erkenntnisse landeten im Firmenkeller. Bis unabhängige, in der DNDi zusammengeschlossene Wissenschaftler Mitte der 1980er-Jahre Hänels frühe Arbeiten in einer Publikation entdeckten.
Heimlich flog er in die Schweiz, seine alten Aufzeichnungen im Gepäck, und traf sich mit Vertretern der Initiative. Um he rauszufinden, ob Hänels Tablette wirken würde, waren Studien nötig. Hänel wandte sich 1984 an die Stiftung von Bill und Melinda Gates, die danach viele Jahre lang zusammen mit weiteren privaten Geldgebern, der DNDi und staatlicher Unterstützung aus sieben europäischen Ländern, darunter Deutschland, die präklinische Entwicklung und klinische Studien finanzierte.
Am 24.Dezember 2018 erteilte die europäische Arzneimittelbehörde Fexinidazol die Zulassung für außereuropäische Länder. Und die Rolle von Sanofi? »Ich habe gesagt: Es ist unser Molekül. Wir haben soziale Verantwortung. Es ist ein Image gewinn.« Hänel lacht. Wenn das Beispiel Fexinidazol Schule macht, dann übernimmt nun auch mal die öffentliche Hand anstelle der Industrie die Suche nach neuen Substanzen gegen Infektionskrankheiten. Dies wäre ein Paradigmenwechsel.
Zeichnung: Lea Berndorfer
Diagnose Lepra. Mohammed Ali (Mitte), sein Sohn Rakib und die Ärztin Dr. Seela Kaju in der Aburoff-Klinik. Khartum im Dezember 2020.
Heilbar? Ja, aber nicht hier
Ob Lepra oder Schwarzes Fieber: Im Sudan leiden Tausende Menschen an Krankheiten, die es anderswo schon längst nicht mehr gibt. Von Philip Malzahn (Text) und Johanna-Maria Fritz (Fotos), Khartum
Zehn Jahre lang war Mohammed Ali auf der Suche nach dem Grund dafür, dass er das Gespür für seinen Körper verliert. Dass er manchmal vergisst, seine Schuhe anzuziehen und mit aufgerissenen Füßen heimkommt. Ob der Boden kalt, heiß oder von spitzen Steinen übersät ist, macht für ihn keinen Unterschied. Nicht nur seine Füße, auch seine Hände sind steif, die Finger unbeweglich. »Meine starken Pranken, mit denen ich jahrzehntelang angepackt habe, sind nutzlose Stummel geworden«, so beschreibt er seinen Zustand.
Am Ende einer zehnjährigen und kostspieligen Suche, die ihn in mehr als 50 Krankenhäuser führte, erfuhr Mohammed Ali schließlich im August 2020 von Dr. John Kulu, dass er Lepra hat. Seitdem befindet er sich in Therapie. Einmal im Monat fahren er und sein Sohn aus ihrem Dorf in der Provinz Weißer Nil mehrere Stunden mit dem Bus in die Hauptstadt Khartum. Dort holt er sich die nächste Dosis Tabletten ab, und Dr. John Kulu und seine Kollegin, Dr. Seela Kaju, untersuchen seinen Zustand. Dr. Kaju nimmt ihn mit nach draußen. Er soll sich in die Sonne stellen und erzählen, ob er die Strahlen auf seiner Haut spürt. Währenddessen untersucht Dr. Kulu sein Blut.
Die 1990 gegründete Aburoff-Klinik in Khartum ist das einzige Lepra-Krankenhaus im ganzen Land. Der Eingang befindet sich in einer staubigen Seitenstraße im Nordosten der Stadt und wird nur von einem verrosteten Schild gekennzeichnet. Sie ist nicht auf Google Maps und anderen digitalen Karten verzeichnet. Und so finden nur die wenigsten dorthin. Finanziert wird die Aburoff-Klinik von der britischen Hilfsorganisation The Leprosy Mission.
Für Großbritannien hat Mohammed Ali wenig übrig, doch in Anbetracht seiner Krankheit hat er keine Wahl, als sich von jenen helfen zu lassen, die einst über den Sudan herrschten. »Damals stand ich mit der Nationalfahne am Straßenrand und habe die Briten verabschiedet, als sie unser Land verlassen mussten«, erzählt er stolz. Sudan war von 1899 bis 1956 eine britische Kolonie; die Erinnerung an diese Zeit ist vor allem bei der älteren Generation noch sehr präsent.
Rakib, Mohammeds Sohn, muss grinsen, während er seinem kranken Vater aus dem Stuhl hilft, weil er nicht allein aufstehen kann. »Seinen Humor hat er nicht verloren. Aber ich würde ihm nicht alles glauben. Manchmal ist er 70, manchmal sagt er, er sei 100. Manchmal hat er die Engländer schadenfroh verabschiedet, manchmal eigenhändig bekämpft und besiegt.«
Reisekosten für zwei Personen
Die Behandlung in der Klinik ist umsonst. Doch die monatlichen Hin- und Rückreisen kommen die Familie Ali trotzdem teuer zu stehen. Weil Mohammed es nicht allein schaffen würde, muss sein Sohn mitkommen. Das heißt: Reisekosten für zwei Personen. Der 31-Jährige verkauft normalerweise Ramsch am Straßenrand, während seine drei Brüder auf dem Feld arbeiten. Wenn nicht gerade Erntezeit ist, ist die Familie von den Tageseinkünften Rakib Alis abhängig.
John Kulu sagt, so oder so ähnlich ergehe es den meisten Patienten, die die Klinik aufsuchen: »Lepra hat nicht nur gravierende Folgen für Körper und Geist des Patienten, sondern betrifft die ganze Familie. In manchen Gemeinden wird die komplette Familie des Kranken gebrandmarkt. Sie werden fortan völlig isoliert.« Lepra ist eine chronische Infektionskrankheit, ausgelöst durch sogenannte Mykobakterien, zu denen auch die Erreger für Tuberkulose gehören.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO gab im Jahr 2000 an, die Krankheit sei besiegt. Im Jahr 2020 wurden aber weltweit erneut mehr als 200.000 Fälle registriert, die meisten davon in tropischen Gebieten. »Durch mangelnde Hygiene und bei geschwächtem Immunsystem, etwa in Folge von Mangelernährung, kann sich die Krankheit gut ausbreiten«, erklärt Kulu. Wie bei den meisten Krankheiten sei vor allem eine frühe Diagnose wichtig. Die aber werde erschwert: »Durch die lange Inkubationszeit, die mehrere Jahre dauern kann, durch mangelnde Aufklärung und vor allem dadurch, dass es kaum Zugang zu Medikamenten gibt.«
Lepra ist heilbar – vorausgesetzt, man kommt an die richtigen Antibiotika. Je nach Krankheitsfortschritt und Verlauf dauert eine Therapie zwischen einem halben Jahr und zwei Jahren. Es werden mehrere Antibiotika gleichzeitig verabreicht, um zu verhindern, dass der Erreger während der langen Behandlungsdauer gegen ein Antibiotikum resistent wird. »Diese Medikamente sind teuer, und Sudan ist eines der ärmsten Länder der Welt«, erklärt Dr. Kulu. »Hinzu kommt, dass der Sudan 27 Jahre lang, bis Dezember 2020, als Terrorunterstützer auf der Sanktionsliste der USA stand.« Das Land hatte also nicht nur zu wenig Geld, um die Bevölkerung mit Medikamenten zu versorgen. Selbst wenn Geld da gewesen wäre, konnten Medikamente jahrelang wegen der Sanktionen nur als Spende über internationale Hilfsorganisationen in den Sudan gelangen.
Der Schweizer Pharmakonzern Novartis ist der Haupthersteller von Anti-Lepra-Medikamenten. Die sogenannte MultiDrug-Therapie ist bislang nicht auf dem freien Markt erhältlich,
John Kulu, Arzt
Lepra ist heilbar. Mohammed Ali bei der Medikamenteneinnahme.
Afrikanische Lösungen
Lepra gilt als Neglected Tropical Disease (NTD), also als vergessene Tropenkrankheit. »Lepra ist die vergessenste aller Krankheiten, doch bei Weitem nicht die einzige«, sagt Mowia Mukhtar, Professor im Sudan und Experte für NTDs. »Die Liste ist lang: Es gibt Virenerkrankungen wie das Dengue-Fieber, bakterielle Infektionskrankheiten wie Lepra, Wurm erkrankungen wie Bilharziose und parasitäre Krankheiten wie Leishmaniose, auch Kala Azar oder Schwarzes Fieber genannt.« Der in den USA promovierte Wissenschaftler gründete mit zwei Kollegen im Jahr 1993 das Institut für endemische Krankheiten in Khartum, um »trotz Sanktionen und wirtschaftlichen Herausforderungen eigene, afrikanische Lösungsansätze zu entwickeln«, sagt Mukhtar. »Kennzeichnend für NTDs ist, dass sie heilbar sind. Dass viele Menschen daran sterben, hat strukturelle Gründe.« Als er und seine Kollegen das Institut gründeten, war der Sudan eine islamistische Diktatur und von der Außenwelt abgeschnitten. »Ohne die Arbeit der NGOs wäre die Situation heute viel schlimmer«, sagt er. »Doch jetzt bricht ein neues Zeitalter im Sudan an, und wir müssen das auch aus medizinischer und aus afrikanischer Sicht nutzen.«
Im April 2019 wurde Präsident Omar al-Baschir, der 30 Jahre lang über das Land geherrscht hatte, nach mehrmonatigen Protesten vom Militär abgesetzt. Das Land wird nun von einer Übergangsregierung aus Militär und zivilen Kräften regiert. Innerhalb der nächsten drei Jahre soll es freie Wahlen geben. Im Zuge dieser Veränderungen wurden im Dezember 2020 auch die schwerwiegenden Sanktionen aufgehoben.
Mukhtar hat ein klares Ziel vor Augen. »Im Mittelpunkt unserer Arbeit stehen Forschung und Aufklärung. Da es auf die meisten Medikamente zur Behandlung von NTDs Patente gibt, versuchen wir auch auf andere Weise, diese Krankheiten zu bekämpfen und unsere Abhängigkeit zu reduzieren.« Im Sudan kommen auf 1.000 Einwohner etwa 0,4 Ärzte. In Deutschland sind es zehn Mal so viele. »Vor allem in armen und ländlichen Regionen, also dort, wo auch die meisten Krankheiten auftreten, ist es wichtig, dass die Bevölkerung lernt, Symptome zu erkennen«, sagt Mukhtar »Darauf müssen wir uns konzentrieren«, auch wenn die eigene Forschung ebenfalls wichtig bleibe.
so aus: »Die Auswirkungen der Krankheit sind gravierend, doch das Bewusstsein dafür ist gleich Null.« 200 Fälle von Lepra in nur einem Jahr. Dr. John Kulu in seiner Klinik in Khartum. sondern wird nur über die WHO verteilt. 2015 hatte der Konzern versprochen, Medikamente im Wert von 40 Millionen US-Dollar über einen Zeitraum von fünf Jahren an die WHO zu spenden und so zum Kampf gegen Lepra beizutragen. Wie viele dieser Spenden kommen in der Aburoff-Klinik an? »Für die Patienten, die wir behandeln, haben wir genug Tabletten. Viele schaffen es jedoch gar nicht erst zur Behandlung: Bis heute findet die gesamte Behandlung einer tödlichen Krankheit für ein Land mit mehr als 40 Millionen Einwohnern in einer Klinik mit zwei Zimmern statt«, sagt Dr. Kulu.
Nachdem Mohammed Ali mit der Untersuchung fertig ist, bekommt er seine Medikamente. Aus dem weißen Karton mit dem Logo von Novartis nimmt Seela Kaju eine Packung und gibt sie Rakib Ali, der sie für seinen Vater aufbewahrt. Im Jahr 2020 behandelten Kulu und seine Kollegin rund 200 Fälle von Lepra. Die Dunkelziffer liege jedoch weitaus höher. Dr. Kulu drückt es
Leiden unter Kala Azar. Fatma und Fatma in der Klinik in Doka.
Schwarzes Fieber
Als beispielhaft für eine afrikanische Lösung gilt der Kampf gegen Kala Azar, auch Schwarzes Fieber genannt. Mukhtar betont, dabei seien die meisten Erfolge verzeichnet worden. 2010 übergab die Organisation Ärzte ohne Grenzen dem sudanesischen Gesundheitsministerium die Verantwortung für ein Programm gegen Kala Azar, das sie im Jahrzehnt zuvor aufgebaut hatte.
Gleichzeitig eröffnete die Regierung eine Zweigstelle des Instituts für endemische Krankheiten in der Provinz Gadaref im Osten des Landes, fünf Stunden Autofahrtzeit von Khartum entfernt. Dort gibt es die meisten Fälle von Kala Azar. Denn der Hauptüberträger, die sogenannte Sandmücke, breitet sich dort
wegen der starken Regenfälle im Herbst besonders stark aus. Die Region gilt als eine der ärmsten im Sudan.
Das El-Hassan-Zentrum befindet sich mitten in der Savanne, nahe der Kleinstadt Doka, und behandelt ausschließlich Patienten mit Kala Azar. Gleichzeitig erforschen die Ärzte die Krankheit, die in verschiedenen Formen auftreten kann. »Die viszerale oder innere Leishmaniose ist die häufigste und auch die tödlichste Form. Sie greift die Organe an: zuerst die Leber, dann die Nieren und schließlich das Herz«, erklärt Dr. Ali Nureddin. Der 28-Jährige arbeitet seit zwei Jahren im El-Hassan-Zentrum und betreut gemeinsam mit fünf Kolleginnen und Kollegen 35 bis 40 Patientinnen und Patienten im Monat.
Die meisten Menschen in der Region kennen die Krankheit mittlerweile gut und können Symptome selbst früh erkennen. »Was Kala Azar angeht, haben wir das Wissen, diese Krankheit zu besiegen«, sagt Nureddin stolz. »99 Prozent der Patienten, die zur Therapie kommen, werden geheilt. Es stirbt nur, wer schon vorher krank war oder keinen Zugang zu Medikamenten hat.« Auf die Frage, wie oft das noch vorkomme, muss Dr. Nureddin keine Sekunde überlegen: »Mehrmals im Jahr.«
Viszerale Leishmaniose wird typischerweise mit hochtoxischen Natriumstibogluconat-Spritzen behandelt, die die Parasiten im Körper töten sollen. 17 Tage lang dauert die Therapie. Zweimal am Tag wird die Spritze verabreicht. Der Sudan ist dabei von Hilfslieferungen der Weltgesundheitsorganisation WHO abhängig, denn der Stoff ist teuer.
Die beiden Cousinen und Namensschwestern Fatma befinden sich seit elf Tagen unter der Obhut von Dr. Ali Nureddin. Sie sind 28 und 39 Jahre alt, kommen aus dem gleichen Dorf, ein paar Stunden vom Krankenhaus entfernt, und sind zur gleichen Zeit erkrankt. Als sie außer Fieber auch Schmerzen im Bereich der Leber bekamen, wussten sie, dass es Kala Azar war, und kamen ins El-Hassan-Zentrum. »Zum Glück geht es mir besser«, sagt die jüngere Fatma, die drei Kinder hat.
Früher seien viele Menschen in ihrem Dorf daran gestorben, heute nur noch jene, die schon vorher alt und krank waren. Wenn sie keine Spritzen bekommen, verbringen die beiden Frauen die meiste Zeit im Garten der Klinik, wo sie mit anderen Patientinnen und Patienten gemeinsam kochen. Die Therapie ist wie die Krankheit – extrem schmerzhaft. Laufen, sitzen, alles tut weh. Beide Frauen spüren die typischen Nebenwirkungen des Medikaments: »Mir ist schlecht, schwindelig, ich habe Durchfall«, erzählt Fatma. Sie ist sichtlich erschöpft, und beide Beine sind angeschwollen.
»Natriumstibogluconat ist schädlich für die Venen und kann dort zu Schwellungen und Entzündungen führen«, sagt Dr. Nureddin. Das seien jedoch notwendige Übel, die man für eine vollständige Heilung in Kauf nehmen müsse. Die strukturellen Probleme hinter der Krankheit sind für ihn viel schwerwiegender: »Kala Azar trifft am stärksten die ärmsten Menschen in den abgelegensten Regionen. Wenn sie nicht so unterernährt wären und nicht unter mangelnden hygienischen Bedingung leben würden, wären die Infektionsfälle und die Wahrscheinlichkeit eines tödlichen Krankheitsverlaufs viel geringer.« Hinzu komme, dass vielfach finanzielle Mittel zur Mückenabwehr fehlten.
Obwohl auch er wie die meisten sudanesischen Ärzte umgerechnet nur 200 Euro im Monat verdient, möchte er weiter vor Ort arbeiten. »Wenn wir diese Menschen und ihre Krankheiten vergessen, werden sie sterben.«
Hofft auf ein neues Zeitalter. Dr. Mowia Mukhtar in Khartum.
Erforscht Kala Azar. Dr. Ali Nureddin im El-Hassan-Zentrum in Doka, Dezember 2020.
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Vom Friedens- nobelpreisträger zum Warlord
Äthiopien befindet sich in einer tiefen Krise. Der Konflikt in der Region Tigray hat zu unzähligen Toten, Verletzten und Flüchtlingen geführt. Ministerpräsident Abiy Ahmed, der einstige Hoffnungsträger, setzt vermehrt auf Gewalt und Repression. Von Bettina Rühl (Text) und Andy Spyra (Fotos)
Erstmal sicher. Ein Flüchtling aus Tigray zeigt Folterspuren am Hals.
Brot backen. Selbstversorgung im Lager Um Racouba.
Schulunterricht. Auch an die Kinder der Flüchtlinge wird gedacht. Berichte über sexuelle Gewalt, Massaker und andere schwere Menschenrechtsverletzungen in Äthiopien reißen nicht ab. Mehrfach haben die Vereinten Nationen gefordert, die Vorwürfe aufzuklären: Erst die UN-Hochkomissarin für Menschenrechte Michelle Bachelet, dann Ende Januar auch die UN-Sondergesandte für sexualisierte Gewalt in Konflikten, Pramila Patten. Sie reagierte auf Berichte über eine hohe Zahl mutmaßlicher Vergewaltigungen in der nordäthiopischen Stadt Mekelle.
Nach mehrwöchigen Kämpfen hatten Truppen der äthiopischen Regierung die Hauptstadt der Region Tigray am 28.November 2020 eingenommen, in der bis dahin die Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) herrschte. Seitdem mehren sich Berichte über die Verfolgung von Teilen der Bevölkerung in Tigray, über die Festnahme von TPLFMitgliedern und über sexualisierte Gewalt.
Zu überprüfen sind derlei Vorwürfe bisher kaum, die äthiopische Regierung gewährt weder Journalistinnen noch Vertretern der UNO oder Menschenrechtsorganisationen einen ungehinderten Zugang zu der Konfliktregion. Trotzdem gibt es deutliche Hinweise darauf, dass in Tigray schwere Verbrechen verübt wurden, zum Beispiel in der Stadt Mai-Kadra. Dort richteten Unbekannte in der Nacht vom 9.November mit Messern und Macheten ein Blutbad an. Amnesty-Recherchen belegen, dass sie dabei Dutzende, wenn nicht sogar Hunderte Menschen töteten. »Wir haben zahlreiche Foto- und Videoaufnahmen ausgewertet und digital überprüft«, berichtet Fisseha Tekle, Äthiopien-Experte von Amnesty International. Sie zeigen, wie in der ganzen Stadt Leichen gefunden und aufgebahrt wurden. Die Aufnahmen sind kürzlich angefertigt worden. Mithilfe von Satellitenaufnahmen konnte Amnesty verifizieren, dass die Morde tatsächlich in MaiKadra verübt wurden.
Die Gesamtzahl der Opfer in Tigray könne zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht einmal geschätzt werden, sagt Tekle: »Die Krise dauert an, das betroffene Gebiet ist sehr groß, und das Geschehen unterscheidet sich sehr in den verschiedenen Re gionen.« Auch die Täterschaft sei im Einzelfall bisher kaum zu bestimmen. Augenzeuginnen und Augenzeugen zufolge, die über die Grenze in den Sudan fliehen konnten, wurden die Verbrechen von einer Vielzahl von Täterinnen und Tätern verübt: von Soldaten der äthiopischen Armee, von Mitgliedern der TPLF, von eritreischen Soldatinnen und Soldaten sowie von Milizionären selbsternannter Selbstverteidigungsgruppen. Die Vereinten Nationen gehen von Tausenden Opfern aus.
Extrem beunruhigend finden Amnesty International und die UNO auch die Situation der eri treischen Flüchtlinge in Äthiopien. Zehntausende von ihnen lebten bis zum Beginn der Kämpfe in vier Flüchtlingslagern in Tigray sowie in einem
weiteren Camp und in mehreren Städten. »Im Sudan konnte ich mit mehreren Augenzeuginnen und Augenzeugen sprechen, die aus Lagern in Tigray kamen«, berichtet Tekle. »Sie erzählten, die eritreische Armee habe die Kontrolle über die Lager Shimelba und Hitsats übernommen und damit begonnen, die Flüchtlinge gewaltsam nach Eritrea zurückzubringen.«
Die eritreische Armee hatte im November an der Seite Äthiopiens gegen die TPLF gekämpft. »Im Moment wissen wir nicht, wie viele zurückgebracht wurden«, sagt Tekle. »Denn denjenigen, mit denen wir sprechen konnten, ist schon relativ früh die Flucht in den Sudan gelungen.«
Während die eritreische Regierung und das Büro des äthiopischen Ministerpräsidenten Abiy Ahmed die Vorwürfe zurückwiesen, räumte der stellvertretende Leiter der Agentur für Flüchtlinge und Rückkehrer der äthiopischen Regierung die gewaltsamen Rückführungen durch eritreische Soldatinnen und Soldaten gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters ein. Nach UN-Angaben sind seit Anfang November mindestens 56.000 Menschen aus Tigray in das Nachbarland Sudan geflohen.
Ein Hauch von Freiheit
Die Gewalt konnte sich seit Anfang November so rasend schnell ausbreiten, weil die Krise schon lange schwelte. Was sie zuletzt befeuerte und Anfang November 2020 zum offenen Krieg führte, waren die Regionalwahlen in Tigray im September 2020. Eigentlich hätten im August in ganz Äthiopien Parlamentswahlen stattfinden sollen. Das neue Parlament hätte anschließend den Ministerpräsidenten bestimmt. Wegen der Corona-Pandemie wurde diese Wahl jedoch zunächst auf unbestimmte Zeit verschoben. Daraufhin beschloss die in Tigray herrschende TPLF, im Alleingang in ihrer Region wählen zu lassen. Anschließend warfen sich die Regionalregierung von Tigray und die Bundesregierung unter Abiy gegenseitig vor, keine Legitimität zu haben.
Die Verschiebung der Parlamentswahl wegen der Pandemie war zwar nachvollziehbar, doch verschärfte sich dadurch die demokratische Legitimationskrise, in der sich Abiys Regierung befindet – ein gravierendes Problem angesichts der ambitionierten Reformen, die sich der Ministerpräsident bei seinem Amtsantritt vorgenommen hatte. Die Parlamentswahl und die anschließende Bestätigung durch das neue Parlament wären vor allem deshalb wichtig gewesen, weil Abiy sein Amt 2018 mitten in der Legislaturperiode übernommen hatte, nachdem sein Vorgänger Hailemariam Desalegn im Februar 2018 überraschend zurückgetreten war.
Dem Rücktritt waren jahrelange landesweite Proteste vor-
An einer von mehreren Stationen. Flüchtlinge versorgen sich mit Wasser.
SUDAN
Khartum
Um Racouba
ERITREA
Tigray
Mekelle
SÜDSUDAN ÄTHIOPIEN
Addis Abbeba
ausgegangen, die vor allem von der größten äthiopischen Be völkerungsgruppe getragen wurden, den Oromo, die etwa ein Drittel der insgesamt 105 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner stellen. Abiy übernahm als erster Oromo das Amt des Regierungschefs und galt zunächst als Hoffnungsträger. Er schlug einen anderen Ton an als die Vorgängerregierungen, die sehr repressiv gegen Kritikerinnen und Kritiker vorgegangen waren, und versprach weitreichende Reformen.
Tatsächlich hat in Äthiopien kaum jemand in so kurzer Zeit so viele politische Veränderungen bewirkt wie Abiy: Seit der 44Jährige am 2.April 2018 zum Ministerpräsidenten ernannt wurde, hob er den lange geltenden Ausnahmezustand auf, erlaubte bis dahin verbotene Medien und Parteien, kündigte freie Wahlen an, ließ politische Gefangene frei, ging gegen Korruption vor und erhöhte den Einfluss von Frauen in Politik und Gesellschaft.
Friedensvertrag mit Eritrea
Im Juli 2018 schloss Abiy einen Friedensvertrag mit dem Nachbarland Eritrea und beendete damit einen jahrzehntelangen Grenzkonflikt. Dem Krieg zwischen den beiden Ländern von 1998 bis 2000 waren schätzungsweise 100.000 Menschen zum Opfer gefallen. Im September 2018 wurde die lange geschlossene Grenze geöffnet, manche Familienmitglieder lagen sich zum ersten Mal nach 20 Jahren wieder in den Armen. Viele bejubelten die Versöhnung, und ein Jahr später erhielt Abiy Ahmed dafür sogar den Friedensnobelpreis.
Doch der Kurs des neuen äthiopischen Regierungschefs stieß schon damals nicht überall auf Zustimmung, und ausgerechnet der Friedensschluss war ein Grundstein für den jetzigen Konflikt. Denn nachdem die TPLF jahrzehntelang in Äthiopien alles kontrolliert hatte, fühlte sie sich durch Abiy von der Macht verdrängt. Der neue Ministerpräsident hatte sie auch komplett außen vor gelassen, als er 2018 Frieden mit deren langjährigem Erzfeind Eritrea schloss.
Nach Ansicht des norwegischen Friedensforschers Kjetil Tronvoll waren 2018 weder die TPLF noch der eritreische Prä sident Isayas Afewerki zur Versöhnung bereit. Afewerki, der Eritrea seit Jahrzehnten diktatorisch regiert, unterhalte seit der Versöhnung aber freundschaftliche Beziehungen zu Abiy. »Sie haben das gemeinsame Ziel, die TPLF auszuschalten«, meint Tronvoll.
Mit Abiys Amtsantritt begannen die Spannungen zwischen der Zentralregierung und der TPLF. Bis dahin war sie die stärkste politische Kraft innerhalb der regierenden Parteienkoalition EPRDF, seit 1991 hatte sie den Regierungschef gestellt und in dem Land mit seinen 80 verschiedenen Bevölkerungsgruppen ein Machtmonopol etabliert. Aber nicht nur die Spannungen mit Tigray wuchsen, in immer mehr Regionen eskalierten ethnische Konflikte, und Abiys Rückhalt schrumpfte.
Selbst große Teile der Oromo gehen mittlerweile gegen »ihren« Ministerpräsidenten auf die Straße. Kern der Konflikte ist das Verhältnis zwischen dem Zentralstaat und den verschiedenen Bevölkerungsgruppen, zwischen der Hauptstadt Addis Abeba und den Regionen. Denn Abiy will den Staat stärker zentralisieren. Zwar soll Äthiopien seiner Vorstellung nach ein föderaler Staat bleiben, die Bevölkerungsgruppen sollen dabei aber eine immer kleinere Rolle spielen. Dagegen wollen die Aktivistinnen und Aktivisten fast aller Bevölkerungsgruppen mehr Autonomie und mehr Rechte als bisher. Der Kampf um die Machtverteilung im Staat bringt also nicht nur Regionen und Zentralregierung sondern auch einzelne Bevölkerungsgruppen gegeneinander auf. Vielerorts eskalieren die Spannungen. Hunderttausende Menschen wurden bereits vertrieben, Äthiopien droht an diesen Konflikten zu zerbrechen.
Zunehmend repressiv
Der Druck der zahlreichen Krisen ist womöglich auch ein Grund dafür, dass Abiy sein Vorgehen gegen Oppositionelle und Andersdenkende inzwischen drastisch verschärft hat. Im Jahr 2020 klangen die Nachrichten aus Äthiopien schon wieder erschreckend vertraut: Ende Januar wurden nach Angaben von Amnesty International mindestens 75 Anhänger der Oromo Liberation Front (OLF) inhaftiert. Unter ihnen war auch die politische Aktivistin Chaltu Takele, die mit politischer Haft reichlich Erfahrung hat: Sie saß unter dem vorherigen Regime von 2008 bis 2016 im Gefängnis wegen Mitgliedschaft in der OLF, die damals als Terrororganisation eingestuft war. Kurz nach Abiys Amtsantritt 2018 wurde die OLF zwar zugelassen, die Regierung geht aber weiter gegen deren Anhänger und andere Oppositionelle vor.
Seit einem Attentat auf ihn im Juni 2018 baute Abiy den Sicherheitsapparat um und setzte Menschen aus seinem Einflussbereich an entscheidende Positionen. Auch das weckt Erinnerungen an Regime, die sich nicht gerade durch demokratische Spielregeln auszeichnen. Ende Juni 2019 gab es im Regionalstaat Amhara einen Putschversuch, mit dem General Asaminew Tsige, ein amharischer Nationalist, vermutlich die historische Vorherrschaft der Amharen wieder herstellen wollte. In der Folge griff Abiy noch stärker auf den Sicherheitsapparat zurück.
Trotz aller Widerstände setzte er den Umbau der äthiopischen Politik fort: Am 1.Dezember 2019 löste er die ehemalige Regierungspartei Revolutionäre Demokratische Front Äthiopischer Völker (EPRDF) auf und ersetzte sie durch die Wohlstandspartei (PP). Er wolle damit den ethnischen Nationalismus überwinden helfen, erklärte Abiy, denn in der PP werden die Mitglieder nicht mehr nach ihrer ethnischen Zugehörigkeit unterschieden.
Dass die EPRDF jemals Geschichte sein würde, hatte noch Ende 2019 kaum jemand für möglich gehalten, immerhin handelte es sich um die bis dahin größte und reichste politische Partei Afrikas. Mut also hat Abiy Ahmed. Immer deutlicher aber zeigt sich, dass seine demokratischen Überzeugungen nicht allzu tief verankert sind.
»Wir wollen uns lebend«. Felipa Díaz demonstriert in Asunción.
Vergewaltigt und vergessen
In kaum einem anderen lateinamerikanischen Land werden Minderjährige so häufig Opfer sexueller Gewalt wie in Paraguay. Doch der Staat lässt sie im Stich. Von Andrzej Rybak (Text und Fotos)
Vor dem Parlament in der Hauptstadt Asunción sitzt eine Frau und trauert. Sie trägt ein schwarzes Kopftuch, und auch ihre Bluse und ihre Hose sind schwarz. »Ich trauere um die Mädchen, die sexuell missbraucht und getötet wurden«, sagt Felipa Díaz. In ihren Händen hält sie ein Plakat mit der Aufschrift »#VivasNosQueremos«, auf Deutsch: »#Wir wollen uns lebend«. Normalerweise demonstriert Díaz mit mehreren Gleichgesinnten. Doch die Corona-Pandemie sorgt auch in Paraguay für Einschränkungen. Hin und wieder laufen Menschen an Díaz vorbei – Abgeordnete und andere, die im Parlament arbeiten oder es besuchen. Manche werfen einen Blick auf das Schild. Andere tun so, als hätten sie Díaz nicht gesehen. Für sexuelle Gewalt an Kindern wollen sich viele in Asunción nicht interessieren. Derzeit tobt ein Streit über einen Aktionsplan für Kinder und Jugendliche von Jugendministerin Teresa Martínez, der die Gleichstellung von Mädchen und Jungen und die Aufnahme von Sexualerziehung in die Lehrpläne der Schulen vorsieht. Der Erzbischof von Asunción, Edmundo Valenzuela, religiöse Fundamentalisten und konservative Ab geordnete werfen der Ministerin vor, damit die Institution der Familie zu zerstören und die HomoEhe zu befürworten. »Das ist eine verlogene Hetze«, sagt Díaz. »Der Staat muss doch etwas tun, um seine Kinder vor Gewalt und sexuellem Missbrauch zu schützen.« Paraguay gehört seit Jahren zu den Ländern mit den meisten Fällen von sexueller Gewalt gegen Minderjährige in Lateinamerika. In keinem anderen lateinamerikanischen Land gibt es mehr Mädchen unter 14 Jahren, die schwanger werden. Abtreibungen sind in Paraguay jedoch selbst im Falle einer Vergewaltigung verboten. Nach Angaben der Koordinationsstelle für die Rechte von Kindern und Jugendlichen (CDIA) wurden 2019 täglich 20 Fälle von Gewalt gegen Kinder und Jugendliche gemeldet; in zwölf Fällen handelte es sich um sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen, die jünger als 16 Jahre alt waren. Von 2012 bis 2019 wurden demnach etwa 36.000 Kinder Opfer sexueller Gewalt. Sozialarbeiter schätzen, dass die Fallzahlen tatsächlich drei- bis viermal so hoch sind, da viele Fälle aus Scham oder Angst verschwiegen werden. »Diese Zahlen sind eine Schande für Paraguay«, sagt Ministerin Martínez. »Der Staat hat die Pflicht, seine Macht zu gebrauchen, um Kinder zu schützen, wenn ihre Familien versagen.« Offiziellen Angaben zufolge werden rund 80 Prozent aller sexuellen Gewaltdelikte von Familienmitgliedern verübt: von Vätern und Stiefvätern, Cousins, Onkeln und Brüdern.
Tiefverwurzelter Machismo
Notwendig sei ein tiefgreifender gesellschaftlicher Wandel, sagt Martínez. Man müsse dem tiefverwurzelten Machismo Einhalt gebieten, und sexuelle Belästigung dürfe nicht länger als Kavaliersdelikt gelten. Außerdem müssten Eltern verstehen, dass auch Kinder Rechte haben, stellt die Jugendministerin fest: »Viele Eltern sehen ihre Kinder immer noch als ihr Eigentum, so wie vor 100 Jahren.«
Felipa Díaz kennt viele Kinder, die Gewalt und sexuellen Missbrauch erlebt haben. In der Stadt Capiatá, in der sie lebt, gehört Gewalt zum Alltag. »Die Männer lassen ihre Frauen und Kinder mittellos sitzen, die Frauen suchen neue Partner und haben mehr Kinder«, sagt die 67-jährige Aktivistin. »Die Stiefväter schlagen ihre Stiefsöhne und vergehen sich an ihren Stieftöchtern.« Die Kirche male das Bild einer heilen paraguayischen Familie, das mit der Realität wenig zu tun habe. »Wir leben in einer total verlogenen Gesellschaft«, sagt Díaz.
Seit 20 Jahren kämpft sie für die Menschenrechte. »Das bin ich meinem Sohn schuldig«, sagt sie. Der junge Feuerwehrmann wurde 1999 auf der Straße in Asunción überfallen und erstochen. Obwohl die Polizei mehrere Hinweise auf die Täter erhielt, unternahm sie nichts. Die Mörder gehörten einer mächtigen Drogenbande an, die regelmäßig Schmiergeld an die Beamten zahlte.
Díaz wollte etwas gegen die Ungerechtigkeit im Land unternehmen. Sie schloss sich Menschenrechtsgruppen an, trat Amnesty International bei und begann, ehrenamtlich für das Rote Kreuz zu arbeiten. Außerdem trennte sie sich von ihrem Ehemann, einem evangelikalen Pastor, der sie immer wieder geschlagen hatte. Ihre Verwandtschaft will nichts mehr von ihr wissen, weil sie die Rechte ihrer lesbischen Tochter verteidigt hat. »Bei uns werden Mädchen missbraucht, und niemand regt sich auf«, sagt Díaz. »Aber wenn Frauen lesbisch sind, ist der Teufel los.« Das gesellschaftliche Leben in Paraguay ist durch
Felipa Diáz, Menschenrechtsaktivistin
Spricht von einer »Pandemie der Gewalt«. Anibal Cabrera.
patriarchale Strukturen geprägt, deren Wurzeln weit in die Geschichte zurückreichen. Von 1864 bis 1870 führte Paraguay Krieg gegen Brasilien, Argentinien und Uruguay, der bis zu 80 Prozent der männlichen Bevölkerung das Leben kostete. Die überlebenden Männer wurden angehalten, mit mehreren Frauen möglichst viele Kinder zu zeugen. 1954 putschte sich der deutschstämmige Armeegeneral Alfredo Stroessner an die Macht. Während seiner 35-jährigen Diktatur wurden Tausende von Mädchen von den Militärs vergewaltigt. Diese Ereignisse hinterließen Spuren in der Gesellschaft. Heute werden viele Kinder von Verwandten oder Nachbarn missbraucht. Oft dann, wenn alleinerziehende Mütter sie in deren Obhut geben, um zu arbeiten.
»Eine Pandemie der Gewalt«
»Die Lage hier ist schlimmer als in anderen Ländern Lateinamerikas«, sagt Anibal Cabrera. Er leitet die CDIA, in der sich alle paraguayischen NGOs zusammengeschlossen haben, die sich mit den Rechten von Kindern und Jugendlichen befassen. »Wir erleben eine Pandemie der Gewalt gegen Minderjährige, und die Regierung schaut weitgehend tatenlos zu.«
Das Land hat die UNO-Kinderrechtskonvention 1990 ratifiziert, setzt sie jedoch nicht um. Es fehlen Kinder- und Jugend büros zur Prävention von Gewalt gegen Kinder, und es gibt nicht genügend Sozialarbeiter, Psychologen, Ärzte und Anwälte, die sich um die Betroffenen kümmern. »Wir brauchen einen soziokulturellen Wandel, wir müssen die Leitbilder und die Mentalität der Gesellschaft ändern«, sagt Cabrera. »Die Sexualerziehung in der Schule, die Gleichstellung von Mädchen und Jungen sind nur die ersten Schritte.«
Seit etwa fünf Jahren sieht er leichte Anzeichen für einen Wandel. 2015 wurde ein zehnjähriges Mädchen schwanger, nachdem ihr Stiefvater sie vergewaltigt hatte. Obwohl der Arzt vor möglichen Komplikationen warnte, wurde das Mädchen gezwungen, das Kind auszutragen. Der Fall hat viele Menschen wachgerüttelt. Sie gingen auf die Straßen. »Als Reaktion darauf hat das Parlament die Strafe für Kindesmissbrauch auf 15 Jahre angehoben«, sagt Cabrera. »Bis dahin wurde Viehdiebstahl mit zwölf Jahren und die Vergewaltigung eines Kindes mit drei Jahren bestraft.« Die Regierung bemüht sich seither auch, das sogenannte »Criadazgo« zu beenden. Dabei handelt es sich um eine Praxis, bei der arme Menschen auf dem Land ihre Kinder in die Stadt schicken, um in wohlhabenden Familien zu arbeiten. Die Kinder bekommen dafür Essen und dürfen – zumindest theoretisch – die Schule besuchen. In der Praxis sieht das jedoch anders aus: Viele schuften den ganzen Tag. »Sie sind keine Haus angestellten, sondern Sklaven«, sagt Tina Alvarenga, die als Kind selbst in einer fremden Familie gearbeitet hat. »Viele Mädchen werden vom Familienvater oder seinen Söhnen vergewaltigt.«
Zehn Jahre war Alvarenga alt, als ihre Eltern sie zu einer Familie nach Asunción schickten. Sie durfte das Haus der Familie nur durch den Dienstboteneingang betreten, aß in acht Jahren kein einziges Mal mit am Tisch. Sie trug gebrauchte Kleider und benutzte alte Teller und Geschirr. »Immerhin durfte ich die Schule besuchen, wurde nicht geschlagen oder missbraucht«, sagt die 58-Jährige heute. Sie kennt viele Frauen, die nicht so viel Glück hatten wie sie.
Musste wie eine Haussklavin arbeiten und hatte Glück im Unglück. Tina Alvarenga.
Will die Straflosigkeit beenden.
»Leider werden indigene Mädchen nicht geschützt.«
Bernarda Pesoa (siehe auch Seite 6).
Mit 18 Jahren wurde sie in die Freiheit entlassen. Sie studierte und forschte für die NGO Global Infancia über das Criadazgo-System. »Früher war das für Mädchen und Jungen aus ländlichen Gebieten unter Umständen die einzige Möglichkeit, eine Schulbildung zu erhalten«, sagt sie. »Im 21. Jahrhundert ist es aber definitiv an der Zeit, die Ausbeutung und den Missbrauch von Kindern zu beenden.« Etwa 47.000 Kinder und Jugendliche dienen heute in Paraguay noch fremden Familien – und erfahren dort häufig sexuelle Gewalt.
Oft betrifft dies auch indigene Mädchen, die zur verwundbarsten Gruppe der paraguayischen Gesellschaft zählen. »Leider werden indigene Mädchen in Paraguay nicht geschützt – sie werden oft überfallen, vergewaltigt und getötet«, sagt Bernarda Pesoa aus Santa Rosa, einem Dorf, in dem Angehörige der indigenen Qom leben. »Wenn unsere Töchter mit dem Bus von der Schule kommen, werden sie deshalb immer von Erwachsenen an der Bushaltestelle abgeholt«, sagt Pesoa, die Mitglied der Organisation der ländlichen und indigenen Frauen (Conamuri) ist.
Rosalía Vega von Amnesty International Paraguay vor ihrem Büro.
Korrupte Justiz
Im Juni 2020 wurde ein zwölfjähriges Mädchen aus der indigenen Gemeinschaft Arroyo Cora tot aufgefunden – es wurde zuvor vergewaltigt. »Es gab Proteste im ganzen Land, doch dann legte sich die Empörung, und man tat so, als sei nichts gewesen«, sagt Pesoa. »Es gibt keine Gerechtigkeit in Paraguay: Der Staat tut nichts, um indigene Mädchen zu schützen. Ob sexuelle Gewalt oder Mord, die Fälle kommen nur selten vor Gericht und enden fast nie mit der Verurteilung der Täter.«
Indigene erfahren in Paraguay kaum Schutz. Großgrund besitzer und Agrarkonzerne versuchen immer wieder, sie von ihrem Land zu vertreiben – oft auch mit Gewalt. »Unsere Leute fliehen in die Stadt, Frauen betteln dort mit Babys in ihren Armen um Geld, Jungen putzen an den Kreuzungen Windschutzscheiben von Autos, Mädchen gehen auf den Strich«, sagt Pesoa.
Doch haben sich indigene Bevölkerungsgruppen in den vergangenen Jahren zunehmend organisiert, um ihre Rechte einzufordern. Sie werden dabei auch von anderen gesellschaftlichen Gruppen unterstützt. »Der Kampf ist allerdings nicht leicht«, sagt Rosalía Vega von Amnesty International in Paraguay. »Menschen, die für Menschenrechte eintreten, werden von der radikalen Rechten und religiösen Fanatikern bedroht.« Vor dem Büro der Menschenrechtsorganisation fanden schon oft Proteste der Ultrarechten statt. »Sie warfen uns vor, Abtreibung und Perversion zu fördern, da wir gesellschaftliche Änderungen fordern und uns für die Rechte der Minderheiten einsetzen.«
Amnesty Paraguay versucht Betroffenen auch vor Gericht beizustehen. »Die Justiz ist hier sehr langsam, teuer und oft korrupt«, sagt Vega. »Prozesse wegen sexueller Gewalt an Kindern dauern nicht selten vier bis fünf Jahre.« Viele Familien geben vorzeitig auf, um die Kinder nicht weiter zu traumatisieren. Und nur ganz wenige Täter werden verurteilt. »Wir müssen dieser Straflosigkeit in unserem Land ein Ende setzen«, sagt Felipa Díaz, die seit Stunden auf der Treppe vor dem Parlament in Asunción ausharrt. »Es wird dauern, aber steter Tropfen höhlt bekanntlich den Stein.«
Vorsichtige Fortschritte
Das Ausmaß der sexuellen Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Deutschland ist enorm. Doch in den vergangenen Jahren entstand eine neue Sensibilität für das Thema. Von Nina Apin
Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche ist in Deutschland weit verbreitet. Im Jahr 2019 wurden den Ermittlungsbehörden mehr als 13.000 Fälle gemeldet, das sind mehr als 35 pro Tag. Dazu kommen mehr als 12.000 angezeigte Fälle von Abbildungen sexueller Gewalt an Kindern, sogenannte Kinderpornografie. Das Dunkelfeld, also die nicht angezeigten Verstöße gegen das Recht auf die sexuelle Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen, schätzen Fachleute um ein Vielfaches höher. »Sexuelle Gewalt wird überall – und auch in Behörden – gewaltig unterschätzt«, sagt Rainer Becker, Ehrenvorsitzender der Deutschen Kinderhilfe und ehemaliger Polizeidirektor.
Lange gab es kaum Bewusstsein für das Thema. Der Begriff »Sexueller Missbrauch von Kindern« wurde erst 1973 im Strafgesetzbuch der Bundesrepublik eingeführt. In den 1980er-Jahren entstanden die ersten Beratungsstellen für betroffene Mädchen, später auch für Jungen. Eine öffentliche Debatte darüber wurde erst im Jahr 2010 angestoßen. Damals wurden zahlreiche Fälle von sexueller Gewalt öffentlich. Zuerst in verschiedenen kirchlichen Einrichtungen, dann in dem reformpädagogischen Internat Odenwaldschule, wo mehr als 500 Jungen und Mädchen Opfer systematischer sexueller Ausbeutung wurden. Es folgten weitere Skandale in Kinderheimen, Pfadfindergruppen, Freizeiteinrichtungen und Kindergärten. Der Haupttatort für sexuelle Gewalt bleibt jedoch die Familie: Rund 60 Prozent aller sexuellen Übergriffe finden im familiären Nahbereich statt, zwei Drittel der Betroffenen sind Mädchen, die Täter sind meist (Stief-) Väter, Großväter und Brüder.
Laut einer neueren Studie hat etwa jede bzw. jeder siebte bis achte Erwachsene in der Kindheit und Jugend sexuelle Gewalt erfahrungen gemacht. An den Folgen leiden die Betroffenen oft lebenslang, sie entwickeln Depressionen, Suchterkrankungen oder chronische Krankheiten und Bindungsunfähigkeit. Viele Betroffene sind später erwerbsunfähig. Expertinnen und Experten schätzen allein die wirtschaftlichen Folgekosten auf rund elf Milliarden Euro pro Jahr. Trotzdem wird weiterhin zu wenig getan, um Kinder und Jugendliche vor sexueller Gewalt zu schützen. »Wir wissen, wie wir Kinder schützen könnten, aber wir tun es nicht«, lautet das Fazit des Juristen Johannes-Wilhelm Rörig, der seit 2011 das Amt des Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs innehat. Vor allem im Bereich der Prävention sieht Deutschlands oberster Kinderschützer große Defizite. Nicht einmal 20 Prozent aller Schulen in Deutschland verfügen über ein Schutzkonzept, also einen Notfallplan für professionelles Vorgehen im Verdachtsfall. Auch in Kindergärten, Sport- und Freizeiteinrichtungen sind Konzepte für den vorbeugenden Kinderschutz noch keine Selbstverständlichkeit. »Alle Einrichtungen, die mit Kindern arbeiten, müssen sich zu präventiven Maßnahmen verpflichten«, fordert Georg Schäfer, Mitglied der Themenkoordinationsgruppe Kinderrechte von Amnesty International Deutschland. »Von der naiven Hoffnung, ›es wird schon nichts passieren‹, muss man sich verabschieden und akzeptieren, dass haupt- und ehrenamtliche Arbeit mit Kindern dadurch komplexer wird.« Die Ächtung von Missbrauchsabbildungen im Internet muss Priorität haben, sagt Schäfer.
Schauplatz hundertfachen schweren Missbrauchs. Campingplatz in Lügde.
Notwendig seien außerdem entschlossene Aufklärung, therapeutische Maßnahmen für Betroffene, die Ahndung von Gewalttaten und der Schutz von Kindern vor Prostitution.
Spürbar bessere Forschung
Doch bis dahin ist es noch ein langer Weg. Immer wieder kommt es zu fatalen Fehleinschätzungen staatlicher Kinderschutzstellen. So auch im Fall von Lügde, wo auf einem Campingplatz seit 1998 mehr als 40 Kinder von mehreren Männern missbraucht und dabei gefilmt wurden. Die polizeilichen Ermittlungen waren von so vielen Unregelmäßigkeiten begleitet, dass sich ein Untersuchungsausschuss des nordrhein-westfälischen Landtags mit dem Fall befasste. 2020 wurden in Münster knapp ein Dutzend Männer wegen schweren Missbrauchs beschuldigt – an den eigenen Kindern und Stiefkindern. Die zuständigen Jugend- und Sozialämter hatten zuvor gegebene Hinweise auf mögliche Kindeswohlgefährdung nicht ernst genommen.
Die Aufklärung früherer Missbrauchsfälle kommt vielerorts nur schleppend voran. »Es gibt immer noch zu viele Verantwortliche in den Institutionen, die nicht die Notwendigkeit und den Wert von Aufarbeitung sexualisierter Gewalt erkannt haben«, sagt Sabine Andresen, die Vorsitzende der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, die 2016 vom Bundestag eingesetzt wurde. Besonders im kirchlichen Bereich würden Übergriffe zu selten aufgedeckt und geahndet. Laut einer von der katholischen Kirche in Auftrag gegebenen Studie von 2018 musste sich nur ein Drittel der aktenkundig gewordenen Täter einem innerkirchlichen Verfahren stellen. Wenden sich Opfer nicht direkt an die Strafverfolgungsbehörden, haben diese kaum Zugriff, da die Kirchen in Deutschland eine rechtliche Sonderstellung genießen.
Doch es gibt auch Fortschritte: Nach einer Reform des Entschädigungsrechts haben Opfer sexueller Gewalt besseren Zugang zu Geldzahlungen und Hilfsmaßnahmen. Die Forschungslage über Täter, Tatumstände und Folgen sexueller Gewalt an Kindern hat sich spürbar verbessert, das Netz von spezialisierten Beratungsstellen und therapeutischen Angeboten ist dichter geworden. Betroffene vernetzen sich in Selbsthilfe-Initiativen und haben mit dem Betroffenenrat eine einflussreiche Selbstvertretung auf politischer Ebene. Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs lässt Betroffene bei Anhörungen zu Wort kommen. »Es ist ein großer Erfolg, dass immer mehr betroffene Menschen die Kraft und den Mut aufbringen, über das in ihrer Kindheit und Jugend erlebte Unrecht zu sprechen – auch öffentlich und aus allen Tatkontexten«, sagt Sabine Andresen.
Auf juristischer Ebene hat eine Reihe von Strafrechtsverschärfungen dazu beigetragen, dass sexuelle Übergriffe auf Kinder und Jugendliche höher bestraft werden. Ein neuer Gesetzentwurf sieht vor, dass Taten gegen die sexuelle Selbst bestimmung von Kindern nicht mehr als Vergehen, sondern als Verbrechen gelten – die mit bis zu 15 Jahren Haft bestraft werden können, dies gilt auch für Missbrauchsabbildungen. Außerdem will die Regierung Kinderrechte ausdrücklich in die Verfassung aufnehmen, um ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit und ihren Bedürfnissen besser Rechnung zu tragen.
Weite Wege zu gehen. Bewohnerinnen des Quilombo Rio dos Macacos beim Wasserholen.
Vom Wasser abgeschnitten
Im Osten Brasiliens wollen Nachfahren von Sklaven ihre traditionelle Lebensweise bewahren. Doch sie haben mächtige Gegner: Die Marine hat ihnen den Zugang zu ihren Gewässern untersagt. Von Christine Wollowski (Text) und Rafael Martins (Fotos), Salvador da Bahia
Rosimeire dos Santos kommt immer am Rio dos Macacos vorbei, wenn sie nach Hause geht. Glänzend und klar liegt der aufgestaute Fluss zwischen Bäumen und Wiesen. Seit Kindertagen hat sie hier geangelt, gebadet, Wasser geschöpft. Die Bambusangelrute hängt noch in ihrer Küche, doch im Gefrierschrank liegen keine Fische mehr. Denn seit Oktober 2020 ist alles anders. Eine Richterin hat per einstweiliger Verfügung entschieden, dass sich kein Mitglied ihrer Gemeinschaft, der Quilombolas vom Rio dos Macacos, dem Fluss oder dem Stausee auch nur nähern darf. Andernfalls droht ein Bußgeld von umgerechnet rund 150 Euro für eine Privatperson und rund 8.500 Euro für die Vereinigung, in der sich die Quilombolas zusammengeschlossen haben. Ihr Gegner ist die brasilianische Marine. Quilombolas sind Nachfahren von Sklaven, die bis heute in ihren traditionellen Gemeinschaften leben. Die Vorfahren der Quilombolas vom Rio dos Macacos waren leibeigene Landarbeiter, Kakao pflücker, Köchinnen, Putzfrauen, Wäscherinnen und Kinderfrauen auf drei Plantagen im Großraum der Millionenstadt Salvador da Bahia im Nordosten Brasiliens. Lohn bekamen sie keinen. Allenfalls durften sie sich Lehmhäuschen auf dem Gelände des Großgrundbesitzers bauen, zur Selbstversorgung im Fluss angeln und in ihrem Garten Maniok, Bananen und andere Früchte anbauen. Selbstversorgung praktizieren sie bis heute. Ihre Pflanzungen sehen ähnlich aus wie die ihrer Vorfahren, aber anstelle der Lehmhäuser gibt es nun Backsteinbauten. Davor blühen Rosen und Nelken, hängen Mangobäume voller Früchte. Auf den Feldern sprießt Mais, üppige Bananenstauden stehen neben dunkelgrün leuchtenden Maniokpflanzen. Mit den Pflanzungen, den gewundenen Lehmwegen und den kleinen Häuschen wirkt der Quilombo, wie Siedlungen von Quilombolas genannt werden, wie ein idyllisches Überbleibsel aus alten Zeiten.
Mehr als 200 Jahre lang lebten die Quilombola-Familien auf dem fruchtbaren Land vor den Toren der Großstadt Salvador, dort wo heute die Vorstadt Simões Filho beginnt. Der letzte Besitzer der Plantage Macacos, Coriolano Bahia, wollte ihnen die Parzellen, die sie seit Generationen bewirtschafteten, als späte Wiedergutmachung übereignen. Doch hatte er reichlich Steuerschulden beim Staat angehäuft und wurde deshalb 1916 enteignet, bevor die Schenkung offiziell registriert werden konnte. In den 1960er-Jahren überschrieb die Regierung die Ländereien der Marine, die ganz in der Nähe die Militärbasis von Aratu baute. Für deren Wasserversorgung im Notfall, so hieß es, errichtete sie eine Staumauer im Fluss.
Ab 1971 wurde für Marineangehörige die Wohnsiedlung Vila Naval da Barragem gebaut – und damit begann der Krieg. So klingt es zumindest in den Erzählungen der Quilombolas. »Soldaten überfielen unsere Häuser, rissen den Maniok aus unseren Pflanzungen und verprügelten uns, sogar Frauen und Kinder«, sagt Olinda Oliveira, die damals noch fast ein Kind war. Soldaten versteckten sich im Wald, um den Frauen aufzulauern, sie zu bedrängen oder zu vergewaltigen. »Wir mussten einen Ausweis tragen, der uns als ›Eindringlinge‹ kennzeichnete, und der jährlich zu erneuern war«, erinnert sich die heute 62-Jährige. Frei bewegen konnten sie sich trotzdem nicht. Wachposten verweigerten Kindern, die zur Schule in die nächste Stadt wollten, den Durchgang und hielten Ärzte auf, die Kranke im Quilombo versorgen wollten, selbst in Notfällen. Manchmal verwehrten sie auch einem Anwalt oder Vertreterinnen einer NGO den Zutritt. »Wegen der Militärs konnte ich nicht die Schule besuchen«, stellt Rosimeire dos Santos in sachlichem Ton fest. Die 42-Jährige steht vor ihrem unverputzten Backsteinhaus, dessen Fenster mit schweren Eisengittern gesichert sind. »Die sind notwendig,
»Selbst mit Fenstergittern schlafe ich schlecht.«
Rosimeire dos Santos hat Angst vor Soldaten
Digitale Kommunikation gegen die Marine. Rosimeire dos Santos.
weil die Soldaten nachts wiederholt in unsere Häuser eingedrungen sind«, sagt sie, und fügt hinzu: »Selbst mit den Gittern kann ich keine Nacht richtig schlafen.« Mehr als die Hälfte der einst 300 Familien sei in umliegende Stadtviertel gezogen, um den Aggressionen zu entgehen.
Marine gegen die Verfassung
Es ist ein ungleicher Kampf, der bis heute kaum Öffentlichkeit findet. Auf der einen Seite bewaffnete Soldaten, Angehörige der angesehensten Klasse des brasilianischen Militärs, die in der acht Kilometer entfernten Militärbasis von Aratu regelmäßig den brasilianischen Präsidenten oder andere hochgestellte Persönlichkeiten empfangen. Auf der anderen Seite die Nachkommen von Sklaven, die kaum lesen und schreiben können, und die auf der Polizeiwache eingeschüchtert werden, wenn sie Anzeige erstatten wollen. »Ein Gesprächstermin beim Gouverneur von Bahia könnte uns helfen, aber leider antwortet er nicht auf unsere Anfragen«, sagt Rosimeire dos Santos.
Im Jahr 2009 erwirkte die Marine einen Gerichtsbeschluss, der sie ermächtigte, das Gelände – auch gewaltsam – zu räumen. Hunderte von Männern seien daraufhin in ihr Gebiet eingedrungen, hätten ihre Waffen auf die Quilombolas gerichtet und deren Häuser beschädigt, erzählt Rosimeire dos Santos. »Unter den Richtern gibt es viele, die selbst Grundbesitz geerbt haben – das beeinflusst deren Entscheidungen«, kommentiert die Anwältin Adriane Ribeiro, die die Gemeinschaft der Quilombolas unterstützt. Nach dem Räumungsurteil suchten die Bewohnerinnen und Bewohner der Gemeinschaft vom Rio dos Macacos Hilfe, allen voran Rosimeire dos Santos und Olinda Oliveira, und stießen auf die ATR, eine Anwaltsvereinigung, die sich vor allem mit Landrechtsfragen beschäftigt, und der auch Adriane Ribeiro angehört.
Laut brasilianischer Verfassung aus dem Jahr 1988 haben Nachfahren von Sklavinnen und Sklaven sowie deren Gemeinschaften ein Anrecht auf Besitztitel für das von ihnen bewohnte Land. Anthropologen des Instituts für Landreform (INCRA) untersuchen, ob die jeweiligen Ansprüche berechtigt sind und vermessen die Gebiete. »Der Landbesitz ist ein Mittel, um neben dem reinen Über leben die kulturelle Identität der Quilombolas zu garantieren«, erklärt die Anwältin. Ursprünglich sollten alle traditionellen Gebiete binnen sechs Jahren nach Verkündung der Verfassung vermessen und eingetragen sein. Tatsächlich sind bis heute nur wenige Prozent offiziell überschrieben. »Die Politiker sorgen nicht dafür, dass die Gesetze eingehalten werden«, sagt Adriane Ribeiro.
Im Jahr 2015 bestätigte das Gutachten des INCRA, dass der Quilombo Rio dos Macacos 301 Hektar umfasst. Doch müssen sich die Bewohnerinnen und Bewohner bis heute identifizieren, wenn sie an der Wache der Militärsiedlung vorbei wollen, und nicht immer werden sie durchgelassen. Die Bewegungsfreiheit sei nicht das einzige Grundrecht, das man ihnen vorenthalte, berichten sie. Auch dass man ihnen den Zugang zum Wasser verwehre, sei lebensbedrohlich. Zudem würden ihre Rechte auf Sicherheit der Person, auf Gesundheitsversorgung und würdigen Wohnraum von Angehörigen der Marine verletzt.
Die Mitglieder der Quilombola-Gemeinschaft erzählen von Menschen, die verprügelt wurden, und anderen, die mangels medizinischer Versorgung ihren Krankheiten erlegen seien. Belegen können sie die Vorwürfe nicht. Auf Nachfrage gibt die Presseabteilung der 2. Division der Marine an, es seien seit sieben Jahren keinerlei Gewalttaten verzeichnet worden. Ältere Fälle seien ordnungsgemäß verfolgt worden. Man habe alle Anträge auf Medikamentenlieferungen und medizinische Versorgung im Quilombola-Gebiet bewilligt, allein im Dezember 2020 sei dies in 69 Fällen geschehen.
Die Anwaltsvereinigung führt dagegen an, dass zum Beispiel im August 2020 nachts bewaffnete Soldaten in das Gebiet der Quilombolas eindrangen. Deswegen sei Anzeige bei der Polizei erstattet worden, bislang jedoch ohne Folgen. Und mitten in der Corona-Pandemie wandten sich Mitarbeiter des staatlichen Gesundheitsdienstes an die Gesundheitsbehörden in Bahia und beschwerten sich, dass sie Schwierigkeiten hätten, in den Quilombo zu gelangen.
Die Gemeinschaft wünscht sich dringend einen eigenen, von der Marine unabhängigen Eingang für ihr Gebiet. Die Marine erbot sich, diesen Zugang zu bauen, im Gegenzug sollte die Gemeinschaft aber dem Bau einer Mauer zustimmen, die sie endgültig von allen Wasserläufen und Quellen trennen würde. Die Quilombolas schlugen das Angebot aus und blie-
Fühlt sich nicht sicher. Olinda Oliveira erlebt die Gewalt der Marine seit fast 50 Jahren.
Das Sekretariat für ethnische Gleichberechtigung des Bundesstaates Bahia plant seit Jahren Infrastrukturprojekte und Sozialbauten und hat dafür umgerechnet mehr als eine Million Euro zur Verfügung. Doch die Quilombolas wohnen weiterhin in unverputzten Häusern, die lediglich einen Estrichboden haben und keinen Wasseranschluss. Es gibt weder eine Schule noch eine Gesundheitsstation auf ihrem Gebiet. »Das Verteidigungsministerium erlaubt keinen Transport von Baumaterialien«, heißt es aus dem Sekretariat für ethnische Gleichberechtigung. Die Marine behauptet hingeben, man habe sich dem Wohnungsbau im Quilombo nie entgegengestellt. Wie so oft in diesem Konflikt steht Aussage gegen Aussage.
Tatsache ist: Die Kinder laufen täglich fünf Kilometer zu Fuß bis zur nächsten Schule und ebenso viele wieder zurück. Die Frauen füllen ihre Eimer an einer weit entfernten Wasserstelle, zu der ein steiler Pfad führt. Am Stausee, wo sie immer Fische gefangen haben, verkündet ein weißes Schild mit großen Lettern: »Eigentum der Marine«.
Für eine wie auch immer geartete Nutzung des Wassers durch die Quilombolas gebe es keine Beweise, erklärt die Marine. Rechtsanwältin Ariane Ribeiro sagt: Die traditionelle Nutzung des Stausees und der Flüsse durch die Quilombolas sei in einem Dokument belegt, das als Grundlage für die Vermessung des Gebiets durch das INCRA dient. Ribeiro hatte sofort Einspruch gegen die einstweilige Verfügung eingelegt, doch der wurde bereits abgelehnt.
Jetzt warten die Quilombolas auf eine Neubeurteilung der Entscheidung durch mehrere Richter. Einen Erfolg konnten sie schon verzeichnen: Im Juli 2020 erhielten sie den Landtitel – zwar nur über 104 Hektar anstatt über 301, doch unter einem Präsidenten, der angekündigt hatte, er werde »keinen Zenti meter« Land an Quilombolas oder Indigene überschreiben, kann dies durchaus als Erfolg gewertet werden. Eine Nachfrage, warum der Besitztitel sechs Monate später noch nicht im Grundbuch eingetragen ist, lässt die zuständige Notarin un beantwortet.
Der Lehmboden leuchtet golden in der Abendsonne. Aus Rosimeires dos Santos’ Haus duftet es nach gekochten Süßkartoffeln vom eigenen Feld. »Wir werden nie aufhören zu kämpfen«, sagt sie mit Nachdruck, »unsere Eltern haben diese Welt für uns bewahrt, und wir werden sie für unsere Kinder verteidigen.« Der Weg vor ihrem Haus, der am Tag sehr belebt war, ist jetzt ausgestorben. »Nachts verstecken sich Soldaten im Wald hinter dem Haus«, sagt Rosimeire dos Santos. »Sie tragen schwarze Kapuzen über dem Kopf und sind bewaffnet.« Von einer NGO bekamen die Quilombolas Spenden, um Kameras und Straßenlaternen auf dem Weg aufzustellen. Die Finanzmittel der Gemeinschaft sind knapp, die meisten Familien leben von den Erträgen ihrer Felder.
Rosimeire dos Santos verlässt das Haus nie allein, selbst dann nicht, wenn sie nur im Quilombo unterwegs ist. »Ich weiß, dass sie mich aus dem Weg haben wollen«, sagt sie. »Schützen kann mich eine Begleitperson auch nicht, aber immerhin kann sie mit dem Handy filmen, falls etwas passiert.« Dann schließt sie die Türen und die Eisengitter, legt den Riegel vor und dreht den Schlüssel im Vorhängeschloss.
»Viele Richter haben selbst Grundbesitz, das beeinflusst.«
Adriane Ribeiro, Anwältin
»Eigentum der Marine«. Die Bewohner des Quilombos müssen ihr Wasser woanders holen. Zum Glück gibt es noch eine Quelle, aber sie ist nicht in der Nähe.
Digitale Davids
Gewinnmaximierung ist den großen Internetkonzernen wichtiger als der Datenschutz und die Privatsphäre der Nutzerinnen und Nutzer. Das Vertrauen in die Marktführer schwindet. Alternativen werden immer beliebter. Von Tobias Oellig
Ob Messenger, Suchmaschine oder Navigation: Viele Onlinedienste sind auf den ersten Blick kostenlos. Bezahlen lassen sich große Plattformen wie Facebook, WhatsApp, Google und Twitter ihre Angebote trotzdem: Sie sammeln Unmengen an Daten über ihre Nutzerinnen und Nutzer. Die Lücken im Datenschutz gehören zum Geschäftsmodell, denn personenbezogene Daten sind viel wert. Mit ihnen können zielgerichtete Werbeplätze verkauft werden.
Die Nutzung kostenfreier Onlinedienste hat also einen hohen Preis: den schleichenden Verlust des Privaten. Dabei ist der Schutz der Privatsphäre ein wichtiges Menschenrecht. Es umfasst die informationelle Selbstbestimmung – also das Recht, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung der eigenen Daten zu bestimmen. Auch die Kommunikation mit anderen Menschen gehört zum Privatleben.
Das Problem ist: Oft hat man kaum eine Wahl. Denn der Onlinedienst ist komfortabel, die Suchergebnisse sind besser, alle Freundinnen und Freunde sind in genau diesem einen Netzwerk aktiv oder nutzen jenen Instant Messenger. Die gute Nachricht ist: Mittlerweile gibt es in fast allen Bereichen datenschutzfreundliche Alternativen. Man muss also nicht darauf warten, bis die Politik endlich fragwürdige Datenschutzregelungen gesetzlich bekämpft. Eine kleine Auswahl.
Gooooo oooooo oooooo oliath
Ein Goliath wie Google scheint fast konkurrenzlos – obwohl er wegen mangelhaftem Datenschutz immer wieder in der Kritik steht. Eine kleine Suchmaschine jedoch hat den ungleichen Kampf aufgenommen: DuckDuckGo stellt nach eigenem Bekunden Datenschutz und Privatsphäre an erste Stelle. Und verspricht, keine Profile der Nutzerinnen anzulegen, keine IP-Adressen zu speichern und keine Informationen über Besucher zu sammeln. Cookies werden nur in überschaubaren Maßen verwendet. Das Konzept scheint aufzugehen: DuckDuckGo zählt mittlerweile zu den beliebtesten Suchmaschinen. Anfang 2021 wurden zum ersten Mal 100 Millionen Suchanfragen pro Tag erreicht. Weitere beliebte Google-Alternativen: Ecosia, Qwant, Startpage oder MetaGer.
www.duckduckgo.com
Messenger
WhatsApp zu verlassen, kann schwer sein. Denn ein Messenger ist nur so viel wert wie seine Reichweite. Was nützt der sicherste Service, wenn die Freundinnen und Freunde ihn nicht auch benutzen? Aber das Vertrauen in undurchsichtige Software von großen Konzernen schwindet und auch die Alternativen werden immer reger genutzt. Ginlo, Signal, Telegram und Wire heißen einige der Herausforderer. Der Schweizer Messenger Threema ist dabei der einzige, der vollkommen anonym genutzt werden kann; ohne Angabe einer Telefonnummer oder E-Mail, nur per zufällig generierter ID. Nachrichten werden nach der Zustellung unwiderruflich vom Server gelöscht und sind dadurch nicht einsehbar. Der Programmiercode der App wird regelmäßig von Dritten geprüft, finanziert wird Threema über die App-Verkäufe.
www.threema.de
Navigation
Google Maps speichert eingegebene Suchbegriffe, die IP-Adresse und auch Breiten- bzw. Längenkoordinaten. Benutzt man die Routenplanerfunktion, wird auch die eingegebene Startadresse auf Google-Servern gespeichert. Eine Alternative dazu ist Open Street Map. Ein kostenloser Kartendienst, der teilweise sogar genauer ist als Google. Der Grund: Nutzerinnen und Nutzer fügen ähnlich wie bei Wikipedia selbst Orte hinzu oder korrigieren Karten. Über zwei Millionen Freiwillige arbeiten gemeinsam an dem Projekt. Manche treffen sich zum Beispiel zu »Mapping Parties« oder »Mapping Weekends«, um ein Gebiet systematisch zu kartieren. Die Vision, die alle verbindet: eine freie Weltkarte zu erschaffen.
www.openstreetmap.org
Weitere Tipps
Unabhängig von den Datenschutzversprechen der Anbieter gilt aber stets: Man muss nicht zwingend den richtigen Namen angeben, kann auf Profilfotos verzichten und die eigene Sichtbarkeit auf bestimmte Gruppen beschränken. Am besten immer so sparsam mit den eigenen Daten umgehen, wie eben möglich.
www.amnesty.de/informieren/aktuell/digitale-ueberwachung-gefahren-2020-und-wie-du-dichschuetzen-kannst
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