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daß magazin für die menßchenrechte
4,80 euro
amneßty journal
wer weißß waß? überwachung 2.0 ßtatt redefreiheit: wie die regierungen verßuchen, die neuen medien zu kontrollieren
gerhart baum »der ßtaat darf nicht alles wissen«
kaukaßißcher teufelßkreiß wer die regierung kadyrows kritisiert, lebt gefährlich
wo wir leben ungewöhnliche bilder aus den ßlums der welt
01 2010 dezember januar
GREIFEN SIE EIN. MIT IHRER UNTERSCHRIFT. Jede dritte Frau wird Opfer von Gewalt – unabhängig von ihrer Herkunft, Religion und Kultur. Frauen werden misshandelt, weil sie Frauen sind. Gegen solche Menschenrechtsverletzungen setzt sich Amnesty International ein. Häusliche Gewalt darf nicht ungeahndet bleiben. Unterstützen Sie uns dabei, öffentlichen Druck aufzubauen und Unrecht anzuprangern. Mit Ihrer Unterschrift können Sie etwas verändern. www.amnesty.de/aktionen
EDITORIAL
Plötzlich ßind ßie da… Foto: Amnesty
Anton Landgraf ist verantwortlicher Redakteur des Amnesty Journals
…zerren sie in ein Auto und verpassen ihr ein paar brutale Hiebe. »Jetzt ist Schluss mit deinen Mätzchen«, schreit einer der Schläger. Dann stößt man sie aus dem Fahrzeug. Die bekannte kubanische Bloggerin Yoani Sánchez wollte Mitte November an einem »Marsch gegen Gewalt« teilnehmen, als sie überfallen wurde. Ihr »Verbrechen«: Sie betreibt den Blog »Generación Y«, auf dem sie über den Alltag in Kuba berichtet und auch die Regierung kritisiert (Seite 28). Trotz der Attacke will sie weitermachen. »Die entscheidende Therapie für mich bleibt dieser Blog«, schreibt sie jetzt über ihre blauen Flecken. Unbequeme Meinungen werden nicht nur in Kuba, sondern auch in zahlreichen anderen Staaten unterdrückt. Dabei gelingt es oft mit Hilfe der neuen Medien, die permanenten Kontrollen zu umgehen. So gelangen beispielsweise immer wieder Bilder und Nachrichten über Demonstrationen in Teheran ins Netz – auch wenn sich die iranischen Behörden noch so sehr bemühen, oppositionelle Stimmen zum Schweigen zu bringen, wie die Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi im Gespräch mit dem Amnesty Journal berichtet (Seite 15). Eine kritische Haltung vertritt auch Alexander Tscherkassow, der für die russische Bürgerrechtsorganisation Memorial im Nordkaukasus arbeitet (Seite 44). Mit seinen Kollegen informiert er über Menschenrechtsverletzungen in der Region, die teils mit Wissen, teils im Auftrag der Behörden erfolgen. Einige seiner Mitstreiter zahlen einen sehr hohen Preis für ihr Engagement. So wie die Memorial-Mitarbeiterin Natalja Estemirowa, die vor wenigen Monaten ermordet wurde. Mit den Ereignissen im Iran, Russland und vielen anderen Regionen der Welt beschäftigte sich Amnesty in den vergangenen Monaten intensiv. Am 10. Dezember, dem Tag der Menschenrechte, wird daher eine kritische Bilanz zu ziehen sein: 2009 war in vieler Hinsicht ein schwarzes Jahr. Zugleich war es aber auch ein Jahr des Aufbruchs. So startete Amnesty International im Oktober die Kampagne »Wohnen. In Würde«, die uns auch in den kommenden Jahren begleiten wird (siehe Seite 80). Und noch eine Neuigkeit in eigener Sache gibt es zu melden: Mit dieser Ausgabe startet der bundesweite Verkauf des Amnesty Journals an Kiosken an Bahnhöfen und Flughäfen. Empfehlen Sie uns weiter, wenn Ihre Freunde und Bekannte das Journal noch nicht kennen. Oder verschenken Sie ein Abo. Den Coupon finden Sie auf der Rückseite. Nehmen Sie es in die Hand.
editorial
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INHALT
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Titelfoto: Birgit Kaulfuß Model: Charlotte Schmidt
titel 22 »Reden ist Silber, Schweigen…«? Von Wolfram Geppert
24 Zwischen Zensur und neuen Freiheiten
In keinem Land der Welt gibt es so viele Internetnutzer wie in China. Von Dirk Pleiter
26 Prügel als Fortschritt
In China bleiben die Webseiten des unbequemen Aktionskünstlers Ai Weiwei gesperrt. Von Jutta Lietsch
rubriken 06 Reaktionen 07 Erfolge 09 Porträt: Marcelo Freixo 10 Aktion 12 Panorama 14 Nachrichten 15 Interview: Shirin Ebadi 17 Kolumne: Martin Krauß 73 Rezensionen: Bücher 74 Rezensionen: Film & Musik 76 Briefe gegen das Vergessen 78 Amnesty Aktuell: Wohnen. In Würde 80 Aktiv für Amnesty
28 Zugriff verweigert
Viele Staaten versuchen mit unterschiedlichen Methoden, die neuen Medien zu kontrollieren. Von Daniel Kreuz
32 »Der Staat darf nicht alles wissen«
Ein Gespräch mit dem ehemaligen Innenminister Gerhart Baum über die Grenzen der Sicherheit und den präventiven Überwachungsstaat.
36 Gefangen im Netz
Millionenfach kommunizieren junge Iraner über virtuelle Netzwerke. Die Behörden versuchen mit allen Mitteln, die Kontrolle zu behalten. Von Golrokh Esmaili
40 Zwitschern bis zum Umsturz
Soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter können nützliche Hilfsmittel sein, wenn es darum geht, viele Menschen zu erreichen und zu mobilisieren. Auch Amnesty International nutzt solche Plattformen, um Unterstützung für die Menschenrechte zu gewinnen. Von Mathias Wasik
Fotos oben: Frederic J. Brown / AFP / Getty Images | Christian Holst | Guillaume Herbaut / Oeil Public / laif | Jonas Bendiksen / Knesebeck Verlag
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amneßty journal | 01/2010
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berichte
kultur
44 »Wer Kadyrow kritisiert, schwebt in Lebensgefahr«
62 Wo wir leben
47 Ein schwarzes Jahr
66 Mann der leisen Worte
Ein Gespräch mit Alexander Tscherkassow von der russischen Bürgerrechtsorganisation Memorial über die Lage der Menschenrechte im Nordkaukasus.
Im Nordkaukasus werden Menschenrechtsaktivisten bedroht und ermordet. Von Peter Franck
48 Die Angst besiegen
Soziale Ausgrenzung ist für die meisten an HIV/AIDS erkrankten Menschen in Myanmar alltäglich. Dabei könnten jedes Jahr Zehntausende gerettet werden, wenn sie die notwendige medizinische Versorgung bekämen. Von Thomas Aue Sobol
52 Durch den Monsun
Im Mai dieses Jahres endete der Bürgerkrieg in Sri Lanka. Doch Hunderttausende Menschen leben weiterhin unter katastrophalen Bedingungen in Flüchtlingscamps. Von Martin Wolf
54 Botschaft des Zweifels
Eine Wahrheitskommission soll in Honduras die Ereignisse der vergangenen Monate aufklären. Von Erika Harzer
56 Blei im Blut
La Oroya heißt die schmutzigste Stadt Lateinamerikas. Rund 3.500 Arbeiter schuften in der Metallschmelze in den peruanischen Anden, die seit Jahren Unmengen von Schwefeldioxid, Blei und Arsen in den Himmel bläst. Von Knut Henkel
inhalt
Weltweit wohnen mehr als eine Milliarde Menschen in Armutssiedlungen. Der Fotoband »So leben wir« zeigt ungewöhnliche Bilder von ihrem Alltag. Von Anton Landgraf
Amir Hassan Cheheltans Bücher erscheinen im Iran meist zensiert. Wie weit seine Regimekritik geht, zeigt sein in Deutschland veröffentlichter Roman »Teheran Revolutionsstraße«. Von Barbara Kerneck
68 Kunst ist Politik
Ästhetik und Aktualität: Über 10.000 Menschen haben das diesjährige Filmfestival der Menschenrechte in Nürnberg besucht und engagierte Filme auf hohem Niveau gesehen. Von Jürgen Kiontke
70 Vier Minuten Revolte
Seit 30 Jahren feiern Musikvideos »queere« Identitäten. Doch es geht um mehr als um sexuelle und kulturelle Selbstbehauptung. Von Lennart Herberhold und Evan Romero-Castillo
72 Kartografie der Macht
Der neue »Atlas der Globalisierung« zeigt den rapiden Wandel unserer Weltordnung. Von Anita Baron
75 Die Stimme der »Verschwundenen«
Mercedes Sosa, eine der bekanntesten Sängerinnen Lateinamerikas, starb Anfang Oktober. Sie erinnerte stets auch an die Opfer der Militärdiktatur und das Schicksal der indigenen Bevölkerung. Von Daniel Bax
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REAKTIONEN
SPANIEN
TUNESIEN
TÜRKEI
Das spanische Haftsystem beschränkt die Rechte von Inhaftierten wie kein anderes in Europa. Wer in Spanien in Polizeigewahrsam gerät, kann bis zu fünf Tage festgehalten werden. Während dieser Zeit haben Inhaftierte kein Recht darauf, einen Anwalt oder Arzt ihres Vertrauens zu sehen. Auch Familien oder Freunde erfahren nichts über den Verbleib. Steht der Festgenommene unter Terrorismus-Verdacht, kann die sogenannte Incommunicado-Haft auf bis zu 13 Tage ausgedehnt werden. Amnesty forderte ein Ende der Praxis: Die Incommunicado-Haft öffne Missbrauch Tür und Tor und verletze die internationalen Menschenrechtsabkommen.
Sie hatten friedlich demonstriert und mussten dafür mehr als anderthalb Jahre ins Gefängnis: Nun sind 68 tunesische Häftlinge wieder in Freiheit, nachdem Präsident Zine El-Abidine Ben Ali sie Anfang November begnadigt hatte. Sie waren verurteilt worden, weil sie sich 2008 in der Bergbauregion von Gafsa an Protesten gegen steigende Arbeitslosigkeit beteiligt hatten. Die Regierung setzte damals Sicherheitskräfte ein, die die Kundgebungen mit exzessiver Gewalt auflösten. Mindestens zwei Menschen wurden getötet.
»Es war wie eine zweite Geburt«, sagt Mohsen Abdolkhani über seine Freilassung. Der Iraner hatte gemeinsam mit Hamid Karimnia in der Türkei Asyl beantragt. Ihr Gesuch wurde abgelehnt, anschließend wurden die beiden Männer aber noch über ein Jahr lang in einem sogenannten »Gasthaus« im westtürkischen Kirklareli festgehalten. Rechtswidrig, wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im September feststellte. Nach monatelangem Einsatz von Amnesty kamen die iranischen Flüchtlinge im Oktober schließlich frei. Amnesty begrüßte die Entwicklung, zeigte sich aber weiter besorgt über die rechtswidrige Internierung hunderter Menschen in den sogenannten »Gästehäusern«.
Ausgewählte Ereignisse vom 1. September bis 4. November 2009.
UGANDA URUGUAY Während der Diktatur von 1973 bis 1985 verschwanden mehr als 230 Menschen in Uruguay, viele Menschenrechtsverletzungen sind bis heute nicht aufgeklärt. Im Oktober wurde nun der frühere Militärdiktator Gregorio Alvarez zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt. Alvarez trage die Verantwortung für Dutzende Morde an Gegnern der Militärherrschaft, so das Gericht. Ein weiterer Angeklagter muss wegen Totschlags in 29 Fällen für 20 Jahre hinter Gitter. Beide Urteile wurden trotz eines Amnestiegesetzes für Militärs und Polizisten gefällt. Amnesty fordert die Annullierung des Gesetzes.
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Anfeindungen gehören für Schwule und Lesben in Uganda zum Alltag. In Gefängnissen werden homosexuelle Häftlinge immer wieder Opfer von Gewalt und Folter. In dem ostafrikanischen Land machen Kirchen und Anti-Schwulen-Gruppen seit Monaten Front gegen gleichgeschlechtliche Liebe. Auch die Medien machen mit und klagen Einzelne öffentlich der Homosexualität an. Im Oktober wurde sogar ein Gesetzentwurf ins ugandische Parlament eingebracht, wonach »schwere Homosexualität« künftig mit dem Tod bestraft werden soll. Amnesty rief das ugandische Parlament dazu auf, den Gesetzentwurf umgehend zurückzunehmen.
SAUDI-ARABIEN Don’t talk about Sex: Ein saudi-arabisches Gericht hatte die Journalistin Rosanna AlYami zu 60 Peitschenhieben verurteilt, weil ein Protagonist ihrer Sendung über sein Sexualleben gesprochen hatte. Das Vergehen der 22-jährigen Rosanna Al-Yami bestand darin, die Sendung vorbereitet zu haben. Nur wenige Tage nach dem Urteil begnadigte der saudische König Abdullah bin Abdul Aziz die Journalistin. Amnesty begrüßte die Entscheidung, forderte aber, auch die anderen Beteiligten zu begnadigen. So war etwa der Gast der Sendung Anfang Oktober zu fünf Jahren Haft und 1.000 Peitschenhieben verurteilt worden.
amneßty journal | 01/2010
Foto: AP
ERFOLGE
»Ich bin so erleichtert«. Jestina Mukoko nach ihrer Freilassung in Harare, 28. September 2009.
erfolg für menßchenrechtßaktivißtin »Ich bin so erleichtert«, sagte die prominente Menschenrechtsverteidigerin Jestina Mukoko, nachdem sie von der Entscheidung erfahren hatte. »Zum ersten Mal seit dem 3. Dezember 2008 kann ich wieder ein normales Leben führen.« Der Oberste Gerichtshof von Simbabwe hatte Ende September das Verfahren gegen Mukoko eingestellt. Der Leiterin des »Zimbabwe Peace Projects« (ZPP) war vorgeworfen worden, »Personen zu rekrutieren und auszubilden, um die Regierung zu stürzen«. Es gilt als sehr wahrscheinlich, dass die Regierung die Vorwürfe erfunden hatte, um Mukoko und andere Menschenrechtsaktivisten und Regimegegner einzuschüchtern. »Wir begrüßen diese Grundsatzentscheidung des Obersten Gerichtshofs von Simbabwe«, erklärte Irene Khan, internationale Generalsekretärin von Amnesty International. »Die Regierung
SIMBABWE
muss alle Anklagen gegen Menschenrechtsverteidiger und politische Aktivisten fallen lassen, die lediglich Gebrauch von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung gemacht haben.« Jestina Mukoko war am 3. Dezember 2008 aus ihrer Wohnung entführt worden. Sie wurde von den simbabwischen Behörden illegal in Haft gehalten und gefoltert. Nach drei Monaten kam sie auf Kaution frei. Sie musste jedoch ihren Pass abgeben und sich jede Woche bei der örtlichen Polizeiwache melden. Amnesty hatte sich unter anderem mit »Urgent Actions« intensiv um ihre Befreiung bemüht. In einem Brief an Amnesty International bedankte sich Mukoko für die Unterstützung: »Zu wissen, dass es Menschen gibt, die uns in unserem Kampf unterstützen, hat uns Trost und Kraft gegeben.«
ASYLSUCHENDE MÜSSEN NICHT MEHR FÜR IHRE INTERNIERUNG ZAHLEN AUSTRALIEN Stress, Sorgen und Schulden: Mit diesen Problemen sahen sich in den vergangenen 17 Jahren viele Asylsuchende konfrontiert, die in Australien Schutz vor Gewalt und Verfolgung suchten. Auf dem fünften Kontinent wurden Asylsuchende und Flüchtlinge, die ohne gültige Papiere eingereist oder deren Visa abgelaufen waren, bis zur Klärung ihrer Fälle in zumeist abgelegenen Lagern interniert. Die Haft konnte sich oft jahrelang hinziehen. Die Unterbringungskosten in Höhe von teilweise bis zu 180.000 Euro wurden den Asylsuchenden in Rechnung gestellt – auch denjenigen, deren Asylantrag erfolgreich war. Premierminister Kevin Rudd beendete die Internierungspraxis
reaktionen
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erfolge
im vergangenen Jahr, und auch mit den horrenden Schulden soll nun Schluss sein: Der Senat verabschiedete im September einen entsprechenden Gesetzentwurf, der die bestehende Regelung abschafft. Zudem wurden 338 Asylsuchenden ihre Schulden in einer Gesamthöhe von knapp fünf Millionen Euro erlassen. Amnesty International begrüßte das neue Gesetz als einen wichtigen Schritt, um die australische Asylpolitik humaner zu machen. Die Organisation hatte die Praxis, dass ohnehin schon traumatisierten Menschen ein hoher Schuldenberg aufgebürdet wurde, stets als »unbegreiflichen Vorgang« kritisiert.
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NACH DREI JAHREN UNSCHULDIG IN HAFT ENDLICH WIEDER FREI »Die mexikanische Regierung hat eingesehen, dass der Prozess und die Strafe gegen diese Frau durch nichts zu rechtfertigen sind«, sagte ein Sprecher von Amnesty nach der Entscheidung. »Sie haben Jacinta Francisco Marcial und ihrer Familie drei Jahre gestohlen. Nichts kann diese Zeit zurückbringen.« Amnesty fordert nun, dass die Vorkommnisse untersucht werden und die Frau eine Haftentschädigung erhält. Die Organisation ist überzeugt, dass sie nur wegen ihrer
Foto: Ricardo Ramírez Arriola / Amnesty
MEXIKO Das vermeintliche Verbrechen wog schwer. Die 46-jährige Jacinta Francisco Marcial, Mutter von sechs Kindern, soll sechs Agenten des mexikanischen Bundeskriminalamtes entführt haben. Dafür wurde sie zu einer Strafe von 21 Jahren verurteilt. Doch seit dem 17. September ist sie nun wieder frei – drei Jahre nach ihrer Verurteilung ordnete ein Richter ihre Freilassung an, nachdem der Generalstaatsanwalt die Vorwürfe gegen sie fallen gelassen hatte.
Angeklagt wegen der Entführung von sechs Bundesagenten. Jacinta Francisco Marcial.
BRIEFE, DIE HELFEN
TODESKANDIDAT BEGNADIGT
Täglich werden Menschen weltweit festgenommen, bedroht, gefoltert, getötet. Amnesty International startet daher jeden Monat sogenannte »Briefe gegen das Vergessen« (siehe S. 76f.). Sie geben den Gefangenen Hoffnung und zeigen den Verantwortlichen, dass die Opfer von Menschenrechtsverletzungen nicht in Vergessenheit geraten sind. Im vergangenen Jahr veröffentlichte Amnesty 36 solcher Appelle, davon waren 17 erfolgreich. Dies entspricht einer Erfolgsquote von fast 50 Prozent. Vier Gefangene wurden freigelassen, in acht Fällen wurden Untersuchungen der Menschenrechtsverletzungen aufgenommen. Zweimal wurden Verantwortliche für Menschenrechtsverletzungen vor Gericht gestellt und verurteilt bzw. es wurde Anklage gegen sie erhoben. Ausführlichere Informationen finden Sie auf www.amnesty.de/bgdv-erfolge.
MONGOLEI Dem mongolischen Staatsbürger Buuveibaatar droht nicht mehr die Hinrichtung. Präsident Tsachiagiin Elbegdordsch begnadigte den 33-Jährigen Mitte Oktober und wandelte das Todesurteil in eine Haftstrafe um. Buuveibaatar war im August 2008 schuldig gesprochen worden, den neuen Partner seiner Ex-Freundin ermordet zu haben. Sein Vater behauptete, dass Buuveibaatar aus Notwehr gehandelt habe. Amnesty International begrüßte die Entscheidung des Präsidenten und forderte die mongolische Regierung zugleich auf, ein Moratorium für die Todesstrafe zu verhängen und alle anhängigen Todesurteile in Haftstrafen umzuwandeln. Die Todesstrafe gilt in der Mongolei als Staatsgeheimnis. Familien werden im Vorfeld nicht über die Vollstreckung einer Hinrichtung benachrichtigt, und der
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ethnischen Herkunft, ihres Geschlechts und ihres sozialen Status festgenommen wurde – Marcial ist Angehörige der Ethnie der Otomi, die zur verarmten Bevölkerung Mexikos zählt. Ein faires Verfahren hat Marcial nie erhalten. Die Bundespolizisten hatten ausgesagt, im März 2006 während einer Razzia gegen Raubkopierer auf dem Markt von Santiago Mexquititlán von ihr und anderen Standbesitzern als Geiseln gehalten worden zu sein. Der einzige Beweis für diesen Vorwurf bestand allerdings aus einem Foto in einer Lokalzeitung, auf dem sie hinter einer Gruppe von Demonstranten zu erkennen war. In ihren ursprünglichen Aussagen hatten die Polizisten sie nicht einmal erwähnt. Erst einen Monat später, nachdem das Foto erschienen war, wurde sie bezichtigt, an dem vermeintlichen Verbrechen beteiligt gewesen zu sein. Während der Verhandlung musste keiner der Beamten erscheinen, um die Aussagen zu bekräftigen oder Marcial zu identifizieren. Damals sprach sie nur sehr wenig Spanisch. Ihr wurde aber weder ein Dolmetscher zur Verfügung gestellt, noch klärte sie der ihr zugeteilte Pflichtverteidiger über ihre Rechte auf. Amnesty erklärte Jacinta Francisco Marcial im August zur gewaltlosen politischen Gefangenen und verlangte von den mexikanischen Behörden ihre sofortige und bedingungslose Freilassung.
Leichnam wird ihnen nicht übergeben. Im vergangenen Jahr wurden in der Mongolei mindestens fünf Menschen hingerichtet. Buuveibaatars Vater hat Amnesty International einen Brief geschrieben und sich bei allen Beteiligten für die Unterstützung seines Sohnes bedankt.
EINSATZ MIT ERFOLG Weltweit beteiligen sich viele tausend Menschen mit Appellschreiben an den »Urgent Actions« und »Briefen gegen das Vergessen« von Amnesty International. Dass dieser Einsatz drohende Menschenrechtsverletzungen verhindert und Menschen in Not hilft, zeigen die Beispiele auf dieser Seite.
amneßty journal | 01/2010
PORTRÄT
MARCELO FREIXO
An Morddrohungen ist Marcelo Freixo gewöhnt. Immer wieder war der brasilianische Menschenrechtler und Abgeordnete des Parlaments von Rio de Janeiro gewarnt worden, seine Arbeit fortzusetzen. Als Vorsitzender eines parlamentarischen Ausschusses hatte er vor zwei Jahren begonnen, die Beteiligung der Regierung an den gesetzeswidrigen Aktivitäten der Milizen zu untersuchen, jener paramilitärischen Gruppen, die bereits über hundert Favelas in Rio de Janeiro kontrollieren. Einem ersten Ergebnisbericht der Kommission folgten bis heute über 200 Verhaftungen, darunter auch viele von ranghohen Polizeibeamten und Politikern. Im Mai dieses Jahres wurde aus den Drohungen bitterer Ernst. Bei der Durchsuchung eines Milizenquartiers fand die Polizei konkrete Pläne zur Ermordung Freixos und seines Mitarbeiters Vinicius George. Beide baten daraufhin um staatliche Schutzmaßnahmen, die jedoch erst sehr spät und nur unzureichend ergriffen wurden. Erst eine Amnesty-Eilaktion brachte den gewünschten Erfolg. Unzählige Postkarten und Briefe aus aller Welt erreichten die brasilianischen Behörden, machten auf die Arbeit und Situation der beiden Männer aufmerksam und forderten zu ihrem Schutz auf. »Der Gouverneur von Rio, die Leiter der öffentlichen Ministerien, der Polizeichef, selbst der Präsident – sie alle sprachen persönlich bei uns vor, um zu erfahren, warum sie plötzlich diese Karten bekamen. Und sie sorgten schließlich dafür, dass wir geschützt wurden«, erzählt Marcelo Freixo. Seitdem hat sich der Alltag der beiden Männer und ihrer Familien komplett verändert. Tag und Nacht steht ein Polizeiwagen vor ihrer Tür. Sie werden auf Schritt und Tritt von Leibwächtern begleitet. Selbst ein kurzer Ausflug an den Strand, Pflichtprogramm in Rio am Wochenende, gilt als zu gefährlich. Jeder Gang muss vorbereitet und abgesichert werden. Ein ungeplantes Treffen mit Freunden oder ein spontaner Kinobesuch – unmöglich. Die absolute Sicherheit gibt es trotzdem nicht.
erfolge
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Porträt
Foto: Felix Broede
»wir führen einen krieg«
Freixo spricht nur ungern über die lebensnotwendig gewordenen Einschränkungen des Polizeischutzes. Eher betont er, dass die Milizen täglich das Leben derjenigen bedrohen, die in den von ihnen kontrollierten Favelas wohnen. Dass sein eigenes Leben nun ebenfalls in Gefahr ist, überrascht ihn nicht. »Man kann diese Arbeit nicht tun, ohne gewisse Risiken einzugehen. Wenn man ein solches Mandat in Rio annimmt, dann aus dem Grund, bestimmten Leuten die Stirn zu bieten. Wir führen einen Krieg! Und wer das nicht akzeptieren will, muss eben woanders arbeiten.« Freixo arbeitet bereits seit über zwanzig Jahren zu Menschenrechten in Brasilien. Lange Zeit war der studierte Historiker als Lehrer in den Gefängnissen Rio de Janeiros tätig und setzte sich für eine Verbesserung der Haftbedingungen ein. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation Justiça Global beriet er Bundes- und Landesbehörden zu verschiedenen Menschenrechtsthemen. Dabei trieb er insbesondere die Entwicklung von Bildungsprojekten und die Thematisierung des Aids-Problems in den Haftanstalten voran. Vor drei Jahren schließlich kandidierte Freixo erfolgreich für das Parlament des Bundesstaates Rio de Janeiro. Hier übernahm er unter anderem das Mandat für Menschenrechte, in dessen Rahmen er gegen die Milizen ermittelt. Die Herausforderungen und Aufgaben dieses Mandats sind vielfältig, die Gefahren ebenfalls. Die nächsten Parlamentswahlen in Rio finden 2010 statt. Sollte Freixo nicht wiedergewählt werden, werden er und einige seiner Kollegen die Stadt und vielleicht sogar Brasilien zu ihrer eigenen Sicherheit verlassen müssen. Doch bis dahin gilt es, die Ergebnisse der Untersuchungskommission weiter umzusetzen. »Rio ist eine wunderbare Stadt«, sagt Freixo, »aber sie muss es für alle sein und nicht nur für einige Auserwählte.« Text: Sara Fremberg
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http://karam903.blogspot.com
Karim Amer in Haft
© Amnesty International
Meinungsfreiheit in Ägypten = Vier Jahre Haft für Blogger
KAIRO – FÜNF MINUTEN VERÄNDERN SCHLAGARTIG SEIN LEBEN! FÜNF MINUTEN DAUERTE DIE VERKÜNDUNG DES URTEILS VON ABD AL-KARIM NABIL SULEIMAN IM JAHR 2007. DER IM INTERNET UNTER DEM NAMEN KARIM AMER BEKANNTE, DAMALS 22-JÄHRIGE STUDENT, WURDE DAMIT ZU VIER JAHREN HAFT VERURTEILT. Grund für seine erstmalige Festnahme im Oktober 2005 waren Äußerungen in seinem Internetblog KARAM903.BLOGSPOT.COM über den Islam und religiöse Unruhen, die im selben Monat in einem Viertel Alexandrias stattfanden. Die Unruhen waren durch ein Video ausgelöst worden, das ein angeblich anti-islamisches Theaterstück zeigte, das in einer koptischen Kirche im Viertel aufgeführt worden war. Es war das erste Mal, dass ein Blogger in Ägypten wegen seiner Äußerungen im Internet strafrechtlich verfolgt und verurteilt wurde. In den Internetblogs in Ägypten werden zunehmend Informationen über Menschenrechtsverletzungen, wie Berichte über Folter und Polizeigewalt gegen friedliche Demonstranten, ausgetauscht. Diese Internetblogs sowie die internationale Berichterstattung darüber üben Druck auf die ägyptischen Behörden aus, Foltervorwürfen nachzugehen und Untersuchungen dazu einzuleiten. Die Verurteilung von Karim Amer ist eine Warnung an die Internetnutzer und Blogger in Ägypten, die in ihren Meinungsäußerungen die ägyptische Regierung kritisieren und Informationen über Menschenrechtsverletzungen verbreiten. Karim Amer ist bis heute in Haft. Das Urteil gegen ihn ist ein SCHLAG GEGEN DIE MEINUNGSFREIHEIT IN ÄGYPTEN. WIR FORDERN DIE ÄGYPTISCHE REGIERUNG AUF – Karim Amer unverzüglich und bedingungslos freizulassen. Er ist ein gewaltloser politischer Gefangener, der allein wegen der friedlichen Wahrnehmung seines Rechts auf freie Meinungsäußerung in Haft ist; – alle Gesetze zu überarbeiten oder abzuschaffen, die Haftstrafen für die friedliche Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung vorsehen. WERDEN SIE AKTIV! WWW.AMNESTY.DE / FREIHEIT-FUER-KARIM
Design: Fons Hickmann m23
Postkarte
FEHLER. VERBINDUNG UNTERBROCHEN.
PANORAMA
Foto: Aubrey Wade / Panos Pictures
INDONESIEN: HIEBE FÜR LIEBE , Das Parlament der indonesischen Provinz Aceh hat eine schärfere Auslegung der Scharia beschlossen. Demnach sollen Unverheiratete, die bei intimen Handlungen ertappt wurden, mit 100 Stockschlägen bestraft werden. Auch auf Homosexualität stehen 100 Hiebe. Ehebrechern droht künftig gar die Steinigung. Das neue Gesetz, das Mitte September vom Provinz-Parlament verabschiedet wurde, verbietet zudem Alkoholkonsum und Glücksspiel. Amnesty verlangt von der Regierung Acehs, die Prügelstrafe und Steinigungen abzuschaffen. »Steinigungen sind grausame, unmenschliche und erniedrigende Formen der Strafe, die Folter gleichkommen. Folter ist nach internationalem Recht verboten«, so die Organisation. Auch die Einstufung von sexuellen Beziehungen zwischen unverheirateten Erwachsenen als Straftatbestand verstoße gegen internationale Menschenrechtsstandards. Das Foto zeigt ein Liebespaar in der Provinz Aceh. Weitere Informationen finden Sie auf www.amnesty.org
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amneßty journal | 01/2010
% SIERRA LEONE: DAS LEBEN ENDET FRÜH FÜR MÜTTER Für viele Menschen ist die Geburt eines Kindes ein Segen. In Sierra Leone kann sie den Tod der Mutter bedeuten. Das westafrikanische Land hat eine der höchsten Müttersterblichkeitsraten der Welt: Schätzungen zufolge stirbt jede achte Frau bei der Geburt eines Kindes. Tausende sterben schon während der Schwangerschaft, häufig an Komplikationen, die leicht behandelt werden könnten. Dies schildert ein Bericht von Amnesty International. Krankenhäuser und Beratungsstellen sind schlecht ausgestattet und haben nicht genügend Personal und Medikamente. Selbst wenn das Leben der Frau auf dem Spiel steht, müssen die Gebühren für eine medizinische Behandlung im Voraus bezahlt werden. Durch Genitalverstümmelung bedingte Komplikationen sind ein weiterer Grund für die hohe Müttersterblichkeit. Frauen stehen zudem unter starkem gesellschaftlichen Druck, viele Kinder zu bekommen – im Durchschnitt sechs bis acht. Das Foto zeigt einen vierzigjährigen Mann mit seinen zwei Söhnen und seinem Neffen (Mitte), den er seit dem Tod von dessen Mutter großzieht. Den kompletten Amnesty-Bericht finden Sie auf www.amnesty.de
Foto: Dita Alangkara / AP
Panorama
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Foto: Fanny / REA / laif
NACHRICHTEN
»Obszönes Spektakel«. Polizeiaktion in dem Flüchtlingslager bei Calais.
zurück in den dßchungel In einer rigorosen Aktion hat die französische Polizei ein Flüchtlingslager bei Calais aufgelöst. Viele der Migranten sind inzwischen an den Ort zurückgekehrt. Das Vorgehen ist bezeichnend für den Umgang der französischen Behörden mit Flüchtlingen. Am frühen Morgen des 22. September räumte die Bereitschaftspolizei in der Nähe von Calais ein »wildes« Lager von Migranten, den »Dschungel von Calais«. 276 Personen wurden dabei festgenommen, darunter 135 meist unbegleitete Minderjährige. Der größte Teil von ihnen stammte aus Afghanistan, aber auch Iraker, Somalier und Eritreer befanden sich darunter. Mit ihren Rucksäcken und Decken gingen die Menschen deprimiert durch ein Polizeispalier zu den Transportern, um über das ganze Land in Heime verteilt zu werden. Bauarbeiter rissen anschließend die spärlichen Hütten, in denen die Migranten gelebt hatten, ab und machten das Lager dem Erdboden gleich. Der »Dschungel« sorgte schon häufig für landesweite Debatten: Seit langem sammelten sich hier Menschen, um trotz aufwendiger Grenzanlagen auf Güterzügen oder Lastwagen versteckt durch den Euro-
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star-Tunnel nach England zu gelangen. Der französische Einwanderungsminister Eric Besson feierte die Räumung des Camps denn auch als einen großen Erfolg und einen Schlag gegen Schleuser. Doch ob es sich tatsächlich um so eine Großtat handelte, wurde allenthalben bezweifelt. Vor allem die menschenunwürdige Behandlung von Minderjährigen sorgte für Kritik. Gemeinsam erklärten unter anderem die Organisationen Cimade, die Rechtsberatung in Abschiebegefängnissen anbietet, und die französische Sektion von Amnesty International, dass die Räumung die Migranten nur »in mafiotische Netzwerke« treibe. Jack Lang, Abgeordneter aus Pas-de-Calais und ehemaliger Bildungsminister, sagte, die Räumung des »Dschungels« erschwere nur die Situation, Jean-Luc Mélenchon von der Partei der Linken sprach von einem »obszönen Spektakel«. Auf jeden Fall war es ein überflüssiges Spektakel. Denn bereits eine Woche nach der Räumung kehrten viele der Flüchtlinge wieder zurück nach Calais. Die Gerichte hatten einen Großteil der Haftbefehle wegen Formfehlern aufgehoben. Manche der Festgenommenen hatten sich gar nicht illegal im Camp befunden, in ande-
ren Fällen kassierten Richter die Haftanträge, weil der Transport nach Südfrankreich nicht gerechtfertigt war. Für Besson jedoch kein Grund, das Vorgehen infrage zu stellen. Er will weitere Lager räumen, darunter eines mit irakischen Kurden. Aber auch Abschiebeflüge nach Afghanistan kündigte der Minister an, »unter der Bedingung, dass die Personen bei ihrer Ankunft in Kabul in Sicherheit sind und Hilfe bei ihrem Neuanfang erhalten«. Ein heuchlerische Einschränkung: Denn die unsicheren Verhältnisse in Afghanistan haben die Menschen in die Flucht getrieben. Amnesty International in Frankreich hat seine »tiefe Beunruhigung« über die Ankündigungen des Ministers ausgedrückt. Das beste Mittel, eine Gefährdung der Menschen zu vermeiden, sei es, sie am Asylverfahren teilhaben zu lassen – mit allen Garantien, die das französische Recht dabei biete, wie etwa juristischen Beistand und das Recht, bei negativem Bescheid Berufung einzulegen. Außerdem fordert Amnesty, dass die Minderjährigen unter den Flüchtlingen einen angemessenen Schutzstatus erhalten. Text: Stefan Wirner
amneßty journal | 01/2010
interview
ßhirin ebadi
Hunderttausende Iraner demonstrierten nach den Präsidentschaftswahlen im Sommer. Die Proteste wurden brutal niedergeschlagen. Ist die Opposition gescheitert? Nein, der Kampf für die Demokratie geht weiter. Wegen der Unterdrückung und der Gewalt, die von der Regierung ausgegangen ist, hat diese Bewegung ihr Auftreten verändert. Ein Beispiel dafür ist das Komitee der Trauernden Mütter, deren Kinder entweder getötet, verhaftet oder »verschwunden« sind. Die Mütter tragen schwarze Kleidung und kommen jeden Samstag zwischen 19 und 20 Uhr in einem Park in Teheran zusammen und begehen diese Zusammenkunft in Schweigen. Welche Möglichkeiten haben Organisationen wie Amnesty, um bedrohte Aktivisten zu unterstützen? Unsere wichtigste Forderung besteht darin, dass Amnesty die Menschenrechtsverletzungen, die im Iran begangen werden, der Weltöffentlichkeit zu Gehör bringt. Wir brauchen die Solidarität der Menschen in der Welt. Zum Beispiel gibt es bereits in vielen Städten der USA, aber auch in Europa, ähnliche Komitees wie das der Trauernden Mütter. In den vergangenen Wochen wurden hunderte Reformpolitiker, Journalisten und Aktivisten vor Gericht gestellt. Wie schätzen Sie diese Prozesse ein? Ich bezeichne diese Veranstaltung nicht als eine Gerichtsverhandlung, sondern als ein Theater. Man lässt nicht einmal die Familienmitglieder der Angeklagten in den sogenannten Gerichtssaal. In einigen Fällen hatten die Angeklagten nicht einmal das Recht, ihren Rechtsanwalt oder ihre Rechtsanwältin selbst auszuwählen, statt dessen sind sie von der Staatsanwaltschaft bestimmt worden. Viele meiner Kollegen im Zentrum für Menschenrechtsverteidiger im Iran haben die Vertretung der Angeklagten übernommen, aber keinem von ihnen ist es bis jetzt gelungen, ihre Mandanten zu besuchen oder Akteneinsicht zu
nachrichten
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interview
Foto: Bettina Flitner / laif
»ich habe meinen weg bewußßt gewählt« erhalten. Deshalb werden die Entscheidungen und Urteile in diesen Verfahren auf keinen Fall akzeptabel sein. Während Regierungsvertreter harte Strafen fordern, zweifelt der Revolutionsführer daran, dass Beweise für die Anschuldigungen vorliegen. Gibt es es Risse im politischen Establishment? Die Regierung kann nur dann fest im Sattel sitzen, wenn sie das Vertrauen der Mehrheit der Bevölkerung genießt. Die Ereignisse, die sich nach den Wahlen zugetragen haben, haben gezeigt, dass der Riss zwischen den Machthabern und den Menschen im Iran größer geworden ist. Sie haben den Iran kurz vor der Wahl verlassen und wurden bereits vor ihrer Abreise bedroht. Was erwarten Sie bei Ihrer Rückkehr? Ich gehe in den Iran zurück. Und es ist auch nicht wichtig, was mich dort erwartet. Meinen Weg habe ich bewusst gewählt. Und ich habe auch immer Verletzungen der Menschenrechte kritisiert. Wenn ich jetzt mehr Kritik übe, dann liegt das daran, dass die Menschenrechtsverletzungen zugenommen haben. Mit dieser Kritik habe ich bereits Ende der achtziger Jahre begonnen. Meine kritischen Bücher und Artikel gehen sogar bis in die Anfangsphase der Regierung nach der Revolution zurück. Interview: Ruth Jüttner
ßhirin ebadi Die Juristin war vor der Revolution die erste Richterin in der Geschichte des Iran. Später vertrat sie als Anwältin viele Oppositionelle vor Gericht. Zeitweise wurde sie inhaftiert und erhielt Berufsverbot. 2003 bekam sie für ihr Bemühen um die Menschenrechte den Friedensnobelpreis.
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Foto: Amnesty
AUSZEICHNUNG FÜR INHAFTIERTEN SYRISCHEN MENSCHENRECHTSAKTIVISTEN
»Wichtiges Zeichen«. Anwar al-Bunni.
SYRIEN Unermüdlich und unerschrocken hat der syrische Menschenrechtsaktivist und Anwalt Anwar al-Bunni Verletzungen der Menschenrechte angeprangert und für die Rechte seiner Mandanten in politischen Verfahren vor Gericht gekämpft. Immer wieder hat er die Aufklärung von Folter und Misshandlung gefordert und wurde deshalb gewaltsam aus dem Gerichtssaal verwiesen und im Mai 2006 schließlich festgenommen. Angeklagt wegen »Verbreitung staatsgefährdender Falschinformationen« im Zusammenhang mit seiner öffentlichen Kritik an der Folter wurde er in einem unfairen Prozess zu
fünf Jahren Haft verurteilt. Anwar al-Bunni ist gegenwärtig unter schwierigen Bedingungen im ’Adra Gefängnis inhaftiert. Im Dezember wird Anwar al-Bunni mit dem Menschenrechtspreis des Deutschen Richterbundes ausgezeichnet. Dieser Preis ist ein wichtiges Zeichen der Solidarität mit Anwar al-Bunni und den syrischen Menschenrechtsaktivisten insgesamt, deren Lage sich in den vergangenen Monaten durch die Festnahme von zwei weiteren Anwälten erneut drastisch verschlechtert hat. Amnesty International hatte al-Bunni für den Preis vorgeschlagen.
ISRAEL VERWEIGERT PALÄSTINENSERN DEN ZUGANG ZU WASSER der israelischen Siedlungen in der Westbank, die einen Verstoß gegen internationales Recht darstellen, über Bewässerungsanlagen, luxuriöse Gärten und Swimming Pools. Amnesty fordert Israel
auf, diese diskriminierende Politik zu beenden und den Palästinensern den Zugang zu genügend Wasser in adäquater Qualität zu ermöglichen. Weitere Informationen auf www.amnesty.de/wasser
Foto: Abed Rahim Khatib / Redux / laif
BESETZTE PALÄSTINENSISCHE GEBIETE »Wasser bedeutet Leben. Ohne Wasser können wir nicht überleben, ebenso wenig unsere Tiere und die Pflanzen.« Mit diesen Worten beschreibt eine Dorfbewohnerin die drastischen Folgen der Wasserknappheit in den besetzten palästinensischen Gebieten, unter der Hunderttausende Menschen leiden. Dafür verantwortlich sind die israelischen Behörden, die den Palästinensern die Nutzung der gemeinsamen Wasservorkommen und den Aufbau einer eigenen Infrastruktur verweigern und damit gegen internationales Recht verstoßen. Dies geht aus einem Ende Oktober veröffentlichten Bericht von Amnesty International hervor. In den ländlichen Gebieten haben 180.000 bis 200.000 Palästinenser keinen Zugang zu fließendem Wasser. Selbst Regenwasser können sie nicht sammeln, da sie häufig von israelischen Soldaten daran gehindert werden. Im Gaza-Streifen sind 90 bis 95 Prozent der Wasservorräte verseucht und für den menschlichen Gebrauch ungeeignet. Im Gegensatz dazu verfügen die Bewohner
Die Vorräte sind fast vollständig verseucht. Kinder im Gaza-Streifen, April 2009.
EUROPÄISCHE UNION BEENDET WAFFENEMBARGO GEGEN USBEKISTAN USBEKISTAN Mit dem Ende des Waffenem-
bargos gegen Usbekistan gibt die Europäische Union ihre eigenen rechtsstaatlichen Prinzipien der Lächerlichkeit preis. Dies kritisierte Amnesty International anlässlich der Entscheidung des EU-Außenministerrats Ende Oktober. »Das ist ein Schlag ins Gesicht der Opfer und Überlebenden der blutigen Niederschlagung der
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Demonstration in Andischan«, erklärte Amnesty-Expertin Imke Dierßen. Am 13. Mai 2005 hatten usbekische Sicherheitskräfte in Andischan wahllos auf Demonstranten gefeuert: Hunderte Menschen starben. Die Demonstranten hatten sich versammelt, um gegen die repressive Regierungspolitik und die weitverbreitete Armut zu protestieren. »Die EU ist einge-
knickt und lässt diejenigen im Stich, die sich in Usbekistan für die Einhaltung der Menschenrechte engagieren und dabei ihre Sicherheit und ihre Freiheit aufs Spiel setzen«, so Dierßen. Amnesty hatte insbesondere von Deutschland als Motor der europäisch-zentralasiatischen Beziehungen mehr Druck und weniger Entgegenkommen gegenüber Usbekistan gefordert.
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Foto: Brennan Linsley / AP
Humanitäre Geste aus Palau. Uigurische Gefangene in Guantánamo Bay, 9. Januar 2009.
ßafety firßt US-Präsident Barack Obama kommt seinem Ziel, das Gefangenenlager Guantánamo zu schließen, nur langsam näher. Der Präsident der Vereinigten Staaten wird gern als »mächtigster Mann der Welt« bezeichnet. Manchmal reicht seine Macht jedoch nicht weit. Barack Obamas Präsidentendekret, wonach das Gefangenenlager Guantánamo spätestens bis zum 22. Januar 2010 geschlossen werden soll, wird nicht befolgt werden – wenn nicht noch ein politisches Wunder geschieht. Gut zwei Monate vor Ablauf der Frist saßen immer noch 215 Gefangene in dem US-Militärstützpunkt auf Kuba fest – ohne Gerichtsurteil, die meisten seit fast acht Jahren. Das waren gerade mal 26 weniger als bei Obamas Amtsantritt im Januar 2009. Zunächst benötigte die von Obama eingesetzte »Task Force« viel Zeit, um sich einen Überblick zu verschaffen. Nach einer Überprüfung der Gefangenen will das Gremium nun etwa Hundert von ihnen freilassen. Gegen etwa 40 Gefangene fand sich genug verwertbares – also nicht durch Folter erlangtes – Beweismaterial, um sie vor Gericht zu stellen. Was mit den anderen geschehen soll, ist nach wie vor unklar. Offenbar denkt die US-Regierung über eine Art »Guantánamo light« nach. Das heißt, diese Gefangenen würden an einem anderen Ort weiter ohne Gerichtsurteil festgehalten, weil man sie für gefährlich hält, ihnen aber keine Straftat nachweisen kann. Doch auch die meisten für die Freilassung vorgesehenen Gefangenen befinden sich noch immer in Guantánamo, da sich der Kongress querstellt. Die Abgeordneten wollen keine ehemaligen Gefangenen in ihren Wahlkreisen haben – nicht als unschuldig Entlassene, nicht als Insassen in Hochsicherheitsgefängnissen. Erst nach langwierigen Verhandlungen billigten beide Parla-
nachrichten
mentskammern Ende Oktober einen kleinen Schritt: In einem Gesetzespaket erlaubten sie, dass Prozesse gegen GuantánamoGefangene in den USA stattfinden. Die Regierung muss den Kongress aber 45 Tage vor der Überstellung informieren. Eine Freilassung in die USA schließt das Gesetz aus. Der Widerstand gegen Obamas Plan, Guantánamo zu schließen, ist auch Ergebnis einer Angstkampagne. Liz Cheney, die Tochter des früheren Vize-Präsidenten, führt gemeinsam mit anderen diese Kampagne an. Auf ihrer Website »Keep America Safe«, beharren sie darauf, dass der Terrorismus nicht mit rechtsstaatlichen Mitteln bekämpft werden könne. Obama gefährde die Sicherheit, indem er »ausländischen Terroristen die gleichen Rechte gibt wie amerikanischen Bürgern«. Auf der anderen Seite sprechen sich neben Organisationen wie Amnesty Ex-Militärs und Geheimdienstmitarbeiter für einen klaren Bruch mit den Menschenrechtsverletzungen der Bush-Regierung aus. Der politische Kampf um die Schließung von Guantánamo ist in den USA längst nicht zu Ende. So ist der mächtigste Mann der Welt vorerst auf die Hilfe von Staaten wie Palau im Südpazifik angewiesen: sechs chinesische Gefangene, Angehörige der uigurischen Minderheit, die in China Verfolgung befürchten müssen, hat Palau aufgenommen. Das Angebot sei eine »humanitäre Geste«, betonte der Ministerpräsident des Inselstaats. Auch Belgien, Frankreich, die Bermudas und Portugal haben aus humanitären Gründen einige Gefangene aufgenommen. Deutschland konnte sich zu einer solchen Geste – die für die Betroffenen den Unterschied zwischen Freiheit und Gefangenschaft bedeutet – bisher nicht durchringen. Text: Ferdinand Muggenthaler
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KEINE WAFFEN FÜR CAMARA Es begann als friedlicher Massenprotest gegen die Militärregierung des westafrikanischen Staats Guinea und endete in einem Blutbad: Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen wurden Ende September in der Hauptstadt Conakry mindestens 157 Menschen getötet und 1.200 verletzt. Die Demonstranten hatten gegen die Pläne von Regierungschef Moussa Dadis Camara protestiert, bei der für Januar geplanten Präsi-
dentenwahl anzutreten. Nach dem Tod des langjährigen Diktators Lansana Conté hatte Camara im Dezember 2008 die Macht an sich gerissen und versprochen, das Land in die Demokratie zu führen. Zuvor war Camara vier Jahre lang in Deutschland militärisch ausgebildet worden, unter anderem an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg und an Offiziersschulen in Dresden und Leipzig. An seinem roten Barrett steckt stets
ein Abzeichen der deutschen Fallschirmspringer. Nach dem Massaker hat Amnesty dazu aufgerufen, keine militärischen Güter mehr an Guinea zu liefern. Die Sicherheitskräfte setzten bei ihrem brutalen Vorgehen unter anderem Waffen aus Frankreich und Südafrika ein. Amnesty fordert seit langem gemeinsam mit anderen Organisationen in der weltweiten Kampagne »Waffen unter Kontrolle!« ein internationales Kontrollabkommen.
Foto: Seyllou / AFP / Getty Images
GUINEA
Waffen aus Frankreich und Südafrika. Polizisten führen einen Demonstranten ab. Conakry, 28. September 2009.
AB IN DEN KOSOVO
IRAK LÄSST IRANISCHE GEFANGENE FREI
DEUTSCHLAND Auch zehn Jahre nach dem Krieg werden Roma im
IRAK Die 36 iranischen Männer, die Ende Juli von irakischen Sicherheitskräften bei der Stürmung des Camps Ashraf verhaftet worden waren, wurden am 7. Oktober aus der Haft entlassen und in das Lager zurückgebracht. In dem nordöstlich von Bagdad gelegenen Camp leben etwa 3.400 Mitglieder der iranischen Oppositionsgruppe der Volksmudschaheddin (PMOI), die in den achtziger Jahren aus dem Iran geflohen waren. Alle Bewohner sollen abgeschoben werden, obwohl ihnen in ihrer Heimat Folter und die Todesstrafe drohen. Bei der Stürmung fuhren die Sicherheitskräfte mit Fahrezugen in Gruppen protestierender Bewohner und schossen scharf. Neun Exiliraner wurden getötet. Die 36 Männer waren bei ihrer Freilassung bei schlechter Gesundheit, weil sie aus Protest gegen Misshandlungen in der Haft in den Hungerstreik getreten waren.
Kosovo diskriminiert und sind Opfer gewalttätiger Übergriffe. Dennoch halten die deutschen Innenminister daran fest, Roma zwangsweise in den Kosovo zurückzuführen. Etwa 23.000 Roma leben heute in Deutschland und haben hier einen Ort gefunden, der ihnen einen gewissen Schutz bietet – vorübergehend. Denn Roma leben in Deutschland nur mit einer Duldung. Bisher hatte die UNO-Übergangsverwaltung des Kosovo (UNMIK) Abschiebungen von Roma und Serben in den Kosovo verhindert. Im November 2008 hat die UNMIK jedoch die Zuständigkeit für Rückführungsfragen an die kosovarische Regierung abgegeben. Und diese ist zur Aufnahme der Vertriebenen bereit. Amnesty International befürchtet nun, dass bis Ende 2009 Zehntausende Roma unter Zwang aus Europa in den Kosovo zurückgeführt werden sollen und auch Deutschland mit den Abschiebungen beginnen wird.
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Zeichnung: Oliver Grajewski
kolumne martin kraußß
weltßache ßPort
Im Sport kann man Erster werden, Zweiter oder Dritter. Und dann gibt es noch den bekanntlich sehr undankbaren vierten Platz. Das ist in der Weltpolitik ja völlig anders. Denn seit es keine Zweite Welt mehr gibt, mag auch keiner mehr von der Dritten oder Vierten Welt reden. We Are One World und kaufen im Eine-Welt-Laden. Das ist in etwa so solidarisch, als wenn sportliche Weltereignisse neuerdings in Gegenden stattfinden, die früher als unterentwickelt galten: 2010 wird die FußballWeltmeisterschaft in der Republik Südafrika und damit erstmals auf dem afrikanischen Kontinent ausgetragen. 2016 finden die Olympischen Sommerspiele in Rio de Janeiro statt und damit erstmals auf dem südamerikanischen Kontinent. Gerecht! Das ist eine der häufigsten Vokabeln, mit denen diese Entscheidungen kommentiert werden. Denn Sport sei ja schließlich eine Weltsache, also quasi Eine-Welt-Sache, und eine Absage an amerika- und eurozentristische Vergabepraxen längst überfällig. Das klingt überzeugend. Bloß muss man leider dafür ein paar Fakten unter den Tisch kehren: Mit London (Sommerspiele 2012) und Vancouver (Winterspiele 2010) wurden nicht gerade Metropolen aus Entwicklungsländern berücksichtigt. Gegen die Vorstellung, Olympia und Fußball-WM hätten irgendetwas mit praktizierter Gerechtigkeit zu tun, sprechen nicht nur die empirischen Beispiele. Eine gerechte Teilhabe von Entwicklungsländern am Weltsport kann es so lange nicht geben, wie sie von den mächtigen Ländern wohlwollend gewährt wird – mit der Option, die Gunst wieder zu entziehen. Und was da gewährt wird, ist ein Welt- und Weltmedienereignis erster Güte, dessen primärer Zweck darin besteht, die Verwertungsmöglichkeiten der (Fernseh-)Ware Sport auch auf bislang ökonomisch noch nicht so gut erschlossenen Kontinenten zu verbessern. Was solche Sportereignisse außerdem noch bewirken, verkündete in bemerkenswerter Offenheit André Pruis, der Vizepolizeichef von Südafrika, als er im vergangenen Sommer Berlin besuchte: »Es ist der Traum eines jeden Polizisten, die WM zu haben. Da bekomme ich nämlich alle Spielzeuge, die ich mir wünsche. Wir haben in der Polizei mehr Hubschrauber als viele Länder in ihrer Luftwaffe.« Mega-Ereignisse wie Olympische Spiele oder Fußball-Weltmeisterschaften sind menschenrechtlich immer bedenklich. Es gibt kaum ein Beispiel, wo sie sich günstig ausgewirkt hätten: Immer, nicht nur in Diktaturen wie China, werden Menschen aus ihren Wohnsiedlungen vertrieben, weil Olympia oder Fußball-WM angeblich Neubauten an genau dieser Stelle erfordern. Und immer, nach dem 11. September 2001 noch mehr als vorher, werden Polizei- und Armeeapparate aus- und Bürgerrechte abgebaut. Gewiss, es gibt immer noch gute Gründe, großen Sport zu mögen. Aber dass plötzlich in Rio oder Kapstadt Weltklassesport zu sehen ist, den es früher nur in Europa und den USA gab, deutet doch nur auf etwas anderes als Gerechtigkeit hin: Dass nämlich im Sport die normale Globalisierung stattfindet, die man woanders auch schon erleben durfte. Und dass man nicht nur im Sport auch Letzter werden kann. Martin Krauß ist freier Sportjournalist in Berlin.
nachrichten
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kolumne
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Titel: Überwachung 2.0
Wer surft mit? Die Wächter laufen der technischen Entwicklung meistens hinterher. Diese beiden Comic-Polizisten sollen im Netz chinesische Nutzer vor gefährlichen Inhalten warnen. Foto: Beijing Public Security Bureau via China Daily / Reuters
Wir reden, zwitschern und surfen: Die neuen Medien bieten noch nie dagewesene Möglichkeiten, um über alle Grenzen hinweg zu kommunizieren. Doch gleichzeitig wird überwacht, bespitzelt und abgehört. Nicht nur in China oder im Iran gehen Regierungen rigoros gegen die Meinungsfreiheit vor. Auch in Europa und den USA wird der präventive Sicherheitsstaat massiv aufgerüstet.
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Das chinesische Zensursystem gilt als das aufwendigste der Welt. Ein Polizist kontrolliert die Besucher eines InternetcafĂŠs in Xian, China.
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Foto: Zhang Hongwei / sinopictures
»Reden ist Silber, Schweigen…«?
TITEL
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ÜBERWACHUNG 2.0
Sie sollten schweigen, aber er hat geredet. Und dafür sitzt er im Gefängnis – der Journalist Shi Tao. Das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking am 4. Juni 1989 sollte am 15. Jahrestag in der Presse nicht erwähnt werden. Dieses Schweigegebot konnte Shi Tao nicht hinnehmen. Menschen müssen von dem reden, was sie tief bewegt. Je stärker sie ein Unrecht empfinden, desto stärker ist der innere Druck, darüber zu sprechen, anzuklagen, Abhilfe zu suchen. Desto stärker wird aber auch der Druck durch die Nutznießer des Unrechts, alles im Dunkeln zu lassen. Wo die Meinungsfreiheit unterdrückt wird, soll Unrecht verdeckt werden. Wahrscheinlich gilt sogar: je stärker die Unterdrückung der Meinungsfreiheit, desto stärker die Unterdrückung der Menschen. Die Meinungsfreiheit ist ein politisches Menschenrecht. Denn anders als bei der Glaubens- und Gewissensfreiheit, die den individuellen Kern des Menschen schützt, geht es bei ihr um die Beteiligung an Entscheidungen, die alle betreffen. Dadurch ist sie Grundlage der Demokratie. Auch für Amnesty International ist Meinungsfreiheit die Grundlage des Wirkens: Wir haben nur das öffentliche Wort als Mittel, Ungerechtigkeit zu mindern und Menschen zu ihren Rechten zu verhelfen. Meinungsfreiheit war einmal fast gleichbedeutend mit Pressefreiheit. Die elektronischen Medien eröffnen neue Fronten. Gewöhnlich sind neue Technologien neue Mittel, die Machtverhältnisse zu verfestigen. Auch heute versuchen Regierungen, die neuen Medien für sich zu nutzen oder gar zu monopolisieren. Ihre Mittel sind Verbot, Kontrolle, abschreckende Bestrafung. Aber vielleicht ist es jetzt anders? Die Wächter laufen der technischen Entwicklung meistens hinterher. Davon berichten unter anderem die Artikel aus China, aus der Türkei, vor allem aber aus dem Iran. Die mediale Revolution könnte politische Auswirkungen haben. Aber die neuen Mittel bergen auch Gefahren: Was zum Beispiel über Twitter ins Netz gestellt wird, kann schneller praktische Konsequenzen haben als es evaluiert wird. Und: Die Anliegen dieser Nachrichtenproduzenten müssen nicht Menschenrechte und Demokratie sein. Auch Demagogen und Kriminellen jeder Art stehen diese Möglichkeiten offen. Die Angst der Regierenden vor freiem Informationsfluss ist verschieden berechtigt, verschieden ausgeprägt, aber allgemein verbreitet. Ist das Streben nach Sicherheit einmal ein Faktor geworden, wuchert es weiter und weiter. Sicherheit gibt es aber nur durch Gerechtigkeit, die durch Meinungsaustausch und Interessenausgleich möglich wird. Wolfram Geppert ist Sprecher der Gruppe Meinungsfreiheit der deutschen Sektion von Amnesty International. Weitere Informationen auf www.amnesty-meinungsfreiheit.de
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Zwischen Zensur und neuen Freihei In keinem Land der Welt gibt es so viele Internetnutzer wie in China. Mit großem Aufwand wachen die Behörden darüber, dass sie keine regierungskritischen Informationen im Netz finden – auch mit Hilfe ausländischer Unternehmen wie Google, Yahoo und Microsoft. Trotzdem kann die Internetgemeinde kleine Erfolge im Kampf gegen die Internetzensur feiern. Von Dirk Pleiter
N
irgendwo auf der Welt gibt es so viele Internetnutzer wie in China. Da es sich um das bevölkerungsreichste Land der Erde handelt, mag dies auf den ersten Blick selbstverständlich erscheinen. Aber noch Mitte der neunziger Jahre hatten in der Volksrepublik nur wenige Menschen Zugang zum weltweiten Netz. Im vergangenen Juni waren es hingegen bereits 338 Millionen – was etwa einem Viertel der Gesamtbevölkerung entspricht. Und die Zahl wächst weiterhin rasant. Die Nutzung des Internets ist daher kein Privileg mehr für eine kleine Elite. Dank der Verbreitung des Internets können einerseits immer mehr Chinesen auf immer mehr Informationen zugreifen. Andererseits ist es für sie nun auch leichter, Informationen über Missstände im Land international bekannt zu machen. Am 5. Juli 2009 kam es beispielsweise in der Stadt Urumqi im Nordwesten Chinas zu Unruhen, nachdem dort Angehörige der uigurischen Minderheit demonstriert hatten. Noch am gleichen Tag waren Amateuraufnahmen auf YouTube abrufbar. Durch das Internet entstehen so neue Freiräume, die auch von unabhängigen chinesischen Journalisten genutzt werden. Sie veröffentlichen die Ergebnisse ihrer Recherchen direkt im Netz. Auch Dissidenten, Menschenrechtsverteidiger und Umweltschützer nutzen mittlerweile das Netz für ihre Anliegen.
Zehn Jahre Haft für eine E-Mail Doch Journalisten und Regimekritiker, die das Internet aus Sicht der chinesischen Behörden »missbrauchen«, müssen mit der ständigen Gefahr leben, Opfer von Repressionen zu werden. Langjährige Haftstrafen drohen, wenn die Behörden den Straftatbestand der »Aufwiegelung zum Umsturz der Regierung« oder der »Weitergabe von Staatsgeheimnissen« als erfüllt ansehen. Genau deswegen steht der Menschenrechtsverteidiger Tan Zuoren zur Zeit in der west-chinesischen Provinz Sichuan vor Gericht. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm unter anderem vor, regierungskritische Schriften im Internet verbreitet zu haben. Im Fall von Shi Tao war es 2004 sogar nur eine einzige E-Mail, die dem Journalisten die Freiheit kostete. Kurz vor dem 15. Jahrestag des Tiananmen-Massakers hatte die chinesische Regie-
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rung die Medien angewiesen, keine Meldungen zu veröffentlichen, »die der zentralen Politik zuwider laufen«. Verdächtige Kontakte zu »demokratischen Elementen in Übersee« waren ebenso verboten. Shi Tao ließ sich davon jedoch nicht einschüchtern und schrieb eine E-Mail an eine amerikanische Stiftung, die sich für mehr Demokratie in China einsetzt. Er schilderte darin die Lageeinschätzung der chinesischen Behörden im Vorfeld des Jahrestages. Sieben Monate später wurde er verhaftet und wegen der »Weitergabe von Staatsgeheimnissen« zu zehn Jahren Haft mit Zwangsarbeit verurteilt. Solch drakonische Gefängnisstrafen sind eine von vielen Methoden, mit denen die chinesischen Behörden versuchen, das Internet zu kontrollieren und Regimekritiker mundtot zu machen. Jeder Internetanbieter muss seine Lizenz beim Ministerium für Informationsindustrie beantragen. Dieses kann den Zugang zu unerwünschten Informationsangeboten jederzeit sperren lassen. Von diesen Maßnahmen ist auch immer wieder die Seite www.amnesty.org von Amnesty International betroffen. Kurz vor Beginn der Olympischen Sommerspiele in Peking hatten die Behörden die Seite zwar im August 2008 freigeschaltet. Seit Anfang dieses Jahres ist der Zugang jedoch wieder gesperrt. Welche Seiten zensiert oder abgeschaltet werden, hängt nicht nur von der aktuellen politischen Lage ab. Die Entscheidungen können auch regional unterschiedlich sein. In politisch besonders brisanten Situationen gehen die Behörden auch so weit, die Nutzung des Internets vollständig zu unterbinden. Dies kann aber einen Konflikt zwischen politischen und wirtschaftlichen Interessen zur Folge haben. Nach den Unruhen in Urumqi wurde das Internet in Teilen der Stadt gesperrt, um die »Verbreitung von Gerüchten zu unterbinden«. Als die Beschränkungen mehrere Wochen später aufgehoben wurden, beklagten sich örtliche Firmen über die durch die Blockade entstandenen wirtschaftlichen Einbußen. Unternehmen sind aber nicht nur Opfer der Zensur. Sie spielen längst auch eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, den Zugriff auf das Internet einzuschränken. Ohne die tatkräftige Unterstützung der Internetanbieter wären die Behörden gar nicht in der Lage, die aufwendige Kontrolle des Internets durchzuführen.
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ten Schon frühzeitig wurden die Unternehmen daher bei der Zensur eingebunden, etwa durch die »Öffentliche Erklärung der chinesischen Internetindustrie zur Selbstdisziplin« von 2002. Seitdem haben Firmen in verschiedener Weise dazu beigetragen, die Freiheit im Internet zu beschränken. Anbieter von Inhalten sind dazu angehalten, ihre Seiten mit Filterprogrammen oder durch Personal immer wieder zu überprüfen. Wenn sie dem nicht nachkommen, droht ihnen im schlimmsten Fall die Schließung.
»Selbstzensur gehört dazu, um ins Geschäft zu kommen« Auch ausländische Firmen sind beteiligt. Eine Suche auf google.cn führt beispielsweise nur zu einer gefilterten Treffer-Auswahl. Die Firma sei darüber nicht glücklich, so ein Google-Vertreter, aber »Selbstzensur gehört zu den Voraussetzungen, um in China ins Geschäft zu kommen«. Microsoft sperrte im Dezember 2005 nach Aufforderung durch die chinesischen Behörden den Blog eines Nutzers, obwohl dessen Seite gar nicht auf einem chinesischen Server lief. Die schwerwiegendsten Folgen hatte bislang das Verhalten der Firma Yahoo. Der bereits erwähnte Journalist Shi Tao konnte erst dann als Autor der E-Mail identifiziert werden, nachdem Yahoo die entsprechenden Benutzerdaten den chinesischen Behörden übermittelt hatte. Doch was müsste getan werden, um in Zukunft zu verhindern, dass Nutzer des Internets zu Opfern von Menschenrechtsverletzungen werden? Die Frage lässt sich nicht einfach damit beantworten, indem man die Abschaffung der Internetzensur fordert. Einige der Zensurmaßnahmen begründen die chinesi-
schen Behörden damit, dass sie die Verbreitung von Pornografie und exzessiven Gewaltdarstellungen verhindern wollen. Ein Beispiel dafür ist die Zensursoftware »Grüner Damm«: Ursprünglich war geplant, dass sie ab dem vergangenen Juli auf jedem neu in China verkauften PC installiert sein sollte. Klar ist allerdings auch, dass eine derartige Software dazu genutzt werden kann, um gegen politisch missliebige Inhalte vorzugehen. In diesem Fall drohen schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen, weil die chinesischen Behörden weitreichende Möglichkeiten haben, politisch missliebige Personen zu verfolgen, mit dem Strafgesetzbuch als Vorwand. Verfolgung zu verhindern und die Meinungsfreiheit zu fördern, ist auch Aufgabe von Unternehmen. Sie sollten unmissverständlich den Schutz der Meinungsfreiheit zu einem ihrer Anliegen erklären. Wo nach Inhalten gefiltert wird, sollte dies offen gelegt werden. Firmen dürfen sich nicht zu Handlangern bei Menschenrechtsverletzungen machen und müssen ihre Rechtsmittel vollständig ausschöpfen, um dies zu verhindern. Die Nutzer ihrer Angebote wehren sich aber mittlerweile auch selbst gegen die Zensur. So hatte der auch in Deutschland bekannte Künstler Ai Weiwei für den 1. Juli zu einem Internetboykott aufgerufen. Als die für diesen Tag geplante Einführung des »Grünen Damms« daraufhin verschoben wurde, konnten die rund 200 Unterstützer des Aufrufs in Peking einen unerwarteten Erfolg feiern. Der Autor ist ehrenamtlicher China-Experte der deutschen Sektion von Amnesty International.
Auch Dissidenten, Menschenrechtsverteidiger und Umweltschützer nutzen mittlerweile das Netz für ihre Anliegen. TITEL
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ÜBERWACHUNG 2.0
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Rasende Kopfschmerzen im Hospital. Ai Weiwei vor seinem Atelier in Peking, April 2009.
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Prügel als Fortschritt In China bleiben die Webseiten des unbequemen Aktionskünstlers Ai Weiwei gesperrt. Seine Gegner kommen dafür umso ausführlicher zu Wort. Sie sehen in seiner oft bissigen Kritik an Partei und Gesellschaft nur eine vom Ausland gesteuerte Kampagne. Von Jutta Lietsch
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Foto: Frederic J. Brown / AFP / Getty Images
er sich in China im Internet über Ai Weiwei informieren will, muss Geduld mitbringen, besonders in diesen Tagen. Viele chinesische Webseiten mit Informationen über den 52-jährigen Maler, Bildhauer, Architekten und Sozialkritiker, der sich selbst als Teil eines Gesamtkunstwerkes begreift, bleiben gesperrt. Zu den Gründen gehört ein Ereignis, das weltweit Empörung ausgelöst hatte: In den frühen Morgenstunden des 12. August drangen Polizisten in der Stadt Chengdu in das Hotelzimmer des Künstlers ein und schlugen ihn zusammen. Ai Weiwei wollte an diesem Tag in einem Gerichtsverfahren zugunsten des Internetautors Tan Zuoren aussagen, der die Hintergründe der skandalös hohen Opferzahl unter Schulkindern beim Erdbeben von Sichuan 2008 untersucht hatte. Tan gehört zu jenen Chinesen, die Auskunft über die Zahl und Namen der Toten verlangen und nach Verantwortlichen für Pfusch am Bau von Klassenzimmern fragen – und die sich mit den Erklärungen der Behörden nicht zufrieden geben wollen. Ai Weiwei veröffentlicht auf seinen Webseiten Informationen von Tan und anderen Erdbeben-Aktivisten. Als Ai Weiwei einen Monat nach den Polizeischlägen seine neue Ausstellung in München vorbereiten will, muss er mit rasenden Kopfschmerzen ins Hospital. Dort operieren ihn die Ärzte sofort, da sich eine lebensbedrohliche Hirnblutung entwickelt hat. Die Fotos von Ai im Krankenbett, mit einem Beutel voller Blut neben dem bandagierten Kopf, gehen um die Welt. Auch in China können all jene Internetnutzer von dem Ereignis erfahren, die ausländische Webseiten anklicken. Doch der Künstler, der sich mit seinem kräftigen Körperbau, dem runden Gesicht und buschigen Bart zum eigenen Markenzeichen gemacht hat und täglich Fotos von seinen Aktivitäten per Blog und Twitter verbreitet, erntet im eigenen Land nicht nur Mitgefühl. Auf einem der größten chinesischen Portale »Sina.com.cn« erscheint etwa ein Kommentar unter der Überschrift: »Die Prügel für Ai Weiwei kann man als sozialen Fortschritt betrachten«. Darin wirft der unbekannte Autor Ai Weiwei vor, sich vor den Karren ausländischer Interessen spannen zu lassen. »Früher haben die Polizisten Wanderarbeiter zusammengeschlagen, dann haben Straßenhändler städtische Kontrolleure
verprügelt«, heißt es. Wenn »die Polizei von Chengdu es wagt, mit Ai Weiwei einen Repräsentanten des Auslands zu verprügeln, dann ist das zweifellos ein großer sozialer Fortschritt«. Die Unruhen in Sichuan nach dem Erdbeben (gemeint sind Proteste von Eltern, die nach den Verantwortlichen für den Einsturz der Schulen suchen) seien vom Ausland gesteuert und von Leuten wie Ai Weiwei angestachelt worden. Anders als bei vielen anderen Blogs zu heiklen Themen erlaubten die Internetzensoren den Lesern, über die Zeilen zu debattieren. Dabei findet der nationalistische Tonfall durchaus Beifall. Solche Töne sind in letzter Zeit in China häufiger zu hören: Dahinter verbirgt sich nicht selten ein Gefühl, in dem sich Neid und historisches Gekränktsein mischen. Ai Weiweis internationaler Erfolg hat ihn nicht nur zu einem reichen Mann gemacht. Er hat ihn bislang auch geschützt und ihm erlaubt, die Kommunistische Partei und die Behörden schärfer zu kritisieren als andere es wagen können. Nachdem Ai Weiwei am Entwurf des »Vogelnest«-Olympiastadions mitgearbeitet hatte, sprach er sich zum Beispiel öffentlich gegen die Art und Weise aus, in der die Pekinger Politiker die Spiele für ihre Propaganda nutzten. Derzeit zeigen zwei große Museen in Deutschland und Japan Werkschauen Ai Weiweis, in denen er bissig Entwicklungen in seiner Heimat aufzeigt (»So Sorry« im Münchner Haus der Kunst und »According to What« im Mori-Art-Museum von Tokio). Dennoch überwiegen im chinesischen Internet die Stimmen, die gegen Polizeiwillkür und Gewalt plädieren. Einige Kommentatoren fragen sich, ob die Tirade des unbekannten Bloggers gegen Ai Weiwei womöglich von einem Mitglied der »50-Cent-Partei« verfasst worden sei. So bezeichnen Chinesen ironisch Landsleute, die sich von den Propagandabehörden für linientreue Kommentare bezahlen lassen. Seit dem 18. Oktober ist Ai Weiwei wieder in Peking. Freunden, die ihn besuchten, zeigte er neue Überwachungskameras, die während seines Deutschlandbesuchs vor seinem Haus angebracht worden sind. Größere neue Projekte bereite er noch nicht vor, solange er nicht wieder ganz gesund sei, sagt der Künstler am Telefon: »Ich muss mich erst einmal erholen.« Die Autorin ist China-Korrespondentin und lebt in Peking.
Die Fotos von Ai Weiwei im Krankenbett, mit einem Beutel voller Blut neben dem bandagierten Kopf, gehen um die Welt. TITEL
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v Zugriff verweigert
Noch nie war die Welt so vernetzt wie heute, konnten Menschen aus verschiedenen Ländern so schnell und einfach miteinander in Kontakt treten. Die neuen Medien, allen voran das Internet, machen es möglich. Doch der freie Austausch von Informationen und Meinungen macht Regierungen nervös, die ihren Bürgern lieber vorschreiben wollen, über was und mit wem sie kommunizieren dürfen. Viele Staaten versuchen daher mit unterschiedlichen Methoden, die neuen Medien unter ihre Kontrolle zu bekommen. Von Daniel Kreuz
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Etwa einem Drittel der Weltbevölkerung wird das Recht auf freie Meinungsäußerung verwehrt.
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m Anfang stand ein Trinkspruch für mehr Gerechtigkeit. Zwei portugiesische Studenten stießen in einem Lissaboner Café auf die Freiheit an. Doch damals, Anfang der sechziger Jahre, herrschte in Portugal eine Diktatur, die keine Kritik duldete. Die zwei Studenten wurden verhaftet. Der englische Rechtsanwalt Peter Benenson forderte daraufhin in einem Zeitungsartikel die Leser dazu auf, sich für die Freilassung der zwei Portugiesen und anderer vergessener Gefangener einzusetzen. Dieser Appell war der Beginn von Amnesty International. Auch knapp fünf Jahrzehnte später könnte der Artikel des Amnesty-Gründers fast unverändert veröffentlicht werden. Empörte sich Benenson damals über die Verhaftung zweier portugiesischer Studenten, könnte es heute die Festnahme eines regierungskritischen Bloggers oder Online-Aktivisten sein. Denn mittlerweile findet die Auseinandersetzung zwischen denjenigen, die friedlich ihre Meinung äußern, und denjenigen, die sie daran hindern wollen, auch im World Wide Web statt. Dies zeigt zum Beispiel die Verhaftung der Blogger Adnan Hajizade und Emin Milli, die seit Juli in Aserbaidschan im Gefängnis sitzen. Die beiden jungen Bürgerrechtsaktivisten hatten ihrem Unmut nicht in aller Öffentlichkeit in einem Café Luft gemacht, sondern auf ihren Websites mit einem satirischen Video. Es zeigt eine Person im Eselskostüm auf einer Pressekonferenz, die das schöne Leben in Aserbaidschan und die Esel-freundliche Regierung in höchsten Tönen lobt. Dabei werden in dem von Ilham Alijew regierten Land unabhängige und oppositionelle Journalisten regelmäßig schikaniert und tätlich angegriffen, eine regierungskritische Berichterstattung existiert kaum noch. Den Bloggern drohen nun fünf Jahre Haft.
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Verantwortlich sind dafür in der Regel autoritäre Machthaber. Seit Beginn des »Krieg gegen den Terror« hat die Zensur des Internets aber auch in Demokratien stark zugenommen. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation »Reporter ohne Grenzen« sind zur Zeit mindestens 93 Online-Dissidenten inhaftiert. Trauriger Spitzenreiter dieser Statistik ist China mit 58 Festnahmen, gefolgt von Vietnam mit 17. Erst im Oktober wurden dort wieder acht Blogger zu Haftstrafen verurteilt, weil sie sich negativ über die Regierung geäußert hatten. Diese versucht mit verschiedenen Methoden, ihre Kritiker zum Schweigen zu bringen. Sie lässt sie von der Polizei überwachen, schränkt ihre Bewegungsfreiheit ein und kontrolliert ihre Telefon- und Internetkommunikation. Amnesty sind Fälle bekannt, bei denen Online-Aktivisten völlig willkürlich in psychiatrische Einrichtungen eingewiesen wurden. Themen wie Menschenrechte, Demokratie und andere als sensibel erachtete Fragestellungen dürfen im Internet nur eingeschränkt und unter strikter Einhaltung von Vorgaben behandelt werden. Aber trotz dieser zahlreichen Schikanen in Vietnam denken die meisten Menschen bei dem Wort »Internetzensur« wohl nach wie vor als erstes an China. Und tatsächlich gilt das chinesische Zensursystem als das aufwändigste der Welt: 30.000 Mitarbeiter der Zensurbehörden wachen Tag und Nacht darüber, dass die digitale »Chinesische Mauer« unerwünschte Inhalte von außerhalb abwehrt und sich kritische Strömungen im Inland nicht ausbreiten können. Die konsequenteste Kommunikationsüberwachung findet sich jedoch nicht im Reich der Mitte, sondern in seinem Nachbarstaat Nordkorea. Denn das Regime von Kim Jong-Il unterbindet fast jegliche Kommunikation mit dem Ausland.
93 Online-Aktivisten sitzen weltweit im Gefängnis
Nordkorea: Der stillste Ort auf dem Planeten
Autoritäre Regime dulden eben keinen Widerspruch, auch nicht in der Online-Welt, da sich dieser Protest schnell auch »offline« auf den Straßen manifestieren könnte. In vielen Ländern werden daher Chatrooms überwacht, Blogs gelöscht, Webseiten blockiert und Suchmaschinen gefiltert. Schon der Gebrauch von Mobiltelefonen ist manch einer Regierung ein Dorn im Auge.
Im Idealfall nehmen Medien in einer Gesellschaft die Rolle als Korrektiv staatlichen Handelns ein, als vierte Gewalt im Staat. In totalitären Staaten wie Nordkorea werden unabhängige und kritische Stimmen aber vielmehr Opfer von Gewalt. Wem es gelingt, ausländische Nachrichten zu verfolgen und diese oder andere regierungskritische Informationen zu verbreiten, dem dro-
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feinde des internets
Keines der Menschenrechte darf so ausgelegt werden, dass dadurch ein anderes Menschrecht verletzt wird. So steht es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die Amnesty International als Grundlage ihrer Arbeit dient. Dies bedeutet, dass auch Meinungsfreiheit ihre Grenzen hat. Sie darf nicht dazu benutzt werden, andere Rechte zu verletzten, auch nicht im Web. Was im »realen Leben« illegal ist, ist in der virtuellen Welt des Internets ebenfalls strafbar, beispielsweise Kinderpornografie oder Aufrufe zu Hass und Gewalt durch Rechtsextremisten oder Islamisten. Viele Regierungen geben vor, mit der Zensur des Internets gegen solche Delikte vorzugehen. Dies ist aber oft nur ein Vorwand. In Wahrheit zielen ihre Maßnahmen darauf ab, den Zugang zu unerwünschten politischen Inhalten zu verhindern und ihre Kritiker mundtot zu machen. In zwölf Ländern sind diese Schikanen und die Repression gegen Bloggerinnen und Blogger so massiv, dass sie laut »Reporter ohne Grenzen (ROG)« den Titel »Feinde des Internets« verdienen. Zu diesen »Feinden« zählt die Organisation Myanmar, China, Kuba, Ägypten, Iran, Nordkorea, Saudi-Arabien, Syrien, Tunesien, Turkmenistan, Usbekistan und Vietnam. Neben der Überwachung und Kontrolle von Online-Informationen und Nachrichten werden in diesen Staaten unliebsame Internetnutzer systematisch verfolgt. »Diese Staaten haben das Internet zu einem Intranet gemacht, um damit die Bevölkerung am Zugang zu ›unerwünschten‹ Online-Informationen zu hindern«, kritisiert ROG.
hen bis zu zwei Jahre Arbeitslager oder bei schwereren Fällen bis zu fünf Jahre »Umerziehungslager«. »Das Recht auf freie Meinungsäußerung existiert in Nordkorea nicht«, erklärt Sam Zarifi, Asienexperte von Amnesty International. »Es ist wohl der stillste Ort auf dem Planeten.« Sämtliche Medien in Nordkorea werden von der Regierung kontrolliert. Sie sind »das Rückgrat einer riesigen Propagandamaschinerie«, heißt es dazu in einem im Oktober veröffentlichten UNO-Bericht. In dem stalinistischen Überwachungsstaat sind alle Radios verplombt, so dass nur die offiziellen nordkoreanischen Sender empfangen werden können. Wer das Siegel beschädigt, wird automatisch als Staatsfeind angesehen und wegen des Hörens ausländischer Sender verurteilt. Auch im World Wide Web kann die vom Hunger geplagte Bevölkerung der allgegenwärtigen Propaganda nicht entfliehen. Wobei World Wide Web der falsche Ausdruck ist, denn in Nordkorea gleicht das Internet eher einem Intranet, das neben einem E-Mail-Programm und einer zensierten Suchmaschine nur wenige sorgfältig ausgewählte Nachrichtenseiten bietet. Lediglich Ausländer und einige wenige Mitglieder der Regierung können dank einer Satellitenverbindung mit einem Server in Deutschland auf ein ungefiltertes Internet zugreifen. Dem Rest der Bevölkerung ist jeder Kontakt mit ausländischen Medien verboten. Die Behörden verhaften jeden, der südkoreanische Magazine und Videos oder ein nicht genehmigtes Mobiltelefon besitzt. Kim Jong-Ils Regime nahm zwar 2002 das erste Mobilfunknetz des Landes in Betrieb – allerdings nur, um wenig später den Bürgern dessen Benutzung zu verbieten. Der Genuss dieses Privilegs bleibt der militärischen Elite vorbehalten. Der Schwarzmarkthandel mit chinesischen Mobiltelefonen blüht. Die Nordkoreaner können mit diesen Handys sogar online gehen. Dem Rest der Welt oder zumindest pro-demokratischen Inhalten kommen sie dadurch allerdings auch nicht näher, wie »Reporter ohne Grenzen« berichtet: Die chinesischen Mobiltelefone erlauben nur den Zugriff auf das bereits gefilterte chinesische Internet. Kein Land der Welt ist so isoliert wie Nordkorea. Ein Zustand, um den manche Machthaber Kim Jong-Il beneiden dürften. Sie
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teilhabe am internet Die höchste Dichte an Internetanschlüssen findet sich in Nordamerika, Skandinavien, SaudiArabien, Japan und Australien. In diesen Ländern haben fast alle Einwohner einen Zugang zum Netz. Hoch ist auch der Anteil in Mitteleuropa, Südostasien und Teilen Südamerikas. Hier verfügt etwa die Hälfte der Bevölkerung über einen Anschluss. In vielen afrikanischen Ländern besitzt hingegen weniger als ein Prozent der Bevölkerung einen Internetanschluss.
versuchen mit anderen Methoden, ihre Kritiker zum Schweigen zu bringen. Beispielsweise, indem man die Kosten für die Nutzung neuer Medien so hoch ansetzt, dass sie sich kaum jemand leisten kann, wie in Kuba.
Kuba: Flucht ins digitale Exil Wer dieser indirekten Zensurmaßnahme entgehen möchte, braucht oft schlicht und einfach Glück. So wie Carlos Quintero*: Der Kubaner vermietet Zimmer an Touristen und hat einen ausländischen Freund, der in Havanna arbeitet. Genügend Geld in harter Währung und sein Kontakt ermöglichen ihm den Zugang zum weltweiten Internet. Offiziell dürfen nur Ausländer, Journalisten, Politiker und hochrangige Akademiker zu Hause ins World Wide Web, und die wiederum haben das Recht auf Anschlüsse an drei verschiedenen Orten. Auf diesem Weg kommen vereinzelt »gewöhnliche« Menschen wie Quintero zu einem relativ ungefilterten Netzanschluss. 30 konvertible Pesos, also 30 US-Dollar, zahlt er monatlich seinem ausländischen Freund, damit er dessen Zugang von ein Uhr nachts bis fünf Uhr morgens benutzen kann. Die Behörden sollten das aber besser nicht erfahren. Für die vielen Kubaner, die nicht an die konvertiblen Pesos kommen, sieht es schlecht aus mit der digitalen Freiheit. Seit Mai 2008 dürfen sie zwar die Anschlüsse in den Touristenhotels nutzen, doch das kostet rund fünf Dollar pro Stunde – etwa ein Drittel des durchschnittlichen Monatseinkommens. Die meisten müssen sich also, ob am Arbeitsplatz oder in den Universitäten, mit dem kostenlos zugänglichen nationalen Intranet begnügen. Dort können sie einen Mail-Account einrichten und auf Webseiten von Institutionen, Hochschulen oder Medien zugreifen, die von der Regierung kontrolliert werden. Beiträge, die das Regime kritisieren, sind dort nicht zu finden. Folglich bewegt sich Kubas äußerst aktive Bloggerszene im digitalen Exil, sprich: auf internationalen Servern. Im Land selbst ist deren Webseite www.desdecuba.com, auf der zahlreiche Autoren kritische Texte und Filme über die kubanischen Verhältnisse veröffentlichen, gesperrt. So auch die Seite der Bloggerin Yoani Sánchez und ihres Projektes »Generación Y«. Schon mehrmals durfte sie das Land nicht verlassen, um inter-
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Anteil der Bevölkerung, der Zugang zum Internet hat: 0–5% 5–10% 10–20% 20–30% 30–40% 40–50% 50–60% 60–70% 70–80% 80–90% 90–100% Quelle: Internet World Stats, Stand 2009
nationale Auszeichnungen entgegenzunehmen. Im Oktober dieses Jahres kritisierte Amnesty, dass die 34-Jährige nicht nach New York reisen durfte, wo man ihr den »Maria-Moors-CabotJournalistenpreis« überreichen wollte. Mitte November wurde sie von Geheimpolizisten überfallen und verprügelt. Bereits 2007, so berichtet »Reporter ohne Grenzen«, sei der CubanetKorrespondent Oscar Sanchez Madan zu vier Jahren Haft verurteilt worden, weil er sich mit einem internationalen Netzwerk verbunden habe. Der Gebrauch des Internets, so stellte der Kommunikationsminister Boris Moreno klar, müsse der Revolution und den Prinzipien dienen, an die Kuba seit Jahren glaube. Dass sich ein Großteil der Bevölkerung mit dem nationalen Intranet zufrieden geben muss, hat nach Regierungsangaben mit der US-Wirtschaftsblockade zu tun. Durch das Embargo könne man sich nicht an das US-Unterseekabel anschließen und sei auf ein chinesisches Satellitensystem angewiesen. Und das stelle eben nur geringe Kapazitäten zur Verfügung. Mit solchen Problemen haben Bürger in einer Demokratie in der Regel nicht zu kämpfen, wenn sie online gehen wollen. Doch auch in Ländern, die zumindest formell demokratisch sind, hat die Unterdrückung der freien Meinungsäußerung zugenommen, wie das Beispiel Türkei zeigt.
Türkei: Zensur von YouTube, Facebook & Co. Ende September 2009 erteilte das Amt für Telekommunikation (TIB) ohne Begründung die Anweisung, das interaktive Computerspiel »Farmville« auf Facebook zu sperren. User munkeln auf der Plattform, dass die Praxis, nach islamisch-konservativem Verständnis »minderwertige« Tiere wie Enten und Hasen an Mitspieler zu versenden, das Missfallen der Behörde erweckt habe. Gleichzeitig ermöglichen im Netz veröffentlichte Umgehungspfade die Ausschaltung fast jeglicher Internetzensur in der Türkei. Selbst Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan erwiderte auf Kritik an der Zensur von YouTube vor einem Jahr, dass es doch Wege gäbe, diese zu umgehen, er mache das auch. Seit Ende der neunziger Jahre bieten Provider Internetzugänge in der Türkei an. Etwa zehn Jahre lang gab es nur Zensur spe-
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zifischer oppositioneller Seiten, wie die der kurdischen Opposition. Als das Parlament im November 2007 ein neues Internetgesetz erließ, verfügte es, dass die Gerichte des Landes jede beliebige Webseite innerhalb von 24 Stunden blockieren dürfen. Seither können lokale Strafgerichte des Landes Websites wegen etwa pädophiler oder pornografischer Inhalte, Verherrlichung von Drogen, Aufruf zum Selbstmord, aber auch wegen Beleidigungen des Staatsgründers Atatürk blockieren. Die Videowebsite YouTube ist seit über einem Jahr kontinuierlich gesperrt. Auslöser waren animierte Videos, die Atatürk geschminkt und bauchtanzend zeigten. Auch das populäre Musikportal Last.FM und MySpace sind mittlerweile verboten. Selbst Google wird wegen der Google-Videos immer wieder sporadisch gesperrt. Yaman Akdeniz, Gründer und Direktor von Cyber-Rights & Cyber-Liberties stellt fest, dass heute mehr als 6.000 Webseiten in der Türkei gesperrt sind. Nur ein Bruchteil der Fälle wurde im Gericht ausgehandelt. Meistens beruhen die Sperrungen auf administrativen Entscheidungen. In der Türkei entwickelt sich momentan allerdings auch über verschiedene Interessensverbände und eine breite akademische Lobby eine Bewegung zur Verteidigung des freiheitlichen Zugangs zum Internet. Mehrere Klagen werden vor türkischen Gerichten verhandelt und können in der nahen Zukunft eine Aufhebung der relativ willkürlichen Beschränkungen auslösen. Beschränkungen, die nicht nur in der Türkei die Meinungsund Informationsfreiheit gefährden. Etwa einem Drittel der Weltbevölkerung wird das Recht auf freie Meinungsäußerung und der ungehinderte Zugang zu Informationen verwehrt. Die Freiheit hochleben zu lassen, kann immer noch gefährlich sein, egal ob in einem Café oder in einem Chatroom. Denn in vielen Ländern spucken zensierte Suchmaschinen bei Begriffen wie »Menschenrechte«, »Demokratie« oder »Meinungsfreiheit« die gleiche Antwort aus: Null Treffer. *Name von der Redaktion geändert Der Autor ist Volontär beim Amnesty Journal. Mitarbeit: Wolf-Dieter Vogel und Sabine Küper
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»Wir alle werden zu Risikofaktoren«. Innenminister a.D. Gerhart Baum.
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»Der Staat darf nicht alles wissen« Ein Gespräch mit dem ehemaligen Innenminister Gerhart Baum über die Grenzen der Sicherheit und den präventiven Überwachungsstaat.
Foto: Michael Danner
Fühlen Sie sich von diesem Staat bedroht? Nicht generell, aber ich sehe eine Erosion der Grundrechte durch staatliche Eingriffe in meine Privatheit. Ich fühle mich durch meine ganze Lebensgeschichte dem Grundgesetz verpflichtet. Diese Demokratie ist eine Absage an jede Form von Unfreiheit und Barbarei, das ist der Gründungsmythos unserer Republik. Die Art und Weise, wie wir uns mit unserer Vergangenheit auseinandersetzen – täglich, es gibt keinen Schlussstrich – stärkt diese Demokratie immer von Neuem.
umgekehrt verhalten. Auch das Bewusstsein in der Bevölkerung hat sich geändert. Als ich Innenminister war, konnte man mit einer entschlossenen Minderheit in der Gesellschaft rechnen, die sich für die Bürgerrechte einsetzte. Ein Beispiel dafür war die Volkszählungsdebatte. Gegenüber dem doch eher harmlosen Vorhaben herrschte damals eine sehr große Skepsis, viele weigerten sich trotz Strafandrohung, daran teilzunehmen. Diese Haltung ist später einer allgemeinen Gleichgültigkeit gewichen. Wer wie ich über Jahre hinweg gegen den Übereifer des Staates gekämpft hat, stand lange Zeit ziemlich alleine da. Erst jetzt ändert sich das Klima. Die Koalitionsvereinbarung nimmt das Thema ins Visier.
Trifft das auch auf Ihre eigene Vergangenheit zu? Als Innenminister haben Sie die Sicherheitsdebatte um die RAF erlebt. Wie sehr hat Sie diese Zeit geprägt? Die Überreaktion des Staates, die Hysterie, die damals um sich griff, die Vorstellung, wir befänden uns in einem Bürgerkrieg, das hat mich doch sehr geprägt. Ich bin allerdings nicht frei davon, an solchen Überreaktionen teilgenommen zu haben – wir mussten uns ja auch gegen weitergehende Vorschläge von Seiten der damaligen konservativen Opposition wehren. Aber ich habe dazugelernt und zum Beispiel eine Maßnahme rückgängig gemacht, die sehr viel Misstrauen zwischen den Generationen geschürt hat. Das war der sogenannte Radikalenerlass: die Regelanfrage beim Verfassungsschutz vor Einstellungen im öffentlichen Dienst.
Wie kann das Sicherheitsdenken eine solche Eigendynamik erhalten, dass es scheinbar nicht mehr richtig zu kontrollieren ist? Menschen sind sehr stark sicherheitsorientiert und lassen sich dazu verführen, ihre Freiheit um der Sicherheit willen eingrenzen zu lassen. Natürlich muss der Staat soziale Sicherheit gewährleisten. Was die innere Sicherheit angeht, so ist jedoch Freiheit ohne Unsicherheit nicht zu haben. Man muss mit dem Risiko leben – im privaten wie auch im öffentlichen Bereich. Der Staat kann und muss das Risiko mindern, aber er muss auch die Grenze sehen, wo er beginnt, Grundwerte zu bedrohen. Es wäre absurd, die Werte aufzugeben, die man verteidigen will.
Haben Sie den Eindruck, dass sich das Verhältnis zwischen dem Staat und den Bürgern seitdem verändert hat? Ja. Ich habe damals ein Buch verfasst mit dem schönen Titel »Der Staat auf dem Weg zum Bürger«. Das war gut gemeint, in dem Sinne, dass sich der Staat dem Bürger öffnet. Heute hätte dieser Buchtitel einen beängstigenden, freiheitsgefährdenden Beigeschmack. In den vergangenen Jahrzehnten wurde das Sicherheitsdenken immer dominanter. Wer heute die Freiheit verteidigt, muss sich rechtfertigen. Eigentlich müsste es sich doch
Mit dem »Krieg gegen den Terror« erhielt die Sicherheitsdebatte noch mal eine ganz neue Bedeutung. Welche Rolle spielt dabei die Entwicklung in den USA? Eine sehr schlimme! Seitdem werden Angstszenarien aufgebaut. Den Menschen wird suggeriert, der Staat befände sich im Ausnahmezustand oder – jetzt auf Amerika unter der Regierung Bush bezogen – im Krieg. Nach dem 11. September 2001 nahm die Tendenz zu, Terroristen nicht mehr als Kriminelle anzusehen, die mit polizeilichen Mitteln verfolgt werden, sondern als
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»Wir machen Terroristen zum Gesetzgeber. Wir lassen Uns durch ein Angstszenario vorschreiben, was wir machen müssen.« Feinde. Ein Feind steht aber außerhalb der Gesellschaft und verdient deshalb nicht den rechtsstaatlichen Schutz, den die Gesellschaft auch dem kriminellen Täter einräumt. Dieses Feindstrafrecht ist eine große Gefahr für den liberalen Rechtsstaat. In den USA hat es die Politik der Bush-Administration bestimmt. In Deutschland gibt es eine solche Diskussion auch in der Staatsrechtslehre. Das bedeutet, dass das Grundprinzip unserer Verfassung, die Menschenwürde, das sittliche Prinzip, das die Verfassung prägt, eingeschränkt, differenziert wird. In bestimmten Situationen hält man dann Rettungsfolter für möglich – und das gegen alle eindeutigen Folterverbote im Völkerrecht. Oder Vorbeugehaft. Alles Dinge, die wir bisher im Rechtsstaat nicht kannten – bis hin zum Einsatz der Bundeswehr im Inneren, was jetzt in den Koalitionsvereinbarungen ausdrücklich verworfen wurde. Damit kommen wir auf eine schiefe Bahn. Wenn Sicherheit zum Staatszweck wird, beginnt sie grenzenlos zu werden, denn ein Präventionsstaat ist unersättlich. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Meinung immer klar zurückgewiesen. Ist das nicht eher eine Debatte unter Verfassungsrechtlern, die mit dem Alltag wenig zu tun hat? Das ist keine theoretische Diskussion. Wir sind in eine Situation geraten, die für die Menschenrechte hochgefährlich ist. Wir verlieren, wenn wir unsere Werte zur Disposition stellen, zum Beispiel die Menschenrechte, die die amerikanische Unabhängigkeitserklärung geprägt haben. Wir gefährden unsere Glaubwürdigkeit. In Großbritannien gibt es beispielsweise zahllose Möglichkeiten für die Sicherheitsbehörden, eine Wohnung zu durchsuchen. Aus dem Land ist ein Überwachungsstaat geworden. Diese Entwicklung wird uns natürlich vorgehalten, wenn wir weltweit für die Menschenrechte eintreten. Ich habe einmal mit dem sudanesischen Staatspräsidenten Omar al-Bashir, gegen den jetzt mit Haftbefehl vom Internationalen Strafgerichtshof gefahndet wird, über die Rolle der Sicherheitspolizei in seinem Land diskutiert. Er hielt mir entgegen: »Was ist denn bei euch los? Wie weit habt ihr denn schon Habeas Corpus aufgeweicht? Was machen denn die Amerikaner in Guantánamo?« Sind Online-Durchsuchungen oder Telefonüberwachung ein Schritt in Richtung Überwachungsstaat? Selbstverständlich. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat in 14 Urteilen Sicherheitsgesetze oder Sicherheitsmaßnahmen in den vergangenen Jahren aufgehoben oder abgeschwächt. In allen Urteilen heißt es, dass die Menschenwürde verletzt wurde, z.B. durch die Wanze in der Wohnung. Auch die sogenannte Vorratsdatenspeicherung ist verfassungswidrig. Die neue Koalition hat sie eingegrenzt. Ich hoffe, dass Karlsruhe sie verwirft. Das Gericht hat in seinem Urteil zur Online-Durchsuchung, also die heimliche Durchsuchung von Computern, klar festgelegt: Der Kernbereich des Privaten muss geschützt bleiben. Der Staat darf nicht alles wissen.
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Selbst wenn er dieses Wissen zur Strafverfolgung nutzen könnte? Bei vielen Maßnahmen – wie etwa bei der Online-Durchsuchung – ist gar nicht erwiesen, dass man sie braucht. Ich lehne sie politisch ab. Dem Bundesverfassungsgericht ist nicht schlüssig dargelegt worden, dass diese Maßnahme wirklich nötig ist. Wenn man etwas nicht braucht, sollte man es lieber lassen. Für alle staatlichen Eingriffe gilt das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Doch die Initiatoren solcher Gesetze benutzen lieber Totschlagargumente: Terroristen könnten Flugzeuge in Kernkraftwerke steuern. Mit solchen Szenarien wird jeder Widerspruch niedergebügelt. Mit solchen Methoden macht man letztlich, verkürzt gesagt, den Terroristen zum Gesetzgeber. Er bestimmt unsere Gesetze. Wir stehen in der Defensive und lassen uns durch ein Angstszenario vorschreiben, was wir machen müssen. Man könnte einwenden, dass der Terrorismus sowohl seine Methoden wie auch seine Ziele geändert hat und der Staat darauf adäquat reagieren muss. Dem stimme ich zu. Man kann nicht einfach die Hände in den Schoß legen. Es gibt eine neue Art der Bedrohung. Natürlich muss die Gefahrenabwehr heute weit im Vorfeld Informationen sammeln. Karlsruhe hat aber immer wieder gesagt: Ins Blaue hinein darf nicht gefahndet werden. Wir müssen Anhaltspunkte haben. Wir können nicht völlig unbeteiligte Bürger in den Fokus staatlicher Maßnahmen nehmen. Wir müssen zwischen Verdächtigen und Unbeteiligten unterscheiden. Und diese Grenze vermischt sich immer mehr. Wir alle werden zu Risikofaktoren. Wo würden Sie die Grenze setzen, was man noch tolerieren kann und was nicht? Das Internet ist keine straffreie Zone. Online-Durchsuchungen betreffen den privaten Computer. Das Internet dagegen unterliegt den allgemeinen Gesetzen – auch Kinderpornografie ist und bleibt eine schwere Straftat. Kann der Staat im Internet den Zugang sperren, wie das durch die Gesetze gegen Kinderpornografie geschehen ist? Das war der erste einmalige verfassungswidrige Schritt zu einer Internetzensur. Die Koalition hat sich auf das Prinzip »Löschen statt sperren« geeinigt. Das Gesetz wurde gestoppt. Das Thema ist aber umfassender angelegt: Es geht darum, den Rechtsstaat im Netz zu behaupten und zu modernisieren, um die künftige Rolle des Urheberrechts und um die Zähmung der wirtschaftlichen Weltmacht Google und anderer Datensammlungen. Rechtsextreme Gruppen nutzen ebenfalls das Internet, um ihre Botschaften zu verbreiten. Muss man das tolerieren? Natürlich nicht. Wer rassistische Botschaften im Internet verbreitet, macht sich strafbar. Das bleibt auch so. Aber unser demokratischer Rechtsstaat gewährt auch Feinden der Verfassung Freiheiten. Zum Beispiel wird auch eine Demonstration einer
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europäischer trend In mehreren europäischen Ländern verschlechtert sich sukzessive die Presse- und Meinungsfreiheit. Europa könne sogar seine langjährige Vorbildfunktion verlieren, erklärte die Organisation »Reporter ohne Grenzen«, die Ende Oktober ihre neue »Rangliste der Pressefreiheit« vorstellte. Demnach wurden 2009 einige EU-Mitgliedsstaaten von afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern überholt: So liegen Mali, Südafrika und Uruguay in der Rangliste vor Italien und Bulgarien. »Die Ursache sind unter anderem juristische Ermittlungen gegen Journalisten, Festnahmen von Reportern und Durchsuchungen von Nachrichtenmedien«, erklärte die Organisation. Wegen verstärkter Zensur fiel die Slowakei am stärksten in Europa ab. In Italien wurde unter anderem die Drangsalierung der Medien durch Silvio Berlusconi und die damit verbundene staatliche Einmischung angeprangert. An Deutschland kritisierte die Organisation vor allem die Bestimmungen zu Online-Durchsuchungen und zur Überwachung der Telekommunikation.
rechtsextremistischen Gruppe durch die Polizei geschützt. Wir müssen – und das zeichnet die Stärke unserer Demokratie aus – auch mit den Feinden der Demokratie rechtsstaatlich umgehen. Der staatliche Zugriff auf die Privatsphäre ist die eine Seite. Andererseits gibt es heute auch einen ausgeprägten Exhibitionismus, was den Umgang mit den eigenen Daten angeht. Ja, die Situation beschreiben Sie richtig. Das Internet und das Handy verführen dazu, die Schamgrenze in Hinblick auf das Private herunterzusetzen. Dafür ist jeder Mensch aber selber verantwortlich. Er ist nicht dafür verantwortlich, wie andere mit seinen Daten umgehen. Dagegen muss er besser geschützt werden. Wir müssen die Nutzer auch besser über die Gefahren aufklären, die damit verbunden sind. Ein elfjähriges Mädchen weiß nicht, dass die Informationen, die es in Facebook preisgibt, ausgewertet und missbraucht werden können. Das heißt, der Schutz beginnt durch den Selbstschutz, indem man die Benutzer aufgeklärt, dass es nicht ungefährlich ist, Informationen preiszugeben. Alle Spuren bleiben und können gegen den, der sie hinterlassen hat, verwendet werden. Für den Missbrauch dieser Informationen sind in aller Regel private Unternehmen verantwortlich. Das neue Datenschutzrecht, das die Koalition vereinbart hat, wird auch die Privaten einbeziehen. Ein Aspekt des Privaten ist der Arbeitnehmerdatenschutz. Die Vorfälle bei Telekom, Bahn und Lidl haben sehr viel Sensibilität geschaffen. Und jeder Fall von Datenmissbrauch, jeder Fall von Bespitzelung – Stichwort Deutsche Bank – findet eine hohe öffentliche Aufmerksamkeit. Im Falle der Bahn ist der halbe Vorstand darüber gestolpert, über eine Million Euro Bußgeld muss gezahlt werden. Das Thema ist jedenfalls aus der Nische herausgekommen. Sie halten auch nach dem Regierungswechsel an Ihrer Klage gegen das BKA-Gesetz fest. Sind Sie zuversichtlich, dass die Bürgerrechte künftig besser geschützt werden? Ja. Das zeigt die Koalitionsvereinbarung und dafür steht die neue Justizministerin. Das hindert mich nicht, weiterhin gegen die Möglichkeit zur Rundumüberwachung und gegen die neue Sicherheitsarchitektur im BKA-Gesetz vorzugehen. Ich bleibe bei dem, was der Titel meines Buches »Rettet die Grundrechte« ausdrückt: Im Ganzen gesehen ist die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit nicht gewahrt. Die Verführbarkeit, in schwierigen Situationen die Verfassung nicht ernst zu nehmen − Verführung zur Unfreiheit hat Dahrendorf das genannt −, die ist immer gegeben. Interview: Anton Landgraf
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bka-gesetz Das Bundeskriminalamt, das bislang nur für die Verfolgung bereits begangener Straftaten zuständig war, erhält mit dem Gesetz, das seit Januar 2009 in Kraft ist, erstmals auch präventive Befugnisse. Bei »Gefahr im Verzug« darf der BKA-Präsident die Online-Durchsuchung auch ohne richterliche Genehmigung anordnen, muss diese aber innerhalb von drei Tagen einholen. Der sogenannte »Bundestrojaner«, also ein Spionageprogramm, mit dem der Computer eines Verdächtigen ausgespäht wird, kann per E-Mail oder über einen anderen technischen Weg installiert werden. Die Durchsuchung muss zuvor von einem Bundesrichter genehmigt werden. Zur Terrorabwehr darf das BKA künftig einen Verdächtigen abhören, filmen und fotografieren, unabhängig davon, ob dieser sich in seiner eigenen oder in einer fremden Wohnung aufhält. Zudem ist künftig gestattet, Telefongespräche heimlich aufzuzeichnen. Unter bestimmten Voraussetzungen darf das BKA die Wohnung eines Verdächtigen ohne dessen Wissen betreten und durchsuchen.
vorratsdatenspeicherung Anbieter sind verpflichtet, alle verfügbaren Daten sowohl im Bereich der klassischen Telekommunikation (Festnetz, Handy, SMS, Fax usw.) als auch im Internet auf Vorrat zu speichern. Dafür müssen kein Anfangsverdacht oder konkrete Hinweise auf Gefahren bestehen.
interview gerhart baum Gerhart Baum war von 1966 bis 1998 Mitglied im FDPBundesvorstand und von 1978 bis 1982 Bundesminister des Innern. 2004 brachte er zusammen mit Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Burkhard Hirsch vor dem Bundesverfassungsgericht den »Großen Lauschangriff« zu Fall, 2006 das Luftsicherheitsgesetz, das den Abschuss von Passagiermaschinen im Entführungsfall legalisieren sollte. Er hat außerdem Verfassungsbeschwerde gegen die heimliche Durchsuchung von Computern und das BKA-Gesetz eingelegt. Gerhart Baum ist Mitglied des Kuratoriums der Stiftung Menschenrechte – Förderstiftung amnesty international. Er hat kürzlich das Buch »Rettet die Grundrechte. Bürgerrechte contra Sicherheitswahn – eine Streitschrift« veröffentlicht.
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»Wie schreibe ich einen Blog«. Internetaktivist Hossein Derakhshan.
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Gefangen im Netz Millionenfach kommunizieren junge Iraner über virtuelle Netzwerke, schreiben Blogs und twittern um die Wette. Eine junge Generation ist mit den neuen Medien aufgewachsen und nutzt sie, um gegen staatliche Zensur und Willkür zu protestieren. Doch die Behörden versuchen mit allen Mitteln, die Kontrolle zu behalten und Online-Dissidenten zu verfolgen. Von Golrokh Esmaili
Foto: Dirk Eisermann / laif
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ine junge Frau liegt auf dem Boden und ringt mit dem Tod. Sie blutet aus dem Mund und der Nase, kurze Augenblicke später stirbt sie – erschossen von den Basij, den staatlichen Milizen. Ein verzweifelter Mann sitzt neben der jungen Frau. Immer wieder brüllt er den Namen des jungen Mädchens: »Neda, bleib bei mir.« Der Vorfall ereignete sich am 20. Juni um 18.30 Uhr mitten in Teheran. Eine halbe Stunde später hatten bereits mehrere hundert Menschen das Video von der sterbenden Neda Agha-Soltan auf der Internetplattform YouTube aufgerufen. Nach den Präsidentschaftswahlen am 12. Juni gingen in Teheran über hunderttausend Menschen auf die Straße, um den reformorientierten Präsidentschaftskandidaten Mir Hossein Mussawi zu unterstützen und gegen den vermeintlichen Wahlsieger und amtierenden Präsidenten Mahmoud Ahmadinedschad zu protestieren. Die Demonstration endete blutig. Mindestens sieben Menschen wurden in den ersten Tagen der Unruhen getötet. Für die ausländischen Journalisten galt eine Informations- und Ausgangssperre. Tagelang durften sie ihre Hotelzimmer nicht verlassen. Die Proteste gegen die Ergebnisse der Wahlen weiteten sich zu den größten Unruhen im Iran seit der Islamischen Revolution 1979 aus. Drei Tage nach den Wahlen, am 15. Juni, demonstrierten bereits mehr als eine Million Iraner. Die Sicherheitskräfte gingen mit Waffengewalt gegen sie vor.
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Die staatlichen Nachrichten ignorierten die Ereignisse. Als einzige Kommunikationsmittel standen Telefone und das Internet zur Verfügung. Über ihre Mobiltelefone verabredeten sich die Iraner per SMS, um gemeinsam zu protestieren. Die Regierung sperrte Teile der Handynetze, Webseiten wurden blockiert, teilweise schien der gesamte Internetzugang erschwert oder gar lahmgelegt zu werden. Dennoch nutzten die Iraner weiterhin Internetportale wie Facebook und YouTube und stellten kurze Videos über die Unruhen ins Netz. Nachdem die Nachrichten im Ausland wahrgenommen wurden, sperrten die Behörden beide Internetplattformen. Die Iraner wichen daher auf alternative Internetplattformen aus – sie begannen zu twittern und zu bloggen.
Dezentrales Informationsnetz Das Internet wurde in den vergangenen Jahren immer mehr zu einem Forum für unzensierte Informationen und Meinungen. Rund 70 Prozent der iranischen Bevölkerung sind jünger als 30 Jahre. Diese Generation wächst mit einem neuen Verständnis gegenüber den modernen Medien auf. Jeder Dritte der 80 Millionen Iraner nutzt das Internet, was grundsätzlich auch nicht verboten ist. Jeder Zehnte ist in sozialen Netzwerken wie Facebook, Flickr und YouTube vertreten. Etwa hunderttausend Iraner schreiben täglich in privaten Weblogs, was sie denken.
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Gesetz gegen sogenannte Internetverbrechen Auf die zunehmende Relevanz der Internetgemeinde reagierte die iranische Regierung 2005 mit dem weltweit ersten Verbot gegen sogenannte Internetverbrecher. Bereits 2004 teilte Richter Said Mortazavi, Oberster Ankläger beim Revolutionsgericht in Teheran, auf einer Pressekonferenz mit, dass die Verantwortlichen für illegale Websites energisch verfolgt würden. Wenig später startete die Justiz einen massiven Angriff auf die iranische Blogsphäre und auf Online-Journalisten. Bei der Verkündung der Wahlergebnisse im vergangenen Juni forderte ein Militärsprecher, Inhalte, die »Spannungen erzeugen« könnten, müssten sofort entfernt werden, andernfalls drohten juristische Konsequenzen. Die jungen Iraner wandten sich verzweifelt an westliche Internetnutzer: »Wir können kaum noch auf das Internet zugrei-
Foto: YouTube / Reuters
Die iranische Bloggerszene entstand auf dem Höhepunkt der Reformbewegung in den Jahren 1999 bis 2003. Im September 2001 feierte das erste persische Weblog von Hossein Derakhshan, auch unter dem Pseudonym Hoder bekannt, seine Premiere. Weblogs oder Blogs sind Online-Journale, die sich durch häufige Aktualisierung und viele Verlinkungen auszeichnen. Viele Einträge bestehen aus Auszügen anderer Weblogs oder beziehen sich auf diese, sodass Weblogs untereinander stark vernetzt sind. Die Gesamtheit aller Weblogs bildet die Blogsphäre. Noch vor vier Jahren wurde die Zahl der Weblogs im Iran auf bis zu 400.000 geschätzt, rund 100.000 davon galten als politisch. Mittlerweile sind nur noch wenige Blogs politisch engagiert, dafür verfügen sie jedoch über einen großen Einfluss. Da die offiziellen Medien viele Themen totschweigen, bilden Weblogs im Iran ein dezentrales Informationsnetz. Das Pressegesetz sieht vor, dass jeder, der journalistisch arbeiten möchte, eine Lizenz beantragen muss. Es gibt mehrere Institutionen, die die Presse kontrollieren. Der sogenannte Presserat der Regierung kann Medien die Lizenz entziehen. Das darf auch die Justiz. Außerdem ordnet der nationale Sicherheitsrat an, über welche Themen die Medien berichten sollen und über welche nicht. Die jungen Iraner nutzen Weblogs, um die strikte staatliche Zensur zu umgehen. Für die Bevölkerung sind sie oft die einzige Möglichkeit, um sich über brisante Themen zu informieren. Die Autoren berichten über Musik, westliche Mode, Geschlechterfragen und auch Politik. Viele Iraner trauen den Informationen im Internet eher als den staatlichen Medien. Studentengruppen und Nichtregierungsorganisationen nutzen Blogs, um ihre Aktivitäten zu koordinieren. Hinter den rund zehntausend aktiv betriebenen Blogs stehen Journalisten, Politiker oder auch Internetaktivisten, deren Meinung ernst genommen wird. Einer der bekannten Blogger ist Bijan Safsari, ehemaliger Herausgeber und Chefredakteur mehrerer unabhängiger Zeitungen. Da alle verboten wurden, blieb ihm nichts anderes übrig, als einen Weblog zu führen.
»Neda, bleib bei mir!« YouTube-Video, 20. Juni 2009.
fen. Sie haben Yahoo, Gmail und weitere Foren gesperrt. Facebook aufzurufen dauert sehr lange: Videos, die ich in den letzten Tagen gemacht habe, kann ich nicht mehr hochladen. Wir sind in einer schrecklichen Situation«, schrieb ein anonymer Blogger während der Unruhen nach den Präsidentschaftswahlen. Da das Internet für die iranische Wirtschaft wichtig ist, kann die Regierung es nicht einfach abschalten. Seit aber das Gesetz gegen Cyber-Verbrechen eingeführt worden ist, hat das Regime seine Angriffe auf Weblogger verschärft. Die User unterliegen starken Kontrollen und werden beim Surfen beobachtet, registriert und verfolgt. Weblogger werden aufgrund ihrer Aktivitäten verhaftet und monatelang gefoltert. So wurde der 29-jährige Blogger Omid Reza Mir Sayafi im Februar 2009 wegen Beleidigung des geistlichen Führers inhaftiert. Einige Wochen später starb er in der Haft. Nach Angaben der Gefängnisverwaltung habe er Selbstmord begangen, erklärte sein Anwalt Mohammed Ali Dadkhah. Er forderte genaue Ermittlungen zur Todesursache und eine Autopsie. Nach Angaben von »Reporter ohne Grenzen« sitzen zurzeit sieben Blogger im Gefängnis. Immer häufiger schreiben die virtuellen Dissidenten anonym, um sich nicht in Gefahr zu bringen. Einen herben Rückschlag erlitt die Blogger-Szene, als am 1. November 2008 ihr Pionier, Hossein Derakhshan, in Teheran verhaftet wurde. Auf Wunsch eines Lesers verfasste er 2002 eine Anleitung, mit der jeder sein eigenes Blog gründen kann: Den Download unter dem Titel »Wie schreibe ich einen Blog« stellte Derakhshan auf seiner Seite zur Verfügung, woraufhin die Zahl iranischer Weblogs im Internet rapide zunahm. Kurz nach seiner Inhaftierung durfte Derakhshan zweimal telefonieren. Seitdem erhielten seine Angehörigen keine weiteren Nachrichten mehr von ihm.
Die User unterliegen starken Kontrollen und werden beim Surfen beobachtet, registriert und verfolgt. 38
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Kritik als Verbrechen Nach den Unruhen wegen der Präsidentschaftswahlen im Juni schränkten die iranischen Behörden das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Versammlungsfreiheit drastisch ein. Iranischen Publikationen wurde verboten, Informationen über die Unruhen zu veröffentlichen. Rund 20 Journalisten, die seit den umstrittenen Wahlen festgehalten werden, sind vermutlich immer noch inhaftiert. Nun droht eine weitere Verschärfung. In einer Erklärung im Fernsehen bezeichnete Ali Khamenei, oberster iranischer Führer, die Kritik an den Präsidentschaftswahlen als Verbrechen. Amnesty International hat Khamenei dazu aufgerufen, das Dekret sofort zu widerrufen. Friedliche Dissidenten und die Unzufriedenheit mit dem politischen Prozess würden auf diese Weise kriminalisiert, sagte AmnestyExperte Malcolm Smart. Die iranischen Machthaber würden weiterhin fundamentale Menschenrechte verletzen, um die eigene Bevölkerung zum Schweigen zu bringen. Mitte November kam es wieder zu Demonstrationen in Teheran. Die iranischen Sicherheitsbehörden gingen wieder mit aller Härte gegen die Teilnehmen vor, über Hundert wurden festgenommen.
Foto: Eric Grigorian / Polaris / laif
Ein weiterer bekannter Blogger wurde während des Wahlkampfes im Sommer 2009 verhaftet: Mohammed Ali Abtahi, auch bekannt als »bloggender Mullah«, ist ein enger Berater des zweiten Reformkandidaten Karroubi. Abtahi berichtete im Internet offen und anschaulich über seine Teilnahme an Demonstrationen in Teheran. Das Verfahren gegen ihn wurde im vergangenen August eröffnet. Allerdings soll Abtahi in einem Video nach seiner Inhaftierung unter Tränen seine Worte zurückgezogen und erklärt haben, dass er »Leute und Studenten aufgehetzt sowie Unruhen geschürt habe«. Seine Frau behauptet hingegen, man habe ihn im Gefängnis eingeschüchtert und unter Drogen gesetzt. Derzeit sitzen vermutlich viele Online-Dissidenten im Gefängnis. Zahlreiche Menschen, die ein Handy in der Hand hielten und dabei von Angehörigen der Basij zufällig gesehen wurden, sind inhaftiert worden. Allen Repressionen zum Trotz gibt es jedoch weiterhin viele mutige Blogger, die ihre Meinung im Internet vertreten. Doch nicht nur die Opposition bloggt, sondern auch einzelne Regierungsmitglieder haben sich das Potenzial von Weblogs zu eigen gemacht. So verfügt der geistliche Führer Ayatollah Khamenei aber auch der iranische Präsident Ahmadinedschad höchstpersönlich über ein regelmäßig aktualisiertes Weblog. Für den schnellen Informationsaustausch scheinen sich jedoch alternative Internetportale besser zu eignen. Über den Microblogging-Dienst Twitter laufen Kurznachrichten im Sekundentakt. Unter dem Stichwort #iranelection informierten die
Bloggender Mullah. Mohammed Ali Abtahi.
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protestierenden Iraner sich und das Ausland, warnten ihre Mitbürger vor den Basij und verabredeten sich an bestimmten Stellen, um gemeinsam zu protestieren.
»Wählt Teheran zu Eurem Standort« Nach einer Studie des Web Ecology Project der Universität Harvard wurden einen Monat nach der Wahl mehr als zwei Millionen Beiträge zu den Ereignissen im Iran getwittert. Auch von der westlichen Twitter-Gemeinde erfährt die oppositionelle iranische Jugend Unterstützung: Nachdem die iranische Polizei Twitter-Accounts nach Zeitzonen durchforstete, konnte man in vielen sozialen Netzwerken wie Facebook folgenden Aufruf lesen: »Stellt Eure Zeitzone auf Iran um und wählt Teheran zu Eurem Standort.« Twitter-User aus allen Ländern folgten diesem Aufruf, änderten ihren Standort im Profil auf Teheran und passten dazu die entsprechende Zeitzone an, um die iranischen Behörden zu verwirren. Regelmäßig werden neue Proxy-Server zur Verfügung gestellt, um die Anonymität der Oppositionellen zu gewährleisten. Auf Facebook gründen sich einige Gruppen, um aktuelle Informationen auszutauschen. Obwohl sich die iranische Regierung sehr bemüht, den Informationsfluss zu stoppen, ist die Masse an Nachrichten enorm. Nach den Wahlen zählte Twitter allein zu diesem Thema 30 Meldungen pro Minute. Als die iranische Regierung eine Nachrichtensperre verhängte und viele ausländische Journalisten des Landes verwies, nutzen zahlreiche Medien die Informationen, die über Twitter, Facebook und Blogs aus dem Iran geliefert wurden. Der US-Sender CNN zeigte Bilder, die von Iranern über Facebook und Twitter ins Netz gestellt wurden, Fotoagenturen nutzten Bilder von Amateuren, die auf Flickr lagen. Selbst als die iranische Regierung den Zugriff auf YouTube und Facebook sperrte, wurde weiter gezwitschert. Twitter blieb während der gesamten Zeit einer der wenigen Kommunikationskanäle, über die die Iraner immer wieder Neuigkeiten austauschen konnten. Das wussten auch die Betreiber des Internetdienstes, die sogar Wartungsarbeiten verschoben, um den Informationsfluss nach den Wahlen nicht zu stoppen. Twitter lässt sich im Gegensatz zu anderen Plattformen kaum sperren, da der Zugang nicht nur über die Website, sondern auch über zahllose andere Anwendungen, wie z.B. das Telefon, läuft. Trotz aller Anstrengungen kann die Regierung die neuen Medien nicht vollständig kontrollieren. Die Ereignisse nach den umstrittenen Präsidentschaftswahlen haben gezeigt, dass viele Iraner das Internet als Sprachrohr in die westliche Welt nutzten. Und der Westen hat geantwortet. Die Autorin ist Journalistin und lebt in Köln.
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Zwitschern bis zum Umsturz Soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter können nützliche Hilfsmittel sein, wenn es darum geht, viele Menschen zu erreichen und zu mobilisieren. Auch Amnesty International nutzt solche Plattformen, um Unterstützung für die Menschenrechte zu gewinnen. Bei aller Begeisterung für das Zwitschern und Bloggen zeigt sich aber: Was online beginnt, muss offline weitergehen, damit der Erfolg von Dauer ist. Von Mathias Wasik
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Foto: John McConnico / AP
ls Natalia Morar mit fünf Bekannten in einem kleinen Café in Chisinau via Twitter eine kleine Kundgebung unter dem Titel »Ich bin kein Kommunist« ankündigte, ahnte sie noch nicht, wie erfolgreich ihr Aufruf sein würde. Die Journalistin und ihre Freunde waren enttäuscht von den kurz zuvor abgehaltenen Parlamentswahlen in der Republik Moldau. Erneut hatte die von Korruption und Vetternwirtschaft geprägte Kommunistische Partei unter Präsident Vladimir Voronin die Wahlen gewonnen – begleitet von Vorwürfen massiver Wahlfälschungen. Die jungen Aktivisten hofften darauf, dass einige hundert Freunde und Kollegen dem Aufruf fol-
»Ich bin kein Kommunist«. Demonstration in Chisinau, 6. April 2009.
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gen würden. Es wurden mehr, viel mehr: 15.000 vorwiegend junge Menschen versammelten sich am 6. April 2009 vor dem Parlamentsgebäude der Hauptstadt und demonstrierten gegen die ungeliebte Regierung. Die Ereignisse in Moldau reihten sich damit ein in eine Serie von Aufständen, die von Beobachtern als »Twitter-Revolutionen« betitelt wurden und ihren bisherigen Höhepunkt im Juni 2009 während der Proteste nach den Präsidentschaftswahlen im Iran fanden. Ihnen allen ist gemein, dass soziale Netzwerke wie Twitter, Facebook, Orkut oder Friendster eine wesentliche Rolle bei der Vorbereitung, Mobilisierung und Berichterstattung gespielt haben. In Staaten ohne freie Medien, in denen Behörden nicht zögern, Internetseiten zu sperren und Journalisten von ihrer Arbeit abzuhalten, hat eine junge Generation, die sich nicht den Mund verbieten lassen will, alternative Kommunikationskanäle für sich entdeckt. Der Mikroblogging-Dienst Twitter (engl. für »Zwitschern«) hat für sie einen großen Vorteil: Die Berichterstatter brauchen nicht einmal einen Internetzugang zu haben, um an der Diskussion im Netz teilzunehmen. Sie können die 140 Zeichen langen Meldungen auch von ihren Handys in die weltweite Diskussionsrunde speisen. Aus Augenzeugen und Beteiligten werden so Reporter, und ihre Nachrichten gehen innerhalb weniger Minuten um die Welt. Natürlich lassen die repressiven Regierungen nichts unversucht, um sich gegen das Gezwitscher zu wehren. Sie greifen dabei zu altbewährten Mitteln: Einschüchterungen, Verhaftungen und empfindliche Strafen. Diese Methoden bewirken jedoch nicht selten den gegenteiligen Effekt. So wie in Guatemala, wo die Polizei am 14. Mai 2009 die Wohnung des Twitter-Nutzers Jean Anleu stürmte, weil dieser unter dem Pseudonym »@jeanfer« über den wenige Tage zuvor bekannt gewordenen Korrupti-
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Foto: Moises Castillo / AP
onsskandal einer staatlichen Entwicklungsbank berichtet hatte. Die Nachricht über seine Verhaftung breitete sich wie ein Lauffeuer im Netz aus und brachte den regierungskritischen »Twitteros« starken Zulauf. Als drei Tage später 40.000 Menschen in der Hauptstadt Guatemalas auf die Straßen gingen, um gegen den mutmaßlich in die Affäre verwickelten Präsidenten zu demonstrieren, waren in der Menschenmenge viele Transparente mit den Slogans »Ich spreche nicht, ich twittere« und »Wir alle sind @jeanfer« zu sehen. Die virtuelle Gemeinschaft hatte ihren Weg auf die Straße gefunden. Bei aller Begeisterung für die scheinbar grenzenlosen Möglichkeiten der sozialen Netzwerke für politische und gesellschaftliche Bewegungen mehren sich in letzter Zeit aber auch die Stimmen der Kritiker und Skeptiker. Sie stellen zum einen die Frage nach der Glaubwürdigkeit der digitalen Kurznachrichten. Im Gegensatz zum konventionellen Journalismus gibt es bei Twitter niemanden, der überprüft, wie vertrauenswürdig die Quellen sind. Bei der Geschwindigkeit, mit der sich Neuigkeiten über das Netzwerk verbreiten, bleibt dafür einfach keine Zeit. Als die iranische Regierung während der Proteste Journalisten von der Arbeit abhielt und alle Formen der modernen Kommunikation einschränkte, wurde es für die ausländischen Medien fast unmöglich, sich ein zuverlässiges Bild von der Lage im Iran zu machen. Um überhaupt berichten zu können, verließen sie sich oftmals blindlings auf die Meldungen, Fotos und Videos, die über Twitter, Flickr und YouTube um die Welt gingen. Das Risiko, gefälschten oder manipulierten Nachrichten auf den Leim zu gehen, war groß. Ungewiss bleibt zudem, welche Meinungen in den sozialen Netzwerken reflektiert werden. Neue Technologien werden vor allem von der jungen Bevölkerung genutzt. Ältere, ungebildete oder arme Teile der Gesellschaft haben oftmals keine Möglichkeit, sich an der virtuellen Debatte zu beteiligen. Es besteht die Gefahr, dass die Berichterstattung einseitig wird und nur noch bestimmte Ansichten widerspiegelt. Die große Stärke sozialer Netzwerke liegt vor allem in ihrer Reichweite. Die Unterstützung der Demonstranten durch das weltweite Netzwerk von Bloggern gab den Menschen im Iran, in Guatemala oder Moldau das Gefühl, nicht allein zu sein. Die Regierungen konnten nicht verhindern, dass die Öffentlichkeit über die Grenzen der betroffenen Länder hinaus in Echtzeit über die Demonstrationen informiert wurde. Vielleicht war Twitter nicht der Auslöser einer Revolution – es sorgte aber sicherlich für ein großes Maß an Mobilisierung und Aufmerksamkeit. Für weltweit aktive Organisationen wie Amnesty International können soziale Netzwerke deshalb ein nützliches Werkzeug darstellen. Ein wesentlicher Aspekt der Arbeit von Amnesty be-
Mit Twitter gegen Korruption. Jean Anleu, Guatemala City.
steht darin, Aufmerksamkeit für Menschenrechtsverletzungen zu schaffen und Menschen zu mobilisieren, sich gegen diese Vergehen einzusetzen. Schneller als über Dienste wie Facebook und Twitter lassen sich wichtige Meldungen und Urgent Actions kaum verbreiten. Mitglieder und Unterstützer werden in Sekundenschnelle über Veranstaltungen und Aufrufe informiert, können sich online an Petitionen und E-Card-Aktionen beteiligen und ihre Freunde, Bekannten und »Follower« dazu aufrufen, es ihnen gleich zu tun. Wirklich nachhaltig wird die virtuelle Beteiligung aber erst, wenn die Bereitschaft sich zu engagieren nicht mit dem Ausschalten des Computers endet. So wie es bei den »Twitter-Revolutionen« unabdingbar ist, die Mobilisierung im Netz auf den Straßen fortzusetzen, so ist es auch für Amnesty International wichtig, dass die Bereitschaft mitzumachen von der digitalen in die reale Welt überspringt. In Chisinau hat sich der Aufruhr inzwischen wieder gelegt. Nach den heftigen Demonstrationen im April hat sich einiges geändert: Präsident Vladimir Voronin ist am 11. September 2009 zurückgetreten, seine Kommunistische Partei hatte bei den Neuwahlen im Juli nicht mehr die absolute Mehrheit der Sitze im Parlament verteidigen können. Die Parteien sind aber weiterhin zerstritten, sodass sie sich eher mit sich selbst beschäftigen, als die großen Probleme des Landes anzupacken. Die Jugend gibt nicht auf und twittert weiter. Nur ihre Versammlungen sind lange nicht mehr so gut besucht wie am Anfang. Der Autor ist Online-Redakteur der deutschen Amnesty-Sektion.
was sind soziale netzwerke?
was ist twitter?
Soziale Netzwerke sind Plattformen im Internet, die es erlauben, ein privates Profil anzulegen, um z.B. Fotos, Videos und Nachrichten mit Freunden auszutauschen und neue Bekanntschaften zu machen. Zu den bekanntesten sozialen Netzwerken gehören Facebook, StudiVZ, Xing und MySpace. Mit weltweit über 300 Millionen Nutzern ist Facebook im Moment das größte soziale Netzwerk. Amnesty bei Facebook: www.amnesty.de/facebook
Twitter (engl. für »Zwitschern«) ist ein sogenannter MikrobloggingDienst. Seine Nutzer können im Internet selbst geschriebene Texte veröffentlichen. Die Einträge (»Tweets«) sind auf 140 Zeichen beschränkt und können meist öffentlich eingesehen werden. Das zentrale Prinzip von Twitter: Jeder kann die Einträge anderer Nutzer abonnieren. Er wird dadurch zu ihrem »Follower« und findet zukünftig alle ihre Einträge in seinem Twitter-Postfach. Amnesty bei Twitter: www.amnesty.de/twitter
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Kaukasischer Teufelskreis »Wo es keine Menschen gibt, gibt es auch keine Probleme«. Präsident Kadyrow (rechts) bei einer Festveranstaltung in Grosny, Juni 2008. Davide Monteleone / Contrasto / laif
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»Wer Kadyrow kritisiert, schwebt in Lebensgefahr« Ein Gespräch mit Alexander Tscherkassow von der russischen Bürgerrechtsorganisation Memorial über die Lage der Menschenrechte im Nordkaukasus. Attentate, Verschleppungen und Folter sind im Nordkaukasus fast alltäglich. Hat sich die Situation im Vergleich zu den Vorjahren verschlechtert? Nach den statistischen Angaben eindeutig ja. Unter den Opfern sind auch viele Staatsbedienstete; allein in diesem Sommer sind im Nordkaukasus 140 Mitarbeiter staatlicher Institutionen ums Leben gekommen. Über 280 Personen wurden verletzt. Diese Zahl ist doppelt so hoch wie im vergangenen Jahr. In Dagestan wurden in der letzten Zeit zahlreiche Menschen verschleppt und ermordet. Die Opfer wurden beschuldigt, Verbindungen zum bewaffneten islamistischen Untergrund unterhalten zu haben. Einige von ihnen waren schon früher einmal verhaftet, aber von Gerichten freigesprochen worden. Wer sind diese Kämpfer des islamistischen Untergrunds? Wenn man sich ihre Videos und Texte auf ihrer Internetseite ansieht, dann ist diese Bewegung ein Teil der extremistischen islamischen Internationale. Diese Bewegung ist im gesamten Nordkaukaus aktiv, von Dagestan bis Karatschai-Tscherkessien. Sie haben sich zum »Kaukasischen Emirat« erklärt. Das ist eine politische Struktur, die keine konkreten politischen Ziele verfolgt. Denn der Aufbau eines islamischen Staates ist in ihren Augen kein politisches Ziel, so wie früher der Aufbau des Kommunismus. Niemand versteht, wie man mit ihnen einen Dialog führen soll. Man kann sie in zwei Gruppen teilen: Ideologen und normale Bürger, die sich ihnen zuwenden.
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»Dieses Regime erinnert an den sowjetischen Totalitarismus«. Alexander Tscherkas
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Warum schließen sich vor allem junge Menschen den radikalen Islamisten an? Ein Grund dafür ist, dass die sozialen Strukturen in der Region zerrüttet sind. Der Protest dagegen treibt junge Menschen in die Arme der Radikalen. An dieser Entwicklung ist aber auch die Staatsmacht schuld. Sie agiert mit ungesetzlichen Methoden, um ihre Gegner zu vernichten. Diesem sogenannten Antiterrorkampf fallen Menschen willkürlich zum Opfer. Es reicht schon, wenn jemand in die falsche Moschee geht. Diese Aktionen stärken zwangsläufig die Basis der Unterstützer für die Islamisten. Hat Moskau die Lage im Nordkaukasus überhaupt noch unter Kontrolle? Das bezweifele ich. Vor zehn Jahren hatten wir es im Nordkaukasus mit Separatisten zu tun. Diese Leute verfügten über ein Programm. Mit ihnen konnte man verhandeln und Übereinkünfte treffen. Doch schon damals sagte Moskau: Im Kaukasus sind Terroristen aktiv, mit denen keine Verhandlungen möglich sind. Heute ist diese Aussage Realität geworden. Inguschetien war früher eine friedliche und stabile Republik. Jetzt ist der islamistische Untergrund dort weitaus aktiver als in Tschetschenien. In Tschetschenien wiederum wurde der Konflikt regionalisiert, indem Moskau die Macht an die örtliche Regierung übergab. Das zeigte am Anfang einige Resultate, weil die tschetschenischen Machthaber zielgerichteter agierten. So wurden nicht mehr willkürlich ganze Dörfer »gesäubert« und ihre Bewohner gefoltert. Vielmehr richteten sich die Aktionen gegen konkrete Personen, wenn auch mit den gleichen ungesetzlichen Methoden. Kadyrow ist es bislang dennoch nicht gelungen, den islamistischen Untergrund zu zerstören.
Foto: Jens Liebchen / lux
Wie würden Sie das Regime Kadyrows charakterisieren? Dieses Regime erinnert an den sowjetischen Totalitarismus Mitte des 20. Jahrhunderts. Überall hängt Kadyrows Porträt, im Fernsehen ist er omnipräsent. Es herrscht Angst. Die Menschen, deren Angehörige verschleppt werden, trauen sich nicht, Anzeige zu erstatten, weil sie wissen, dass das sinnlos ist. In den vergangenen Jahren sind zwischen 3.000 und 5.000 Menschen verschwunden. Zudem werden Methoden zur kollektiven Bestrafung angewandt. In den vergangenen Jahren wurden Dutzende Häuser von Angehörigen von islamistischen Kämpfern niedergebrannt, die selbst keine Beziehung zum Untergrund hatten. Angst spielte auch im Fall der entführten Menschenrechtlerin Natalja Estemirowa eine Rolle.
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INTERVIEW
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ALEXANDER TSCHERKASSOW
Inwiefern? Es gab zwei Zeuginnen, die die Entführer sahen und das Kennzeichen des Wagens erkannten, in dem sie weggebracht wurde. Die beiden erzählten niemandem von ihren Beobachtungen, nicht einmal Nataljas Tochter. Noch vor ein paar Jahren wäre eine Reaktion sehr schnell erfolgt.
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ßacharow-Preiß für memorial Der Sacharow-Preis des Europäischen Parlaments ging dieses Jahr an die russischen Menschenrechtsverteidiger Ljudmilla Alexejewa, Oleg Orlow und Sergej Kowaljow, stellvertretend für die russische Bürger- und Menschenrechtsorganisation Memorial und für die russischen Menschenrechtsverteidiger insgesamt. Kowaljow gehört neben dem Namensgeber des Preises, Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow, zu den Gründern von Memorial. »Mit der Auszeichnung hoffen wir dazu beizutragen, dass der Kreislauf aus Furcht und Gewalt, mit dem sich Menschenrechtler in der Russischen Föderation konfrontiert sehen, durchbrochen wird«, kommentierte EU-Parlamentspräsident Jerzy Buzek die Preisvergabe Ende Oktober. Das Parlament würdigt mit dem Preis jährlich Personen und Organisationen, die sich für Menschenrechte und Meinungsfreiheit einsetzen.
Wer ist für den Mord an Natalja Estemirowa verantwortlich? Schauen wir uns den Ablauf der Ereignisse an, soweit wir ihn kennen. Am 7. Juli wurden in dem Dorf Achkintschu-Borsoj zwei Männer verschleppt und einer davon öffentlich erschossen. Einer der an der Aktion beteiligten Milizionäre ist namentlich bekannt. Am 9. Juli machte Natalja diese Information auf der Internetseite »Kaukasischer Knoten« öffentlich. Am 10. Juli bestellte der tschetschenische Menschenrechtsbeauftragte auf Befehl von Kadyrow die Mitarbeiter von Memorial ein. Doch offensichtlich sprach Kadyrow auch noch mit anderen Untergebenen. Am 15. Juli wurde Natalja verschleppt und in Inguschetien getötet. Kadyrow hat unlängst in Moskau einen Prozess gegen Memorial gewonnen. Jetzt muss die Organisation Schadensersatz dafür zahlen, dass der Memorial-Vorsitzende Oleg Orlow Präsident Kadyrow für den Mord an Natalja Estemirowa verantwortlich gemacht hat. Viele meinen, dass dieses Urteil ein Sieg für Memorial ist. Und manche sagen auch, man wisse jetzt, dass es 70.000 Rubel kostet, Kadyrow als Mörder bezeichnen zu können. Für mich selbst war diese Gerichtsentscheidung erwartbar. Dennoch war ich maßlos enttäuscht, aber vielleicht verlange ich auch zu viel, vor allem Gerechtigkeit. Wird Memorial in die nächste Instanz gehen? Wir werden dieses Urteil anfechten. Wenn wir vor keinem russischen Gericht Erfolg haben, werden wir vor den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg ziehen. Könnte die instabile Situation im Nordkaukasus einen Dominoeffekt in anderen Republiken der Russischen Föderation haben? Die islamistische Bewegung hat auch in anderen russischen Regionen Chancen, an Stärke zu gewinnen. Überall dort, wo Muslime mit den bekannten Methoden bekämpft werden, so zum Beispiel in Karbadino-Balkarien. Es gibt noch ein weiteres Problem. Alle führenden Vertreter der russischen Machtstrukturen waren in Tschetschenien. Dort haben sie Gesetzlosigkeit und Gewalt erlebt – und dass die Schuldigen nicht bestraft werden. Diese Erfahrungen prägen sie. So wissen wir beispielsweise von Razzien vor allem gegen Jugendliche Ende 2004 in einer Stadt in Basch-
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kirien. Rund 1.000 Menschen wurden dabei misshandelt. Die Razzien wurden durchgeführt von Milizionären, die erst kurz zuvor aus Tschetschenien zurückgekehrt waren. Gibt es einen Ausweg aus dieser Situation? Die Handlungen der Machthaber müssen sich im Rahmen von Gesetzen bewegen. Diejenigen, die diese Gesetze verletzen und die für Verschleppungen und Folter verantwortlich sind, müssen vor Gericht gestellt und bestraft werden. Das könnte perspektivisch die Menschen wieder an die Staatsmacht binden. Von den föderalen Kräften ist bisher nur einer ihrer Vertreter im Zusammenhang mit einem Fall von »Verschwindenlassen« in Tschetschenien wegen Folter und Fälschung von Unterlagen zu zu elf Jahren Arbeitslager verurteilt worden. Wie beurteilen Sie das Verhalten der internationalen Staatengemeinschaft gegenüber Russland angesichts der Lage im Nordkaukasus? Sie verfügt, ebenso wie die Europäische Union, über keine Strategie. Stattdessen erleben wir taktische Entscheidungen, die einem Verrat gleichkommen. Verurteilungen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte führen allenfalls dazu, dass Russland Entschädigungen zahlt. Ansonsten ändert sich nichts, weder an der Rechtssprechung noch an den Institutionen. Das heißt, Russland zahlt eine Art Steuer für Straflosigkeit. Die Gründe dafür sind einfach: Wenn ein Barrel Öl hundert Dollar kostet, kann man keinen Druck mehr auf Russland ausüben. Die Büros von Memorial haben ihre Arbeit in Tschetschenien bis auf weiteres eingestellt. Sehen Sie Möglichkeiten für eine baldige Wiederaufnahme der Tätigkeit? Ich bin im August nach Tschetschenien gereist, um mir die Lage dort anzusehen. Dort habe ich verstanden, dass sich jemand, der sich mit den Verbrechen des Regimes von Ramsan Kadyrow beschäftigt, in Lebensgefahr begibt. Das System funktioniert nach dem Motto: Wo es keinen Menschen gibt, da gibt es auch kein Problem. Ich verstehe nicht, wie es möglich sein sollte, unter solchen Bedingungen zu arbeiten. Haben Sie selbst manchmal Angst und daran gedacht, einer anderen Tätigkeit nachzugehen? Solange meine Kollegen im Kaukasus arbeiten, wäre es für mich merkwürdig aufzuhören. Dennoch würde ich nicht sagen, dass ich mich nicht fürchte. Ich verstehe, wie gefährlich die Situation ist. Doch es gibt Leute, die sich in weitaus gefährlicheren Situationen befinden, als ich. Mein Kollege Oleg Orlow wurde 2007 in Inguschetien verschleppt, und die Entführer drohten, ihn zu erschießen. Einige Wochen nach seiner Freilassung reiste er wieder dort hin. Interview: Barbara Oertel
interview alexander tßcherkaßßow 43 Jahre alt, ist studierter Atomphysiker. Er ist Mitglied im Rat des Menschenrechtszentrums von Memorial und dort für den Nordkaukasus zuständig.
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Foto: Dylan Martinez / Reuters
Menschen, die den Opfern beistehen und ihr Vertrauen genießen, gibt es nur wenige. Natalja Estemirowa.
Ein schwarzes Jahr Im Nordkaukasus werden Menschenrechtsaktivisten bedroht und ermordet. Von Peter Franck Das Jahr 2009 wird als ein bedrückendes Jahr für die Menschenrechtsarbeit im Nordkaukasus im Gedächtnis bleiben. Am 29. Januar wurden der Rechtsanwalt Stanislaw Markelow und seine Begleiterin, die junge Journalistin Anastasija Baburowa, in Moskau erschossen. Er hatte Opfer von Menschenrechtsverletzungen im Nordkaukasus vertreten und war deshalb Anfeindungen und Bedrohungen ausgesetzt. Am 15. Juli wurde Natalja Estemirowa in Grosny entführt; kurze Zeit später fand man ihre Leiche in der Nachbarrepublik Inguschetien. Seit Jahren hatte sie unerschrocken für das Menschenrechtszentrum von Memorial Menschenrechtsverletzungen im Nordkaukasus recherchiert. Mit Markelow und Estemirowa hat Amnesty International zwei Menschen verloren, mit denen die Organisation seit vielen Jahren vertrauensvoll zusammengearbeitet hat. Wir wussten, dass ihre Arbeit lebensgefährlich war. Wiederholt wurde Natalja Estemirowa eingeladen, um sie wenigstens zeitweise schützen. Doch nicht anders als andere wollte sie immer wieder schnell zurück. Denn Menschen, die den Opfern vor Ort beistehen und ihr Vertrauen genießen, gibt es nur wenige. Natascha – wie sie von ihren Freunden und Mitstreitern genannt wurde – genoss dieses Vertrauen wie wohl kaum jemand. Gerade das machte sie unbequem und für die Mächtigen gefährlich. In im Juli veröffentlichten Bericht »Herrschaft ohne Recht« hatte Amnesty auch auf Bedrohungen von Mitarbeitern von Memorial im Nordkaukasus
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hingewiesen. Amnesty forderte die Behörden unter anderem auf, Menschenrechtsverteidiger wirksam zu schützen. Am 8. Juli kritisierte das russische Außenministerium den Bericht als tendenziös. Wie früher werde »zu dick aufgetragen«. Das Ziel sei klar – im Auftrag bestimmter ausländischer politischer Kreise und Medien solle kurz vor »großen internationalen Events negatives Aufsehen um die Situation mit den Menschenrechten in Russland« geschürt werden. Eine Woche später war Natalja Estemirowa tot. Sie war nicht das letzte Opfer. Nicht einmal einen Monat später wurden auch Sarema Sadulajewa und ihr Ehemann in Grosny entführt und ermordet. Sie hatten in einer Organisation gearbeitet, die sich unter anderem um jugendliche Minenopfer kümmert. Und während dieser Artikel verfasst wird, geht die Nachricht von der Ermordung des inguschetischen Menschenrechtlers Makscharip Auschew ein, der am 25. Oktober 2009 in seinem Auto erschossen wurde. Die Morde haben in Deutschland zu großer Betroffenheit geführt. Viele Menschen haben sich spontan abgehaltenen Mahnwachen angeschlossen. Zum dritten Jahrestag der Ermordung von Anna Politkowskaja verpflichteten sich 19 russische und deutsche Nichtregierungsorganisationen, im Sinne der Ermordeten weiterzuwirken. Es wird darauf ankommen, dass die vielfältigen Verbindungen zu Russland genutzt werden, um auf allen Ebenen die tiefgreifende Besorgnis in der deutschen Öffentlichkeit über die Morde zum Ausdruck zu bringen. Der Autor ist Russland-Experte der deutschen Amnesty-Sektion.
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Die Angst besiegen Soziale Ausgrenzung ist für die meisten an HIV/AIDS erkrankten Menschen in Myanmar alltäglich. Dabei könnten jedes Jahr Zehntausende gerettet werden, wenn sie die notwendige medizinische Versorgung bekämen. Doch die Junta hat das Gesundheitssystem heruntergewirtschaftet. Von Thomas Aue Sobol (Text) und Christian Holst (Fotos)
»Ich liebe Liebeslieder, leider kann ich nicht so gut singen.« Der 34-jährige Khin Cho Oo sitzt in einer Karaoke-Bar in Yangon. Die Wände sind blau gestrichen, davor stehen Sofas aus grünem Kunstleder. Müde blickt er auf den Bildschirm. Das lebensbedrohliche HI-Virus hat sein Immunsystem fest im Griff. Es scheint ihm schwer zu fallen, das Mikrofon zu halten. Der DJ erfüllt Khins Wunsch und spielt einen verkratzten Pop-Song aus Burma. Die 30-jährige Kyi Myo Tun neben ihm lächelt verlegen. »Wir träumen davon, Kinder zu bekommen. Aber darauf müssen wir wohl noch ein paar Jahre warten. Wenn Khin seine Medizin regelmäßig nimmt, gut isst und viel schläft, kann er
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seine Widerstandskraft Tag für Tag verbessern«, sagt sie optimistisch. Das frisch verliebte Paar hat dabei weitaus mehr Glück als die meisten anderen Burmesen, die sich mit dem Virus infiziert haben. Kyi hat bereits eine antiretrovirale Therapie begonnen. Diese verlangsamt die Wirkung des Virus. Khin will demnächst mit der Therapie anfangen. Die meisten HIV-Infizierten in Myanmar sind hingegen von Ausgrenzung betroffen und sterben einen einsamen Tod. Etwa 240.000 Einwohner sind HIV-positiv. 76.000 von ihnen, darunter auch Khin, benötigen akute medizinische Hilfe. Obwohl die UNO festgestellt hat, dass Myanmar zu den am stärksten betroffenen Ländern Asiens zählt, erhält nur ein Fünftel der Betroffe-
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Nur ein Fünftel der Betroffenen erhält Hilfe. HIV-Infizierter in einer Notunterkunft.
sich trotz Drohungen um Kranke und Bedürftige kümmerten. Auf einfachen Bambusmatten lagen die Patienten mit eingefallenen Wangen und hervortretenden Augen. Manche hielten sich gegenseitig in den Armen, um ein wenig Fürsorge und Behaglichkeit zu spüren. Die meisten waren auf der Suche nach Medizin und ärztlicher Betreuung aus ihren abgeschiedenen Dörfern in die Hauptstadt gekommen. Einige konnten sich erholen, andere starben. Wie der junge Mann, den man für den Weg zum Krematorium in eine blaue Decke gehüllt und mit Rosenblättern bedeckt hatte. Phyu Phyu Thin ist auch Mitglied der pro-demokratischen Nationalen Liga für Demokratie (NLD) von Aung San Suu Kyi. Mehrmals wurde sie wegen ihrer Arbeit verhaftet und musste mehrere Monate in dem berüchtigten Insein-Gefängnis verbringen, wo viele der 2.000 politischen Gefangenen in Myanmar noch immer festgehalten werden. Zwei Jahre später treffe ich mich erneut mit Phyu Phyu Thin in Yangon. »Inzwischen sind alle HIV-Patienten in mein eigenes Haus in der Stadt umgezogen. Ständig halten sich 40 bis 50 Personen bei mir zu Hause auf. Für mehr habe ich einfach keinen Platz«, fügt sie entschuldigend zu. Die HIV-Klöster, in denen die kranken Burmesen behandelt wurden, existieren nicht mehr. Als die Mönche während der später gescheiterten Safran-Revolution im Herbst 2007 gegen das Regime aufbegehrten, rissen Soldaten die einfache Holzkonstruktion ein, mit der einer der Tempel errichtet war. Die Mönche mussten fliehen. Die Patienten wurden auf die Straße getrieben. Der zweite Tempel wurde im Frühjahr dieses Jahres geschlossen, nicht ohne die Mönche zu ermahnen, sich künftig mehr dem Studium der heiligen Schriften zu widmen.
Generäle ohne Mitleid
nen Hilfe. Die Medikamente werden dabei nicht etwa vom Regime zur Verfügung gestellt. »Die Junta hat sehr viel Geld für den Bau der neuen Hauptstadt im Dschungel ausgegeben. Außerdem hat sie 300 Kampfflugzeuge in China gekauft und 10.000 junge Soldaten zur Grundausbildung nach Russland geschickt. Die Generäle geben nur für solche Dinge Geld aus, die ihrem eigenen Macherhalt dienen. Die Gesundheit der Menschen interessiert sie nicht«, erklärte die HIV-Aktivistin Phyu Phyu Thin, als ich sie vor zwei Jahren traf. Damals besuchte ich zwei Klöster für HIV-infizierte Menschen, die Phyu Phyu Thin zusammen mit Mönchen führte, die
berichte
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myanmar
Da das Haus von Phyu Phyu Thin ständig von der Geheimpolizei überwacht wird, müssen wir uns in einem Luxushotel treffen. Der Kontrast könnte kaum stärker sein: hier plantschende Kinder im Swimmingpool, dort die schmutzigen Blechhütten im Slum. Leider ist das Hotel einer der wenigen sicheren Orte, an denen man sich ungestört treffen kann. Während des Aufstands, bei dem 38 Menschen ums Leben kamen, war Phyu Phyu Thin abgetaucht. Drei Monate später, als der Wirbelsturm Nargis das Irrawaddy-Delta verwüstete und mehr als 140.000 Menschen tötete, nutzte sie das Chaos, um wieder aufzutauchen. Sie erklärt, dass die Militärjunta die beiden HIV-Krankenhäuser im Land ausbaue, so dass die Gesamtzahl der Betten für HIV-Infizierte inzwischen auf 250 gestiegen sein dürfte. »Doch wozu nützen große Krankenhäuser, wenn es drinnen nichts gibt?«, fragt sie. Die Patienten müssen ihre Medikamente selber kaufen. Doch nur wenige können die 30 Dollar pro Monat dafür aufbringen, die in Myanmar einem durchschnittlichen Monatsgehalt entsprechen. »Wenn es so weiter geht, verlieren wir einen Großteil der jungen Generation. Das ist eine Katastrophe für unser Land«, erklärt Phyu Phyu Thin. Ungefähr die Hälfte des Staatshaushalts von Myanmar geht an das Militär. Für das Gesundheitswesen steht jährlich hinge-
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»Wir verlieren einen Großteil unserer jungen Generation«. HIV-infiziertes Paar in einer provisorischen Unterkunft.
gen nur ein Dollar pro Person zur Verfügung. So können sich schwere und oft tödliche Krankheiten wie Malaria, Tuberkulose und HIV unter der Bevölkerung ausbreiten. Vor einigen Jahren stellte die Weltgesundheitsorganisation fest, dass das Gesundheitswesen des Landes das zweitschlechteste der Welt sei. Schlimmer war es nur in dem von Kriegen verwüsteten Sierra Leone. Am stärksten sind die ländlichen Regionen betroffen, wo auch die ethnischen Minderheiten leben. In ihrer Not greifen die Menschen hier auf die traditionelle Medizin zurück: Blätter und Rinden. »Letztens hat jemand um vier Uhr nachts bei mir angeklopft. Vor der Tür stand ein zwölfjähriger Junge mit hohem Fieber und Lungenentzündung. Er war die 300 Kilometer aus dem Norden mit dem Bus gereist und dann direkt zu mir gekommen. Vermutlich wird er sterben«, so Phyu Phyu Thin weiter. Er ist zu spät gekommen. »Unsere Regierung weiß nicht, was Mitleid bedeutet. Gegen dieses Gefühl sind sie immun«, so die HIV-Aktivistin. Aufklärung über HIV/Aids existiert in Myanmar kaum. Größere Menschenansammlungen untersagt die Junta. HIV-Aktivisten seien inhaftiert worden, weil sie Kondome verteilt hätten, erklärt Phyu Phyu Thin. Die Ignoranz ist dabei in allen sozialen Schichten anzutreffen. Während meines Interviews mit Khin und Kyi in der Karaoke-Bar verzichtet der Dolmetscher, der einen Abschluss in Philosophie besitzt, auf seine Cola, weil er befürchtet, das Virus könne in sein Glas gelangen. Auch Khin und Kyi gehören zu den Patienten von Phyu Phyu Thin. Kyi berichtet, wie sie gegen Ausgrenzung und Isolation kämpfen musste: »Meine Eltern ließen mich nicht mehr neben meinem Sohn schlafen. Keiner wollte mehr von dem essen, was ich gekocht hatte. Meine Geschwister haben ihre Kinder vor mir versteckt, und die anderen Dorfbewohner machten auf der Stelle kehrt, wenn sie mich sahen.«
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Kyi starrt auf den Boden. »Am Ende hielt ich es einfach nicht mehr aus.« Selbst nachdem sie ihren Eltern Aufklärungsbroschüren über die Ansteckungswege von HIV und Aids gezeigt hatte, ließ deren Angst nicht nach. Schließlich war der Druck so hoch, dass sie das Dorf verlassen musste. »Aber wenn ich mich wieder um mich selbst kümmern kann, gehe ich zurück und hole meinen Sohn«, sagt sie bestimmt. Angesteckt wurde die junge Frau von ihrem Ehemann, der 2006 im Gefängnis starb, wo er wegen seiner Tätigkeit als Kurier für die oppositionellen Kräfte in Haft saß. Er hatte Briefe zwischen Myanmar und Thailand transportiert. Kyis neuer Lebensgefährte war zuvor Fernfahrer. Wie viele seiner Kollegen hat er sich beim Geschlechtsverkehr angesteckt – in einem der kleinen Dörfer entlang der Straße, wo es keine Kondome gibt. »Ich bin mir sicher, dass viele andere Fahrer auch HIV-positiv sind. Doch sie haben Angst, sich testen zu lassen. Denn sie wissen genau, das ihr Leben zerstört ist, wenn sie positiv sind«, sagt Khin. »Ich sage ihnen immer, lasst euch testen. Je eher ihr mit der Behandlung anfangt, desto höher sind die Überlebenschancen.« Auch durch Prostituierte wird das HI-Virus übertragen. In den Bordellen, die meist früheren Offizieren gehören, müssen sich die jungen Mädchen der ethnischen Minderheiten verdingen. Von dort breitet sich das Virus entlang der Handelsrouten aus. Der Handel mit Jade, Rubinen und Teak ist sehr lukrativ, und häufig werden diese Güter illegal nach China gebracht. Die neue Autobahn zwischen der Shan-Provinz im Norden von Myanmar und der südchinesischen Stadt Kunming ist auch bekannt als der Aids Highway. Daneben wird die Krankheit auch durch Drogenabhängige übertragen. Es ist allgemein bekannt, dass der Opiumhandel eine wichtige Einnahmequelle der Junta ist.
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»Es ist mir egal, was die Regierung über mich denkt«. HIV-Aktivistin Phyu Phyu Thin (links), und das Paar Khin Cho Oo und Kyi Myo Tun (rechts)
»Wir träumen davon, Kinder zu bekommen«. Abendessen in einer Unterkunft für HIV-Infizierte. Rechtes Bild: Kyi Myo Tun (links) in einem Taxi.
Viele der Patienten von Phyu Phyu Thin werden später selbst Aktivisten und helfen anderen HIV-Infizierten. Jetzt verbreiten sie Informationen an Stelle des Virus in ihren Heimatdörfern. So auch Kyi: »Ich hab mich sehr alleingelassen gefühlt. Das möchte ich anderen ersparen.«
Humanitäre Krise Im November 2008, als die Zahl von 25.000 Aids-Toten in nur einem Jahr bekannt wurde, rief die Organisation Ärzte ohne Grenzen dazu auf, das, was sie den »vermeidbaren Tod« nennt, aufzuhalten. Die Ärzte sehen die Schuld jedoch nicht nur bei der Junta, sondern auch bei der internationalen Gemeinschaft. Die Diktatur gehört zu den Ländern auf der Welt, die am wenigsten internationale Hilfe erhalten. Offensichtlich möchte niemand mit der Militärjunta in Verbindung gebracht werden. Doch die Organisation ist davon überzeugt, dass man die Bevölkerung auch direkt, unter Umgehung der Generäle, unterstützen kann. »Wir haben hier eine humanitäre Krise, die durch jahrzehntelange Versäumnisse ausgelöst wurde. Die Menschen leiden und wir müssen ihnen unabhängig von der politischen Situation Hilfe zukommen lassen«, erklärt ein Arzt der Organisation. Myanmar hat Mittel aus dem Globalen Fonds zur Bekämpfung von HIV, Malaria und Tuberkulose beantragt. Die internationale Institution hat weltweit bereits mehr als 15,6 Milliarden Dollar im Kampf gegen die Krankheiten ausgegeben. Doch die Generäle in Myanmar sind davon ausgeschlossen, da man Betrug und Missbrauch fürchtet. Tatsächlich ist es sehr schwierig, in dem Land zu arbeiten. Ein lokaler Entwicklungshelfer, der anonym bleiben möchte, erzählt: »Wir stehen ständig unter Verdacht, mit der Opposition in Kontakt zu stehen. Selbst ein Wort wie ›Training‹ ist schon
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verdächtig. Die Junta befürchtet, dass wir den Menschen dabei helfen, sich gegen sie zu organisieren. Aus diesem Grund benutzen wir auch zwei Broschüren für unsere Arbeit. Eine für den Geheimdienst, die andere – die wahre – holen wir erst raus, wenn sie gegangen sind.« Obwohl Phyu Phyu Thin Mitglied der NLD ist, beschreibt sie ihre Arbeit als humanitäre und nicht als politische Tätigkeit. Doch die Gefahr einer Inhaftierung ist allgegenwärtig. Nur zu schnell könnten die Generäle in ihrem Tun eine Bedrohung ihrer Machtansprüche sehen. Mehr als 20 Aktivisten sind noch immer im Gefängnis, weil sie den Opfern des Wirbelsturms Nargis Hilfe leisteten. Dennoch kennt Phyu Phyu Thin keine Furcht. »Es ist mir egal, was die Regierung über mich denkt. Selbst wenn sie mir damit drohen, mich einzusperren oder was anderes mit mir zu machen, werde ich weiter arbeiten. Wir müssen die Angst besiegen.« Der erste Patient von Phyu Phyu Thin war ein Polizist. Ein Mann, der das Rückgrat des Regimes bildet. Heute betreut sie auch zahlreiche Patienten aus dem Militärapparat. »Patienten sind für mich alle gleich«, erklärt sie. Wir sind wieder in der Karaoke-Bar. Nach den burmesischen Liebesliedern ertönt jetzt Elvis. Khin und Kyi erzählen mir, warum sie zu Khins Eltern ziehen möchten, sobald sie sich erholt haben. Die Tradition in Myanmar sieht vor, dass die Frau ihrem Ehemann folgen muss. Aber es gäbe auch noch einen anderen Grund, sagt Khin. »Meine Eltern wissen überhaupt nicht, dass es eine Krankheit namens Aids gibt. Sie denken, wir hätten Tuberkulose. Darum haben sie weniger Angst vor uns.« Der Autor ist Journalist und lebt in Kopenhagen. Übersetzung: Frank Thomas
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Durch den Monsun Im Mai dieses Jahres endete der Bürgerkrieg in Sri Lanka. Doch Hunderttausende Menschen leben weiterhin unter katastrophalen Bedingungen in Flüchtlingscamps, die Gefangenenlagern gleichen. Von Martin Wolf
Der Autor ist Sprecher der Sri-Lanka-Ländergruppe der deutschen Sektion von Amnesty International. Werden Sie aktiv: Fordern Sie die Öffnung der Gefangenenlager in Sri Lanka auf www.amnesty.de/sri-lanka
Foto: Eranga Jayawardena / AP
Sie sind schmutzig, überfüllt und gefährlich – die Flüchtlingslager im Nordosten Sri Lankas. Es herrschen katastrophale Zustände, obwohl der Krieg schon seit über sechs Monaten vorbei ist und die meisten Menschen eigentlich in ihre Heimatorte zurückkehren könnten. Doch die Regierung lässt sie nicht. »Die Menschen stehen stundenlang für eine ärztliche Behandlung an, auch schwangere Frauen«, berichtete ein Flüchtling gegenüber Amnesty International. Es fehlt an medizinischer Versorgung, Nahrung und Wasser. Heftige Regenfälle gaben kürzlich einen Vorgeschmack darauf, was den Flüchtlingen droht, wenn bald der Monsun über sie hereinbricht: Abwässerkanäle liefen über, Zelte wurden überflutet und Wege unpassierbar. Offiziell ist der Krieg seit dem 18. Mai beendet, als die srilankische Armee die tamilischen Separatisten der Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) besiegte. Doch Mitte November wurden noch immer ca. 160.000 Binnenflüchtlinge von der Regierung und der Armee in Lagern festgehalten. Häufig werden Vertriebene, die »freigelassen« wurden, lediglich in andere Lager überführt. Im Nordosten Sri Lankas tobte 26 Jahre ein blutiger Bürgerkrieg, der fast 100.000 Menschen das Leben kostete. Sowohl die Separatisten als auch die srilankische Armee und paramilitärische Einheiten begingen schwere Menschenrechtsverletzungen. Zuletzt waren Hunderttausende Zivilisten im immer kleiner werdenden Kampfgebiet eingeschlossen. Sie litten unter Hunger und Durst und lebten in der ständigen Angst vor Artilleriebeschuss und Bombardierungen. Die UNO untersucht Hinweise auf Kriegsverbrechen. Demnach ließ die Regierung wiederholt Gebiete beschießen, die als
Schutzzonen für Zivilisten ausgezeichnet waren. Andererseits missbrauchten Rebellen die Bevölkerung als menschliche Schutzschilde und erschossen Menschen, die fliehen wollten. Wie viele Menschen in den letzten Monaten des Krieges getötet wurden, weiß niemand genau. Die Regierung hinderte internationale Beobachter und Journalisten systematisch daran, aus dem Kriegsgebiet zu berichten. Diese Schikanen gegenüber Journalisten sind in Sri Lanka nichts Neues. Die Versammlungsund die Meinungsfreiheit sind auf Grundlage eines Antiterrorgesetzes stark eingeschränkt. Anfang 2007 gingen Sicherheitskräfte brutal gegen die Teilnehmer einer angemeldeten Demonstration gegen den Bürgerkrieg vor. Vergleichbare Demonstrationen gab es danach nicht mehr. In den vergangenen fünf Jahren wurden mehr als 30 Journalisten ermordet, viele andere wegen ihrer Berichte bedroht, entführt oder verletzt. Der Journalist Tissainayagam wurde wegen seiner regierungskritischen Artikel Ende August zu 20 Jahren Haft verurteilt. Ursprünglich hatte die Regierung angekündigt, die Lager bis Ende November zu schließen. Sie hielt sich allerdings nicht an ihr Versprechen und verlängerte die Frist bis Januar 2010. Amnesty hat deshalb die weltweite Kampagne »Öffnen Sie die Gefangenenlager« gestartet. Die Organisation fordert die Regierung Sri Lankas auf, die Rechte der Vertriebenen zu respektieren und sie nicht länger am Verlassen der Lager zu hindern. Außerdem müssen die Flüchtlinge in die Pläne zur Schließung der Lager einbezogen werden und unabhängige Beobachter und Hilfsorganisationen uneingeschränkten Zugang zu den Camps erhalten. Damit das Leid der Bevölkerung ein Ende hat.
Es fehlt an Medizin, Nahrung und Wasser. Tamilisches Kind in einem Flüchtlingslager, Oktober 2009.
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MEIN ZUHAUSE. ZWANGSRÄUMUNGEN GEHÖREN WELTWEIT FÜR TAUSENDE ZUM ALLTAG.
Zwangsräumung in Phnom Penh, Januar 2009 © www.nicolasaxelrod.com
Wir setzen uns für die Rechte dieser Menschen ein. Mitmachen. www.amnesty.de/wohnen
Botschaft des Zweifels Eine Wahrheitskommission soll in Honduras die Ereignisse der vergangenen Monate aufklären. Nach dem Putsch gegen den amtierenden Präsidenten kam es zu schweren Menschenrechtsverletzungen. Von Erika Harzer
Wer sich wehrte, wurde eingeschüchtert. »Vor kurzem kamen einige Männer in mein Wohnviertel und fragten ein paar Jungs, ob sie Sarah kennen würden. Sie fragten nach mir!« Sarah Avila wohnt in einem der Armenviertel im Norden der Hauptstadt, in dem die meisten »von Tortilla mit Salz« leben, wie sie sagt. Sarah bezeichnet sich selbst als optimistische Person. Sie ist lebenslustig und neugierig, und doch wirken ihre Erzählungen ängstlich. Wollten die Männer sie verschleppen? Sie hatte sich in der Nacht nach Zelayas heimlicher Rückkehr nach Honduras mit Hunderten Menschen vor der brasilianischen Botschaft versammelt, voller Hoffnung, dass der Putsch bald vorbei sein würde. Dann kamen die Sicherheitskräfte und drängten die Menge mit Tränengas und Schlagstöcken auseinander. Sarah
Absperrungen und patrouillierende Militärs prägen immer noch die Straßen um die brasilianische Botschaft in der honduranischen Hauptstadt Tegucigalpa. Dort sitzt der gewählte Präsident José Manuel Zelaya und versucht, seine Wiedereinsetzung zu erreichen. Lange Zeit erfolglos, da die Interims-Regierung von Roberto Micheletti alle Vermittlungsbemühungen scheitern ließ. Erst Ende Oktober gab Micheletti schließlich dem starken internationalen Druck nach und schloss eine Vereinbarung mit Zelaya. Demnach soll eine Regierung der nationalen Einheit bis Ende Januar die Amtsgeschäfte übernehmen, unter der Führung von Manuel Zelaya, der dann das Amt an seinen gewählten Nachfolger übergeben wird. Weder er noch Micheletti kandidieren bei den schon vor dem Putsch angesetzten Wahlen. Und anders als bei vergangenen Militärputschen in Lateinamerika wurde keine allgemeine Amnestie vereinbart. Eine Wahrheitskommission soll eingesetzt werden, um die Ereignisse der vergangenen vier Monate aufzuarbeiten. Doch was das Abkommen wert ist, und ob Zelaya bis zu den Präsidentschaftswahlen am 29. November tatsächlich sein Amt wieder übernehmen kann, war Mitte November noch ungewiss. Die Entscheidung darüber liegt ausschließlich beim Kongress, wo die Anhänger Zelayas in der Minderheit sind. Die politische Krise begann am 28. Juni, als Militärs den honduranischen Präsidenten José Manuel Zelaya in seinem Privathaus überfielen und ihn kurzerhand nach Costa Rica verschleppten. Wenig später wurde vor dem sofort einberufenen Parlament eine gefälschte Rücktrittserklärung Zelayas verlesen und der ehemalige Kongressvorsitzende Roberto Micheletti zum Präsidenten ernannt. Zelaya wollte die Verfassung ändern, um ihm Amt bleiben zu können, lautete der Hauptvorwurf seiner Gegner. Ein Referendum, mit dem die Bevölkerung über diese Änderung entscheiden sollte, wurde jedoch durch den Putsch verhindert. Die UNO, die Organisation Amerikanischer Staaten, die US-Regierung sowie die EU verurteilten den Staatsstreich klar. Zudem organisierte sich im Land ein breites Widerstandsbündnis, das zu Protestkundgebungen aufrief. Obwohl Micheletti Anfang Oktober den zuvor von ihm verhängten Ausnahmezustand wieder aufhob, gingen die Sicherheitskräfte weiterhin brutal gegen Demonstranten vor. Wer sich wehrt, wird eingeschüchtert. Straßenproteste in Tegucigalpa.
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FADEH vorgelegten Zahlen beziehen sich auf Berichte von Betroffenen sowie auf Recherchen der Anwälte, Sozialarbeiter und Freiwilligen, die seit dem Putsch die Arbeit dieser Menschenrechtsorganisation unterstützen. Diesen Angaben zufolge wurden 21 Personen erschossen oder starben an einer überhöhten Dosis Tränengas. Mehr als 3.000 Personen wurden im Verlauf von Demonstrationen oder während der oft extrem kurzfristig verhängten Ausgangssperre festgenommen. Viele von ihnen wurden brutal verprügelt, weit über 100 Personen wurden in Polizeigewahrsam gefoltert. Illegale Hausdurchsuchungen, Angriffe auf Journalisten, die Schließung von Radiostationen wurden ebenso dokumentiert wie wiederholte Todesdrohungen gegenüber Oppositionellen. Eine Delegation von Amnesty International, die Anfang August das Land bereiste, kam zu ähnlichen Ergebnissen. Sie berichtete von Fällen sexueller Gewalt gegen Frauen und Mädchen und von Angriffen gegen Journalisten und Medien. Die Regierung Micheletti würde bewusst friedliche Demonstranten verhaften und misshandeln. Der 21-jährige Denis Oyuela, der im gleichen Stadtteil wie Sarah wohnt, wurde bei einer Demonstration Ende September schwer verletzt – eine Polizeikugel zertrümmerte seinen Kiefer. Unter großen Mühen erzählt er, wie die Sicherheitskräfte ohne Vorwarnung auf die Demonstranten schossen. Seine Nachbarn schützten ihn, konnten aber nicht verhindern, dass ihm Polizisten alles abnahmen, was er bei sich trug, auch seinen Führerschein. Zuvor arbeitete er als Brotlieferant. Jetzt ist er arbeitslos und seine Familie musste viel Geld für die Operation aufbringen. Ob sein Kiefer wieder richtig zusammenwächst, ist nicht sicher. Nach der ersten Freude über das Abkommen zwischen Zelaya und Micheletti rief ein Bündnis aus rund 100 sozialen Organisationen wieder zu Straßenprotesten auf. Dieser Druck sei nötig, damit Zelaya umgehend wieder eingesetzt wird, wie es in dem Abkommen vorgesehen ist, heißt es einer Erklärung der Demokratiebewegung. Sie befürchtet, dass die Putschisten die Verhandlungen verschleppen, bis die internationale Aufmerksamkeit wieder nachlässt. Foto: Livio Mancini / Redux / laif
gelang die »Flucht« in die Botschaft, die sie erst einen Tag später in Begleitung der Menschenrechtsbeauftragten des Innenministeriums verlassen konnte. »Dabei wurde ich registriert, mein Ausweis und meine Adresse. Seither passieren komische Sachen vor meinem Haus. Motorradfahrer bleiben stehen, beobachten mich.« Ihren kleinen Sohn hat Sarah bei Verwandten untergebracht, ihm soll nichts zustoßen. Sarahs Geschichte ist kein Einzelfall. Nach Erkenntnissen der honduranischen Menschenrechtsorganisation »Komitee der Familienangehörigen der Verhafteten und Verschwundenen« (COFADEH) waren die Militärs und Polizisten, die für die Sicherheit der Regierung Micheletti sorgen, bis Mitte Oktober für mehr als 4.200 Menschenrechtsverletzungen verantwortlich. Die von CO-
21 Personen wurden erschossen oder starben an einer überhöhten Dosis Tränengas.
Die Autorin ist Journalistin und lebt in Berlin.
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»Kaum ein Mensch hat normale Blutwerte«. Metallschmelze von Doe Run in La Oroya.
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Blei im Blut La Oroya heißt die schmutzigste Stadt Lateinamerikas. Rund 3.500 Arbeiter schuften in der Metallschmelze in den peruanischen Anden, die seit Jahren Unmengen von Schwefeldioxid, Blei und Arsen in den Himmel bläst. Doch derzeit ruht der Betrieb, weil die Gesellschaft Insolvenz angemeldet hat. Für die Arbeiter eine Katastrophe. Experten sehen darin jedoch nur eine Strategie, um Umweltauflagen abzuschwächen. Ein Poker auf dem Rücken der Bevölkerung, die seit Jahren unter der extremen Belastung leidet. Von Knut Henkel (Text) und Guillaume Herbaut / Oeil Public / laif (Fotos) Wie weiß gepudert wirken die Berghänge rund um die peruanische Andenstadt La Oroya. Kaum ein Strauch krallt sich in den unwirtlichen Untergrund, den der saure Regen blankgewaschen hat. »Hier wächst kaum mehr etwas. Eine Folge der jahrzehntelangen Luftverschmutzung, die auch noch etliche Kilometer entfernt zu spüren ist«, berichtet der quirlige 55-jährige Entwicklungsexperte Vicente Nalvarte Surabía und deutet durch das Autofenster auf den von Schotter gesäumten schmutzigbraunen Fluss, den Mantaro. Dann taucht der mächtige Schornstein, das Wahrzeichen von La Oroya, zwischen den steilen Felshängen auf. Der 169 Meter hohe Schlot dominiert die in einem Tal liegende Bergbaustadt. La Oroya rühmt sich, das metallverarbeitende Zentrum Perus und zugleich Lateinamerikas zu sein. Gold, Silber, Kupfer, Blei und eine ganze Reihe anderer Metalle werden seit 1922 in der auf 3.750 Meter über dem Meeresspiegel liegenden Schmelze aus den Gesteinskonzentraten gewonnen. Per Bahn werden die Rohstoffe herangekarrt. Über das Gleis gelangen die fertigen Barren ins 180 Kilometer entfernte Lima, wo sie im Hafen von Callao verschifft werden. »Normalerweise steht eine Rauchsäule über dem mächtigen Schlot, denn es wird rund um die Uhr produziert. Alle Minen der
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Region liefern ihre Konzentrate an Doe Run«, erklärt Nalavarte und steigt vor dem Gemeindehaus der katholischen Kirche aus dem Taxi. Doe Run heißt das US-Unternehmen, das 1997 die Hütte vom peruanischen Staat übernahm. Der Konzern mit dem Stammsitz St. Louis ist der größte Bleiproduzent der westlichen Welt. Auch in La Oroya wird Blei en Gros produziert. Beachtliche Mengen des Schwermetalls gelangen mit Schwefeldioxid, Arsen und anderen Schadstoffen durch den Schornstein in die Atmosphäre. »Mit verheerenden Folgen, denn kaum ein Mensch in La Oroya hat einen normalen Bleiwert im Blut«, beschreibt Nalavarte die Folgen. Drei bis viermal pro Woche kommt er nach La Oroya, um das Ernährungs- und Gesundheitsprogramm der Kirche zu koordinieren. Dessen Ziel ist es, zumindest den Kindern zu helfen, denn Blei wirkt sich überaus negativ auf ihre Entwicklung aus. »Konzentrationsschwierigkeiten in der Schule, Atemwegsund Hauterkrankungen sowie Kopfschmerzen sind die direkten Folgen der hohen Bleibelastung«, sagt Dr. Hugo Villa. Fast 30 Jahre lang hat er am Krankenhaus von La Oroya gearbeitet und das von Kirchenorganisationen aus Deutschland finanzierte Gesundheitsprogramm mitentwickelt. Das versorgt derzeit rund 1.200 Kinder sowie einige wenige Pensionäre und schwangere Frauen mit nahrhaftem Brei. Der enthält neben Milch, Mehl und Rosinen einen Vitamin- und Mineraliencocktail. »So versuchen wir, das Immunsystem zu stärken und die Aufnahme von Schwermetallen in den Organismus zu reduzieren«, erklärt der Arzt. Mit gutem Erfolg, denn die Bleiwerte im Blut der Kinder, die am Programm teilnehmen, sinken langsam. Von durchschnittlich 40 Mikrogramm pro Deziliter Blut auf derzeit etwa 30 Mikrogramm. Das sei zwar immer noch das dreifache des Grenzwerts von zehn Milligramm, den die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt, aber immerhin ein Fortschritt gegenüber
den ersten konkreten Zahlen aus 2005, berichtet die Krankenschwester, die das Gesundheitsprogramm leitet. Das Programm wird genauso wie die regelmäßigen Blutuntersuchungen im Auftrag des Erzbistums von Huancayo durchgeführt. Der dortige Bischof, Monseñor Pedro Barreto, sorgte dafür, dass 2005 ein Medizinerteam der US-Universität von San Luis/Missouri nach La Oroya kam und erstmals detaillierte Blutuntersuchungen vornahm. »Die Ergebnisse bewiesen schwarz auf weiß, dass die Menschen in La Oroya latent vergiftet werden«, sagt der Bischof. So lagen die Bleikonzentrationen im Blut der Menschen aus der Altstadt von La Oroya bis zu siebenmal höher als der WHO-Grenzwert. Direkt gegenüber dem mächtigen Schornstein und den zentralen Installationen der Hütte liegt die Altstadt, wo die Lebensbedingungen der Menschen jeder Beschreibung spotten. »Viele Haushalte haben keinen Trinkwasseranschluss, viele Menschen leben in einfachen Baracken und sind den Emissionen schutzlos ausgeliefert«, klagt Miguel Curi. Der 44-jährige Familienvater gehört seit rund fünf Jahren der Gesundheitsbewegung von La Oroya an und ist nach den ersten Bluttests an seinen drei Kindern auf das Gesundheitsrisiko aufmerksam geworden. Von seiner Wohnung in der Altstadt von La Oroya hat man einen prächtigen Blick über die Blech- und Ziegeldächer und die dahinter liegenden zentralen Anlagen Doe Runs, die von dem riesigen Schlot überragt werden. »Eigentlich müsste man die ganze Stadt verlagern, denn Erzverarbeitung und städtisches Leben passen nicht in die gleiche Nachbarschaft – selbst bei Einhaltung modernster Umweltstandards«, kritisiert Curi und legt die Stirn in Falten. Er klagt vor dem Inter-Amerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte gemeinsam mit 64 weiteren Bewohnern der Altstadt gegen den peruanischen Staat, weil der ihre Menschenrechte nicht schütze. Curi hält wenig von der Bergbaupolitik der Regierung in Lima.
Lebensbedingungen, die jeder Beschreibung spotten. Arbeiterfamilie in der Altstadt von La Oroya.
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»Die Regierung drückt gerne mal eine Auge zu«.
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»Die kommt den Unternehmen entgegen und drückt gern mal ein Auge zu.« In La Oroya eher beide, weshalb die Stadt 2006 vom Blacksmith Institute, einer US-Umweltorganisation, zur am stärksten verschmutzten Stadt Lateinamerikas gekürt wurde. Seitdem ist La Oroya national und international ein Synonym für die latente Vergiftung der Bevölkerung durch ein skrupelloses Unternehmen. »Trotzdem hat sich nichts geändert«, meint Viviana Berocal und rührt mit einer großen Schöpfkelle in einem Topf, der auf dem Herd in einer der kommunalen Küchen der Kirche steht. Täglich bereitet die zweifache Mutter Breis für die Kinder zu, um sie widerstandsfähiger gegen die latente Vergiftung zu machen. Sie ist entnervt von der Untätigkeit Doe Runs und frustriert von der Perspektivlosigkeit in La Oroya. So geht es vielen Bewohnern der Altstadt, klagt Curi. Die Technik in La Oroya sei alles andere als vorbildlich. Doe Run Perú hat sich zwar verpflichtet, drei moderne Entschwefelungsanlagen im Werk zu installieren, um die Schadstoffemissionen zu reduzieren, doch keine der beiden bereits installierten Anlagen läuft zuverlässig, und die dritte ist noch nicht einmal installiert. Das Unternehmen, das während des Bergbaubooms in den vergangenen Jahren beachtliche Gewinne einfuhr, hatte bis Ende Oktober Zeit, die drei Entschwefelungsanlagen zu installieren. Doch bereits Ende Dezember 2008 wurden die Arbeiten gestoppt – kein Geld hieß es. Im Februar wurde die Produktion erstmals gedrosselt, und im August meldete Doe Run Perú dann Insolvenz an. Vordergründig, weil die Weltmarktpreise für Blei, Kupfer und Zinn stark gefallen sind. »Doch wo sind die Gewinne der vergangenen Jahre geblieben«, fragt Entwicklungsexperte Nalvarte und deutet mit dem Daumen viel sagend in Richtung USA. Transferiert, soll das wohl heißen. Das ärgert Kritiker in La Oroya genauso wie Umweltexperten in Lima, denn bereits 2006 wurde Doe Run Perú ein dreijähriger Aufschub gewährt, um
Wasseraufbereitung im Hüttenwerk.
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Peru
»Viele leben in einfachen Baracken und sind den Emissionen schutzlos ausgeliefert.« Umweltauflagen zu erfüllen. Ende September, die frustrierten Arbeiter hatten mehrere Tage die wichtige Passstraße blockiert, die von Lima über La Oroya in die Agrarregion von Huancayo führt, knickte die Regierung in Lima ein. »Der Kongress verabschiedete ein Gesetz, das Doe Run Perú einen weiteren Aufschub dreißig Monate gewährt«, so Luz Gladys Huamán von der peruanischen Umweltorganisation »Labor«. Für die Umweltaktivistin ein Kniefall vor dem Unternehmen. Wie es weitergeht weiß niemand in Peru. »Das Unternehmen steht bei Lieferanten mit über hundert Millionen US-Dollar in der Kreide. Der Mutterkonzern weigert sich jedoch, frisches Geld nachzuschießen«, erklärt Michael Pollmann, Umweltexperte des Deutschen Entwicklungsdienstes in Lima. »Ich habe meine Zweifel, ob Doe Run wirklich gewillt ist, die Hütte wieder anzufahren.« Das wäre der Supergau, denn dann bliebe die Regierung in Lima auf einer hochgiftigen Müllkippe sitzen, und obendrein wären 3.500 Jobs weg. Den Bleikindern von La Oroya blieben so immerhin 30 weitere Monate der latenten Vergiftung erspart. Der Autor ist Journalist und Lateinamerika-Korrespondent.
Die Kumpel wollen wieder an die Arbeit. Protestkundgebung vor der Anlage von Doe Run.
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Kultur
Das Dach über dem Kopf 60
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Pittoresk nur aus der Ferne. Barrio El Valle am Rande von Caracas, Venezuela.
Foto: Jonas Bendiksen / Knesebeck Verlag
60 Fotoprojekt: Der norwegische Fotograf Jonas Bendiksen hat über Jahre das Leben in Slums dokumentiert 66 Porträt: Über den iranischen Autor Amir Hassan Cheheltan 68 Filmfestival der Menschenrechte: Über 10.000 Besucher 70 Queere Musikvideos: Politische Selbstbehauptung 72 Buch: Von »Altlas der Globalisierung« bis »Heldenspiel« 74 Film & Musik: Von »Eine Perle Ewigkeit« bis »Cantora« 61
Die Wohnung der Familie Arori. Nairobi, Kenia.
Wo wir leben Weltweit wohnen mehr als eine Milliarde Menschen in Armutssiedlungen. Der Fotoband »So leben wir« zeigt ungewöhnliche Bilder von ihrem Alltag. Von Anton Landgraf
Die Wohnung der Familie Lohar. Mumbai, Indien.
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Foto: Jonas Bendiksen / Magnum Photos / Agentur Focus
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ie Straße quillt über vor Müll, die Hütten wirken zerbrechlich, die Menschen niedergeschlagen. Wir kennen die Bilder, die Slums als gefährliche Orte zeigen, als Heimat der gesellschaftlichen Verlierer. Als der norwegische Fotograf Jonas Bendiksen vor ein paar Jahren aus dem beschaulichen Oslo aufbrach, um Elendssiedlungen rund um die Welt zu fotografieren, hatte er wohl diese Erwartungen. Die Idee für das Projekt kam ihm, als er die Meldung las, dass im Jahr 2008 zum ersten Mal mehr als die Hälfte der Menschheit in Städten wohnt. Dabei sind die Slums, Shantytowns und Favelas in Asien, Afrika und Lateinamerika die am schnellsten wachsenden Wohnquartiere – einfache Behausungen aus Wellblech, Kartons und Verschläge aus Brettern, ein wild wuchernder Mikrokosmos. Jeder dritte Stadtbewohner, über eine Milliarde Menschen, lebt heute in einer Armutssiedlung.
Aber was bedeutet es, in diesen Enklaven der Armut zu leben? Wie richten die Bewohner sich im Notstand ein? Wie sieht ihr Alltag aus? Bendiksen, Mitglied der bekannten Agentur Magnum, verbrachte ein halbes Jahr in den Slums von Jakarta und Mumbai, Nairobi und Caracas. Die Behausungen, die er besuchte, fotografierte er von innen – und stets so, wie er sie vorfand. Was er dort erlebte, entsprach oft so gar nicht dem Klischee. Vielmehr betrat er Orte, die, wenn auch ärmlich, von einem ganz normalen Leben zeugen. »Ich weiß nicht, wie du mein Haus siehst, aber für mich ist es schön. Ich schätze es, selbst, wenn es klein ist. Hier habe ich mein Sofa, meine kleine Küche, meinen Fernseher und das Aquarium. Die Leute, die nicht in einem Ghetto wohnen, denken schlecht darüber, (…) aber es gibt hier nicht nur dreckige Häuser«, erzählt Andrew Dirango, der in dem Slum Kibera in Nairobi lebt.
Foto: Jonas Bendiksen / Knesebeck Verlag
KULTUR
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»SO LEBEN WIR«
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Die Wohnung der Familie Asanah. Jakarta, Indonesien.
»Ich weiß nicht, wie du mein Haus siehst, aber für mich ist es schön. Ich schätze es, selbst, wenn es klein ist.« Andrew Dirango, Kibera
In den kurzen Begleittexten zu den Fotos kommen nicht nur die Bewohner zu Wort. Sie liefern auch interessante Informationen über die jeweilige Siedlung. In Kibera etwa, dem größten Slum in Ostafrika, leben rund 800.000 Menschen auf einer Fläche, die etwa dem Central Park in New York entspricht. Die Siedlung entstand in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als die britische Kolonialverwaltung Land an pensionierte Soldaten aus dem Sudan vergab, die in der königlichen Armee gedient hatten. Die ehemaligen Soldaten gaben der Hügelkette vor Nairobi den Namen Kibera – sudanesisch für Dschungel. Weil die britische Verwaltung keine Besitztitel vergab, galt die Siedlung nach der Unabhängigkeit als illegal und wurde nicht an die städtische Infrastruktur angeschlossen. Daraus entwickelte sich dann ein urbaner »Dschungel« – ohne asphaltierte Straßen, Schulen, Wasser- und Gesundheits-
Die Wohnung der Familie Torrealba. Caracas, Venezuela.
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Foto: Jonas Bendiksen / Knesebeck Verlag
versorgung. Elementare Menschenrechte wurden dadurch missachtet – wie etwa das Recht auf eine ausreichende Menge Trinkwasser oder das Recht auf Bildung. Nach UNO-Angaben stirbt in Kibera jedes fünfte Kind vor seinem fünften Geburtstag. Die Fotografien von Bendiksen zeigen auch diese Seite der Slums deutlich, das Elend und die Gewalt. Seine Bilder beeindrucken aber vor allem, weil sie zugleich ungewöhnliche Einblicke in einen exotisch anmutenden Alltag gewähren. Um die Vielfalt der verschiedenen Slum-Wohnungen zu dokumentieren, entschloss sich Bendiksen zu einem unkonventionellen Projekt: Er fotografierte die Innenwände verschiedener Räume und stellte sie nebeneinander, sodass sie gewissermaßen dreidimensional zu sehen sind. Damit illustriert er nicht nur die Enge und die Not, sondern auch die Phantasie und Lebenslust, mit der die Wohnungen oft eingerichtet sind.
Die Fotos sind in Deutschland einmalig ab dem 12. Dezember in Berlin zu sehen. Für die Ausstellung, die von der Stiftung Menschenrechte – Förderstiftung amnesty international unterstützt wird, wurde ein besonders aufwendiges Verfahren gewählt: Die vier Bilder werden so an die Wände eines Raumes projiziert, dass eine 360-Grad-Ansicht vom Wohnraum im Originalgrundriss entsteht – fast so, wie im wirklichen Leben. Philip Gourevitch, Jonas Bendiksen: »So leben wir«. Knesebeck Verlag, München 2008, 196 Seiten, 29,95 Euro Ausstellung: c/o Berlin – International Forum for Visual Dialogues. Postfuhramt, Oranienburger Straße 35/36, 10117 Berlin, 12. Dezember 2009 bis 28. Februar 2010
Foto: Jonas Bendiksen / Magnum Photos / Agentur Focus
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»SO LEBEN WIR«
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Foto: Ekko von Schwichow
Ein höflicher, aber deutlicher Kritiker. Amir Hassan Cheheltan.
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Mann der leisen Worte Amir Hassan Cheheltans Bücher erscheinen im Iran meist zensiert. Wie weit seine Regimekritik geht, zeigt sein in Deutschland veröffentlichter Roman »Teheran Revolutionsstraße«. Über einen höflichen Dissidenten, den seine internationale Bekanntheit schützt. Von Barbara Kerneck
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mir Hassan Cheheltan (53) lebt in diesem Herbst dank eines DAAD-Stipendiums in Berlin. Dort stellte er kürzlich seinen neuen Roman »Teheran Revolutionsstraße« vor. Höflich beantwortete er Fragen wie zum Beispiel: »In dem Buch spielen viele Szenen im Teheraner Evin-Gefängnis. Woher kennen Sie eigentlich die Zustände dort so genau?« Seine Erklärung: »Es gibt in Teheran kaum eine Familie, von der nicht irgendein Mitglied dort gesessen hat. Nichts ist einfacher, als Augenzeugen dafür zu finden.« Cheheltan tritt leise auf. Er ist genau der Typ Iraner, von dem Europäer erklärt bekommen möchten, was in seinem Land eigentlich los ist. Seit 2004 schreibt er Kolumnen in der »FAZ«. Darin berichtet er vom absurden Alltag daheim, wo man die Bürger bis in die kleinsten Einzelheiten ihres Privatlebens gängelt. Die politischen Exzesse der letzten Zeit betrachtet er als Krämpfe, die sein Land auf dem Weg in die Moderne schütteln. Auf diesem Weg möchte auch er nicht alles kritiklos vom Westen übernehmen, doch mehr noch kritisiert er das Regime der Mullahs. Seine bislang sechs Romane erschienen im Iran nur mit großer zeitlicher Verzögerung, voller Streichungen und Änderungen. Bemäkelten die Zensoren einmal nichts, so deshalb, weil Cheheltan seine Aussagen zwischen den Zeilen versteckte. »Teheran Revolutionsstraße« schrieb er ohne diese Schere im Kopf. Das Buch erscheint zunächst in Deutschland. In seiner Heimat wäre es undenkbar. Immer wieder geht es in dem Roman um Heuchelei. Protagonisten sind der chirurgische Autodidakt Fatah, spezialisiert auf die Wiederherstellung zerstörter Jungfernhäutchen und in eine seiner Patientinnen verliebt, der Gefängnisdirektor Keramat und sein Angestellter Mustafa. Schon ein schiefer Blick auf ihre Mütter könnte die drei zur Weißglut bringen. Die ihnen aber jeweils anvertrauten jungen Frauen beschimpfen sie unflätig und quälen sie mit Fleiß. Fatah, indem er die Jungfernhäutchen schmerzhafter wieder zusammennäht als nötig, die beiden anderen foltern und töten im Evin-Gefängnis. Der Roman lässt Teheran lebendig werden, so zum Beispiel den Platz Ssabse Maydan: »Schuhläden und Straßenhändler, die grobe Waschhandschuhe, sprechende Ziervögel und Viagra-Pillen verkauften. Den Faulenzern, die dort herumlungerten und die Rundungen städtischer Frauen musterten, hingen die Hosenzwickel bis in die Kniekehlen und in ihren Mundwinkeln glänzte der Speichel. Eine Art unterdrückter Gewalt lag in den Molekülen der Luft, die durch ein Antippen hätte freigesetzt werden können.«
Porträt
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amir haßßan cheheltan
Wir bewegen uns unter bettelarmen Leuten, denen inmitten all der politischen Instabilität nur noch Wunderheiler und Orakel den Glauben an ein Morgen vermitteln – das Regime stützt sich auf die Unwissenheit und Schwächen vieler seiner Bürger. Seit der Islamischen Revolution 1979 gab es immer wieder Hexenjagden auf vorwiegend junge Demokraten, Häretiker und Kommunisten. Die jüngsten Unruhen erscheinen als Fortsetzung früher niedergeschlagener Oppositionsbewegungen. Auch 2009 verschwanden junge Menschen im Evin-Gefängnis. Amir Hassan Cheheltan studierte in den nachrevolutionären Jahren Elektrotechnik, veröffentlichte erste Erzählungen, war kaum politisch aktiv und blieb von Verfolgungen verschont. Seine letzten zwei Studienjahre verbrachte er in England. Ab 1985 arbeitete er als Ingenieur an einem Wissenschaftszentrum in Teheran – und schrieb weiter. Seine Texte brachten ihm bald Drohungen ein. 1998 spitzte sich die innenpolitische Lage zu. Freunde warnten ihn davor, die Wohnung zu verlassen. Er verbarrikadierte sich in Todesangst. 1999 konnte er mit seiner Frau und dem kleinen Sohn für zwei Jahre als »Writer in Residence« in der Toskana leben. Als er nach Teheran zurückkehrte, verlor er seine Stelle. Nun musste das Schreiben ihn ernähren. Helden weiterer Romane Cheheltans sind ein vom Schah-Geheimdienst Entführter oder ein iranischer Kommunist. In einem Filmskript von ihm wird eine Soldatenmutter interviewt. Er leitete Literatur-Workshops und eine Online-Literaturzeitschrift und wurde 2001 in den Vorstand des iranischen Schriftstellerverbandes gewählt. Dank seiner zahlreichen Veröffentlichungen im Ausland mussten die Teheraner Machthaber allmählich mit ihm rechnen. Cheheltan, der viel im Ausland unterwegs ist, hat einmal gesagt, zu Hause hasse er Teheran eher, aus der Ferne liebe er es mehr. Die Rückkehr in den Iran war für ihn jedes Mal selbstverständlich. Zwar bezeichnet er sich als »Emigrant im eigenen Land«, doch findet er dort seine schriftstellerischen Impulse. »Teheran Revolutionsstraße« handelt auch davon, wie die Liebe zu einem Mädchen namens Schahrsad in dem Chirurgen Fatah und in Mustafa die Sehnsucht nach einem rechtschaffeneren Dasein weckt. Was sie nicht ahnen: die staatliche Terrormaschine rollt auch über ihr Privatleben hinweg, sie sind längst nicht nur Täter, sondern auch Opfer. Einer der Höhepunkte des Romans ist der Besuch von Schahrsads Onkel aus der Provinz im Evin-Gefängnis. Er will sich dort ein besseres Bild von der Arbeit Mustafas machen, der um die Hand seiner Nichte angehalten hat. Beim Blick auf den Gefängnishof sieht er mehrmals Gruppen junger Menschen mit Binden vor den Augen, die fortgeführt werden. Als der Folterer Mustafa den Raum betritt, schnürt etwas dem Onkel die Kehle zu: »Er mühte sich und fragte schließlich wie ein überaus bekümmerter Träumer, ›Wohin bringt man Euch, mein Sohn?‹« Amir Hassan Cheheltan: »Teheran Revolutionsstraße«. Aus dem Persischen von Susanne Baghestani. P. Kirchheim, München 2009, 208 Seiten, 22 Euro
Die Autorin ist freie Journalistin und lebt in Berlin.
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Kunst ist Politik Ästhetik und Aktualität: Über 10.000 Menschen haben das diesjährige Filmfestival der Menschenrechte in Nürnberg besucht und engagierte Filme auf hohem Niveau gesehen. Von Jürgen Kiontke
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rei Mädchen in schwarzen Schleiern, die Gesichter weiß, der Mund zugeklebt – den macht man im Iran besser nicht auf, darum geht’s. »Wenn wir nicht im Film sterben, dann in echt«, sagt Erzählerin Afa. Aber schon im nächsten Moment denkt sie nicht an den Tod – sondern geht durch die Straßen von Teheran, um die Menschen danach zu fragen, wen sie wählen werden. Denn es ist der Vorabend der Präsidentenwahl im Juni dieses Jahres. Und viele Menschen verbinden große Hoffnungen mit dem Gegenkandidaten des aktuellen Präsidenten Mahmoud Ahmadinedschad, Mir Hossein Mussawi. Mit dem einen verbinden sie Polizeikontrolle, Diktatur und Atombombenwahn und vor allem ökonomischen und gesellschaftlichen Stillstand. Seine Anhänger indes propagieren den starken Mann. Moussawi dagegen steht dafür, dass sich etwas ändert, für den Aufbruch im eigenen Land und den Frieden mit anderen Ländern: »Ich habe keine Lust mehr, mich im Ausland schämen zu müssen«, sagt ein junger Ingenieur. Es sind vor allem die jungen Iraner, die auf einen Wechsel in der Regierung hoffen. Sie haben eine gute Ausbildung und finden dennoch oft keine Arbeit. Afa schrubbt die Treppe ihres Wohnhauses, aber das reicht ihr nicht. Afa und die jungen Frauen, sie stehen für diese iranische Jugend. Und die ist die unbestrittene Hauptdarstellerin in dem Film »Green Days«, dem neuesten Werk der iranischen Regisseurin Hana Makhmalbaf. Der Film des 21-jährigen Regiewunderkinds – sie hat mit acht Jahren ihren ersten Kurzfilm gedreht – erlebte im Nürnberger Kulturzentrum seine deutsche Uraufführung. Der Festsaal war ausverkauft. Zwar war die Optik des Films leicht verschwommen, denn der Verleih hatte nur eine DVD geschickt. Aber wen kümmert’s, die Hoffnung im Iran ist grün, die Farbe sieht man auch so. Und den grünen Schal, das Zeichen der iranischen Opposition, trugen an diesem Abend auch viele im Publikum. Kaum etwas Passenderes hätte es als Abschluss der »Perspektive«, des Nürnberger Filmfestivals der Menschenrechte, das vom 30. September bis zum 11. Oktober 2009 stattfand, geben können. Alle zwei Jahre findet das größte deutsche Filmfest dieser Art statt. Und wenn dieses Jahr auch andere Filme die Preise mitgenommen haben – bei »Green Days« und mit und um Hana Makmalbaf war am meisten los. Was für eine Familie: Vater Mohsen ist – neben Abbas Kiarostami – der innovativste Regisseur des Iran. Er saß unter dem
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Schah im Gefängnis, machte sich 1979 für die islamische Revolution stark und wandte sich ab, als er sah, dass sich Demokratie im Iran mit den Mullahs nicht verwirklichen lassen würde. Nach vielen Zensurmaßnahmen emigrierte er im Jahre 2004. Heute lebt er in Paris und Kabul. In Nürnberg hat er dieses Jahr die Schirmherrschaft über das Filmfestival übernommen. Ehefrau und Sohn drehen ebenfalls Filme, und auch Hanas Schwester Samira ist Regisseurin. Ihr Film »Two-Legged Horse« gibt ein ungewöhnliches Beispiel von den Lebensbedingungen in Afghanistan: Ein reicher Junge, dessen Beine von einer Landmine zerrissen wurden, heuert einen armen Teufel an, der ihm als Reitgelegenheit zu dienen hat. Als Team treten sie nun zu den obligatorischen Schulhofschlägereien an. Auch Hanas Afghanistan-Reflexion »Buddha Collapsed out of Shame« aus dem Jahr 2007 lief auf dem Festival. Darin geht es um zwei Kinder, die in den Höhlen jener afghanischen Felswand leben, die 1.500 Jahre lang zwei riesige Buddha-Statuen beherbergten. Und die im Jahr 2001 von den Taliban in die Luft gesprengt wurden. »Ich habe heute keine Lust, mit euch Steinigung zu spielen«, sagt in dem Film die kleine Bakhtay, die lieber in die Schule gehen würde, als sich mit der Jungenbande auseinanderzusetzen. »Kinder sind die Erwachsenen der Zukunft«, sagt Hana Makhmalbaf. Wie kann man eindrücklicher erzählen? Nein, der Buddha-Film bekam keine Auszeichnung. »Der hat doch schon 21 Preise bekommen«, sagt Hana Makhmalbaf im Gespräch mit dem Amnesty Journal. Dieses Festival ging verschwenderisch mit seinen Perlen um. Schon der Eröffnungsfilm »Altiplano« ist ein Muster an Farbe, Weite und Ausdruck. Hier finden sich Reflexionen über die Folgen der Globalisierung neben Bildern der neuen bewaffneten Konflikte: Eine Kriegsfotografin landet nach dem Job in Bagdad direkt in den Auseinandersetzungen um eine Quecksilbermine im peruanischen Andenhochland. Es gibt strenge Dokumentarfilme – etwa über den Koltanabbau (»Wherever There are People, Problems are Lacking«, Belgien 2008). Und Lehrstücke, wie Frauen einen Bürgerkrieg beenden können: etwa mit Sex-Streiks und Strip-Androhungen, wie es die Frauen Liberias gemacht haben (»Pray the Devil Back to Hell«, USA 2008). Bedenkenswert: Sie haben auf diese Weise nicht nur den Diktator Charles Taylor erfolgreich zum Teufel gejagt, sondern auch noch zugleich eine Präsidentin an die Macht gebracht. Der Berlinale-Gewinner »La Teta Asustada« (siehe Seite 74) zierte das Festivalplakat, und die Kamera folgt den ersten Spuren der Demokratie in China auf unglaubliche Art: Die Protagonisten des Films »Wählt mich« (CH/DK 2007) sind gerade mal acht Jahre alt. Durch die Bank, und das ist kein Wunder: Denn in diesem Film wird das erste Mal der Klassensprecher gewählt und nicht vom Lehrer bestimmt.
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84 Filme hat das Festival gezeigt, und sie haben gemein, dass sie das Anliegen der Menschenrechte auf ihre Weise mit hohem künstlerischen Anspruch verbinden: »Filme, die nur fürs Filmemachen oder fürs Business gedreht wurden, interessieren mich nicht«, sagt Schirmherr Mohsen Makhmalbaf. Kunst, die kein politisches Anliegen habe, sei keine. Dieser Blickwinkel kam beim Publikum wohl an: Das Festival hat dieses Jahr den Zuschauerrekord gebrochen, über 10.000 Menschen wollten die Menschenrechtsfilme sehen. Wer konnte hier, in diesem Angebot, überhaupt etwas gewinnen? Die internationale Jury um den Leiter des niederländischen »Movies that Matter«-Festivals und ehemaligen Herausgeber des dänischen Magazins von Amnesty International, Taco Ruighaver, gab ihren Preis einem Film, der das krude Leben in einer chinesischen Polizeistation an der Grenze zu Nordkorea zeigt: Videokünstler Zhao Liang porträtiert schlagende Polizeikräfte (»Das filmen Sie jetzt aber bitte nicht«), die am Ende heulen, weil sie nicht in den unbefristeten Dienst übernommen werden. »Crime and Punishment« heißt der lakonische Titel. Der Film »Burma VJ – Reporting from a Closed Country« nimmt sowohl Publikumspreis wie auch den Preis der OpenEyes-Jugendjury mit. Der dänische Regisseur Anders Østergaard hat Handy-Filme aus Myanmar zu einer abendfüllenden Dokumentation montiert, die ihm Underground-Videoaktivisten aus dem Land per Mail haben zukommen lassen. Es sind Bilder, die während der Proteste der Mönche gegen das Militärregime im Jahr 2008 unter Lebensgefahr entstanden. Wenn der Mund zugeklebt ist, weisen die Mittel, mit denen Demokratie derzeit wahrgenommen wird, Wackeloptik auf und werden ins Internet gestellt – nicht nur in Myanmar, sondern eben auch im Iran. »Meine Hochachtung gilt den Menschen, die während der Proteste mit ihren Handys Filme gedreht haben«, sagt Hana Makhmalbaf. »Die haben mehr erreicht, als 100 Jahre iranische Filmgeschichte.« Aktualität regiert Ästhetik: Nur zwei Tage nach dem Ende des Festivals wurde dies realer, als es sich der Zuschauer vorstellen mochte – in der Person der iranischen Regisseurin Narges Kalhor, deren regimekritischer Kurzfilm »Die Egge« in Nürnberg im Programm lief. Sie hat in Deutschland Asyl beantragt, weil sie politische Schwierigkeiten bei ihrer Rückkehr in den Iran befürchtet. Und dies ist mehr als eine Fußnote zum Schwerpunkt Iran des Nürnberger Menschenrechts-Filmfestivals: Die 25-Jährige ist die Tochter von Mahdi Kalhor, selbst Regisseur – und Ahmadinedschads Medienberater. Ihr Film »Die Egge« übrigens ist die iranische Kinoversion der Franz-Kafka-Kurzgeschichte »In der Strafkolonie«.
Green Days. Iranischer Dokumentarfilm von Hana Makhmalbaf.
Jürgen Kiontke arbeitet als freier Filmkritiker in Berlin.
Crime and Punishment. Chinesischer Dokumentarfilm von Zhao Liang.
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Two-legged Horse. Afghanischer Spielfilm von Samira Makhmalbaf.
Fotos: Nürnberger Filmfestival der Menschenrechte
Buddha Collapsed out of Shame. Spielfilm von Hana Makhmalbaf.
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Vier Minuten Revolte Seit 30 Jahren feiern Musikvideos »queere« Identitäten. Doch es geht um mehr als um sexuelle und kulturelle Selbstbehauptung. Das zeigen allein die 21 Homosexuellen-Morde 2007 in den USA. Von Lennart Herberhold und Evan Romero-Castillo
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ann eine Orgie politisch sein? Das Video zum Nummereins-Hit »Relax« von Frankie goes to Hollywood zeigt den schwulen Sänger Holly Johnson in einem Club voller Ledermänner. Johnson geht mit mehreren Kerlen auf Tuchfühlung und singt: »Relax, don’t do it, when you want to come!« Auf den ersten Blick wird hier nur ein hedonistisches Disneyland inszeniert, weit entfernt vom politischen Kampf, den die Homosexuellenbewegungen in Europa und den USA seit den
lich abfällig gebraucht für alle, die nicht der sexuellen Norm entsprachen, wurde von vielen Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender und Intersexuellen umgedeutet zum Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins. Anders als die anderen zu sein, wurde zur Quelle kreativer und politischer Energie. Mit seinen anarchischen Erzählformen konnte das Musikvideo diese Energie schneller in Bilder umsetzen als herkömmliche Medien, wie etwa der Spielfilm. Bis heute bietet das Musikvideo »queeren« Künstlerinnen und Künstlern einen enormen Spielraum. »Hier sind wir!«, rufen Boy George, Bronski Beat, Melissa Etheridge, Meshell Ndegeocello, Gossip und unzählige andere dem Zuschauer zu. Wer sich in der Geschichte des Musikvideos auf Spurensuche begibt, erfährt, wie vielfältig, aber auch wie bedroht dieses »wir« bis heute ist. 1984, ein Jahr nach »Relax«, sucht ein schwuler Junge in einer tristen englischen Kleinstadt nach Liebe. Ein Mann im Hallenbad lächelt ihn an, der Junge schöpft Hoffnung, doch kurz
Für eine neue Sicht auf die Geschlechterdifferenzen. »Drag King« und »Drag Queen« aus dem Video zu »Listen up« von The Gossip.
Stonewall Riots von 1969 mit zunehmender Vehemenz geführt hatten. Die Riots waren die ersten Auseinandersetzungen, in denen sich Homosexuelle, in diesem Fall in New York, der Verhaftung durch die Polizei widersetzten. Trotzdem ist »Relax« politisch. Denn 1983 war diese Orgie das erste Musikvideo, das ein größtenteils heterosexuelles Fernsehpublikum explizit mit einer schwulen Subkultur konfrontierte. Die Forderung, das Private als politisch zu begreifen, wird in »Relax« erfüllt, wenn Holly Johnson ein »Coming-Out« feiert, das an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt. Übrigens so deutlich, dass MTV und BBC das Video bald aus dem Programm nahmen. »Relax« steht am Anfang einer langen Reihe von Clips, die dem Mainstream alternative Identitäten entgegensetzen und in den knapp vier Minuten, die ein Video gewöhnlich dauert, eine Revolte gegen sexuelle Konventionen anzetteln. In den frühen Achtzigern war die Zeit dafür reif. Der Begriff »queer«, ursprüng-
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darauf wird er von dem Mann und seinen Kumpanen zusammengeschlagen. »Smalltown boy«, das Video zum ersten Hit des Trios Bronski Beat, zeigt den sexuellen Außenseiter als Opfer. Vom selbstbewussten Hedonismus in »Relax« ist »Smalltown boy« weit entfernt. Und doch ist auch dieses Video ein politisches Manifest. In fünf Minuten prangern Bronski Beat an, wofür ein Spielfilm einen ganzen Abend bräuchte: Homophobie und Diskriminierung sind im England der Achtziger noch weit verbreitet. Der Titel des entsprechenden Bronski-Beat-Albums »The age of consent« bezieht sich auf das Alter, in dem schwule Männer straffrei Sex haben dürfen. 1984 lag es mit 21 Jahren weit über der Altersgrenze für heterosexuelle Jugendliche. Dass der Junge im Zug nach London auf andere schwule Jungs trifft, war eine deutliche Botschaft an jeden schwulen Jungen, der damals vor dem Fernseher saß: Du bist nicht allein! Ein Gemeinschaftsgefühl, das nach dem Ausbruch der Aids-Kri-
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se zwar stark gefordert war, das sich in den populärsten Videos aus der zweiten Hälfte der Achtziger aber kaum manifestierte. Erst 1990 rappte Neneh Cherry im Video zu »I got you under my skin« gegen die Kälte an, die HIV-positiven Menschen entgegenschlägt. Ein bis übers Gesicht in Latex gehüllter Tänzer windet sich zum wummernden Bass des Songs und verkörpert beides: Isolation bis hin zur Unsichtbarkeit und sexuelles Begehren. Dass in den Neunzigern einige heterosexuelle Sängerinnen in ihren Videos Homosexualität ins Spiel bringen, ist ein Beleg für die zunehmende Toleranz der westlichen Industriegesellschaften – Toleranz bis hin zur Vermarktung. In den Videos zu »Vogue«, »Justify my love« und »Erotica« treibt Madonna das Spiel mit den visuellen Codes und Fetischen der schwulen Subkultur bis zum wohlkalkulierten Skandal. Im Video zu Björks »All is full of love« (1999, Regie: Chris Cunningham) versinken zwei androgyne Roboter, beide mit Björks Antlitz, in einem innigen Kuss. Dieser Clip macht die Utopie einer allumfassenden
den USA 21 Homosexuelle ermordet. Das Video zeigt auch den Nährboden solcher Taten. »Gott hasst Schwuchteln« steht auf den Plakaten, die Demonstranten in »Gay Bash« vor sich hertragen. Mit denselben Worten hatten fundamentalistische Christen Ende der Neunziger vor einem Gerichtsgebäude protestiert, in dem sich die Mörder eines schwulen Studenten verantworten mussten. »Ihr seid keine Christen, ihr predigt Hass«, schleudert Lavonne im Video der Kirchengemeinde entgegen. Die Anklage ist dieselbe wie in »Smalltown boy«. Doch hier steht eine Künstlerin, die dem Gegner nicht ausweicht, sondern angreift. Dass Mélange Lavonne eine lesbische Hip-Hopperin ist, also zu einer Musikrichtung gehört, in der gern homophobe Klischees benutzt werden, ist ein weiteres politisches Statement. Ähnlich subversiv, aber viel spielerischer gehen Gossip im Video zu »Listen up« die Sache an. Ein Mann und eine Frau, jeweils in der eigenen Wohnung, stehen vor dem Spiegel und machen sich schick. Der Mann setzt eine Perücke auf und schminkt
Fotos: Whiteyfilms
Liebe für vier Minuten und neun Sekunden wahr. Gleichzeitig nimmt dieses Video zwar politische Prozesse auf – der Versuch der »queeren« Kulturen in den späten Neunzigern, alle Identitäts- und Begehrensgrenzen zu überwinden – verwandelt diese aber in eine hermetische Bilderwelt, die sich selbst genug ist. Doch im neuen Jahrtausend erobert eine neue Generation von »queeren« Künstlerinnen und Künstlern das Musikvideo als Mittel politischer Selbstbehauptung zurück. Zwei Clips aus dem Jahr 2007 sind beispielhaft. Das Video zu »Gay bash« (Schwulenklatschen) der lesbischen Hip-Hopperin Mélange Lavonne zeigt den Trauergottesdienst für einen jungen Mann. Wie ist er gestorben? Mélange Lavonne verdrängt den Priester vom Mikrofon und rappt los: Der Junge war schwul, und er ist einem »hate crime« zum Opfer gefallen, wurde von Menschen getötet, die ihn hassten, weil er nicht war wie sie. »Gay bash« erinnerte 2007 an eine traurige Wirklichkeit: In diesem Jahr wurden in
kultur
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queere mußikvideoß
sich, die Frau klebt einen Schnurrbart an. Als Mann geht sie auf die Straße und schaut Frauen hinterher, während der Mann in Frauenkleidern männliche Passanten anflirtet. Als sich die beiden dann in einem Club begegnen, dreht Regisseur Whitey McConnaughy die Schraube noch eine Runde weiter: »Drag Queen« und »Drag King« können die Augen nicht mehr voneinander lassen. Auf dem Tresen wiegt sich die lesbische Sängerin Beth Ditto in den Hüften und singt, dass wir nicht alles glauben sollen, was uns die Leute erzählen. Fast dreißig Jahre, nachdem Holly Johnson in einem schwulen Club mit ein paar Regeln brach, ist das Musikvideo immer noch ein Ort für »queere« Selbstbehauptung und »queere« Utopien. Lennart Herberhold ist Mitglied der Amnesty-Gruppe MERSI (Menschenrechte und sexuelle Identität) in Hamburg. Evan Romero-Castillo ist Kurator der Anthologie: »Resilience: Queers in Music Video 1979–2009«.
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Abb.: Atlas der Globalisierung / Le monde diplomatique
Neue Weltordnung. Das Machtgefüge der Staaten aus der Sicht des Atlasses der Globalisierung.
Kartografie der Macht Der neue »Atlas der Globalisierung« zeigt den rapiden Wandel unserer Weltordnung. Von Anita Baron
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arten, nichts als Karten. Auf über zweihundert Seiten gibt es im neuen »Atlas der Globalisierung«, herausgegeben von der Zeitschrift »Le Monde Diplomatique«, wieder Grafiken und Schaubilder zu bestaunen. Sei es der »Düngereinsatz pro Hektar« oder die »Wertschöpfung pro Arbeitskraft« – fast alle erdenklichen Aspekte der Globalisierung erscheinen dort hübsch aufbereitet, kreisförmig, tabellarisch oder linear. Die grafische Darstellung komplexer wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhänge ist sicher einer der Gründe für den großen Erfolg des Atlasses. Nicht zufällig fällt die erste Veröffentlichung 2003 in eine Zeit, in der sich auch die globalisierungskritische Bewegung Attac besonders großen Zuspruchs erfreute. Für sie lieferte der Atlas wichtige Argumente. Dabei ist die Idee nicht neu. Seit den achtziger Jahren gibt es Versuche, eine alternative Kartografie zu etablieren. In dieser Zeit entstand in den USA die kritische Geografie, deren theoretische Grundannahmen stark auf postkolonialen und marxistischen Theorien beruhten. Karten, die nicht nur Fakten darstellen, sondern die zugrunde liegenden Machtstrukturen offen legen – mit dem Ziel, sie dadurch verändern zu können. Dieser Kartografie der Macht folgt auch der »Atlas der Globalisierung«. War es in den früheren Ausgaben des Atlasses noch relativ einfach, den Überblick zu behalten, so hat sich das Welt-Bild in den vergangenen sechs Jahren rapide gewandelt. Lag bislang der Fokus auf den USA, deren wirtschaftliches und militärisches Engagement eine (negative) Orientierung bot, skizziert der Atlas
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2009 neue Machtstrukturen. So wird der Aufstieg Asiens thematisiert, der relative Erfolg der BRIC-Länder (Brasilien, Russland, Indien und China) und der »next eleven« – Nationen wie Mexiko, Südkorea oder die Türkei, die wegen ihrer hohen Zuwachsraten in absehbarer Zeit die alten G8-Staaten überholen könnten. Wegen der Finanzkrise und den katastrophalen Kriegen im Irak und in Afghanistan wird zwar mehrfach über das »womöglich letzte Kapitel in der Geschichte des Imperium Americanum« spekuliert. Ob eine »multipolare Weltordnung« jedoch eine hoffnungsvollere Perspektive bietet, scheint zweifelhaft. Die interessanten Ausführungen über den wirtschaftlichen Aufstieg Asiens zeigen, dass sich eine autoritäre Politik erfolgreich mit Massenkonsum und einer gewissen kulturellen Freizügigkeit kombinieren lässt: Der Kapitalismus funktioniert auch ganz gut ohne bürgerliche Rechte. Andere Thesen sind im besten Fall naiv. So wird behauptet, dass »Nordkorea nur deswegen die Atombombe will, um sie gegen Lebensmittel für seine eigene Bevölkerung eintauschen zu können« – als wenn sich Diktator Kim Jong-Il um nichts anderes sorgen würde als um die Ernährung seiner Untertanen. Trotz manch merkwürdiger Interpretation liefert der Band einen interessanten Überblick zu den wichtigsten sozialen, ökologischen und politischen Entwicklungen der vergangenen Jahre. Seine Stärke liegt darin, dass er versucht, die verschiedenen Aspekte der Globalisierung – ökonomisch, medial und technologisch – aufzuzeigen und zueinander in Beziehung zu setzen. Dies ergibt ein oft widersprüchliches Bild – und ein Bild, das die Sicht linker französischer Intellektueller aus dem Umfeld von Attac widerspiegelt. Atlas der Globalisierung. Le Monde Diplomatique/taz, Berlin 2009, 216 Seiten, 13 Euro
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Soziale Krankheit
Krieg und Raum
Das Cover zeigt die Autorin mit traditionellem Kopfschmuck, das Vorwort des Buches stammt von Sabine Christiansen, und der Titel ist ebenfalls kitschig: »Meine Kraft ist die Hoffnung«. Doch trotz der Verkaufsstrategie des Verlags ist es lohnend, sich von Nais Mason ihre Lebensgeschichte erzählen zu lassen. Mason ist 27 Jahre alt, als sie die Diagnose HIV-positiv erhält. In den achtziger Jahren spricht man in Kenia jedoch nicht darüber. Aids gilt als Krankheit von Homosexuellen – also als Schande. Selbst in den Städten sind viele fest davon überzeugt, dass treue Ehefrauen sich nicht anstecken können. Kondome finden in aller Regel keine Verwendung, da sie angeblich dem männlichen Rollenverständnis widersprechen. Über Sex spricht man nicht. Lieber werden die kranken Frauen des Hauses verwiesen. Sie stehen am unteren Ende der Hackordnung. Auch Mason trifft die soziale Kälte, die infizierten Frauen entgegenschlägt, mit aller Wucht. Wundersamerweise aber gibt sie nicht auf. Sie kämpft sich aus ihrer Ehe heraus, rettet sich mit ihren beiden Kindern in die USA und wird dort zur Aids-Beauftragten der Weltgesundheitsorganisation. Schließlich landet sie wieder in Kenia – und setzt ihren Kampf gegen die Unwissenheit und Borniertheit wie besessen fort. Sie weiß ja nicht, wie viel Zeit ihr noch bleibt.
Krieg und Architektur – man sollte meinen, diese beiden Disziplinen vertrügen sich nicht gut. Immerhin zerstört das Militär wenn nicht Menschen, dann von Architekten entworfene Gebäude. Doch wie die neue Studie des am Londoner Goldsmith College lehrenden Architekten Eyal Weizman zeigt, lässt sich viel über neueste Kriegstechniken lernen, wenn ein Raum-Experte sie unter die Lupe nimmt. In »Sperrzonen« erkundet Weizman, wie die moderne Kriegsführung gezielt die Trennung zwischen zivilen Räumen und der Front aufhebt: Dabei dient Weizman das israelische Vorgehen in den besetzten Gebieten als Modell. Eine zentrale Taktik im Rahmen der Besatzungspolitik ist die Militarisierung von Wohngebieten, stellt Weizman fest. Mithilfe von Grenzzäunen, Kontrollpunkten, Straßensperren oder unterirdischen Landstraßen wird eine bewegliche und für die Zivilisten unberechenbare Kriegsgeographie geschaffen. Die zweite Kriegstechnik, die Weizman analysiert, zielt ebenfalls darauf ab, die Front in perfider Weise auf zivile Räume auszudehnen. Die Rede ist vom »Durch Wände gehen«. Kleine Militäreinheiten schwärmen aus und sprengen Löcher in die Wände von Wohnhäusern. Schwer bewaffnet dringen sie in Privaträume ein. Mal durchqueren sie die Wohnräume nur, mal findet der Kampf direkt im Wohn- oder Schlafzimmer statt. Die Stadt, so Weizman, wird so nicht allein zum Schauplatz, sie wird zum »Medium«. »Sperrzonen« ist ein meinungsstarkes Architekten-Buch.
Nais Mason: Meine Kraft ist die Hoffnung. Patmos, Düsseldorf 2009, 248 Seiten, 18 Euro
Eyal Weizman: Sperrzonen. Israels Architektur der Besatzung. Aus dem Englischen von Sophia Deeg und Tashy Endres. Nautilus, Hamburg 2009, 384 Seiten, 24,90 Euro
Kein guter Ort »Ein guter Ort zum Sterben« ist kein angenehmes Buch – es ist eine Geschichte, in der es ständig kalt ist und die Klamotten nie trocknen. Der 1977 in Moskau geborene Arkadi Babtschenko beschreibt in seinem zweiten Roman erneut den russischen Krieg gegen Tschetschenien – wiederum aus Sicht eines einfachen Soldaten. Die Hauptfigur leidet unter psychischen Problemen, mit denen alle Soldaten zu kämpfen haben. Natürlich weiß auch die Militärführung, dass immer mehr Männer ausrasten und setzt deshalb Psychologen ein. In jeder Kompanie soll einer die schwer erschütterten Männer wieder einrenken. Doch statt Therapie und Psychopharmaka erhalten die Soldaten Prügel. Babtschenko beschäftigt sich weniger mit den Schlachten des Krieges als vielmehr mit einem in der russischen Gesellschaft tief verwurzelten Mechanismus: nämlich auf Probleme mit roher Gewalt zu reagieren. Psychologie, verstanden als die systematische Beschäftigung mit individuellen und gesellschaftlichen Erfahrungen von Glück, Schmerz, Angst, Liebe und Begehren, wird als Frauenkram ignoriert. Es ist kaum zu fassen, wie beharrlich eine riesige Institution wie die russische Armee all das angesammelte Wissen über Zwischenmenschliches für nichtig erklärt. Diesem Wahnsinn setzt der Autor seine Leser aus.
Verblendete Jugend Wie wird ein Junge zum Bombenleger? Die indische Autorin Paro Anand ist Mitglied einer Vereinigung, die sich um von Terroristen angeworbene Kinder in Kaschmir kümmert. Sie hat in »Heldenspiel« das Schicksal eines Jungen nachgezeichnet, der zu einem tödlichen Werkzeug wird. Aftab lebt im indischen Teil Kaschmirs und führt ein Doppelleben. Tagsüber ist er ein ganz normaler Junge, der mit seinen Freunden Kricket spielt und seiner Mutter die Füße mit Senföl massiert. Nachts schleicht er zum Treffen mit dem charismatischen Akram, um für »die Sache« zu kämpfen. Worum es genau geht, weiß Aftab nicht, er möchte einfach wie sein Held Akram sein. Und dieser weiß, wie er seine Jungs zu einer kleinen Armee formen kann: »Du musst sie benutzen, solange ihre Träume größer sind als ihr Wissen.« Was Aftab wie ein geheimnisvolles Abenteuer erscheint, entwickelt sich zu einer tödlichen Falle. Der Strudel der Ereignisse, in den Paro Anand ihren Helden geraten lässt, reißt auch die Leser mit. In einem Nachwort erläutert der Journalist Jochen Buchsteiner die Hintergründe des Kaschmir-Konflikts. Der von falschen Vorbildern geblendete Aftab kann jedoch exemplarisch stehen für viele andere Jugendliche, überall auf der Welt.
Arkadi Babtschenko: Ein guter Ort zum Sterben. Aus dem
Paro Anand: Heldenspiel. Aus dem indischen Englisch von
Russischen von Olaf Kühl. Rowohlt, Berlin 2009, 124 Seiten,
Günther Ohnemus. Fischer Schatzinsel, Frankfurt 2009,
14,90 Euro
222 Seiten, 12,95 Euro
Bücher: Ines Kappert, Sarah Wildeisen kultur
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Magischer Realismus
Anrufungen einer Palästinenserin
»Eine Perle Ewigkeit« lautet der Titel des diesjährigen Berlinale-Gewinnerfilms, der im Original »La teta asustada« heißt, auf Deutsch: »Die erschrockene Brustwarze«. Der Film bot Kritikern ob solcher und anderer Petitessen Anlass zu Spott und Hohn – vielleicht, weil man hierzulande mit einer Bildsprache voll mythischer Anspielungen und phantastisch durchwirkter Gegenwart nicht allzuviel anfangen kann. »La teta asustada« war der erste peruanische Film, der je im Wettbewerb der Berliner Filmfestspiele lief. Er übersetzt brutale Ereignisse der jüngsten Geschichte des Landes in äußerst eigenwillige Bilder. Am Schicksal des Dienstmädchens Fausta werden die Folgen des Bürgerkriegs zwischen dem Militär und der Guerilla »Leuchtender Pfad« thematisiert, der von 1980 bis 2000 über 70.000 Menschenleben kostete. Fausta ist ein Opfer der »Milch des Leids« – einer magischen Krankheit, die durch die Muttermilch übertragen wird: Nach einem alten Inka-Mythos übertragen jene Mütter diese Krankheit auf ihre Töchter, die während des Krieges Opfer von Gewalttaten wurden. Fausta weiß nur, dass sie leidet – und drückt ihren Schmerz in indianischen Liedern aus. Doch die Mutter stirbt, und Faustas Leben ändert sich drastisch. Sie kommt als Bedienstete in den Haushalt einer reichen Pianistin, die in Faustas Liedern eine Inspiration sieht – und finanzielles Potenzial. Für Fausta könnte dies aber ein Schritt aus dem Schatten der belastenden Vergangenheit sein.
Das Motiv des Orts findet sich oft bei palästinensischen Intellektuellen und Künstlern, ob sie nun in der Diaspora oder im Nahen Osten leben. »Am falschen Ort« betitelte etwa der verstorbene Vordenker Edward Said seine Autobiografie. »Makan«, Ort, heißt nun schlicht das neue Album der Sängerin und Lautenspielerin Kamilya Jubran. Als Tochter eines Geigenbauers und Musikers im israelischen Akko aufgewachsen, spielte Kamilya Jubran zwanzig Jahre lang in der Gruppe Sabreen (»Die Geduldigen«), einer stilprägenden Protestband aus Ost-Jerusalem. In der klassischen arabischen Musik verwurzelt, löste sich Kamilya Jubran von deren Konventionen, öffnete sich dem Jazz und elektronischen Klängen. Vor sechs Jahren ging sie nach Europa. Auf »Makan« hat Kamilya Jubran zeitgenössische arabische Poeme vertont, die von befreundeten Dichtern aus Marokko, dem Irak, Senegal und Palästina geschrieben wurden. Die minimalistischen Kompositionen für Gesang und Laute sind ernst, meditativ und spröde. Inspiriert worden sei sie dabei von den Orten, an denen sie gelebt und die sie bereist habe, schreibt die 45-jährige Musikerin in ihrem Booklet. Ihr Lautenspiel, das an den Deutsch-Libanesen Rabih Abou Khalil erinnert, wechselt zwischen spontaner Improvisation und Präzision, ihr hingebungsvoller Gesang zeichnet sich durch eine fast schon religiös wirkende Beseeltheit aus. So verwandeln sich durch sie die Poeme zu beinahe sufistischen Anrufungen.
»Eine Perle Ewigkeit«. E/Peru 2009. Regie: Claudia Llosa, Darsteller: Magaly Solier, Susi Sánchez, Efraín Solís
Kamilya Jubran: Makan (Pure/Harmonia Mundi)
Finger weg vom Regenwald
Verneigungen eines Enfant Terrible
Der Regisseur Martin Kessler hat sich mit Dokumentarfilmen über soziale Themen einen Namen gemacht – mit Filmen wie »Neue Wut« über die sozialen Verwerfungen in Deutschland oder »Das war der Gipfel« über das Weltwirtschaftstreffen 2007 in Heiligendamm und die Proteste dagegen. Nun hat er sich Südamerika zugewandt: »Eine andere Welt ist möglich« handelt vom Kampf der Indigenen Brasiliens gegen die Zerstörung des Regenwalds durch Riesenstaudämme und den Anbau genmanipulierter Pflanzen zur Erzeugung von Biodiesel. Der Film zeigt den Häuptling José Carlos auf dem Weg zum Weltsozialforum nach Belém, um die Zukunft seines Dorfes zu verteidigen. Denn wenn »Belo Monte«, das größte Staudamm-Projekt des Landes, vollendet und ihr Fluss umgeleitet werden sollte, ist das Lebensumfeld der Indigenen in Gefahr. Und: Nachdem sie zunächst auf dem Trockenen sitzen, werden sie alsbald in Fluten versinken. Denn der geplante Stausee wird Tausende Quadratkilometer Urwald überschwemmen. »Wir können Amazonien doch nicht in einen Park verwandeln, nur weil die Menschen in Europa Angst vor globaler Erwärmung haben«, sagt den Indigenen der zuständige Minister. Wieso verwandeln? Man soll alles lassen, wie es ist, erwidert José Carlos: »Helfen kann uns jetzt nur noch internationale Unterstützung.«
Rachid Taha ist das ewige Enfant Terrible des französischen Pop. Seit er mit der Immigrantenband »Carte de Séjour« debütierte, gilt er als schnoddrige Stimme der maghrebinischen Jugend, dabei ist er selbst mittlerweile schon 51! Zwischen Rai, Rock und Elektro-Sounds erfand er sich mit seinem langjährigen musikalischen Partner Steve Hillage seinen eigenen Stil, mit Cover-Versionen verbeugte er sich vor den Punk-Heroen von The Clash (»Rock the Kasbah«) und den arabischen Chansons der Sechzigerjahre (»Ya Rayah«). Auf seinem Album »Bonjour« zeigt sich der bärbeißige Sarkast nun so zugänglich wie nie zuvor. In New York und Paris entstanden, feiert das Album die eigentümliche Verbindung von Country und algerischer Chaabi-Musik, dem volkstümlichen Schlager des Maghrebs. Die zehn Songs, die Rachid Taha zusammen mit seinem Kollegen Gaetan Roussel von der französischen Indie-Rockband Louise Attaque eingespielt hat, strahlen eine erstaunliche Leichtigkeit aus. Ein paar Kommentare zum aktuellen Stand im »Kampf der Kulturen« konnte sich Taha dennoch nicht verkneifen. In »Sélu« verneigt er sich vor den Geistesgrößen der arabischen Welt, von Averroes über Nagib Machfus bis zu Frantz Fanon, und in »Mabrouk Aalik« sinniert er über die Gräben zwischen Juden und Arabern, die doch eigentlich eine historische Brüderschaft verbindet.
»Eine andere Welt ist möglich«. D 2009. Regie: Martin Kessler. Derzeit in den Kinos. Informationen: www.neuewut.de
Rachid Taha: Bonjour (Wrasse)
Film: Jürgen Kiontke | Musik: Zonya Dengi 74
amneßty journal | 01/2010
Die Stimme der »Verschwundenen« Mercedes Sosa, eine der bekanntesten Sängerinnen Lateinamerikas, starb Anfang Oktober. Sie erinnerte stets auch an die Opfer der Militärdiktatur und das Schicksal der indigenen Bevölkerung. Von Daniel Bax
M
ercedes Sosa war die Symbolfigur des demokratischen Argentiniens. Eigene Songs hat sie nie geschrieben, lieber griff sie auf die Werke anderer Künstler zurück. Weil sie nicht nur in den Traditionen ihres Landes sondern auch im panamerikanischen Repertoire zu Hause war, stieg sie in den Achtzigerjahren als »Stimme Südamerikas« zu weltweiter Bekanntheit auf. Das Duett-Album »Cantora« bildet nun das Vermächtnis der Sängerin, die am 4. Oktober im Alter von 74 Jahren in Buenos Aires starb. Mit einer Art Staatsbegräbnis und dreitägiger Staatstrauer nahmen das offizielle Argentinien und die Bevölkerung Abschied von ihr. Jedes der Lieder auf »Cantora« stammt von einem anderen Komponisten und wird, im Wechselspiel mit Mercedes Sosa, meist auch von diesem gesungen. Gesangspartner sind Weltstars wie Caetano Veloso, Shakira oder Daniela Mercury, andere sind nur in Südamerika oder der spanischsprachigen Welt bekannt. Die Produktion ist opulent und satt. Mal wird Mercedes Sosas noch immer markante Stimme nur von einer Gitarre, dann wieder von großem Orchester umgarnt. Es dominieren Streicher und
Piano, ab und an tauchen ein Bandoneon oder eine Klarinette auf. Das Spektrum der Stile reicht vom Akustik-Chanson über kitschige Latin-Operetten bis hin zur Hip-Hop-Elegie, dazu gibt es Ausflüge in Bluesrock oder Bossa Nova. Allzu Folkloristisches sucht man auf »Cantora« dagegen vergeblich. Das ist insofern überraschend, als Mercedes Sosa seit den frühen Sechzigerjahren zu den Stars des folkloristischen »Nueva Cancion« zählte und mit ihren Liedern an das Erbe der Inkas und anderer indigener Völker Lateinamerikas erinnerte. Als in Argentinien 1976 das Militär putschte, ging sie ins Exil, um sich von Europa aus Gehör zu verschaffen. Meist in einen Poncho gehüllt, mit ausladenden Bewegungen und sparsamer Mimik, gemahnte Mercedes Sosa an das Schicksal ihres unterdrückten Volks. Wenn sie sang, musste man unweigerlich an all jene denken, die unter der Diktatur spurlos »verschwanden«, gefoltert und ermordet wurden. Neben Miriam Makeba, Victor Jara und Bob Marley stieg Mercedes Sosa in jenen Jahren zu einer Ikone der Drittwelt-Solidarität und der lateinamerikabewegten Linken auf. Als sie nach dem Ende der Diktatur 1982 nach Argentinien zurückkehrte, behielt sie den Ruf einer politischen Sängerin bei. Doch wurde es in den nachfolgenden Jahren eher still um Mercedes Sosa, die sich mit Krankheiten plagte. Der aufkommende »Weltmusik«-Hype ging an ihr vorbei. In ihrer Heimat war sie jedoch nie vergessen, und mit ihrem Tod wurde sie quasi zu einer Nationalheiligen erklärt. Als »Cantora« vor mehr als einem Jahr in Argentinien erschien, entwickelte es sich innerhalb kurzer Zeit zum Bestseller, jetzt erscheint es in leicht veränderter Version auch in Europa. Das Album enthält keine politischen Botschaften, sondern melancholische Lieder über unerfüllte Bedürfnisse, Ängste und Sehnsüchte. Zu den Höhepunkten zählt »La Maza«, ein Songklassiker aus Kuba, den Mercedes Sosa mit der Kolumbianerin Shakira neu eingespielt hat.
Foto: Rodrigo Buendia / AFP / Getty Images
Mercedes Sosa: Cantora (Sony / RCA)
Mercedes Sosa. Quito, 2007.
kultur
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film & mußik
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Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt oder man lässt sie »verschwinden«. amneßty international veröffentlicht regelmäßig an dieser Stelle drei Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden. Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie bitte eine Kopie an amneßty international.
amneßty international Postfach, 53108 Bonn Tel.: 0228 - 98 37 30, Fax: 0228 - 63 00 36 E-Mail: info@amnesty.de, www.amnesty.de Spendenkonto Bank für Sozialwirtschaft (BfS), Köln Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00 oder Postbank Köln Konto: 22 40 46 - 502, BLZ: 370 100 50
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briefe gegen daß vergeßßen
MAROKKO CHEKIB EL-KHIARI Der Menschenrechtler Chekib El-Khiari verbüßt im Oukacha-Gefängnis in Casablanca eine dreijährige Haftstrafe. Man hatte ihn beschuldigt, sich gegen öffentliche Institutionen gestellt oder ihre Vertreter beleidigt zu haben. Zudem soll er ohne Autorisierung ein Bankkonto im Ausland eröffnet und Überweisungen vorgenommen haben. Amnesty International betrachtet ihn als gewaltlosen politischen Gefangenen, der nur wegen seiner offenen Kritik an den marokkanischen Behörden festgehalten wird. Chekib El-Khiari ist Gründer der Menschenrechtsorganisation Association du Rif des droits de l’homme, die sich unter anderem gegen den Drogenhandel in der Region Rif im Norden Marokkos einsetzt. Am 17. Februar 2009 erhielt Chekib El-Khiari eine Vorladung von der Polizei in Casablanca. Nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Maghreb Arab Press hatte der Generalstaatsanwalt am Berufungsgericht von Casablanca die Vorladung angeordnet, da Chekib El-Khiari einigen hochrangigen Beamten in der Region Rif öffentlich, unter anderem im Fernsehen, vorgeworfen hatte, in Drogenhandel und Korruption verwickelt zu sein. Am darauffolgenden Tag wurde Chekib El-Khiari von Angehörigen der Polizei nach Hause eskortiert, und sein Haus wurde durchsucht. Unter anderem wurden einige Dokumente und sein Computer beschlagnahmt. Dann wurde er abgeführt. Am 24. Juni 2009 verurteilte ihn ein Gericht erster Instanz in Casablanca zu drei Jahren Haft. Ein Berufungsverfahren ist anhängig. Die anderen Vorwürfe beziehen sich auf ein spanisches Konto, das Chekib El-Khiari 2006 eröffnet hatte. Er wollte so einen Scheck im Wert von 250 Euro einlösen, den er von der spanischen Tageszeitung »El País« als Honorar für einen Artikel erhalten hatte. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den marokkanischen König und bitten Sie ihn, Chekib El-Khiari umgehend und bedingungslos freizulassen, da er ein gewaltloser politischer Gefangener ist. Schreiben Sie in gutem Arabisch, Französisch, Englisch oder auf Deutsch an: His Majesty King Mohammed VI Bureau de Sa Majesté le Roi Palais Royal Rabat MAROKKO (korrekte Anrede: Your Majesty) Fax: 00 212 - 53 - 776 85 15 Standardbrief Luftpost bis 20 g: € 1,70 Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft des Königreichs Marokko S. E. Herrn Mohammed Rachad Bouhlal Niederwallstraße 39, 10117 Berlin Fax: 030 - 20 61 24 20 E-Mail: kontakt@botschaft-marokko.de
amneßty journal | 01/2010
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RUSSISCHE FÖDERATION SELIMCHAN MURDALOW
NORDKOREA KANG GUN
Selimchan Murdalow wurde am 2. Januar 2001 von Polizisten der Dienststelle des Bezirks Oktiabrskii der tschetschenischen Hauptstadt Grosny festgenommen. Man beschuldigte ihn des Drogenbesitzes. Seither hat seine Familie nichts mehr von ihm gehört. Die Polizei behauptete, dass Selimchan Murdalow drei Tage nach seiner Festnahme freigelassen worden sei. Im Oktober 2003 wurde der Polizist Sergej Lapin wegen Amtsmissbrauchs und schwerer Körperverletzung von Selimchan Murdalow vor Gericht gestellt. In dem Prozess vor dem Bezirksgericht von Oktiabrskii wurde bestätigt, dass Selimchan Murdalow in Polizeigewahrsam gefoltert worden war. Mehrere Stunden hatte man ihn geschlagen, getreten, geprügelt und mit Stromschlägen traktiert. Ein Arm war gebrochen und ein Ohr eingerissen, außerdem erlitt er eine Gehirnerschütterung. Berichten zufolge wurde er am nächsten Tag von Polizisten weggebracht. Im März 2005 verurteilte ein Gericht den Polizisten Sergej Lapin zu elf Jahren Haft. Die Strafe wurde im Berufungsverfahren auf zehn Jahre und sechs Monate reduziert. Für die Entführung und das »Verschwindenlassen« von Selimchan Murdalow ist jedoch bis heute niemand zur Verantwortung gezogen worden. Im November 2005 wurden zwei weitere Beteiligte an der Folter und dem »Verschwindenlassen« von Selimchan Murdalow identifiziert: ein leitender Beamter und ein rangniedriger Angehöriger der Polizeieinheit. Beide stehen auf der Fahndungsliste, sind aber noch nicht verhaftet worden.
Kang Gun, der die südkoreanische Staatsbürgerschaft besitzt, wurde in China von nordkoreanischen Agenten verschleppt. Er wurde zuletzt am 4. März 2005 in der an Nordkorea grenzenden Provinz Jilin gesehen. Berichten zufolge brachte man ihn über die Grenze nach Nordkorea und hielt ihn dort sechs Monate lang in einer Einrichtung des Staatssicherheitsdienstes in Chongjin in der Provinz NordHamgyong fest. Dort wurde er verhört und möglicherweise gefoltert. Danach wurde er in eine Hafteinrichtung in der Hauptstadt Pjöngjang verlegt. Er ist in Gefahr, gefoltert oder sogar hingerichtet zu werden. Kang Gun wuchs in Nordkorea auf und arbeitete später beim Nationalen Sicherheitsdienst. Im Jahr 2000 floh er nach China und dann nach Südkorea, wo er die südkoreanische Staatsbürgerschaft annahm. 2004 begann er, auf Menschenrechtsverletzungen in Nordkorea aufmerksam zu machen und agierte als Fluchthelfer für Nordkoreaner, die nach Südkorea gelangen wollten. Im Februar 2004 übermittelte er einem japanischen Fernsehsender geheime Videoaufzeichnungen aus einem Lager für politische Gefangene in der Provinz Süd-Hamgyong. Jedes Jahr überqueren Hunderte Nordkoreaner die Grenze nach China. Seit den neunziger Jahren sind Tausende dabei festgenommen und nach Nordkorea abgeschoben worden. Vielen drohen bei ihrer Rückkehr lange Haftstrafen und Folter, einige werden hingerichtet.
Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Präsidenten der Russischen Föderation und bitten Sie ihn nachdrücklich, den Aufenthaltsort von Selimchan Murdalow festzustellen und zu gewährleisten, dass die für sein »Verschwinden« verantwortlichen Polizisten verhaftet und vor Gericht gestellt werden. Der Prozess soll den internationalen Standards für faire Gerichtsverfahren entsprechen.
Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Staatschef Nordkoreas und bitten Sie darum, dass Kang Gun entweder freigelassen wird und Nordkorea verlassen darf oder einer erkennbar strafbaren Handlung angeklagt wird und umgehend ein faires Gerichtsverfahren erhält. Bitten Sie die nordkoreanischen Behörden, die Inhaftierung von Kang Gun zu bestätigen und seinen Haftort bekannt zu geben.
Schreiben Sie in gutem Russisch, Englisch oder auf Deutsch an: The President of the Russian Federation Dmitry Anatolevich Medvedev ul. Ilyinka, No 23 103132 Moscow RUSSLAND (korrekte Anrede: Dear President Medvedev / Sehr geehrter Herr Präsident) Fax: 007 - 495 - 910 21 34 E-Mail: über die Webseite www.kremlin.ru/eng/articles/ send_letter_Eng1a.shtml Standardbrief Luftpost bis 20 g: € 0,70
Schreiben Sie in gutem Koreanisch, Englisch oder auf Deutsch an: Kim Jong-Il Chairman National Defence Commission Pyonyang DEMOKRATISCHE VOLKSREPUBLIK KOREA (korrekte Anrede: Dear Chairman) Standardbrief Luftpost bis 20 g: € 1,70
Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Russischen Föderation S.E. Herrn Vladimir Kotenev Unter den Linden 63–65, 10117 Berlin Fax: 030 - 229 93 97 E-Mail: info@russische-botschaft.de
briefe gegen daß vergeßßen
Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Demokratischen Volksrepublik Korea S.E. Herrn Chang II Hong Glinkastraße 5–7, 10117 Berlin Fax: 030 - 229 31 91 E-Mail: info@botschaft-kdvr.de oder info@dprkorea-emb.de
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Foto: Philipp von Recklinghausen / lux
AMNESTY AKTUELL
Mehr als eine Milliarde Menschen leben in Slums. Amnesty-Aktion auf dem Postdamer Platz in Berlin, 2. Oktober.
wohnen. in würde Mit vielfältigen Aktionen startet Amnesty International den neuen thematischen Schwerpunkt »Mit Menschenrechten gegen Armut«. Von Annette Hartmetz Die mächtige Schaufel des Baggers fällt nach unten und zertrümmert die fragilen Hütten. Verzweifelte Schreie sind zu hören, doch die Stimme aus dem Megafon übertönt alle Klagen. Im Befehlston werden alle Menschen aufgefordert, ihre Wohnungen sofort zu verlassen. Die Amnesty-Aktion auf dem Potsdamer Platz wirkt bedrohlich realistisch, auch wenn die Hütten aus Pappe sind und die Stimmen vom Band kommen. Tatsächlich stammen die Tonaufnahmen von 152 Familien, die bei einer gewaltsamen Zwangsräumung in der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh aus ihren Wohnungen gejagt wurden. Mit der Aktion am 2. Oktober machte Amnesty International darauf aufmerksam, dass das Zuhause für Hunderttausende weltweit ein bedrohter Ort ist: Mehr als eine Milliarde Menschen leben heute in Slums. Vielen von ihnen droht die Vertreibung aus ihren Hütten und Häusern – weil die Grundstücke in Innenstädten attraktiv für Investoren sind. Die Betroffenen werden bei den Planungen nicht einbezogen, nicht vorgewarnt und nur selten angemessen entschädigt. Solche rechtswidrigen Zwangsräumungen sind schwere Menschenrechtsverletzungen.
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Bei der Veranstaltung forderte Monika Lüke, Generalsekretärin der deutschen Amnesty-Sektion, einen weltweiten Stopp von Zwangsräumungen. »Wenn Planierraupen nachts anrücken und ganzen Familien das Dach über dem Kopf wegreißen, ist das nicht nur ein Skandal«, erklärte sie. »Es ist auch ein schwerer Verstoß gegen die Menschenrechte. Die Menschen werden nicht gehört und haben keine Möglichkeit gegen die Räumung gerichtlich vorzugehen«, sagte sie. Der Anwalt Daniel King, der Opfer von Zwangsräumungen in Kambodscha berät, forderte mehr Aufmerksamkeit für die Vertriebenen. »Am schlimmsten trifft es die Kinder«, berichtet King. »Viele sind krank und bekommen keinerlei medizinische Versorgung. Sie besuchen keine Schulen und sind der Kriminalität und Gewalt oft am stärksten ausgesetzt.« In Kambodscha sind allein in der Hauptstadt Phnom Penh derzeit 70.000 Menschen von Zwangsräumungen bedroht. Die Aktion auf dem Potsdamer Platz war nur eine von vielen Veranstaltungen weltweit, mit denen Amnesty International die Kampagne »Mit Menschenrechten gegen Armut« startete. In Portugal sollte der Armut an einem Tag symbolisch ein Ende gesetzt werden: In Lissabon konnten Passanten auf Zetteln ihre Gedanken zu einem Leben ohne Armut notieren und auf ein Großplakat kleben, auf dem Menschen in Armut abgebildet
amneßty journal | 01/2010
Foto: Amnesty
Foto: Amnesty
Jede Stimme zählt. Kampagnenstart in Nepal.
Foto: Amnesty
Foto: Adrian Moser
Mit Menschenrechten gegen Armut. Amnesty-Aktion in Nairobi.
Gegen die Umweltzerstörung im Nigerdelta. Amnesty-Aktivist in Bern.
»Karawane der Hoffung«. Auftakt der Amnesty-Tour in Sierra Leone.
waren – so lange, bis die vielen kleinen gelben Papierchen das Leben in Armut verdeckten. In der Schweiz reisten Amnesty-Mitglieder und ein Menschenrechtsaktivist aus dem Nigerdelta von Stadt zu Stadt, um gegen die schweren Umweltzerstörungen und Menschenrechtsverletzungen durch die Ölförderung in der Region zu mobilisieren. Die Rundreise endete mit einem Konzert unter dem Motto »Music for Dignity«. Bereits im September startete die Amnesty-Tour »Karawane der Hoffnung« in Sierra Leone. Jede achte Frau stirbt in dem westafrikanischen Land an den Folgen von Schwangerschaft oder Geburt. »Diese Statistiken zeigen, dass Müttersterblichkeit zu einem Notfall für die Menschenrechte in Sierra Leone geworden ist«, erklärte die internationale Amnesty-Generalsekretärin Irene Khan bei der Vorstellung des Berichts in der Hauptstadt Freetown. »Frauen und Mädchen sterben zu Tausenden, weil ihnen das Recht auf Leben und Gesundheit verwehrt wird, trotz Versprechen der Regierung, dass Schwangere kostenlose Gesundheitsvorsorge erhalten sollen.« Die Kampagne »Mit Menschenrechten gegen Armut« ist ein neuer Arbeitsschwerpunkt für Amnesty International. Denn wer nicht lesen und schreiben kann, kennt seine Rechte nicht gut genug und ist staatlicher Willkür ausgesetzt. Wer ständig schi-
kaniert wird, fühlt sich ohnmächtig. Wer nie gefragt wird, verliert seine Stimme. Gerade Menschen in Armut sind darauf angewiesen, dass der Staat ihre Rechte respektiert. Menschenwürdige Lebensbedingungen, medizinische Versorgung, Zugang zu Bildung – Rechte, die viele Staaten ihren Bürgerinnen und Bürgern verweigern. In der Kampagne dokumentiert Amnesty International schwere Menschenrechtsverletzungen an Menschen in Armut. Dazu gehören menschenunwürdige Wohnbedingungen und rechtswidrige Zwangsräumungen, Müttersterblichkeit nach vermeidbaren Komplikationen bei Schwangerschaft und Geburt, aber auch die gesundheitsgefährdende Verseuchung der Umwelt durch Unternehmen. Amnesty International wendet sich an die verantwortlichen Regierungen und Unternehmen, protestiert gegen das Unrecht, fordert konkrete Verbesserungen und gibt Menschen in Armut eine Stimme: Mit Menschenrechten gegen Armut.
amneßty aktuell
Sie wollen nicht tatenlos zusehen? Dann beteiligen Sie sich an unserem Aktionsnetz »Stoppt Zwangsräumungen«. Sie erhalten aktuelle Eilaktionen und weitere Aktionsaufrufe und können sich konkret und schnell für Menschen, die von einer Zwangsräumung bedroht sind, einsetzen. www.amnesty.de/wohnen
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Fotos: Philipp von Recklinghausen / lux
AKTIV FÜR AMNESTY
Eine der größten Chemiekatastrophen der Geschichte. Bhopal-Tourbus vor dem Brandenburger Tor in Berlin.
giftige wolke Der katastrophale Unfall der Firma Union Carbide im indischen Bhopal kostete Tausenden das Leben und wirkt bis heute nach. Auf einer Tour durch Europa machen Betroffene auf ihr Schicksal und die Verantwortung der Unternehmen aufmerksam. Von Petra Kilian Es ist der 2. Dezember 1984: Kurz vor Mitternacht explodiert in der Pestizidfabrik der Firma Union Carbide (UCC) im nordindischen Bhopal ein Gastank. Tausende Tonnen hoch giftigen Methylisocyanats treten aus. Nur wenige hundert Meter neben der Fabrik lebt die elfjährige Mamta mit ihrer Familie. Als sich die chemische Wolke über die Stadt verteilt, wickelt sie ihren sechs Monate alten Bruder Sanjay in ein Tuch und stürzt nach draußen, rennt ins Dunkel. Die Stadt Bhopal steht für eine der größten Chemiekatastrophen der Geschichte. Zwischen 7.000 und 10.000 Menschen starben kurz nach dem Unglück, 15.000 an den Folgen. Auch die Eltern von Mamta und Sanjay sowie fünf ihrer Geschwister
Niemand übernimmt Verantwortung. Safreen Khan und Sanjay Verma.
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überlebten die Katastrophe nicht. 25 Jahre sind seit jener Nacht vergangen. Und noch immer leiden mehr als 100.000 Menschen an den Folgen des Unglücks, an Lungenerkrankungen, Krebs und Unfruchtbarkeit. Babys kommen missgebildet zur Welt. Zur Verantwortung gezogen wurde bisher keiner. Auf einer Bustour quer durch Europa erinnert die »International Campaign for Justice in Bhopal« an die mangelnden Konsequenzen. Im Bus unterwegs ist auch Sanjay Verma. Neun deutsche Städte hat der mittlerweile 25-Jährige gemeinsam mit den beiden Aktivistinnen Safreen Khan und Rachna Dhingra im Oktober besucht. Die Organisation Bhopal Medical Appeal und Amnesty International unterstützen den Protest. »In Deutschland haben wir viele getroffen, die noch nie von Bhopal gehört haben«, erzählt Sanjay. Das wollen die Aktivisten ändern – und geben damit denen eine Stimme, deren Rechte in der Vergangenheit kaum zählten: den Opfern des Giftgasunfalls. »Seit 25 Jahren leiden und sterben die Menschen in Bhopal«, sagt Sanjay. »Was bleibt uns übrig, als weiter für Gerechtigkeit zu kämpfen?« Noch immer haben die Bewohner Bhopals keinen Zugang zu notwendiger medizinischer Versorgung. Noch immer gibt es keine ausreichende staatliche Untersuchung des Unglücks. Zahlreiche Versuche, Schadensersatz gerichtlich einzuklagen, sind gescheitert. Das Unglück trieb die Opfer tiefer in die Armut: Wer überlebte, ist oft zu krank zum Arbeiten – und wird als Last empfunden. Darunter leiden vor allem Frauen. Eine »Gasbetroffene« will keiner heiraten. Bereits vor dem Unglück gab es Hinweise, dass Union Carbide in Bhopal gefährliche Chemikalien ohne ausreichende Sicherheitsvorkehrungen lagerte. Im Jahr 2001 wurde das Unternehmen von der US-Firma Dow Chemical Company übernommen. Von einer Übernahme der Verantwortung für die Bhopal-Katastrophe und ihre Folgen war dabei keine Rede.
amneßty journal | 01/2010
für eine welt ohne todeßßtrafe Immer weniger Staaten richten immer mehr Menschen hin. Dieses Fazit zog Amnesty International anlässlich des internationalen Tages gegen die Todesstrafe am 10. Oktober. Der weltweite Trend zu einer Welt ohne Todesstrafe dauert aber an: Mittlerweile haben 139 Staaten die Todesstrafe im Gesetz oder in der Praxis abgeschafft. Demgegenüber steht eine Minderheit von 58 Staaten, die nach wie vor an ihr festhalten. Im vergangen Jahr wurden weltweit mindestens 2.390 Menschen hingerichtet, das sind 1.138 mehr als im Jahr davor. Die tatsächlichen Zahlen sind aber vermutlich deutlich höher. Für 93 Prozent der Exekutionen waren nur fünf Staaten verantwortlich: China (mind. 1.718), Iran (mind. 346), SaudiArabien (mind. 102), die USA (37) und Pakistan (mind. 36). Den internationalen Tag gegen die Todesstrafe nahmen weltweit Amnesty-Mitglieder zum Anlass, um sich für eine Welt ohne Hinrichtungen einzusetzen, unter
anderem in Nepal, Russland, Moldawien und Südkorea. Auch in Deutschland waren viele Gruppen aktiv. Die AmnestyGruppe aus Papenburg erzeugte auf dem Wochenmarkt viel Aufmerksamkeit mit einem 20 Meter langen Transparent, auf dem alle Staaten genannt waren, die die Todesstrafe noch immer in der Praxis anwenden. An ihrem Infostand wies die
Gruppe darauf hin, dass Japan zu den wenigen demokratischen Ländern gehört, in denen noch Hinrichtungen stattfinden. Selbst psychisch kranke Menschen sind davon nicht ausgenommen. Viele Besucher unterschrieben an dem Infostand eine Petition und forderten die japanische Regierung auf, die Todesstrafe abzuschaffen.
Foto: Amnesty
Amnesty-Gruppen protestierten weltweit gegen Hinrichtungen.
»Schafft die Todesstrafe ab«. Straßenaktion von Amnesty International in Südkorea.
SEMINARE GOSLAR 5. bis 7. Februar 2010: Mit Menschenrechten gegen Armut: Wirtschaften –
AKTIV FÜR AMNESTY
aber mit Verantwortung! Anmeldung: St. Jakobushaus, z.Hd. Herrn Paulus, Reußstraße 4, 38640 Goslar, Tel.: 053 21 - 342 60, Fax: 053 21 - 34 26 26. E-Mail: info@jakobushaus.de, www.jakobushaus.de WÜRZBURG 19. bis 21. Februar 2010: Der Kampf gegen die Straflosigkeit als Menschenrechtsaufgabe. Anmeldung: Akademie Frankenwarte, z.Hd. Frau Momper, Postfach 5580, 97005 Würzburg, Tel.: 0931 - 804 64 - 333; Fax: 0931 - 804 64 - 44; E-Mail: thea.momper@frankenwarte.de, www.frankenwarte.de SCHWERTE 26. bis 28. Februar 2010: Flüchtlinge brauchen Schutz – aber wie? Anmeldung: Katholische Akademie Schwerte, Tel.: 023 04 - 47 70, Fax: 023 04 - 47 75 99, E-Mail: info@akademie-schwerte.de, www.akademie-schwerte.de
Amnesty-Mitglieder geben den Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme und tragen somit einen unentbehrlichen Teil zur Arbeit von Amnesty International bei. Erfahren Sie mehr über weitere Aktionen und geplante Veranstaltungen auf www.amnesty.de/aktiv-vor-ort und www.amnesty.de/kalender
imPreßßum Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., 53108 Bonn, Tel.: 0228 - 98 37 30, E-Mail: Info@amnesty.de, Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion Amnesty Journal, Postfach 58 01 61, 10411 Berlin, E-Mail: journal@amnesty.de (für Nachrichten an die Redaktion) Redaktion: Bernd Ackehurst, Markus N. Beeko, Daniel Kreuz, Anton Landgraf (V.i.S.d.P.), Larissa Probst Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit Albrecht, Uta Andresen, Thomas Aue Sobol, Anita Baron, Daniel Bax, Zonya Dengi, Golrokh Esmaili, Peter Franck, Sara Fremberg, Wolfram Geppert, Erika Harzer, Knut Henkel, Lennart Herberhold, Ruth Jüttner, Ines Kappert, Barbara Kerneck, Petra Kilian, Jürgen Kiontke, Martin Krauß, Sabine Küpper, Jutta Lietsch, Ferdinand Muggenthaler, Barbara Oertel, Dirk Pleiter, Wera Reusch, Evan Romero-Castillo, Frank Thomas, Wolf-Dieter Vogel, Mathias Wasik, Sarah Wildeisen, Stefan Wirner, Martin Wolf
aktiv für amneßty
Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck: Johler Druck GmbH, Gadelander Str. 77, 24539 Neumünster Bankverbindung: Amnesty International, Kontonr. 80 90 100, Bank für Sozialwirtschaft (BfS), Köln, BLZ 370 205 00 Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und erscheint sechs Mal im Jahr. Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Nichtmitglieder können das Amnesty Journal für 30 Euro pro Jahr abonnieren. Für unverlangt eingesandte Artikel oder Fotos übernimmt die Redaktion keine Verantwortung. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder. Die Urheberrechte für Artikel und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, für die Verbreitung im Internet oder für Vervielfältigungen auf CD-Rom.
ISSN: 1433-4356 | Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Recyclingpapier.
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GLOBAL HEROES MADELEINE AFIT É, KAMERU
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Engagements Saß wegen seines wegung be tie in der Demokra 18 Jahre in Haft.
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LUMBIEN:
Wurde beinahe Opfer eines Mord anschlags, weil er sich für die Verwirklichung de r Menschenrecht e in Kolumbien ein setzt.
MONIRA RAHMAN, BANGLADESCH:
Unterstützt die Opfer von Säureanschlägen, nicht selten gegen den Widerstand von Politikern und Behörden.
EREN KESKIN, TÜRKEI:
KINA, SWETLANA GANNUSCH RUSSLAND:
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Setzt sich für sexuell misshandelte Frauen ein. Erhielt Morddrohungen und ein einjähriges Berufsverbot als Anwältin.
IRÈNE FERNANDEZ, MALAYSIA:
Kämpft für das Recht auf freie Meinungsäußerung und kam dafür ins Gefängnis.
Amnesty International hat diesen Menschenrechtsverteidigern IGJQNHGP s Ć‚PCP\KGNN NQIKUVKUEJ und durch Eilaktionen.
BRASILIEN: MARCELO FREIXO, fung fßr die Bekämp
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Setzt sich lizen ein und gefährlicher Mi Morddrohungen. en eg sw erhielt de
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