Amnesty Journal April/Mai 2010

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das maGaZin für die menschenrechte

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amnesty journal

04/05

2010 april mai

ein kick für afrika südafrika vor der fussball-wm und nach der apartheid

Gefährlich wohnen kairos slumbewohner fordern sicherheit

im folterGefänGnis bka reist zum verhör nach usbekistan

Gitarren statt Gewehre tuareg-band aus mali tourt durch europa


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EDITORIAL

fussball ‌ Foto: Amnesty

Ferdinand Muggenthaler ist Redakteur des Amnesty Journals

‌ macht Hamdi Riad glĂźcklich. Er lebt mit seiner Frau und seinen vier Kindern in einem Haus in Kairo. Es hat nur ein Zimmer, zehn Quadratmeter groĂ&#x;. Wenn Riad hier nach der Arbeit sitzt und ein Spiel im Fernsehen ansieht, dann, sagt er, ist er glĂźcklich. Obwohl sich Ă„gypten nicht qualiďŹ ziert hat, wird vermutlich auch er ab dem 11. Juni die Weltmeisterschaft verfolgen, das eine oder andere Spiel genieĂ&#x;en und darĂźber seine Alltagssorgen vergessen. An seiner unsicheren Existenz in einem von Zwangsräumung und schlammigem Untergrund bedrohten Slum wird das nichts ändern. (S. 42) Den SĂźdafrikanern hat Präsident Jacob Zuma mehr versprochen als etwas Ablenkung. Die Weltmeisterschaft werde, so Zuma, Âťein stolzes Erbe hinterlassen, von dem unsere Kinder und Gemeinden noch viele Jahre proďŹ tieren werdenÂŤ. Ein leeres Versprechen? Wir wissen es nicht. Die ofďŹ zielle Rhetorik, mit der die SicherheitsmaĂ&#x; nahmen zur WM begleitet werden, jedenfalls verspricht nichts Gutes. Hoffnung machen eher Initiativen wie ÂťSonkeÂŤ, die sich fĂźr die Sicherheit von FlĂźchtlingen und Migranten einsetzen. Mehr zu den Fortschritten und drängenden Problemen SĂźdafrikas auĂ&#x;erhalb der S tadien ďŹ nden Sie auf den Seiten 18 bis 39. Dass FuĂ&#x;ballspiele auch fĂźr die Menschenrechte werben kĂśnnen, zeigte Amnesty in Burkina Faso. Neben vielen anderen Aktionen, traten dort vor allem Frauenteams gegeneinander an, um die Kampagne gegen MĂźttersterblichkeit bekannt zu machen. (S. 78) Zwischen Aktenbergen vermutet man keinen Rapper. Lucio Yaxon aber hat mitgeholfen, 80 Millionen Blatt Akten zu sortieren – und rappt. Der 27-jährige Guatemalteke ist Maya. Er singt von den Leidensgeschichten, die sich in den acht Regalkilometern des wiederentdeckten Polizeiarchivs verbergen, von der Hoffnung auf eine b essere Zukunft und vom LebensgefĂźhl der Kolonisierten. (S. 48) Zu einer ganz anderen Stilrichtung gehĂśrt die Musik von Tamikrest. Aber auch die Band aus Mali verarbeitet in ihren Songs die Erfahrung der Nachkommen von Kolonisierten, die sich noch heute in ihren Gesellschaften an den Rand gedrängt fĂźhlen. In ihrem ÂťTuareg-RockÂŤ verschmelzen sie europäische Einßsse und traditionelle M elodien zu einem mitreiĂ&#x;enden Sound. (S. 70) Auf eine Neuerung mĂśchte ich Sie noch hinweisen: Auf Seite 81 schreibt Monika LĂźke Ăźber die Bundeswehr in Afghanistan. Sie wird kĂźnftig in jeder Ausgabe ein Thema aus ihrer persĂśnlichen Erfahrung als Generalsekretärin der deutschen Amnesty-Sektion beleuchten. Ich wĂźnsche Ihnen – FuĂ&#x;ballfan oder nicht – eine anregende LektĂźre.

editorial

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INHALT

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42

Titelfoto: Ein FuĂ&#x;ballspieler in den StraĂ&#x;en von Soweto, Johannesburg. Foto: Riccardo Venturi / contrasto / laif

titel 20 Was vom Regenbogen bleibt

Vom Rugby zum FuĂ&#x;ball. Sport, Politik und Menschenrechte in SĂźdafrika. Von Ferdinand Muggenthaler

22 Shoot to Kill

Mit massiver Polizeipräsenz will die Regierung die FuĂ&#x;ball-WM 2010 sichern. Beamte sollen schnell zur Schusswaffe greifen. Menschenrechte gelten als StĂśrfaktor. Von Tom Schimmeck

rubriken 06 Reaktionen 07 Erfolge 10 Panorama 12 Nachrichten 13 Interview: Biraj Patnaik 15 Porträt: Vilma Núùez 17 Kolumne: Hans-Ulrich Dillmann 73 Rezensionen: Bßcher 74 Rezensionen: Film & Musik 76 Briefe gegen das Vergessen 78 Amnesty Aktuell: Burkina Faso 80 Aktiv fßr Amnesty 81 Monika Lßke ßber Afghanistan 82 Aktion

28 FuĂ&#x;ball nach Farben

Mit Sport wollte sich das rassistische SĂźdafrika internationale Anerkennung verschaffen. Deutsche Funktionäre und Politiker halfen dabei gern. Von Martin KrauĂ&#x;

30 Der zerbrochene Mythos

In der Regenbogen-Nation ist Hass auf Ausländer alltäglich. Von Corinna Arndt

33 ÂťEs gibt ständig neue ĂœbergriffeÂŤ

Ein Gespräch mit Dean Peacock, einem der Grßnder des Sonke Gender Justice Network, ßber Fremdenfeindlichkeit in Sßdafrika und Projekte zur Integration von Flßchtlingen und Migranten.

34 Gesundheit finden

Zu lange hat SĂźdafrika die HIV-Epidemie nicht ernst genommen. Erst eine starke Bewegung von Infizierten und ihren UnterstĂźtzern zwang die Regierung zum Handeln. Von Martina Schwikowski

38 Festen Boden unter den FĂźĂ&#x;en

Vor 20 Jahren wurde Nelson Mandela aus der Haft entlassen. Seither hat das Land eine beispiellose Veränderung erlebt. Von Ingo Jacobsen

Fotos oben: Finbarr O’Reilly / Reuter | Bernd Hartung | Rusty Steward | Michael Danner

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berichte

kultur

42 Vertreiben und verstecken

62 ÂťIn der Mitte des HassvulkansÂŤ

Die Bewohner der Slums in Kairo haben Hilfe dringend nĂśtig. Der Staat bietet ihnen keinen Schutz, sondern bedroht sie. Von JĂźrgen Stryjak

48 Das Recht zu Wissen

Ein Polizeiarchiv kann Licht in Guatemalas dunkle Vergangenheit bringen. Von Jorun Poettering

50 Dritte Welt Down Under

Mit einer diskriminierenden Sozialpolitik versucht die australische Regierung, die Situation der Aborigines zu verbessern – und macht vieles nur noch schlimmer. Von Urs Wälterlin

54 ÂťIch reagiere panisch, wenn ich schwarz gekleidete Menschen seheÂŤ

Ein Gespräch mit dem Journalisten Jahangir Alam Akash ßber Verhaftung und Folter in Bangladesch.

56 Heimatland ist abgebrannt

Hunderte Menschen verloren in Papua-Neuguinea durch rechtswidrige Zwangsräumungen ihr Zuhause. Das weltweit grĂśĂ&#x;te Goldbergbau-Unternehmen spielte dabei eine wichtige Rolle. Von Daniel Kreuz

58 Der Zeuge aus dem Foltergefängnis

FĂźr die Ermittlungen gegen die ÂťSauerland-GruppeÂŤ verhĂśrte die Bundesanwaltschaft einen Zeugen in einem usbekischen Gefängnis. Dort wird regelmäĂ&#x;ig gefoltert. Von Marcus Bensmann

In Ungarn häufen sich gewalttätige Ăœbergriffe gegen Minderheiten und verbale Attacken auf linksliberale und jĂźdische KĂźnstler. Ein Gespräch mit dem jĂźdisch-ungarischen Historiker und Schriftsteller GyĂśrgy Dalos.

66 Doppelt gewonnen

Die Amnesty-Filmpreis-Jury vergab das erste Mal zwei Preise auf der Berlinale. Ausgezeichnet wurden ein Spielfilm aus dem Irak und ein Dokumentarfilm aus Brasilien. Von JĂźrgen Kiontke

68 UngenĂźgend

Die Menschenrechtsbildung an Schulen lässt oft zu wßnschen ßbrig: Neue Publikationen liefern Material und zeigen Perspektiven auf, um dies zu ändern. Von Joachim Rehbein

70 Gitarren statt Kalaschnikows

Die junge Tuareg-Band Tamikrest verbindet traditionelle Melodien mit Rock und Reggae. Sie artikuliert die Sehnsßchte der Kel Tamashek, die um ihre Unabhängigkeit kämpfen. Von Daniel Bax

72 Prophylaktische TĂśtung

Die Kriegsreportagen von Marc ThÜrner ergänzen die Debatte um den Einsatz in Afghanistan um ein wichtiges Detail: Die NATO-Truppen vor Ort sind vor allem mit sich selbst beschäftigt. Von Ines Kappert

75 Der Rai der frĂźhen Jahre

Im vergangenen Jahr befreite sich Khaled, der algerische Meister des Pop-Rai, mit dem Album Libertʍ von seinem Hitsingle-Korsett. Nun geht der im franzÜsischen Exil lebende Sänger auf Deutschland-Tour. Von Daniel Bax

inhalt

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REAKTIONEN

dänemark/finnland

israel

ukraine

In Dänemark kann die Strafe für Vergewaltigung aufgehoben werden, wenn Täter und Opfer miteinander verheiratet sind. In Finnland setzt die Rechtsprechung voraus, dass es bei einer Vergewaltigung zum Geschlechtsverkehr kommt. Alle anderen erzwungenen sexuellen Handlungen werden nicht als solche geahndet. Auch in vielen anderen Ländern lassen Polizei und Justiz Opfer sexueller Gewalt im Stich. Dies belegen Berichte, die Amnesty International zum Weltfrauentag am 8. März veröffentlichte. »Regierungen in vielen Teilen der Welt müssen endlich ihre Hausaufgaben machen und dafür sorgen, dass Gewalt an Frauen verhindert, untersucht und bestraft wird«, forderte Monika Lüke, Generalsekretärin der deutschen Amnesty-Sektion.

Jamal Juma’ und Mohammed Othman sind wieder frei. Die beiden Palästinenser waren im September bzw. Dezember 2009 von der israelischen Armee ohne Anklage inhaftiert worden. Seit Jahren protestieren sie friedlich gegen die israelische Sperranlage im Westjordanland, die vielen Palästinensern den Weg zu ihren Feldern und Arbeitsplätzen sowie zu Schulen und Krankenhäusern versperrt. Der Internationale Gerichtshof in Den Haag hatte die Sperranlage 2004 als völkerrechtswidrig kritisiert. Amnesty hatte die Freilassung der Aktivisten gefordert. »Ohne internationalen Druck wäre ich immer noch nicht frei«, so Juma’.

Nein zur Todesstrafe: Mit großer Mehrheit hat das Parlament in Kiew die Wiedereinführung der Todesstrafe abgelehnt. Lediglich 32 der 413 anwesenden Abgeordneten stimmten am 16. Februar 2010 für eine entsprechende Gesetzesinitiative. Amnesty International begrüßte die Entscheidung. Die Initiative ging von der kommunistischen Partei aus. Sie hatte vorgeschlagen, für Verbrechen, die derzeit mit lebenslanger Haft geahndet werden, die Todesstrafe einzuführen. Erst im Frühjahr 2000 hatte der Gesetzgeber nach langem Widerstand die Todesstrafe für alle Straftaten abgeschafft, nachdem das Verfassungsgericht sie für verfassungswidrig erklärt hatte.

Ausgewählte Ereignisse vom 12. Januar bis 8. März 2010.

myanmar

arGentinien Eine Richterin hat der Polizei von Buenos Aires den Gebrauch von sogenannten Tasern vorläufig untersagt. Erst müsse gründlich untersucht werden, unter welchen Bedingungen die Elektroschocker angemessen eingesetzt werden könnten. Die Polizei versicherte der argentinischen AmnestySektion, sie habe mittlerweile entsprechende Richtlinien erlassen. Amnesty wird diese Aussage prüfen. Es kommt beim Einsatz von Tasern immer wieder zu Todesfällen.

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sambia Der Staat im südlichen Afrika hat eine Gelegenheit versäumt, sich dem weltweiten Trend zur Abschaffung der Todesstrafe anzuschließen. Am 3. Februar 2010 entschied die nationale Verfassungskonferenz, die Todesstrafe in dem Entwurf einer neuen Verfassung beizubehalten. Amnesty International bedauerte die Entscheidung. Die Kommission zur Überarbeitung der Verfassung ignorierte damit nationale Empfehlungen, die Todesstrafe zu streichen. Der Entscheidung ging eine kontroverse Debatte voraus.

Die Militärjunta muss die Unterdrückung ethnischer Minderheiten im Vorfeld der für 2010 angesetzten Wahlen beenden, mahnte Amnesty International in einem Mitte Februar veröffentlichten Bericht. Menschenrechtsverteidiger, die den Minderheiten angehören, werden eingesperrt und in einigen Fällen gefoltert oder sogar umgebracht. Viele von ihnen zählen zu den mehr als 2.100 politischen Gefangenen, die oft unter grausamen Haftbedingungen leiden. »Die Regierung sollte die Wahlen als Gelegenheit verstehen, die Menschenrechtssituation im Land zu verbessern – und nicht als Ansporn, die Unterdrückung der Opposition zu verstärken«, sagte Amnesty-Experte Benjamin Zawacki.

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Foto: John Moore / Getty Images

ERFOLGE

Jahrelanges Leiden beenden. Soldaten patrouillieren im US-Lager GuantĂĄnamo auf Kuba vor einem Camp, in dem uigurische Gefangene inhaftiert sind.

schweiZ nimmt GuantĂĄnamo-GefanGene auf SCHWEIZ Die beiden uigurischen BrĂźder Bahtiyar und Arkin

Mahnut kÜnnen ein neues Leben in Sicherheit und Wßrde beginnen. Der Schweizer Bundesrat hat Anfang Februar beschlossen, die zwei von den USA zur Freilassung vorgesehenen Guantånamo-Gefangenen aufzunehmen. Amnesty International hatte sich fßr die Aufnahme eingesetzt und bedankte sich beim Gastkanton Jura fßr sein humanitäres Engagement. Seit siebeneinhalb Jahren warten die Brßder jeden Tag darauf, ein Gastland zu finden, sagte Amnesty-Experte Lukas Labhardt. Bei einer erzwungenen Rßckkehr nach China wßrden ihnen erneut Gefängnis, Folter oder gar die Todesstrafe drohen. Die Schweizer BehÜrden haben die Akten der Brßder ausfßhrlich geprßft und sind wie die USA zu dem Schluss gekommen, dass den beiden chinesischen Staatsbßrgern nichts vorzuwerfen ist. Die uigurische Exilgemeinde in der Schweiz hat bereits Vorbereitungen

getroffen, um bei einer raschen Integration mitzuhelfen. Anfang März befanden sich noch fast 190 Gefangene im US-Lager GuantĂĄnamo auf Kuba. Etwa hundert sind zur Freilassung vorgesehen. Davon kĂśnnen rund 40 nicht in ihre Heimatländer zurĂźckkehren, weil ihnen dort schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. In die USA kĂśnnen sie nicht entlassen werden, da dort ein Gesetz die Aufnahme verbietet. Daher bemĂźht sich die Obama-Regierung, andere Aufnahmeländer zu finden. In der EU haben bereits die Slowakei, Frankreich, Portugal, Irland, Belgien, Ungarn und Spanien Gefangene aufgenommen. Spanien hat auĂ&#x;erdem die Aufnahme von weiteren Gefangenen zugesagt. Die deutsche Regierung hat bisher keine Zusagen gemacht. Amnesty fordert von der Bundesregierung, endlich einzelnen Gefangenen Zuflucht zu bieten und damit deren jahrelanges Leiden in ungesetztlicher Haft zu beenden.

MONGOLEI WILL DIE TODESSTRAFE ABSCHAFFEN MONGOLEI Der mongolische Präsident Tsachiagiin Elbegdordsch hat Mitte Januar die Vollstreckung aller Todesurteile ausgesetzt. Er begrßndete seine Entscheidung damit, dass sich die meisten Länder gegen die Todesstrafe entschieden hätten und die Mongolei ebenfalls diesen Weg gehen solle. Elbegdordsch schlug vor, alle Todesurteile in 30-jährige Haftstrafen umzuwandeln. Das Moratorium ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Abschaffung der Todesstrafe. Bereits 2009 hatte der Präsident die Todesurteile von drei Gefangenen in Haftstrafen umgewandelt. In der Mongolei werden Exekutionen an einem geheimen Ort

reaktionen

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erfolGe

durchgefĂźhrt. Eine offizielle Statistik Ăźber die Anzahl der verhängten oder vollstreckten Todesurteile wird nicht verĂśffentlicht. Die Haftbedingungen der zum Tode Verurteilten sind schlecht. Ihre AngehĂśrigen werden weder Ăźber den Vollstreckungstermin informiert, noch wird ihnen der Leichnam Ăźber geben. ÂťDurch die Aussetzung der Todesstrafe bekennt sich die mongolische Regierung zu den MenschenrechtenÂŤ, begrĂźĂ&#x;te Amnesty-Expertin Roseann Rife die Entscheidung des Präsidenten. Amnesty International fordert die anderen Länder in der Region auf, diesem Beispiel zu folgen.

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Foto: Garth Gullekson / Darligton Mediaworks

Keine Hinrichtung. Unterstßtzer fordern am 23. März 2008 im kanadischen Ottawa die Aufhebung des Todesurteils gegen Mohamed Kohail.

einsatZ mit erfolG Weltweit beteiligen sich viele tausend Menschen mit Appellschreiben an den ÂťUrgent ActionsÂŤ und den ÂťBriefen gegen das VergessenÂŤ von Amnesty International. Dass dieser Einsatz drohende Menschenrechtsverletzungen verhindern und Menschen in Not helfen kann, zeigen die folgenden Beispiele.

HAFTSTRAFE FĂœR KRIEGSDIENSTVERWEIGERER REDUZIERT USA Travis Bishop, Sergeant der US-Armee, sollte im Februar 2009 nach Afghanistan verlegt werden. Aus religiĂśsen GrĂźnden lehnte er den Einsatz jedoch ab. Ein Militärgericht verurteilte ihn daraufhin zu einer einjährigen Haftstrafe. Amnesty International betrachtet den Kriegsdienstverweigerer als gewaltlosen politischen Gefangenen. Nach Bishops Verurteilung gingen beim MilitärstĂźtzpunkt, auf dem er inhaftiert ist, Hunderte Appellbriefe ein, die seine Freilassung forderten. Im Januar 2010 beantragte sein Anwalt die Begnadigung und legte dem Gesuch 433 Briefe bei. Kurz darauf ordnete der Kommandant des MilitärstĂźtzpunkts an, die Haftstrafe um drei Monate zu reduzieren.

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Travis Bishop hat seinen Anwalt gebeten, Amnesty seinen Dank zu Ăźbermitteln: ÂťIch danke allen, die Briefe geschrieben und mich unterstĂźtzt haben! Das ist groĂ&#x;artig und das erste Mal, dass ich so etwas erlebe.ÂŤ Auch sein Anwalt hat sich bei den Mitgliedern und UnterstĂźtzern von Amnesty ÂťfĂźr all die Hilfe in diesem FallÂŤ bedankt: ÂťDie Briefe kĂśnnten genau die entscheidende Wirkung erzielt haben. Es ist sehr selten, dass eine Haftstrafe im Verhältnis zum StrafmaĂ&#x; so sehr reduziert wird.ÂŤ

JOURNALIST FREIGELASSEN KUWAIT Der kuwaitische Journalist Muhammad ’Abd al-Qader al-Jasem ist am 4. Dezember 2009, zwĂślf Tage nach seiner Festnahme, gegen Kaution freigelassen worden. Er hatte sich im Oktober 2009 in einem privaten Gespräch kritisch Ăźber Premierminister Sheikh Nasser Al Sabah geäuĂ&#x;ert und dabei unter anderem gesagt, dieser sei nicht in der Lage, das Land zu fĂźhren. Dabei soll der Journalist einige kontroverse Entscheidungen Al Sabahs angefĂźhrt und die vielen Neuwahlen kritisiert haben, die seit dessen Amtsantritt stattgefunden haben. Seine Festnah-

me ging vermutlich auf diese Kritik zurßck, eine Anklage gegen ihn lag bis Ende Februar nicht vor. ’Abd al-Qader alJasem grßndete das Online-Magazin Mizan und arbeitete frßher als Journalist fßr die Zeitung Alal al-Yawm. Im September 2009 musste er jedoch seine Arbeit fßr die Zeitung einstellen. Berichte deuten darauf hin, dass er von der Regierung unter Druck gesetzt worden war.

SCHRIFTSTELLER WIEDER IN FREIHEIT CHINA Der Schriftsteller Zhao Shiying, besser bekannt unter dem Pseudonym Zhao Dagong, ist am 25. Januar freigelassen worden. Zwei Wochen zuvor war er in seiner Wohnung in der Stadt Shenzhen unweit von Hongkong festgenommen worden. Er ist Mitunterzeichner der Charta 08, die grundlegende Reformen und die Achtung der Menschenrechte in China fordert. Während seiner Gefangenschaft wurde Shiying in einer Pension festgehalten, wo man ihn wegen seiner Beteiligung an der Charta 08 verhĂśrte. Etwa zehn Beamte wechselten sich ununterbrochen mit der Befragung ab. Er erhielt nur unregelmäĂ&#x;ig Essen und Wasser und wurde am Schlafen gehindert.

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ZWANGSRĂ„UMUNGEN VERHINDERT

UKRAINE/BELARUS Zweieinhalb Jahre lang

Tausenden Menschen in der Hauptstadt Harare droht keine rechtswidrige Zwangsräumung mehr. Entsprechende Anordnungen haben die BehĂśrden zurĂźckgenommen. Im Juli 2009 hatte der stellvertretende BĂźrgermeister von Harare erklärt, die Stadt erwäge die Zwangsräumung Âťillegal errichteter Häuser und Marktstände, um die Ăśffentliche Ordnung wiederherzustellenÂŤ. Rund 200 Bewohnerinnen und Bewohner einer informellen Siedlung im Vorort Gunhill sowie Tausende StraĂ&#x;enhändlerinnen und -händler mussten damit rechnen, ohne angehĂśrt zu werden, ohne rechtsstaatliches Verfahren und ohne eine angemessene Vorwarnung ihr Zuhause und ihre ErwerbsmĂśglichkeiten zu verlieren. Die meisten von ihnen hatten dies 2005 als Betroffene der Operation ÂťMurambatsvinaÂŤ schon einmal erlebt. Damals verloren rund 700.000 Menschen ihr Zuhause und ihre Einkommensquelle. Nachdem Amnesty International als Reaktion auf die AnkĂźndigung vom Juli 2009 eine ÂťUrgent ActionÂŤ gestartet hatte, kam es zu einem Treffen des BĂźrgermeisters von Harare mit Delegierten der Menschenrechtsorganisation und Vertretern der Betroffenen. Am 30. Dezember 2009 richtete der BĂźrgermeister ein Schreiben an Amnesty, in dem er bestätigte, von Mitgliedern und UnterstĂźtzern der Organisation Petitionen und Briefe erhalten zu haben. Er schrieb: ÂťIn Anbetracht der von Ihren Mitgliedern und einigen anderen Personen geäuĂ&#x;erten Bedenken wird das Vorhaben mit dem Ziel der Schaffung weiterer Marktstände ĂźberprĂźft. Was die informellen Siedlungen betrifft, werden wir keine MĂźhen scheuen, den von der Räumung betroffenen Menschen ErsatzunterkĂźnfte anbieten zu kĂśnnen. Unser Bestreben ist es, die Angelegenheit so menschlich wie nur irgend mĂśglich beizulegen.ÂŤ SIMBABWE

Foto: privat

saĂ&#x; der belarussische Musiker und poli tische Aktivist Igor Koktisch in einem ukrainischen Untersuchungsgefängnis und wusste nicht, ob er in sein Heimatland ausgeliefert werden wĂźrde, wo ihm Folter und andere Misshandlungen drohten. Am 2. Februar ist er endlich aus dem Gefängnis entlassen worden. In einem kurzen Gespräch mit Amnesty, das am 4. Februar in seiner Wohnung stattfand, drĂźckte er seine Dankbarkeit fĂźr die

Beantragt Asyl. Igor Koktisch mit seiner Frau.

UnterstĂźtzung aus. Er sagte, er mĂźsse sich noch an die wiedergewonnene Freiheit gewĂśhnen und sich erst einmal um seine Gesundheit kĂźmmern. Koktisch ist ein gesellschaftskritischer Musiker und UnterstĂźtzer der belarussischen Opposition. 2001 war er in Belarus aufgrund von fingierten VorwĂźrfen wegen Mordes angeklagt worden, konnte aber beweisen, dass er sich zur Tatzeit in einer anderen Stadt aufgehalten hatte. Nach dem Freispruch zog Koktisch mit seiner ukrainischen Frau in die Ukraine. Dort nahmen ihn die ukrainischen BehĂśren 2007 fest, um ihn an Belarus auszuliefern. Am 10. Dezember 2009 untersagte der Europäische Gerichtshof fĂźr Menschenrechte dies jedoch, da ihm Folter und andere Misshandlungen gedroht hätten. AuĂ&#x;erdem bestĂźnde fĂźr ihn die Gefahr, in einem unfairen Verfahren zum Tode verurteilt zu werden. Der Gerichtshof verlangte, Koktisch umgehend freizulassen, weil es keine rechtliche Grundlage fĂźr seine Inhaftierung gegeben habe. DarĂźberhinaus bezeichneten die Richter die Bedingungen in der Auslieferungshaft als unmenschlich und erniedrigend. Mittlerweile hat Koktisch in der Ukraine Asyl beantragt. Amnesty wird die weitere Entwicklung beobachten und prĂźfen, ob die vom Gerichtshof geforderten Schadensersatzzahlungen geleistet werden.

erfolGe

OPPOSITIONELLE AUF KAUTION FREI IRAN Der 61-jährige Ayatollah Mohammad Taghi Khalaji ist am 1. Februar nach fast drei Wochen Haft im Teheraner EvinGefängnis gegen Kaution freigelassen worden. MÜglicherweise steht ihm aber noch ein Gerichtsverfahren bevor. Nach der umstrittenen Präsidentschaftswahl im Juni 2009 hatte er in mehreren Reden die iranischen BehÜrden und deren gewaltsames Vorgehen gegen friedlich De-

monstrierende kritisiert. Seinen Pass hat er bisher nicht zurßckerhalten. Er durfte erst nach Qom im Norden des Iran zurßckkehren, nachdem er den BehÜrden die Besitzurkunde seines Hauses als Sicherheit ßbergeben hatte. Auch der 28jährige Student Payam Jahangiry musste die Besitzurkunden zweier Wohnungen bzw. Häuser von Verwandten an die Justiz aushändigen. Er wurde am 17. Januar nach sechs Wochen Haft ohne Anklageerhebung in der Stadt Shiraz gegen Kaution freigelassen. Der Anhänger der oppo-

Foto: privat

AKTIVIST WIRD NICHT AUSGELIEFERT

Wieder frei. Ayatollah Mohammad Taghi Khalaji.

sitionellen Grßnen Bewegung war im Vorfeld der landesweiten Studentenproteste gegen die Regierung vom 7. Dezember 2009 festgenommen worden. Während der Haft hatte Jahangiry keinen Zugang zu einem Anwalt.

TODESURTEILE AUFGEHOBEN SAUDI-ARABIEN Der Oberste Gerichtshof Saudi-Arabiens hat die Todesurteile gegen den 24-jährigen Kanadier Mohamed Kohail und den 23-jährigen Jordanier Mehanna Sa’d aufgehoben und ein neues Verfahren angeordnet. Wenn sie fĂźr schuldig befunden werden, droht ihnen aber erneut die Todesstrafe. Dies gilt auch fĂźr Kohails 18-jährigen Bruder Sultan, der gegen Kaution freikam. Mohamed Kohail und Mehanna Sa’d wurden im März 2008 wegen Mordes an einem syrischen Jungen verurteilt. Der Prozess entsprach nicht den internationalen Standards fĂźr faire Gerichtsverfahren. Nach ihrer Festnahme hatten die Angeklagten fast sechs Wochen lang keinen Kontakt zur AuĂ&#x;enwelt. Sie wurden geschlagen, um von ihnen ein Geständnis zu erzwingen. Ihr Anwalt war nur zu einem oder zwei Verhandlungstagen zugelassen und durfte die Beweise, die gegen seine Mandanten vorgebracht wurden, nicht anfechten.

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PANORAMA

Foto: Simone Novotny

russland: proteste GeGen poliZeiwillkĂźr , Hunderte Menschen haben am 6. März in Moskau gegen PolizeiwillkĂźr protestiert und eine Reform der Sicherheitskräfte gefordert. Die 83-jährige Aktivistin Lyudmila Alexeyeva hatte Tage zuvor auf einer Wache Handzettel verteilt und die Polizisten aufgefordert, auch an den Protesten teilzunehmen. ÂťUngewĂśhnlicherweiseÂŤ, schrieb die ÂťMoscow TimesÂŤ, ÂťlieĂ&#x; die Polizei sie nicht nur herein, sondern lieĂ&#x; sie auch wieder gehen.ÂŤ In den vergangenen Monaten waren zahlreiche Fälle von PolizeiĂźbergriffen bekannt geworden. Zudem schĂźtzt die Polizei Menschenrechtsverteidiger nicht ausreichend. Am 27. Februar wurde Vadim Karastelev, der sich in der russischen Schwarzmeerstadt Novorossisk fĂźr eine Polizeireform einsetzt, von Unbekannten brutal zusammengeschlagen. Amnesty International hat die russischen BehĂśrden aufgefordert, die Verantwortlichen schnell zur Rechenschaft zu ziehen. Karastelev unterstĂźtzt den Polizeibeamten Aleksei Dymovskii. Dieser hatte im November 2009 in einem auf dem Videoportal YouTube verĂśffentlichten Appell von Premierminister Putin gefordert, in der Polizei ÂťaufzuräumenÂŤ. Er wurde daraufhin entlassen und später wegen Betrugs angeklagt. Weitere Informationen auf www.amnesty.de

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% INDIEN: RAFFINERIE BEDROHT INDIGENE Die Aluminiumoxid-Raffinerie einer Tochtergesellschaft des britischen Unternehmens Vedanta Resources bedroht die Existenz der indigenen Gemeinschaft der Dongria Kondh. Dies dokumentiert ein Anfang Februar verĂśffentlichter Amnesty-Bericht. Seit Jahrhunderten lebt die Gemeinschaft am FuĂ&#x;e der Niyamgiri-Hills. Die Dongria Kondh betrachten das Gebirge im ostindischen Bundesstaat Orissa als heilig und sind auf die Berge zum Ăœberleben angewiesen: Sie sind Quelle fĂźr Nahrung und Wasser. ÂťDie Menschen leben im Schatten einer riesigen Raffinerie, atmen verschmutzte Luft und haben Angst, Wasser aus dem Fluss zu trinken, der eine der wichtigsten Quellen fĂźr die Wasserversorgung istÂŤ, sagte ein Amnesty-Experte. Trotz der Umweltverschmutzung Ăźberlegt die indische Regierung, einem Antrag stattzugeben, der eine Versechsfachung der Raffinerie-Kapazität bedeuten wĂźrde. AuĂ&#x;erdem ist der Bau einer Bauxit-Mine in der Nähe der NiyamgiriHills geplant. Amnesty fordert von der Regierung und Vedanta Resources ernsthafte Konsultationen mit den betroffenen Menschen sowie die Garantie, die Raffinerie-Ausweitung und die Bergbaupläne zu stoppen. Das Foto zeigt eine Protestaktion von Amnesty-Mitgliedern vor der Vedanta-Niederlassung in London am 9. Februar. Weitere Informationen auf www.amnesty.de

Foto: Max Avdeev / Agentur Focus

panorama

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Foto: Reuters

NACHRICHTEN

Terror gegen Zivilisten. Taliban-Kämpfer in Afghanistan im Juli 2009.

menschenrechte sind nicht verhandelbar afGhanistan Sie terrorisieren die Zivil -

bevĂślkerung mit Selbstmordanschlägen und missbrauchen sie als menschliche Schutzschilde, nehmen Geiseln und ver Ăźben Säureattentate auf SchĂźlerinnen – die Liste der Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen der Taliban in Afghanistan ist lang. In Gebieten, die unter ihrer Kontrolle stehen, schränken sie die Rechte von Frauen und Mädchen stark ein, verweigern ihnen den Zugang zu Bildung und Arbeit, die Bewegungsfreiheit sowie die Beteiligung am Ăśffentlichen Leben. Daher dĂźrfen Menschenrechte, insbesondere Frauenrechte, in

Gesprächen mit den Taliban nicht zur Verhandlungsmasse werden, mahnte Amnesty International anlässlich der Londoner Afghanistan-Konferenz Ende Januar. In diesem Punkt seien keine Kompromisse zulässig. Afghanistans Präsident Hamid Karsai und weitere Staatschefs und AuĂ&#x;enminister hatten in London unter anderem Ăźber den Aufbau des Sicherheitssektors in den kommenden zwei Jahren sowie Ăźber Programme zur Wiedereingliederung sogenannter moderater Taliban gesprochen. ÂťInhalt einer jeden Diskussion mit den Taliban mĂźssen klare Verpflichtungen zur Achtung und FĂśrde-

dissident im hunGerstreik Gestorben Nach 84 Tagen ohne Nahrung ist der politische Häftling Orlando Zapata Tamayo am 23. Februar in einem Krankenhaus in Havanna gestorben. Am 3. Dezember 2009 war der 42-Jährige in den Hungerstreik getreten, um gegen die miserablen Haftbedingungen zu protestieren. Zapata war im März 2003 zusammen mit ßber hundert anderen Regimekritikern in-

kuba

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haftiert und 2004 wegen Âťmangelnden Respekts, Ăśffentlichen UngehorsamsÂŤ und ÂťWiderstandsÂŤ zu drei Jahren Haft verurteilt worden. Während seiner Haft kamen weitere Verurteilungen wegen ÂťUn gehorsams im StrafvollzugÂŤ hinzu, die sich zu insgesamt 36 Jahren addierten. Noch heute befinden sich 54 von den im Jahr 2003 verurteilten Dissidenten in Haft – Amnesty fordert die Freilassung

rung der Rechte afghanischer Bßrger sein, erklärte Amnesty-Experte Sam Zarifi. Die Bilanz von Menschenrechtsverletzungen während der Herrschaft der Taliban ist erschreckend. Seither haben sie nichts unternommen, was auf ein anderes Verhalten im Fall einer erneuten Machtbeteiligung hindeuten kÜnnte. Die Taliban und andere Aufständische schenkten in der Vergangenheit weder Menschenrechten noch dem humanitären VÜlkerrecht Beachtung. Laut UNO-Angaben sind die Taliban fßr zwei Drittel der ßber 2.400 zivilen Opfer des vergangenen Jahres verantwortlich.

dieser gewaltlosen politischen Gefangenen. Auch die Haftbedingungen sind besorgniserregend und genßgen bei Weitem nicht internationalen Standards. Obwohl Kuba 1995 die UNO-Anti-Folterkonvention ratifiziert hat, erreichen Amnesty International Berichte, dass Verletzungen von Gefängnisvorschriften besonders hart bestraft werden, so zum Beispiel mit langen Aufenthalten in Einzelzellen.

amnesty journal | 04-05/2010


Biraj Patnaik arbeitet fĂźr die indische ÂťRight to Food CampaignÂŤ. Dieser Zusammenschluss setzt sich fĂźr die Verwirklichung des Rechts auf Nahrung ein. Und das mit Erfolg: Als Ergebnis einer Klage Ăźberwacht Patnaik seit 2003 fĂźr den Obersten Gerichtshof die Nahrungsmittelpolitik der indischen Regierung.

interview

biraj patnaik

Wie sind Sie Berater des Obersten Gerichtshofs geworden? Seit 2001 beschäftigt sich der Gerichtshof mit dem sogenannten ÂťRecht auf NahrungÂŤ-Fall. Nach zwei Jahren Arbeit stellte der Gerichtshof fest, dass die indische Regierung den Hunger nicht konsequent bekämpft und Daten Ăźber die Nahrungsmittelverteilung falsch bewertet. Das Gericht brauchte eine unabhängige Berichterstattung Ăźber die Regierungsarbeit und so entstand das Oberste Kommissariat fĂźr den ÂťRecht auf NahrungFallÂŤ. Die Richter benannten dafĂźr zwei Kommissare. Diese beauftragten mich als ihren Berater. Was ist das Besondere an diesem Verfahren? Es ist weltweit einer der am längsten andauernden Prozesse, der sich mit dem Recht auf Nahrung oder anderen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten befasst. Worin bestehen Ihre Aufgaben als Berater des Gerichts? Zusammen mit meinem Team untersuche ich zum einen, ob das politische Ziel, die Nahrungsmittelversorgung zu verbessern, auch umgesetzt wird. Dabei untersuchen wir, ob ausreichend Geld zur VerfĂźgung steht und ob die vorhandenen Mittel an den richtigen Stellen eingesetzt werden. Wir decken Fehler im System auf und finden LĂźcken in der Umsetzung der Politik. Ein zweiter und besonders wichtiger Teil unserer Arbeit besteht darin, die Orte ausfindig zu machen, an denen Menschen hungern. Dabei stellen wir auch die Anzahl der Hungertoten fest, die es – entgegen offiziellen Angaben – in einigen Regionen gibt. Das ist der herzzerreiĂ&#x;endste Teil unserer Arbeit. Liegt es nur an der falschen Verwendung der vorhandenen Mittel, dass immer noch so viele Menschen hungern? Man muss sich immer wieder vor Augen halten, dass auf der ganzen Welt mehr als genug Nahrung vorhanden ist. Eine Tatsache, die mich niemals loslässt, ist, dass zu Zeiten der grĂśĂ&#x;ten

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interview

Foto: Amnesty

Âťwir finden die menschen, die hunGernÂŤ HungersnĂśte die Nahrungsmittelkonzerne auch die hĂśchsten Gewinne erwirtschaftet haben. Als wir das Recht auf Nahrung 2001 zum ersten Mal vor dem Gerichtshof einklagten, lagerten beispielsweise dreimal so viele Vorräte in den indischen Nahrungsmittelspeichern wie normalerweise. Zu dieser Zeit konzentrierte sich die indische Regierung in ihrem Bestreben nach Modernisierung auf den Ausbau der Infrastruktur und vernachlässigte andere Probleme. Welche sind das neben dem Hunger? Die indische Wirtschaft wächst in rasantem Tempo. Dabei vergrĂśĂ&#x;ern sich die Ungleichheiten zwischen den Menschen. Das fĂźhrt zu sozialen Spannungen, extremistische Tendenzen werden sichtbar und die Gewalt innerhalb der Gesellschaft nimmt zu. Das hat die indische Regierung erkennen lassen, dass sie der Bekämpfung von Armut einen hĂśheren Stellenwert einräumen muss, damit sich diese sozialen Spannungen nicht weiter verschärfen. Neben den bĂźrgerlichen und politischen Rechten mĂźssen eben auch die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte verwirklicht werden. Hatten Sie schon konkrete Erfolge mit ihrer Arbeit? Ja, obwohl das Verfahren noch nicht abgeschlossen ist, gibt es schon einige Erfolge. FĂźr das Recht auf Nahrung fĂźr Kinder beispielsweise hat der Gerichtshof verfĂźgt, dass jedes Kind einen einklagbaren rechtlichen Anspruch auf eine Mahlzeit am Tag hat. Und die Regierung verteilt inzwischen an besonders BedĂźrftige Berechtigungskarten, mit denen sie Getreide erhalten. Fragen: Jan-Philipp Neetz und Michael Gottlob Biraj Patnaik war auf Einladung von Amnesty International Ende Januar in Berlin und sprach auf der Fachkonferenz ÂťWie kommen die Armen zu ihrem Recht?ÂŤ.

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verZerrte darstellunG

Die iranische Regierung hat gegen Ăźber dem UNO-Menschenrechtsrat ein stark verzerrtes Bild von der Menschenrechtslage in ihrem Land gezeichnet. Das stellte Amnesty International fest. Die Regierung hatte ihren Bericht im Rahmen der regelmäĂ&#x;igen PrĂźfung aller Staaten Mitte Februar eingereicht. ÂťDie iranischen BehĂśrden scheinen den Bezug zur Realität verloren zu haben oder wollen sie einfach nicht anerkennenÂŤ, sagte Amnesty-Expertin Hassiba Hadj Saraoui. In ih-

iran

rem Bericht erklärt die Regierung unter anderem, die Anwendung von Folter zur Erzwingung von Geständnissen sei im Iran verboten. In Wirklichkeit sei Folter mit dem Ziel, ein Geständnis zu erzwingen, jedoch weitverbreitet, so Saraoui. Die Mitgliedstaaten der UNO mßssen genau beobachten, was tatsächlich im Iran passiert: Massenverhaftungen und Inhaftierungen, Gewalt gegen friedliche Demonstranten, Folter und Tod in Gewahrsam, Schauprozesse und politisch

prĂźGelstrafe fĂźr ausserehelichen sex Am 9. Februar wurden drei muslimische Frauen in einem Gefängnis nahe der Hauptstadt Kuala Lumpur mit Stockschlägen bestraft, weil sie angeblich auĂ&#x;erehelichen Geschlechtsverkehr hatten. Sex auĂ&#x;erhalb der Ehe ist in Malaysia verboten. Es war das erste Mal, dass die PrĂźgelstrafe auch an Frauen vollzogen wurde. ÂťDie PrĂźgelstrafe gegen die drei

malaysia

Frauen ist nur die Spitze des EisbergsÂŤ, erklärte Amnesty-Expertin Donna Guest. ÂťSeit 2002 lieĂ&#x;en die malaysischen BehĂśrden mehr als 35.000 Menschen mit Stockschlägen bestrafen, die meisten von ihnen waren Ausländer, die gegen Einwanderungsbestimmungen verstoĂ&#x;en hatten.ÂŤ Im Juli 2009 verurteilte das Scharia-Gericht in Pahang eine muslimische

motivierte Hinrichtungen. Der Iran muss aufgefordert werden, seine Verpflichtungen im Bereich der Menschenrechte einzuhalten. GleichgĂźltigkeit oder unangebrachte Solidarität dĂźrfen dabei nicht im Weg stehen.ÂŤ Amnesty kritisiert zudem, dass der Iran sich entgegen eigener Ă„uĂ&#x;erungen weigert, mit Menschenrechtsorganisationen sowie Menschenrechtsexperten der UNO zusammenzuarbeiten. Amnesty International wird der Zugang seit April 1979 verwehrt.

Frau zu sechs Stockschlägen, weil sie im Dezember 2007 in einem Hotel Alkohol getrunken hatte. Das Urteil wurde bislang noch nicht vollstreckt. Amnesty fordert die Abschaffung der Prßgelstrafe, da sie eine grausame, unmenschliche und erniedrigende Form der Bestrafung darstellt, die nach internationalem Recht verboten ist.

Foto: Amnesty

roma werden wie abfall behandelt

Leben neben der Kläranlage. Roma-Familie, die 2004 aus Miercurea Ciuc vertrieben wurde.

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rumänien In vielen europäischen Ländern leben Roma, fast Ăźberall werden sie diskriminiert. So wird ihnen teilweise der Zugang zu Bildung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung verwehrt. Immer wieder werden Roma-Siedlungen rechtswidrig zwangsgeräumt. So wie 2004 in der Stadt Miercurea Ciuc in Zentralrumänien. Die BehĂśrden vertrieben mehr als 100 Roma aus einem Gebäude in der Stadtmitte und siedelten sie auĂ&#x;erhalb der Stadt wieder an, in Metallcontainern und in unmittelbarer Nähe einer Kläranlage. Diese Zwangsräumung war nach internationalen Menschenrechtsstandards illegal. Ein Teil der Zwangsgeräumten baute sich NotunterkĂźnfte am Rande einer MĂźlldeponie. Obwohl die BehĂśrden versprochen hatten, dass dies nur fĂźr den Ăœbergang sei, leben die Roma-Familien noch immer unter diesen gesundheitsgefährdenden Bedingungen. Das dokumentiert der im Januar verĂśffentlichte Amnesty-Bericht ÂťTreated like wasteÂŤ (ÂťBehandelt wie MĂźllÂŤ). Amnesty fordert die BehĂśrden auf, die rechtswidrigen Zwangsräumungen zu beenden und den Betroffenen eine hygienisch angemessene Unterkunft zur VerfĂźgung zu stellen.

amnesty journal | 04-05/2010


PORTRĂ„T

Foto: Archiv Inkota-Netzwerk e.V.

Sie werden mich nicht zum Schweigen bringen. Vilma Núùez setzte im Kampf gegen das von den USA gestßtzte Somoza-Regime ihr Leben aufs Spiel. Heute kämpft die Nicaraguanerin fßr Frauenrechte und wird von ehemaligen Genossen bedroht.

VILMA NÚÑEZ

die ausdauernde Wer fĂźr die Menschenrechte eintritt, der schafft sich Feinde. Und immer wieder werden die Freunde von heute zu den Feinden von morgen. Kaum jemand weiĂ&#x; das besser als Vilma Núùez. Einst kämpfte die Nicaraguanerin in der Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN) gegen den Diktator Anastasio Somoza, inzwischen muss sie sich gegen Angriffe ihrer ehemaligen Gefährten verteidigen. Sie sei eine Vaterlandsverräterin, erklären einstige Genossen, die das mittelamerikanische Land wieder regieren. Im November 2008 musste Amnesty International, wie acht Jahre zuvor schon einmal, eine Eilaktion starten, um die streitbare Juristin zu schĂźtzen. Diesmal war sie auf offener StraĂ&#x;e von FSLN-Aktivisten angegriffen worden. Geboren in Chontales, einem kleinen Dorf im Landesinneren, wächst Núùez als Tochter eines Politikers auf, der erklärter Gegner Somozas ist. ÂťJedes Mal, wenn es ein politisches Problem gab, haben sie meinen Vater zu Hause abgeholtÂŤ, erinnert sie sich. Schon damals lernt sie, wie man Inhaftierten das Essen ins Gefängnis schmuggelt. 1959 entgeht sie knapp einem von der Nationalgarde verĂźbten Massaker. Zwanzig Jahre später wird die mittlerweile studierte Juristin als FSLN-Mitglied verhaftet und gefoltert. ÂťObwohl sie mich fĂźnf Tage lang verhĂśrt haben – ich war nackt, hatte nur eine Kapuze Ăźber dem Kopf – haben sie nichts aus mir herausbekommenÂŤ, erinnert sich Núùez. Sie ist gerade vier Monate in Haft, als die Sandinisten im Juli 1979 den Diktator stĂźrzen. Damit beginnt fĂźr die Anwältin ein neues Leben: Die Frente, wie die FSLN genannt wird, ernennt sie zur Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs. Gegen ihren Willen wird sie 1987 in die staatliche Menschenrechtskommission versetzt. So nimmt sie erstmals bewusst wahr, dass auch Sandinisten Gefangene misshandeln. ÂťRechtsstaatliche Strukturen waren fĂźr sie Relikte der BĂźrgerlichkeit, die man Ăźberwinden mĂźsseÂŤ, sagt Núùez. Im Februar 1990 verliert die FSLN die Regierungsmacht. Núùez grĂźndet das unabhängige Menschenrechtszentrum CENIDH.

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porträt

Wie viele ihrer Weggefährten steht sie der ParteifĂźhrung inzwischen kritisch gegenĂźber. Längst hat sich in der Frente Korruption breit gemacht, in internen Machtkämpfen setzt sich der fĂźr seinen autoritären Stil bekannte Daniel Ortega immer mehr durch. Kritik an Ortega kommt vor allem aus der Frauenbewegung. Als dessen Stieftochter ZoilamĂŠrica ihn 1998 beschuldigt, sie Ăźber Jahre hinweg vergewaltigt zu haben, vertritt Núùez die junge Frau vor dem Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof. ÂťDaraufhin hat man mir in der Frente alle TĂźren zugeschlagenÂŤ, erzählt sie. Dass sich Ortega dann im Wahlkampf fĂźr das Verbot von Abtreibungen selbst bei Gefahr fĂźr das Leben der Mutter stark macht, bestätigt nur noch ihre Ablehnung gegenĂźber dem Politiker. Dennoch hat Vilma Núùez ein wenig Hoffnung, als die FSLN 2006 wieder die Regierung Ăźbernimmt. SchlieĂ&#x;lich verspricht die Frente Arbeitsplätze, Schulen sowie eine bessere Gesundheitsversorgung. DafĂźr kämpfen auch CENIDH sowie die 1.500 Freiwilligen, die dort mittlerweile ausgebildet wurden. So arbeitet das Zentrum zum Beispiel auch fĂźr die Ăœberwindung der Armut auf dem Land. Doch die Sandinisten enttäuschen Núùez erneut: ÂťDie Programme wurden nur benutzt, um jene zu unterstĂźtzen, die mit der FSLN verbunden sind.ÂŤ FĂźr Núùez selbst hat sich die Situation seit dem Wahlsieg der FSLN verschärft. Im letzten Herbst erfährt sie, dass sie auf einer Schwarzen Liste steht und ihr Leben gefährdet ist. ÂťSie behandeln uns wie Gegner, die man eliminieren mussÂŤ, sagt die Anwältin. Wie sie das alles wegsteckt? ÂťAls die Liberalen und die Konservativen gegen mich vorgingen, habe ich das gut verkraftet. Dass mich aber jene angreifen, mit denen ich soviel erlebt habe, macht mich noch immer sehr traurig.ÂŤ Ihre Arbeit aufzugeben kommt fĂźr die 70-Jährige trotzdem nicht in Frage. ÂťMich werden sie nicht zum Schweigen bringen.ÂŤ Text: Wolf-Dieter Vogel

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Foto: Imaginechina / laif

GlĂźckwĂźnsche fĂźr Google. Eine junge Frau legt am 13. Januar in Peking vor der chinesischen Zentrale des Unternehmens Blumen nieder.

GooGle droht mit rĂźckZuG aus china Nach Hackerangriffen will das US-Unternehmen sein Engagement in der Volksrepublik Ăźberdenken. Von Dirk Pleiter Die Ăœberraschung war groĂ&#x;, als Google im Januar ankĂźndigte, die Zensur seines chinesischen Angebots nicht weiter hinnehmen zu wollen. Bisher hatte der Konzern dies in Kauf genommen, obwohl Internetzensur nach Aussage des Unternehmens Âťeindeutig den Werten Googles widersprichtÂŤ. Nun aber will Google mit der chinesischen Regierung sprechen und ausloten, ob es in China Ăźberhaupt mĂśglich ist, eine unzensierte Suchmaschine anzubieten. Dem Start von google.cn war 2006 offensichtlich eine kontroverse interne Diskussion vorausgegangen. Auf der einen Seite wollte Google auf dem chinesischen Markt aktiv sein, wobei eine Achtung der chinesischen Gesetze und damit eine Akzeptanz der Zensur als unvermeidlich angesehen wurde. Auf der anderen Seite mussten sich Google und andere Internetfirmen gerade zum damaligen Zeitpunkt der Ăśffentlichen Kritik stellen. Dabei spielte der Fall des Journalisten Shi Tao eine wichtige Rolle. Er war 2005 wegen Weitergabe angeblicher Staatsgeheimnisse via

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E-Mail zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt worden. Zur Verhaftung und Verurteilung von Shi Tao hatten Informationen beigetragen, welche die Internetfirma Yahoo den chinesischen BehĂśrden zur VerfĂźgung gestellt hatte. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund war Google vorsichtiger. Der Konzern versuchte sein Engagement auch mit Verweis auf die Menschenrechte zu rechtfertigen. So behauptete das Unternehmen, google.cn wĂźrde trotz der Zensur dazu fĂźhren, dass die Menschen in China Zugang zu mehr Informationen bekämen. AuĂ&#x;erdem bot Google keinen eigenen E-Mail-Service an, um gar nicht erst in die Lage zu kommen, personenbezogene Informationen an die BehĂśrden weitergeben zu mĂźssen. Konkreter Anlass fĂźr den Strategiewechsel im Januar waren Hackerangriffe aus China auf eben diesen E-Mail-Service, den Google auĂ&#x;erhalb der Volksrepublik anbietet. Ein Ziel der Angriffe soll gewesen sein, die Konten von chinesischen Dissidenten auszuspähen, die den E-MailDienst auf google.com nutzen. Die daraufhin entstandenen GerĂźchte, die chinesische Regierung wĂźrde solche Angriffe unterstĂźtzen, wurden von dieser vehement bestritten. Wie subtil die Hacker

vorgingen, zeigt das Beispiel des Menschenrechtsanwalts Teng Biao. In seinem E-Mail-Account wurden die Einstellungen so geändert, dass E-Mails automatisch auch an eine von ihm nicht zu kontrollierende Adresse weitergeleitet wurden. Auch wenn ein Strategiewechsel zunächst einmal nur angekßndigt wurde, so setzte Google damit dennoch ein wichtiges Zeichen. Die Firma bekräftigte Üffentlich, dass sie nicht bereit ist, sich zum Komplizen von Menschenrechtsverletzungen machen zu lassen. Umso mehr richtet sich nun der Blick auf die Firmen, die noch enger mit dem chinesischen Staat zusammengearbeitet haben, nämlich Yahoo und Microsoft. Zumindest Microsoft will sich Google nicht zum Vorbild nehmen. Steve Ballmer, der Chef des Software-Giganten, erklärte: Ich verstehe nicht, wie ein Rßckzug aus China irgendwem helfen kann. Tatsächlich wäre den Menschenrechten damit allein wenig geholfen. Doch macht es sich Ballmer zu einfach, wenn es darum geht, wie Firmen ihrer Verantwortung fßr die Menschenrechte nachkommen kÜnnen. Der Autor ist Sprecher der China-Ländergruppe der deutschen Amnesty-Sektion.

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Zeichnung: Oliver Grajewski

kolumne hans-ulrich dillmann

haiti: leben nach dem Ăźberleben

Valentine, Michel-Ange, Johanne und Anderson, die Sklavenkinder, Ăźber die ich im letzten Amnesty Journal berichtet habe, leben. Als ich sie fĂźnf Tage nach dem Beben wiederfand, hatten sie seit drei Tagen nichts gegessen und ihren Durst mit Brackwasser gestillt. Weil es in Wharf JĂŠrĂŠmie, dem Slum, in dem sie leben, keine mehrstĂśckigen Gebäude gab, war hier die Chance zu Ăźberleben relativ groĂ&#x;. Sonst gibt es nicht viel Positives aus Haiti zu berichten. Nachdem am 12. Januar um 16.53 Uhr gut eine Minute lang der Boden unter der Hauptstadt Port-au-Prince und Umgebung bebte, stand kaum mehr ein Stein auf dem anderen. Mehr als 220.000 Menschen sind tot, Ăźber eine Million Haitianerinnen und Haitianer sind obdachlos geworden. Rund drei Millionen Menschen, ein Drittel der GesamtbevĂślkerung, sind unmittelbar von dem Erdbeben betroffen. Die Katastrophe hat aber noch eine andere Dimension. Auch Regierungsgebäude und städtische BehĂśrden stĂźrzten wie Kartenhäuser in sich zusammen. Minister und Verwaltungsbeamte sind unter den TrĂźmmern gestorben. Fast alle Ăśffentlichen Krankenhäuser sind zerstĂśrt. Die Schulen in der Erdbebenregion sind nur noch TrĂźmmerhaufen. Haiti wird auf Jahre, wenn nicht auf Jahrzehnte ďŹ nanzielle Hilfe aus dem Ausland fĂźr den Aufbau einer Infrastruktur benĂśtigen. Der Staat, schon immer schwach, was den Schutz seiner BĂźrger angeht, ist kaum noch präsent. Haiti wird nur noch pro forma aus einem provisorischen PräsidentenbĂźro in einer Polizeistation in der Nähe des Flughafens regiert. De facto haben die USA und ihre Soldaten das Regiment Ăźbernommen. Das grĂśĂ&#x;te Gefängnis der Stadt, in dem Tausende unter menschenunwĂźrdigen Bedingungen eingepfercht waren, ist zerstĂśrt. Alle Gefangenen, darunter die Mehrzahl derer, die in den vergangenen Jahren wegen Menschenrechtsverbrechen inhaftiert und verurteilt worden waren, sind geohen. Polizisten, so berichteten mir Passanten, nutzen die chaotischen Verhältnisse, um mit vermeintlichen oder tatsächlichen PlĂźnderern und Dieben kurzen Prozess zu machen: Vier Personen, darunter eine Frau, wurden vor dem Zentralfriedhof in der Innenstadt von Port-au-Prince regelrecht hingerichtet. Niemand kĂźmmerte sich darum, zwei Stunden später waren sie in einem Massengrab verscharrt. Bei der Verteilung von Nahrung setzen sich immer wieder die Kräftigsten durch, Frauen und Kinder gehen oft leer aus. Weder die UNO-Blauhelmsoldaten noch die rund 11.000 US-Soldaten haben bisher garantieren kĂśnnen, dass Frauen und Kinder es ohne Kampf schaffen, genug Lebensmittel fĂźr das Ăœberleben zu erhalten. Nothilfe ist eine Sache. Die Aufbauhilfe, die jetzt dringend nĂśtig ist, eine andere. Sie muss mehr sein, als nur Ăźber den Neubau von städtischen BehĂśrden zu debattieren oder ein neues Regierungsviertel zu planen. Valentine, Michel-Ange, Johanne und Anderson haben Ăźberlebt. Verbessert hat sich ihre Lebenssituation nicht. Sie mĂźssen sich jetzt fĂźr ihre ÂťArbeitgeberÂŤ bei den Lebensmittelverteilungen anstellen. Von dem Reis, den Bohnen und dem Ă–l, das dort verteilt wird, bleibt fĂźr sie jedoch nur selten etwas. Und wenn beim Neuaufbau von Haiti ihre Rechte nicht gestärkt werden, dann wird sich daran auch nichts ändern. Hans-Ulrich Dillmann ist freier Journalist und lebt in der Dominikanischen Republik.

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kolumne

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Titel: Südafrika

20 Jahre Freiheit Warten auf die Weltmeisterschaft. Ein Kind beobachtet ein Fußballtraining im südafrikanischen Prince Albert. Foto: Samantha Reinders / WpN

Eine jubelnde Menge begrüßte Nelson Mandela in der Freiheit. Das war 1990 und der Beginn einer radikalen Veränderung. Südafrika entwickelte sich von einem Symbol der Unterdrückung zu einem Vorbild für ganz Afrika. Den Südafrikanern gelang der Aufbau einer stabilen Demokratie, mit einer Verfassung, die die Menschenrechte garantiert, und mit einer starken Zivilgesellschaft, die diese Rechte auch gegen die Regierung durchsetzt. Als Gastgeber der Fußball-Weltmeisterschaft 2010 möchte das Land wieder zum Stolz des Kontinents werden. »Stellvertretend für Afrika richten wir diese Weltmeisterschaft aus«, sagt Präsident Jacob Zuma. Ein Kick für Afrika. Ob aber die armen Südafrikaner von dem Großereignis profitieren, ob die Polizei nur die reichen WM-Touristen schützt oder auch Flüchtlinge aus den Nachbarstaaten, das muss sich erst noch erweisen.

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Was vom Regenbogen bleibt Die Geburt der Regenbogen-Nation Südafrika durch den Sport. Dieses Wunder feiert der neue Film von Clint Eastwood, »Invictus«. Tatsächlich hatte Nelson Mandela – im Film gespielt von Morgan Freeman – als neugewählter Präsident den Rugby-Weltcup zu einer starken symbolischen Botschaft genutzt. Er verwandelte Rugby, den bei Schwarzen als Spiel der weißen Rassisten verhassten Sport, in ein Mittel der Versöhnung. Gegen eine starke Strömung in seiner eigenen Partei, dem ANC, setzte Mandela durch, dass das Nationalteam seinen aus Apartheidzeiten belasteten Namen behalten durfte. Er selbst trat beim Endspiel am 24. Juni 1995 sogar im Trikot der »Springboks« auf. Von der Fußball-Weltmeisterschaft in Südafrika, die im Juni beginnt, erwartet heute niemand mehr ein solches Wunder. Es ist auch nicht mehr nötig. Das Land droht nicht mehr an einem blutigen Konflikt zwischen nach Hautfarben sortierten Bevölkerungsgruppen zu zerbrechen. Seit der Entlassung von Mandela und vielen seiner Mitstreiter aus der Haft vor 20 Jahren hat Südafrika einen beindruckenden Weg zurückgelegt. Im Land hat

sich eine stabile Demokratie etabliert und die Südafrikaner haben sich eine international beispielhafte Verfassung gegeben, die einen umfassenden Schutz der Menschenrechte vorsieht. Doch wie sieht es heute in der Praxis aus? Welche Versprechen sind eingelöst, welche Hoffnungen enttäuscht? In einem Memorandum an die neue Regierung nennt Amnesty International drei Bereiche, in denen Verfassung und Wirklichkeit besonders weit auseinanderklaffen. Erstens sind es vor allem Frauen, die unter der Ausbreitung des HI-Virus leiden. Junge Frauen haben ein doppelt so hohes Risiko sich anzustecken wie gleichaltrige Männer. Ein Grund ist die hohe Vergewaltigungsrate. Das ist kein medizinisches Problem, sondern ein gesellschaftliches. Die Politik muss konsequent gegen die weitverbreitete Gewalt gegen Frauen vorgehen und die Infizierten brauchen einen gleichberechtigten Zugang zu medizinischer Versorgung. Zweitens fordert Amnesty die Regierung auf, die Rechte und das Leben von Flüchtlingen zu schützen. Der Präsident Jacob Zuma hat sich zwar deutlich gegen fremdenfeindliche Gewalt

Arbeitsloser Nationalspieler. Richard Nifasha (rechts) spielte in der Nationalmannschaft Burundis, bevor er vor der Gewalt in seinem Heimatland nach Südafrika

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ausgesprochen, aber der Hass auf Flüchtlinge und Einwanderer aus anderen afrikanischen Staaten ist tief verwurzelt. Daher ist eine langfristig angelegte Gegenstrategie nötig. Drittens besteht die Gefahr, dass im Kampf gegen die Kriminalität die in der Verfassung garantierten Menschenrechte wieder ausgehöhlt werden. Und damit sind wir wieder bei der Fußball-Weltmeisterschaft. In Europa sorgt man sich vor allem um die Sicherheit der Mannschaften und der angereisten Fans. Die Sorgen sind vermutlich unbegründet. Die südafrikanische Polizei betreibt einen immensen Aufwand, um die Kriminalität aus dem Umfeld der Stadien zu verdrängen. Mit welchen zweifelhaften Mitteln sie dabei zum Teil kämpft und welche Versuche es gibt, langfristig Sicherheit zu schaffen, ohne die Polizei zur Bedrohung für arme Südafrikaner werden zu lassen, auch darum geht es auf den nächsten Seiten.

Foto: Shehzad Noorani / Still Pictures

Ferdinand Muggenthaler ist Redakteur des Amnesty Journals.

floh. Dort trainiert er jeden Tag und wartet auf eine Arbeitserlaubnis.

TITEL

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SÜDAFRIKA

Foto: Alexia Webster / Twenty Ten / AMO / laif

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Stadien sichern. Polizisten bei einer Übung vor dem »Royal Bafokeng Stadium« nahe Johannesburg, einem Austragungsort der Weltmeisterschaft.

Jerome Delay / AP

Shoot to Kill Mit moderner Überwachungstechnik und massiver Polizeipräsenz will Südafrika die Fußball-WM 2010 sichern. Beamte sollen schnell zur Schusswaffe greifen. Menschenrechte gelten als Störfaktor. Von Tom Schimmeck

P

arking?«, fragt die junge Frau an der verbogenen Schranke und hebt die linke Braue. Das Nicken quittiert sie mit dem Kommando »Ten Rand!«, kassiert und hebt die Sperre. Ein weißes Gesicht sieht man selten an diesem Ende der Claim Street. Auf dem Parkplatz des Mariston-Hotels gilt es als Rarität. Der wuchtige Bau, 32 Stockwerke hoch, ist als Bordell und Drogenbasar verschrieen. Ganoven aus Nigeria sollen hier das Kommando führen. Nach dem Genozid in Ruanda wurde mancher Täter im Mariston vermutet. Sogar eine Gang korrupter Polizisten hat im Foyer schon einmal einen Überfall versucht. Und wurde tatsächlich verhaftet. 1999 war das Hotel in den

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Schlagzeilen, nachdem die Polizei hier die nackten Leichen zweier burischer Mädchen entdeckt hatte. Der Mord blieb unaufgeklärt. Willkommen in Hillbrow, einem Hochhausviertel im Zentrum Johannesburgs. In der Mitte ragt ein Fernsehturm auf, neuerdings mit einem riesigen Fußball verziert. Ein hübscher Anblick – aus der Ferne. Denn Hillbrow gilt als Hort urbanen Schreckens. Mindestens 100.000 Menschen leben hier auf engstem Raum. Wahrscheinlich deutlich mehr. Etliche Bewohner sind illegal eingewandert. Nicht selten drängen sie sich zu zwölft in einer Ein-Zimmer-Wohnung. Der Stadtteil ist ein verlässlicher Champion der Kriminalstatistik: Mit um die einhun-

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Waffen im Umlauf. Kinder posieren mit echten Waffen im Township Alexandra in Johannesburg.

dert Morden pro Jahr, über 400 registrierten Sexualverbrechen, über 4.000 Körperverletzungen, 2.661 Raubüberfällen, Tausenden von Einbrüchen und Diebstählen. Hinzu kommen Kidnapping, Drogendelikte, Kindesvernachlässigung en gros. Furchtlose Wissenschaftler untersuchen hier Phänomene städtischer Verrohung wie das »sleazy hotel syndrome«: Heruntergekommene Hotels entwickeln sich zu Stützpunkten des Drogenhandels und der Prostitution. Einst war Hillbrow ein modernes Weißenviertel. Hier bröckelte die Apartheid früh. In den achtziger Jahren mutierte der Stadtteil zur »grey area«, zur »grauen Zone«. Hillbrow galt nun als coole Partymeile, auf der jeder, der nicht gerade ein weißer Rechtsradikaler war, abends gern ein Bier trank. Bald aber setzten sich die weißen Hausbesitzer in bessere Viertel ab. Flüchtlinge aus Kriegsländern wie dem Kongo rückten nach. Und viele Arme von weither, die in der Goldstadt Johannesburg, der größten Metropole südlich der Sahara, eine bessere Zukunft suchten. Hillbrow wurde zum Hochhaus-Slum. Zum Synonym für einen Niedergang, den zornige Pessimisten im ganzen Land zu erblicken glauben. Dazu heben sie gern den Zeigefinger und grummeln: »So ist Afrika!« Der Durchschnittsweiße fährt nicht einmal mehr mit verrammeltem Geländewagen durch Hillbrow. Gegenüber vom Mariston treffen wir Sipho. Wir schwingen uns in ein »Taxi«, einen jener Minibusse, in denen zur Rushhour 15 und mehr Menschen Platz finden müssen. Eine kleine Rundfahrt durch das Elend. Zu Fuß wäre es zu gefährlich. Nach

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SÜDAFRIKA

Foto: Richard Humphries / Polaris / laif

ein paar Kilometern im Zickzack ist klar: Auch hier gibt es Nuancen. Manche der riesigen Apartment-Blocks sind völlig verwahrlost. Dreck liegt herum, zerbrochene Scheiben sind notdürftig mit Pappe und Lumpen ausgebessert. Wir sehen Straßenkinder, wir sehen Betrunkene. Aber wir sehen auch ganz normales Leben: Menschen beim Einkauf, bei der Arbeit. Einige Häuser sind frisch gestrichen. Seit Jahren versuchen Nachbarschaftsinitiativen, funktionierende Gemeinschaften aufzubauen. Auf krasse Art verdeutlicht die Realität dieses abgleitenden Stadtteils das Wechselspiel von Arbeitslosigkeit, Armut, Aids und Kriminalität. Und demonstriert, dass polizeiliche Maßnahmen allein wenig fruchten. An manchen Ecken von Hillbrow sind jetzt Überwachungskameras installiert. Polizei ist verstärkt auf den Straßen präsent. Das entfaltet eine gewisse abschreckende Wirkung. In der Nacht aber schwappt das Verbrechen auf die Straßen zurück. Dann herrscht die rohe Gewalt, wird scharf geschossen. »Tagsüber ist es ein bisschen besser geworden«, meint Sipho. »Aber sobald es dunkel wird, sollte man besser schnell nach Hause gehen.« Am Abend sind drei Begleiter zur Stelle, um den Journalisten heil zu seinem Auto auf dem Parkplatz des Mariston-Hotels zu bringen. Südafrikas Mächtige haben derzeit drängendere Probleme: Nur einen Steinwurf von Hillbrow entfernt liegt das Ellis Park Stadium, eine der Arenen, in denen die Fußball-Weltmeisterschaft 2010 ausgetragen wird. Kriminalität während der WM ist ihre größte Sorge. Im Juli 2009 ernannte Präsident Jacob Zuma

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Dass Weiße besonders unter der Kriminalität zu leiden hätten, ist falsch. Ein Großteil der Gewalt spielt sich unter armen schwarzen Südafrikanern ab. einen neuen nationalen Polizeichef: Bheki Cele, zuvor Minister für Sicherheit in der Provinz KwaZulu-Natal. Cele, ein ehemaliger Freiheitskämpfer mit Panamahut, geriert sich als Hardliner, will seine Polizei auf Touren bringen, die etwa 185.000 Leute auf Effizienz trimmen und jene Korruption ausrotten, die seinem Vorgänger zum Verhängnis wurde. Er liebt unangemeldete Besuche auf Polizeiwachen. »Wenn die Organisation erst gut geölt ist«, verspricht Cele, »werden die Kriminellen laufen lernen.«

Den Touristen soll nichts passieren Das Gros seiner Landsleute lauscht solch markigen Worten gern. Seit Jahren ächzt das Land unter einer Kriminalitätsrate, die weltweit herausragt. Mit etwa 50 Morden pro Tag liegt Südafrika nur knapp hinter dem Spitzenreiter Kolumbien. Die Zahlen bei Vergewaltigungen, Raubüberfällen und Einbrüchen sehen nicht besser aus. Und selbst diese Daten, sagen Wissenschaftler, spiegeln nicht das tatsächliche Ausmaß der Kriminalität wider. Untersuchungen unter Opfern zeigten: Ihr Vertrauen in die Polizei ist derart gering, dass viele Straftaten gar nicht mehr angezeigt werden. Für die WM bietet die Regierung 41.000 zusätzliche Polizisten auf. Den Touristen soll bitte nichts passieren. Das Image des Reiselandes Südafrika steht auf dem Spiel. »Wir konzentrieren uns auf die Sicherheit der Ereignisse«, sagt Rich Mkhondo, Sprecher des Organisationskomitees. »Wir sind zuversichtlich: Die Weltmeisterschaft wird sicher sein.« Mit moderner Technik und massivem Personaleinsatz soll die Kriminalität abgedrängt, von Besuchern und Kameras ferngehalten werden. Was aber hat Südafrika davon? Die Ungeduld wächst. 1994 trat die demokratische, vom ganzen Volk gewählte Regierung an. Im afrikanischen Vergleich ist die Nation ungeheuer wohlhabend. Die scharfen sozialen

arbeitslosenrate nach bevölkerunGsGruppen in proZent 2009 »Schwarz«

27,4

»Farbig«

19,2

»Indisch/Asiatisch« »Weiß«

»Schwarz« 79,0%

11,7 4,1

Gesamt

23,2

»Farbig« 8,9%

»Indisch/Asiatisch« 2,5%

24

»Weiß« 9,5%

87%

der Arbeitslosen sind »Schwarze«.

Quellen: Census 2001, Labour Force Survey 2005, 2009

bevölkerunGsstruktur nach Gruppen

Gegensätze aber verringern sich auch unter Führung des African National Congress (ANC) nur sehr langsam. In der reichsten Provinz Gauteng, dem Großraum Johannesburg, von über zehn Millionen Menschen bewohnt, fallen sie besonders stark ins Auge. In den reichen Vororten fährt man endlose Kilometer an immer höher wachsenden Mauern entlang, gesichert mit Bewegungsmeldern und Video, mit Strom, Scheinwerfern und Stacheldraht. Wächter sitzen in ihren Häuschen und beäugen jeden Passanten. Einsatzfahrzeuge privater Sicherheitsfirmen brausen durch die stillen Viertel. Die Bewacher tragen schwere Waffen und schusssichere Westen. »Gated communities«, umzäunte Wohnviertel mit Einlasskontrolle, werden stetig beliebter. Sicherheit ist längst ein Milliardengeschäft in Südafrika. Und doch wird die Angst zuweilen zur Paranoia. Früher erzählten Südafrikaner sich Horrorstories vom Hörensagen. Heute kennt jeder, egal welcher Hautfarbe, im engsten Verwandtenund Bekanntenkreis Menschen, die Opfer von Verbrechen wurden. Wenn er nicht selbst schon eines war. Kriminalität ist überall Thema. Viele Wohlhabende wandern in als sicherer empfundene Länder ab. Einer, Brandon Huntley, erhielt 2009 sogar Asyl in Kanada. Sein Argument: Weiße seien in Südafrika besonders betroffen von Verbrechen. Experten beeilten sich klarzustellen, wie wenig diese Behauptung den Tatsachen entspricht. 142 empörte Akademiker protestierten in einem Brief an die kanadische Botschaft: »Diese unglaublich verzerrte Darstellung des heutigen Südafrikas stimmt in keiner Weise mit den Realitäten unseres Landes überein.« Die Kriminalität sei hoch – nicht zuletzt »aufgrund der Brutalisierung unserer Gesellschaft durch ein System weißer Vorherrschaft«. Dass aber Weiße darunter besonders zu leiden hätten, sei »schlicht unwahr«. Im Gegenteil: »Schwarze Südafrikaner laufen sehr viel eher Gefahr, Opfer eines Verbrechens zu werden, schon weil sich ein Großteil von

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16,4%

Johannesburg

aller SĂźdafrikaner leben in Âťinformellen SiedlungenÂŤ.

Pretoria

Bloemfontein

Quellen: Census 2001, Housing Atlas 2005

Durban

East London

Kapstadt

Port Elizabeth

Stadtzentrum Peripherie Informelle Siedlung

ihnen nicht jenen Schutz und jene SicherheitsmaĂ&#x;nahmen leisten kann, die weiĂ&#x;e SĂźdafrikaner, noch immer privilegierte BĂźrger, zu kaufen in der Lage sind.ÂŤ Viele Untersuchungen belegen dies: Ein GroĂ&#x;teil der Gewaltkriminalität spielt sich auch in SĂźdafrika unter den Ă„rmsten ab. Zahlen aus verschiedenen Bezirken Johannesburgs belegen den Trend: In Rosebank etwa konnte die Zahl der EinbrĂźche seit 2004 auf ein Drittel reduziert, die der Autodiebstähle halbiert werden. Mord spielt hier ohnehin keine Rolle: Im Schnitt gibt es einen pro Jahr. Der ärmere Stadtteil Jeppe hingegen verbuchte zuletzt 90 Morde, 111 Mordversuche, Ăźber 1.600 KĂśrperverletzungen, 742 Fälle von schwerem Raub, 823 EinbrĂźche, Tausende Diebstähle und 131 ÂťCarjackingsÂŤ – eine sĂźdafrikanische Spezialität: Das Auto wird zur Ăœberwindung der Sicherheitssysteme bei laufendem Motor geklaut, an einer roten Ampel etwa; der Fahrer verjagt, verprĂźgelt oder erschossen.

Sozialprojekte und VideoĂźberwachung Besuch in Meadowlands, Zone 10, einem eher dĂźsteren Quartier des South Western Township, kurz Soweto – der schwarzen Millionenstadt im SĂźdwesten Johannesburgs. Die StraĂ&#x;en sind schmal, manche der kleinen Häuser, zu Apartheid-Zeiten ÂťStreichholzschachtelnÂŤ genannt, sehen nahezu unverändert aus. Andere sind hĂźbsch renoviert und ausgebaut, zeigen wachsenden Wohlstand. Kiki, eine junge Angestellte, wohnt hier bei ihrer Tante. Die hat ein geräumiges Haus. Die Einfahrt wird von einem schweren Tor abgeschirmt. Vor den Fenstern sind Metallgitter montiert. Ein Muss. Auch hier. ÂťFrĂźherÂŤ, sagt Kiki, Âťhaben die Gangster die StraĂ&#x;e beherrscht, Ăźberall gedealt und herumgeballert, es war scheuĂ&#x;lich.ÂŤ Heute aber sei selbst die gefĂźrchtete Zone 10 viel sicherer. Warum? ÂťSie haben sich alle gegenseitig abgemurkstÂŤ, spottet

Kiki. Und erzählt dann, ernster, dass sich Bewohner, Verwaltung und Polizei hier zusammengesetzt und die Probleme besprochen hätten. Dass mehr Patrouillen unterwegs seien und die Leute wachsamer wären. Noch immer sind viel zu viele ohne Arbeit und Perspektive. Noch immer bieten Jugendgangs Frustrierten die Illusion von Stärke. In Soweto aber wird auch eine Veränderung zum Besseren sichtbar: StraĂ&#x;en wirken gepflegter, es gibt BĂźrgersteige, Parks, ein riesiges, modernes Einkaufszentrum. Neue, schmucke Gelenkbusse schieben sich auf Busspuren durch das Verkehrschaos. ÂťEs tut sich wasÂŤ, findet Kiki. Man muss nie weit fahren, um aufkeimende Hoffnung zu dämpfen. In Johannesburg, dieser rasant gewachsenen Goldgräberstadt, erst gut 100 Jahre alt, bleiben die Kontraste kräftig: Rauschender Reichtum neben drĂźckender Armut. Die Squattercamps, HĂźttensiedlungen aus Wellblech, Holz und Pappe, sind Ăźberall. Ăœber Nacht schieĂ&#x;en sie neben Eisenbahntrassen und Autobahnen empor, in sumpfigen Ecken oder auf einem eben freigeräumten FuĂ&#x;ballfeld. Hier leben die ärmsten SĂźdafrikaner, zusammen mit FlĂźchtlingen aus Nachbarländern wie Simbabwe oder Mosambik. Das funktionierte lange Ăźberraschend gut. Mit wachsender Enttäuschung aber wird die Mischung explosiv. Die Konkurrenz um die wenigen Jobs ist hart. Mitte 2008 fielen zornige, aufgestachelte SĂźdafrikaner im Township Alexandra und am Ostrand der Stadt Ăźber ihre Nachbarn her. Ein Schock fĂźr SĂźdafrika, das sich gern als Regenbogen-Nation feiert. Manch ein Minister weiĂ&#x; noch aus eigener Erfahrung, wie sich ein FlĂźchtlingsdasein anfĂźhlt. Friedliches Zusammenleben genieĂ&#x;t hier einen hohen Stellenwert. In den Neunzigerjahren wurden Ăźberall Wahrheitskommissionen abgehalten, um die DemĂźtigungen und Verbrechen aus der Ă„ra der Rassentrennung aufzuarbeiten. VersĂśhnung war das erklärte Ziel. Nur wenige Täter wurden bestraft. FĂźr Entschädi-

Ăœber hundert Beamte verloren vergangenes Jahr im Dienst ihr Leben. Zugleich aber erschossen Polizisten etwa 600 Menschen, Verdächtige wie Unbeteiligte. TITEL

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SĂœDAFRIKA

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Meisterschaft im Knast. Gefangene wärmen sich auf für ein Turnier zwischen Fußballmannschaften aus acht südafrikanischen Gefängnissen.

gungen hatte das Land ohnehin kein Geld. »Die Philosophie der Kommission stand in einem liberalen Kontext«, sagt die Soziologin Janis Grobbelaar, damals selbst beteiligt. »Es hieß: Wir können den Leuten nichts dafür zahlen, dass sie einen Arm verloren haben oder ein Kind. Wir versuchen es auch gar nicht – weil wir ja ihre Würde wiederherstellen. Das ist eine Position von Angehörigen der Mittelschicht, die nicht verstehen, dass du, wenn du nichts zu essen hast, auch keine Würde hast.« Was tun? Die eigentliche Ursache der gewaltigen Kriminalität im Land ist unumstritten: Armut. Eine halbwegs gerechte Gesellschaft aber liegt in weiter Ferne. Schlimmer noch: Je häufiger Fälle von Korruption und Vetternwirtschaft bekannt werden, desto mehr schwindet bei vielen Armen die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Umso wichtiger, argumentieren Anhänger der Prävention, seien eine funktionierende Justiz und Polizei, die Versorgung mit Wasser, Toiletten, Strom, auch eine anständige Straßenbeleuchtung und Betreuungseinrichtungen für die Kinder. Der mühsame Aufbau der Zivilgesellschaft. Solche Graswurzelaktivitäten gibt es überall. In Kapstadt etwa formte sich nach der Gewaltwelle 2008 eine Social Justice Coalition, mit Mitgliedern vom schicken Greenpoint bis nach Khayelitsha, einem der trostlosesten Townships Südafrikas. In Tshwane (Pretoria) versucht schon seit 2000 ein Peace and Development Project neue Formen sozialer Verbrechensvorbeugung zu entwickeln. »Gemeindefriedensarbeiter« (Community Peace Workers) sind im

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Schichtbetrieb an Schulen und in schwierigen Gebieten unterwegs, halten die Augen offen und den Kontakt zur Polizei. Während ihres einjährigen Dienstes werden sie auch als Aidsberater, Mediatoren und Konfliktmanager trainiert. Hunderte Jugendliche sind bereits ausgebildet worden. In Johannesburgs Innenstadt dagegen baut man seit einem Jahrzehnt die Videoüberwachung aus. Zwar haben die Börse, viele große Firmen und Geschäfte das Zentrum vor Jahren verlassen, sind nach Norden in die Viertel der Reichen abgewandert. Täglich aber durchqueren Hunderttausende die Stadtmitte auf dem Weg zur Arbeit. Die Menschen kommen von weit her, um einzukaufen. Auch das oberste Gericht, einige Banken und das Hauptquartier des regierenden ANC residieren weiter hier. Auch deshalb verfügt das Johannesburg Metropolitan Police Department über deutlich stärkere Kräfte als die Kollegen im benachbarten Hillbrow. Seit Ende 2008 ist jede Straßenecke der City überwacht. Dutzende Beobachter sitzen an den Monitoren der Einsatzzentrale. Manchen Taschendieb erkennen sie schon am Gang, schicken sofort eine Einheit los. Die durchschnittliche Reaktionszeit liegt unter 60 Sekunden. Das Videosystem findet über das automatische Scannen von Autonummern auch gestohlene Fahrzeuge. Angeblich ist die Zahl der Straftaten im überwachten Gebiet binnen drei Jahren um 80 Prozent gefallen. Ein Erfolg? Oder nur ein Verdrängungsprozess? Die Regierung müsste mehr tun, um die Unmengen illegaler Waffen im

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Seit November 2009 rĂźsten die Verantwortlichen rhetorisch nach. Celes neue Strategie heiĂ&#x;t ÂťShoot to killÂŤ – SchieĂ&#x;en um zu TĂśten. Seine Polizisten sollten sich keine Sorgen mehr machen mĂźssen, so der Polizeichef, Âťwas hinterher geschiehtÂŤ. ÂťWir ziehen die Schrauben anÂŤ, kĂźndigt auch Polizeiminister Nathi Mthethwa an, Âťwir werden die Kriminellen jagenÂŤ. ÂťJa, erschieĂ&#x;t die Bastarde, die unverbesserlichen KriminellenÂŤ, stimmt sein Vize Fikile Mbalula ein und bläst zum ÂťKrieg gegen die KriminellenÂŤ. Wobei der Tod unbeteiligter ÂťZivilistenÂŤ in Kauf genommen werden mĂźsse. Manch ANC-Aktivist träumt schon von der WiedereinfĂźhrung der Todesstrafe. Neue Gesetze sollen Polizisten den Gebrauch der Schusswaffe erleichtern, sie ÂťbefreienÂŤ, so Cele. Paragraphen, die schon zu Zeiten weiĂ&#x;er Herrschaft das Abknallen eines Ladendiebes durch einen erbosten Kaufmann segneten, sollen – nach zwischenzeitlicher Reform – nun wieder verschärft werden. ÂťWir dĂźrfenÂŤ, tĂśnt der neue Polizeichef, Âťdie Menschenrechte der Opfer und Täter nicht gleichsetzen.ÂŤ Statistiken aus dem letzten Jahr seiner Amtszeit als Minister in KwaZulu-Natal zeigen, dass dort die Zahl der Todesfälle in Polizeigewahrsam um 83 auf 258 stieg – mehr als in jeder anderen Provinz. Auch mangelnde SchieĂ&#x;freudigkeit ist nicht zu beklagen. Ăœber hundert Beamte verloren vergangenes Jahr im Dienst ihr Leben. Zugleich aber erschossen Polizisten etwa 600 Menschen, Verdächtige wie Unbeteiligte. Wer auf den Schutz der Menschenrechte beharrt, hat in dieser emotional aufgepeitschten Debatte

einfacher Raub

Mord

118.312

121.392

Sexualdelikte

126.558

schwerer Raub

90.825

119.726

126.789

Johannesburg und Kapstadt gelten als zwei der gefährlichsten Städte der Welt.

18.793

18.528

19.202

18.487

18.148

22,1 19.824 2003/2004

2004/2005

2005/2006

2006/2007

2007/2008

2008/2009

TITEL

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SĂœDAFRIKA

2003/2004

2004/2005

2005/2006

2006/2007

41,5 36,4

32,5

28,5

59.232 71.500

64.985 63.818

71.156 65.201

74.723 68.076

ausGaben fĂźr die poliZei in mrd. rand 69.117

66.079

Der Autor lebte drei Jahre in SĂźdafrika und berichtet regelmäĂ&#x;ig von dort. Er arbeitet als freier Journalist unter anderem fĂźr den Deutschlandfunk.

24,5

133.658

kriminalität

95.551

Foto: Bram Lammers / Hollandse Hoogte / laif

Rhetorische AufrĂźstung

einen schweren Stand. Der Ton ist rauer geworden, die Sprache militant. Gerade Jungspunde des ANC beteuern bei jeder Gelegenheit ihre Bereitschaft, zu den Waffen zu greifen und zu tĂśten. Auch bei ANC-internen Auseinandersetzungen. ÂťFĂźr Zuma sind wir bereit zu sterbenÂŤ, deklamiert Julius Malema, Präsident der ANC-Jugendliga, bei jeder Gelegenheit. Zweifler aus den eigenen Reihen werden barsch zum Schweigen gebracht. Als der ehemalige ANC-Minister Kader Asmal die von Mbalula erwĂźnschte Militarisierung der Polizei als ÂťVerrĂźcktheitÂŤ qualifizierte und sagte, er hoffe, nicht mehr am Leben zu sein, sollte Mbalula dereinst ANC-Generalsekretär werden, verhĂśhnte der Vizeminister ihn als Âťrasenden IrrenÂŤ. Der Verein der Veteranen von Umkhonto we Sizwe, des frĂźheren militärischen Arms des ANC, riet dem Genossen Asmal, er mĂśge doch Âťzum nächsten Friedhof gehenÂŤ. In einer solchen politischen Atmosphäre, mahnt Asmal, verliere der Âťmoralische Kompass, der auf die Grundwerte meiner Bewegung weist, seine RichtungÂŤ. Trotzdem verlieren SĂźdafrikaner nicht ihren Humor. Kurz vor Weihnachten kam ein neues Kartenspiel auf den Markt: ÂťTsotsiÂŤ – ein Slangwort fĂźr Gangster. Entwickelt von Mark Grieve, Priester im Johannesburger Stadtteil Sophiatown, einst eine Hochburg schwarzen Lebens – voller Musiker, Zeitungsleute, Aktivisten, auch Ganoven. Bis die weiĂ&#x;e Regierung die Gegend planieren lieĂ&#x; und ein Burenviertel daraus machte. Sie taufte es Triomf – Triumph. Heute heiĂ&#x;t Sophiatown wieder wie damals. Das Kartenspiel des Priesters funktioniert nach einem Punktesystem. Waffen, Drogen, Korruption und Gangs tragen Minuswerte, Wachleute, Spezialeinheiten und Gerichte bringen Pluspunkte. Das Problem: Die Mitspieler wissen nicht, wer Politiker und wer Verbrecher ist. ÂťWie im wahren LebenÂŤ, findet Priester Grieve.

2007/2008

2008/2009

Quelle: South African Police Service

Land einzusammeln, sagen Oppositionspolitiker. Sie mĂźsste Zeugenschutz-Programme schaffen, um den Kampf gegen die groĂ&#x;en Verbrechersyndikate zu verbessern. ÂťDie leeren Versprechungen mĂźssen endlich ein Ende habenÂŤ, sagt Dianne Kohler Barnard von der Democratic Alliance. Das Land brauche besser ausgebildete Polizisten – im vergangenen Jahr wurden 538 Polizisten wegen schwerer Verbrechen verurteilt.

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Fußball nach Farb Mit Sport wollte sich das rassistische Südafrika internationale Anerkennung verschaffen.

M

it gleich drei Fußball-Nationalmannschaften versuchte es Südafrika: die erste bestand nur aus Weißen, die zweite aus sogenannten Mischlingen, »Coloureds«, und in der dritten kickten nur Schwarze. So präsentierte sich das Land bei den Südafrikaspielen 1973. Das war eine Art Miniolympiade, die dem wegen seiner Apartheidpolitik international geächteten Regime Anerkennung verschaffen sollte. Zweimal traf das weiße Team damals auf das schwarze und gewann mit 4:0 und 3:1. Damit, da waren sich die weißen Funktionäre sicher, war beides bewiesen – die eigene Liberalität und die Überlegenheit der weißen Rasse. »Jetzt kann man uns keine Diskriminierung mehr vorwerfen«, rief Rudolph Opperman aus, der Präsident des Olympischen Komitees Südafrikas. Allerdings mussten alle Spiele im Rand-Stadion von Johannesburg stattfinden, weil andere Stadien keine Schwarzen in ihren Duschen und Umkleiden duldeten. Zu den Südafrikaspielen 1973 reisten 350 Athleten aus 30 Ländern an. Die größte Delegation kam aus Deutschland. Zwar lehnte die Bundesregierung jede finanzielle Unterstützung ab, doch die Sportverbände nahmen gerne das

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Angebot des Apartheidregimes an, zwei Drittel der Kosten zu tragen. Weltklassesportler wie die Leichtathletin Heide Rosendahl oder die Schwimmerin Jutta Weber traten an. Überhaupt wurde der internationale Sportboykott, der über das Rassistenregime im südlichen Afrika verhängt worden war, nicht konsequent umgesetzt. Im Januar 1973 beschloss der Weltfußballverband Fifa, seinen seit 1961 gültigen Boykott für die Südafrikaspiele auszusetzen: Schließlich versprach das Regime ja die Teilnahme von schwarzen Sportlern. Als sich aber herausstellte, dass der südafrikanische Fußballverband an drei segregierte Teams dachte, zog die Fifa ihre Erlaubnis zurück. Andere Sportarten scherten sich kaum um den vom Internationalen Olympischen Komitee verhängten Boykott. Profiboxen, Rugby, Kricket und vor allem Tennis waren nicht so sehr internationalem, das hieß vor allem: afrikanischem Druck ausgesetzt. Auch die Fifa wollte bei jeder sich bietenden Gelegenheit den Boykott loswerden. Obwohl sich 1951 die nicht-weißen Verbände zur antirassistischen South African Soccer Federation (SASF) zusammengeschlossen hatten, beschloss die Fifa 1952, den rassistischen Fußballbund aufzunehmen. Als der aber 1960 aus der afrikanischen Fußballföderation flog, konnten die FifaFunktionäre nicht umhin, die Mitgliedschaft Südafrikas zu suspendieren. Doch schon 1963 hoben sie den Bann wieder auf, weil der Verband verlautbarte, er wolle für die WMQualifikation 1966 zwar ein rein weißes, dafür aber zur WM 1970 ein rein schwarzes Team nominieren – wozu es nicht kam. Ein Jahr später zeigte sich, dass das Regime zu keiner Zeit daran gedacht hatte, sich von schwarzen Kickern repräsentieren zu lassen. Notgedrungen trennte sich die Fifa wieder von Südafrika. Zu einer echten Konfrontation mit dem rassistischen Südafrika war die Fifa nie bereit – auch wenn sie sich heute, kurz vor der WM 2010, als Förderer des schwarzen Fußballs feiern lässt. 1973 etwa wollte Norman Middleton, ein Funktionär der nichtrassistischen SASF, zu einem Fifa-Treffen nach Frankfurt fliegen, um dafür zu werben, dass die Fifa seinen Verband als südafrikanischen Vertreter anerkennt. Doch südafrikanische Behörden entzogen ihm den Pass und die Fifa protestierte nicht dagegen, dass ihr Gast nicht kommen durfte. 1988 stellte die »Frankfurter Rundschau« fest, gerade in Deutschland gebe es etliche Vereine, »die sich um den Sportboykott gegen das Regime am Kap nicht scheren«. Anlass war der hessische Fußballklub SV Traisa, der seit 1971 als »privat« gelten-

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en Deutsche Funktionäre und Politiker halfen dabei gern. Von Martin Krauß de Sportkontakte unterhielt. Nach UNO-Angaben unterliefen zwischen 1980 und 1987 insgesamt 203 deutsche Athleten und zwei Mannschaften den Boykott – darunter Stars wie Bernhard Langer (Golf), Boris Becker (Tennis), Toni Mang (Motorrad) oder Dietrich Thurau (Radsport). 1989 initiierten in Bonn mehrere CDU-Politiker, unterstützt vom südafrikanischen Konsul in Deutschland, einen Verein »Brücken durch Sport«, der den Boykott überwinden wollte. Berufen haben sich solche Initiativen immer wieder auf »Reformvorschläge« aus Südafrika: Für 1974 hatte etwa der Sportminister Piet Koornhof ein Fußballturnier angekündigt, an dem »die unterschiedlichen südafrikanischen Nationen auf einer multinationalen Basis partizipieren könnten«. Er dachte an vier Nationalteams: ein weißes, eines der »Coloureds«, eines der Inder und ein, wie er sagte, »repräsentatives Zulu, Xhosa oder sonstiges Bantu-Nationalteam«. Damals existierten in Südafrika schon längst zwei Profiligen: Die National Football League der Weißen (NFL) und die National Soccer League der Schwarzen (NSL). Begegnungen von NFL- und NSL-Teams fanden nur sehr selten statt. Daneben gab es ab 1960 Frauenfußball in Südafrika: Weiße Mittelklassefrauen begannen ab Mitte der sechziger Jahre, eine Liga aufzubauen. Doch schon zu Beginn der sechziger Jahre taten sich schwarze Frauen zusammen, um organisiert zu kicken, unter anderem der Orlando Pirates Women’s Football Club und die Mother City Giants. In den frühen Siebzigern wurde die Sawfa gegründet, die South African Women’s Football Association, die sich explizit nur an weiße und »coloured« Frauen richtete und Schwarze ausschloss. Die Sawfa versuchte zu erreichen, was den Männern verwehrt blieb, die internationale Anerkennung. »Das erste ›inoffizielle‹ internationale Fußballturnier, das eine südafrikanische Auswahl bestritt, fand während einer fünfwöchigen ›Rebellen‹-Tour nach Italien im Juni und Juli 1989 statt«, schreibt die Historikerin Cynthia Fabrizio Pelak. Der Versuch, mit dem international nicht so beachteten Frauenfußball den Boykott zu durchbrechen, gelang jedoch auch den weißen Kickerinnen nicht. Die halbherzige Haltung des Auslands und der Fifa verhinderte freilich nicht, dass sich der schwarze Fußball entwickelte. Und zwar nicht nur in der NSL, sondern auch in den Gefängnissen. »Wie Sie wissen, habe ich 27 Jahre lang Urlaub gemacht«, sagte Nelson Mandela Anfang der Neunzigerjahre einmal, »konnte aber von meinem berühmten Hotel aus die Fortschritte des Soccer-

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SÜDAFRIKA

Spiels in diesem Land verfolgen.« Die Rede ist von Robben Island, der berüchtigten Gefängnisinsel, auf der zeitweise 1.600 Häftlinge lebten. Im Jahr 1969 wurde hier die Makana Football Association gegründet. Die Idee zu diesem Verband entsprang dem Bedürfnis der politischen Häftlinge, wenigstens das Recht auf frische Luft am Wochenende und auf Sport zu erhalten. Mandela selbst durfte allerdings nie mitspielen, er blieb in Isolationshaft, wurde aber in geschmuggelten Botschaften über die Tabellenstände informiert. Anfang der Neunzigerjahre startete Südafrika endlich in eine nichtrassistische Fußballzukunft. Im Dezember 1991 gründete sich die Safa, die South African Football Association, die sich aus vier früheren Verbänden zusammensetzte. 1992 wurde Südafrika wieder in die Fifa aufgenommen, 1995 gewannen die Orlando Pirates den afrikanischen Landesmeisterpokal, 1996 richtete das Land den African Cup of Nations aus, 1998 nahm es an der WM in Frankreich teil und dieses Jahr folgt der bisherige Höhepunkt: Die Austragung der Fußball-WM 2010. Der Autor ist freier Sportjournalist und lebt in Berlin.

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Der zer

Die Angst, erkannt zu werden. Lorian kommt aus Angola. Nach den Pogromen gegen Ausl채nder 2008 kam sie mit ihren Kindern in einer Notunterkunft in Kapstadt

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brochene Mythos In der Regenbogen-Nation ist Hass auf Ausländer alltäglich. Von Corinna Arndt

Foto: Robin Hammond / Panos Pictures

D

unter. Sie hat Angst, als Ausländerin erkannt zu werden.

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SÜDAFRIKA

ort, wo die Autobahn N1 von Johannesburg kommend die Halbwüste Karoo hinter sich lässt und in die Weinbaugebiete um Kapstadt führt, liegt das Hex River Valley. Ein malerisches Tal voller Weingüter, umgeben von rauen Bergen. Am Eingang zum Tal drängen sich Tausende Hütten aus Pappe und Wellblech bis dicht an die Straße. Hier, im Slum von De Doorns, wohnen die Saisonarbeiter, die für weniger als einen Euro am Tag Wein lesen und dankbar dafür sind, überhaupt einen Job zu haben. Unter ihnen sind unzählige Menschen aus anderen afrikanischen Ländern, die versuchen, sich hier ein neues Leben aufzubauen. De Doorns, das kleine Dorf am Rande der Karoo, ist einer der Orte, die in den vergangenen Wochen und Monaten für Schlagzeilen gesorgt haben. Im November waren hier 3.000 Ausländer gewaltsam aus ihren Hütten vertrieben worden, viele von ihnen hausen bis heute in notdürftig errichteten Zelten. Die Angreifer beschuldigten sie, zu Dumpinglöhnen zu arbeiten und südafrikanischen Farmarbeitern die Jobs wegzunehmen. Es sind bekannte Vorwürfe. Bereits 2008 dienten sie zur Entschuldigung dafür, dass in landesweiten Pogromen mehr als 85.000 afrikanische Migranten aus ihren Häusern vertrieben wurden. Ein gutes Drittel floh damals in provisorische, von der Regierung errichtete Flüchtlingslager. 62 Menschen starben. Das Bild des Mosambikaners Ernesto Alfabeto Nhamuave, der im Johannesburger Township Alexandra bei lebendigem Leib verbrannte, ging um die Welt. Als die Welle der Angriffe schließlich abebbte, verschwand das Thema aus den Medien. Doch das Problem – der Hass, die Vorurteile, der erbitterte Kampf um begrenzte Ressourcen in den Armenvierteln – blieb. Und mit ihm blieb die Angst der Einwanderer und Flüchtlinge. Agathe Kwisera und ihr Mann Norbert, beide politische Flüchtlinge aus Ruanda, waren unter den Zehntausenden, die allein in Kapstadt in Lagern unterkamen. Mehr als ein halbes Jahr lebten sie mit ihren beiden Kindern in Zelten, die kaum den Winterstürmen standhielten. Als die Regierung im Januar 2009 das letzte der Lager in Kapstadt schloss und die Essensversorgung einstellte, blieben die Kwiseras noch für Wochen in ihrem Zelt. Sie sollten sich wieder integrieren, forderten die Behörden. Doch das konnte lebensgefährlich sein. »Wir sind einmal an unseren alten Wohnort zurückgegangen«, erzählt Agathe Kwisera, »und sofort wieder bedroht worden. Wir hatten kein Geld. Wir wussten einfach nicht wohin.« Glaubt man den Kwiseras, dann hat sich die Lage für Ausländer in Südafrika in den vergangenen Monaten weder verbessert noch verschlechtert. Die Feindseligkeiten sind über Jahre gewachsen und lösen sich nicht innerhalb weniger Monate auf. Allein 2006 waren in und um Kapstadt nach Angaben somalischer Interessenvertreter 40 somalische Händler gezielt umgebracht

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die beliebtesten auswanderunGsländer 2003 275 329 339 353 400

die GrĂśssten reGistrierten einwandererGruppen 2003 1.698 1.032 959 645 561 551

617

365

966

207.200

1.598 2.276 5.204

248 237 220

Nigeria GroĂ&#x;britannien Simbabwe Pakistan China Indien Deutschland Ghana Lesotho USA

Personen haben 2008 in SĂźdafrika Asyl beantragt. Davon kamen aus Simbabwe

worden. Medien, Politiker und BehĂśrden haben das Problem Ăźber Jahre hinweg weitgehend ignoriert und nicht selten selbst Vorurteile geschĂźrt. Die Ăœbergriffe von 2008 mĂśgen ein Tiefpunkt dieser langfristigen Entwicklung gewesen sein, aber längst nicht ihr Ende. Bereits wenige Wochen später gab es weitere Ăœberfälle. In vier Kapstädter Townships planten sĂźdafrikanische Ladenbesitzer systematisch die Vertreibung ausländischer Konkurrenten. Im Dezember 2009 wurden 200 Ausländer in der Limpopo-Provinz aus einem Township verjagt. Immer wieder kam es in den vergangenen Monaten zu Morden, Verfolgung und PlĂźnderungen – zuletzt in der Provinz Mpumalanga. Die Ortsnamen sind austauschbar, das Problem kein lokales, jedes erneute Aufflammen des Hasses lediglich das Symptom einer Krankheit, die das gesamte Land erfasst hat. Am Kap ist ein Mythos zerbrochen: das Bild der RegenbogenNation, einer multikulturellen Gesellschaft, die in ihrer Vielfalt und Toleranz selbst vielen westlichen Ländern als Vorbild galt. Bezeichnenderweise waren es nie WeiĂ&#x;e – die ehemaligen UnterdrĂźcker – die zur Zielscheibe wurden, sondern Simbabwer, Mosambikaner, Malawier, Somalis, Angolaner und Kongolesen. Europäische FuĂ&#x;ball-Touristen werden von der sĂźdafrikanischen Form der Fremdenfeindlichkeit wenig zu spĂźren bekommen. Ausländerhass am Kap beschränkt sich auf afrikanische Immigranten, viele von ihnen politische oder ArmutsflĂźchtlinge. Schätzungen zufolge leben fĂźnf Millionen am Kap, mehr als die Hälfte davon ist aus Simbabwe. Die Einwanderer kommen mit leeren Taschen und versuchen, in SĂźdafrikas ärmsten Gemeinden FuĂ&#x; zu fassen – ohne jegliche UnterstĂźtzung vom Staat. Wo sie Erfolg haben, ziehen sie Neid auf sich. Ihre sĂźdafrikanischen Nachbarn genieĂ&#x;en Freiheit, politische Rechte und Demokratie, doch es fehlt an Jobs, guten Schulen und der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. SĂźdafrikas Arme haben Wahlversprechen an sich vorbeiziehen sehen und sind ärmer geworden. Sie sind frustriert. Und richten ihre wachsende Wut gegen ihre

115.800.

Quelle: Statistics South Africa 2003, UNHCR

Simbabwe Deutschland Sambia V. Arab. Emirate Kanada Namibia Neuseeland USA Australien GroĂ&#x;britannien

afrikanischen Nachbarn. ÂťGewalt gegen Ausländer droht ein vĂśllig akzeptierter Bestandteil der Politik in den Townships zu werdenÂŤ, sagt Loren Landau, die an der Johannesburger Wits University zu gewaltsamer Vertreibung forscht. Der Hass ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Hinzu kommt, dass Politiker und BehĂśrden versuchen, das Problem herunterzuspielen. Zwar haben sowohl der frĂźhere Präsident Thabo Mbeki als auch sein Nachfolger Jacob Zuma die Ăœbergriffe verurteilt, doch genutzt hat es wenig. So erklärte vor Kurzem der BĂźrgermeister des kleinen Ortes Riviersonderend im Westkap der Wochenzeitung ÂťMail & GuardianÂŤ mit folgenden Worten die Vertreibung von 20 Somalis in seinem Dorf: ÂťIch mĂśchte nicht, dass Sie in der Zeitung von ›Ausländerhass‚ sprechen. In ein paar Monaten haben wir hier die FuĂ&#x;ball-WM. Das gäbe doch einen Aufstand – dabei geht es nur um 20 Leute! Wissen Sie, ich liebe mein Land und ich liebe das Westkap.ÂŤ Weiterleben, als sei nichts passiert, das versuchen auch die Kwiseras jeden Tag aufs Neue. Die Kinder gehen wieder regelmäĂ&#x;ig in die Schule, ihre Mutter macht eine Ausbildung als Krankenschwester. Der Vater verkauft Brot und GemĂźse, um die Familie Ăźber Wasser zu halten. Die Familie wohnt wieder in einem festen Haus. In Capricorn, einem Vorort von Kapstadt mit hohem Ausländeranteil und einer Mischung aus verschiedenen sĂźdafrikanischen BevĂślkerungsgruppen, haben sie ein Zimmer gemietet. Die Kinder sprechen, neben ihrer Muttersprache Englisch, Afrikaans und isiXhosa. Viele Freunde der Familie sind SĂźdafrikaner. Das ist die Integration, die die Politiker fordern. Doch fĂźr Agathe Kwisera ist das GefĂźhl der Unsicherheit geblieben: ÂťEs ist ruhig im MomentÂŤ, sagt sie und fĂźgt nach kurzem ZĂśgern hinzu: ÂťAber da ist etwas in den Menschen hier ‌ es wird wiederkommen ‌ Ich fĂźhle mich einsam ‌ wohin du auch gehst, irgendwie hast du immer das GefĂźhl, die Leute hassen dich.ÂŤ Die Autorin ist freie Journalistin und lebt in Kapstadt.

Der Mythos von der Regenbogen-Nation, die in ihrer Vielfalt und Toleranz als Vorbild galt, ist zerbrochen. 32

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»Es gibt ständig neue Übergriffe« Ein Gespräch mit Dean Peacock, einem der Gründer des »Sonke Gender Justice Network«, über Fremdenfeindlichkeit in Südafrika und Projekte zur Integration von Flüchtlingen und Migranten.

Wie ernst ist denn die Lage zurzeit? Sehen Sie langfristige Trends im Umgang mit Ausländern in Südafrika? Die Lage ist stabil, aber stabil auf einem gefährlichen Niveau. Es gibt ständig irgendwo neue Übergriffe. Und das ist nicht wirklich überraschend, wenn man bedenkt, unter welchen Bedingungen arme Menschen in Südafrika überleben. Gleichzeitig leben wir auf einem Kontinent mit Ländern wie Somalia, Kongo und Simbabwe, die so instabil sind, dass die Menschen von dort in Scharen nach Südafrika flüchten. Und das erhöht hier natürlich den Druck. Sozio-ökonomische Probleme sind sicher eine wichtige Erklärung für Übergriffe gegen Ausländer. Aber Armut allein erzeugt ja noch keinen Ausländerhass… In Vierteln, in denen die Mehrheit der Menschen arbeitslos ist, wird es immer Spannungen geben. Da können auch wir in unseren Projekten nur an die Menschlichkeit appellieren. Das funktioniert allerdings auch. Oft sind die Südafrikaner hier völlig überrascht, zu hören, was genau in Ruanda los war, oder was derzeit im Kongo passiert. Und wenn sie diese Geschichten hören, dann entwickeln sie auch Mitgefühl und Verständnis. Können Einwanderer für arme Gemeinden nicht auch ein Gewinn sein? Auf jeden Fall. Somalische Händler zum Beispiel nutzen seit jeher Netzwerke, um Waren beim Großhandel zu kaufen und sie billiger anzubieten als die Konkurrenz. Das verärgert natürlich die südafrikanischen Ladenbesitzer, doch die Kunden, die mit

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SÜDAFRIKA

jedem Cent rechnen müssen, profitieren davon. Und das ist nur ein Beispiel. Wie schätzen Sie die Reaktion der südafrikanischen Regierung auf das Problem ein? Es ist die erste Pflicht der Regierung, dafür zu sorgen, dass die Millionen armer Menschen in Südafrika ein Dach über dem Kopf haben, Zugang zu akzeptablen Schulen und so weiter. Gleichzeitig ist es ihre Pflicht, die Flüchtlinge hier im Land vor Übergriffen zu schützen. Als die Vertriebenen in den Zeltlagern mit Essensrationen versorgt wurden, hat das den Ausländerhass der Südafrikaner zum Teil noch weiter angefacht – Einheimische kommen schließlich nicht in den Genuss solcher »Privilegien«. Gleichzeitig sind die Behörden während und nach der Krise oft auf eine Weise mit den Opfern umgegangen, die viele als kalt und desinteressiert empfunden haben. Da gab es ein paar furchtbare Momente. Es ist fast unmöglich, da eine Balance zu wahren bei so großen – und berechtigten – Bedürfnissen auf beiden Seiten. Die Situation ist extrem schwierig, einfache Lösungen gibt es da nicht. Wo sehen Sie den dringendsten Handlungsbedarf? Nach den Übergriffen 2008 wurden mehr als tausend mögliche Täter verhaftet. Doch im Fall des in Alexandra verbrannten Mosambikaners zum Beispiel wissen wir immer noch nicht, wer die Mörder waren, obwohl es so viele Zeugen gab. Es gibt einfach keine Verurteilungen. Gerade in diesen Fällen, die für so viel öffentliche Aufmerksamkeit gesorgt haben, ist es unglaublich wichtig, eine klare Botschaft zu senden: Wer so etwas tut, wandert ins Gefängnis. So lange das nicht passiert, erreicht man das genaue Gegenteil. Gewalt wird akzeptabel. Es ist absolut erschreckend, dass hier nicht konsequent durchgegriffen wird. Fragen: Corinna Arndt

Foto: Deon Gurling / Rapport

Sonke ist eine der wenigen Organisationen in Südafrika, die auf die massiven Übergriffe gegen Ausländer 2008 nicht nur kurzfristig reagierten, sondern das Problem Fremdenfeindlichkeit langfristig auf die Tagesordnung hoben. Wie genau sehen Ihre Interventionen aus? Während der Krise haben wir vor allem humanitäre Hilfe geleistet, Sachspenden gesammelt und verteilt und für bessere Lebensbedingungen in den Flüchtlingslagern gekämpft. Wir haben Demonstrationen gegen Ausländerhass organisiert und Informationsmaterial verteilt. Im Township Khayelitsha bei Kapstadt bringen wir Südafrikaner und Einwanderer in Straßenkunst- und Fußballprojekten zusammen und nutzen das Lokalradio für Diskussionen mit Hörern. Außerdem haben wir Teams in Johannesburg und Kapstadt, die Flüchtlingen dabei helfen, Zugang zum Gesundheits- und Bildungssystem und zu Behörden zu bekommen – denn auch in diesen Sektoren gibt es unglaubliche Vorurteile gegen Ausländer.

interview dean peacock Der Südafrikaner leitet zusammen mit Bafana Khumalo das Sonke Gender Justice Network. Sonke arbeitet mit der südafrikanischen Amnesty-Sektion und weiteren Organisationen in einem Bündnis für die Rechte von Flüchtlingen und Migranten.

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Eine von 5,7 Millionen. Die 25-jährige Nandi Makhele outet sich mit einem T-Shirt der Treatment Action Campaign als HIV-infiziert.

Gesundheit finden Zu lange hat Südafrika die HIV-Epidemie nicht ernst genommen. Erst eine starke Bewegung von Infizierten und Unterstützern zwang die Regierung zum Handeln. Von Martina Schwikowski (Text) und Finbarr O’Reilly / Reuters (Fotos)

V

ier Tabletten am Tag halten Notula Ndaba am Leben. Es waren schon mehr, aber ihr Immunsystem hat sich erholt. Vor vier Jahren hatte sie überrascht festgestellt, dass sie das tödliche HI-Virus in sich trägt. »Das war ein großer Schock«, sagt die 35-Jährige. Die vielen kurzen Zöpfe auf ihrem Kopf stehen wie kleine Raketen in die Höhe, sie lacht und sagt: »Ich habe es längst akzeptiert – das Leben geht wei-

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ter.« Die junge Frau studiert Elektrotechnik und hat bereits einen Job. Sie wohnt im Twonship Alexandra. Einmal im Monat fährt sie in Johannesburgs Innenstadt, um in der privaten ZuziMpilo-Klinik in Johannesburg ihre Medikamente abzuholen. Sie kann sich, im Gegensatz zu vielen Armen, das Versorgungspaket dort leisten. Das Beste daran: Die Anonymität der Großstadt behütet sie vor dem Stigma.

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Das Stigma überwinden. Die 14-jährige Ncedeka Mbunye möchte sich nicht verstecken müssen, weil sie HIV-positiv ist.

Verkehrslärm und Autohupen dröhnen herauf in die Klinik, die sich in der oberen Etage eines Hochhauses befindet, vermischt mit der Musik afrikanischer Migranten, die auf den Bürgersteigen Haarteile, Kosmetik und billige Turnschuhe anbieten. Notula ist aus dem nahe gelegenen Township Alexandra mit dem Minibus nach Downtown gefahren, um bei ZuziMpilo kurz »einzukaufen«. In »Alex« gibt es eine Aidsklinik der Regierung, aber dort läuft sie Gefahr, von den Nachbarn in der Warteschlange erkannt zu werden. »Dann weiß jeder, was los ist. Frauen werden gleich als Hure verurteilt. Die Stigmatisierung ist trotz Aufklärung immer noch ein großes Problem«, sagt Notula. Besonders Ältere lehnen Gespräche über Sex und Aids häufig ab und wollen mit infizierten Menschen nichts zu tun haben. »Meine Eltern sind traditionelle Leute, die wissen nichts von meiner Krankheit. Meine Mutter würde sich zu Tode grämen, wenn sie davon wüsste.« Noch immer ist es in Südafrika schwer, sich öffentlich zu einer HIV-Infektion zu bekennen, dabei tragen ein Drittel aller Frauen zwischen 25 und 29 Jahren das Virus in sich. Täglich sterben fast 1.000 Südafrikaner an den Folgen von Aids, die Zahl der Aidswaisen wird auf 1,9 Millionen geschätzt. Vor allem viele junge Frauen stecken sich trotz aller Aufklärungskampagnen weiterhin neu an. Ein wichtiger Grund dafür ist die weitverbreitete sexuelle Gewalt und die extrem hohe Vergewaltigungsrate in Südafrika.

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SÜDAFRIKA

Immerhin leugnet die Regierung die Aidskrise inzwischen nicht mehr. Das war vor zehn Jahren noch ganz anders. Damals hatte Südafrika eine Gesundheitsministerin, die Aidskranken den Verzehr von Rote Beete empfahl und einen Präsidenten, der die Gefahr durch das HI-Virus herunterspielte. Erst eine starke Bewegung von Infizierten und Aktivisten erzwang eine Änderung der Politik. Und das Verfassungsgericht. Die »Treatment Action Campaign« (TAC), die stärkste Organisation der Anti-Aids-Bewegung, klagte gegen die Regierung und erreichte mehrere Urteile, die auch international Aufsehen erregten. So verpflichteten am 5. Juli 2002 die Verfassungsrichter die Regierung, an schwangere, HIV-infizierte Frauen kostenlos Medikamente abzugeben, die eine Übertragung des Virus auf die Neugeborenen verhindern. Mit einem weiteren Urteil zwang das Gericht die Regierung, einen umfassenden Plan zur Eindämmung der Epidemie und zur Behandlung der Infizierten und Kranken aufzustellen. »Südafrika hat den Kampf gegen Aids zu spät begonnen«, sagt Limakatso Lebina, eine Ärztin aus der ZuziMpilo-Klinik. »Jetzt sehen wir die Konsequenzen. Die Menschen sterben, die Versorgung ist schlecht und die Infektionsrate ist besonders bei jungen Frauen hoch.« Im Senegal, wo schon seit den Neunzigerjahren Kondome verteilt werden und die Bevölkerung umfassend über das HI-Virus aufgeklärt wird, sind nur 0,5 Prozent der Menschen infiziert. Im vergleichsweise reichen Südafrika sind dagegen rund zwölf Prozent der Bevölkerung infiziert. Damit

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Das Recht auf Behandlung durchsetzen. Die 39-jährige Fanelwa Glwasshu trägt das HI-Virus in sich und unterstützt die Treatment Action Campaign.

gehört das Land, zu den am stärksten betroffenen Staaten der Erde. In absoluten Zahlen hält Südafrika einen traurigen Rekord: 5,7 Millionen Menschen leben hier mit dem Virus, so viele wie in keinem anderen Staat. Viele von Lebinas Patienten sind junge Frauen wie Notula. Sie kommen aus Townships, aber auch aus ländlichen Gebieten in die Klinik, die ihnen Anonymität bietet. »Sie haben Angst, von ihrer Gemeinde verstoßen zu werden«, sagt die Ärztin. Aber es gibt einen weiteren Grund: In den staatlichen Krankenhäusern herrscht Personalmangel. Die Behandlung kostet zwar kein Geld, aber ein Besuch meistens einen ganzen Tag, den die Patienten an ihren Arbeitsplatz nicht versäumen möchten. Die ZuziMpilo-Klinik arbeitet hingegen zügig und auch samstags. Inzwischen schicken auch einige südafrikanische Bergbaufirmen ihre kranken Arbeiter hier vorbei und weiße »Madams« zahlen für ihre Hausangestellten und Gärtner die Aidsbehandlung. ZuziMpilo, was so viel heißt wie »Finde Gesundheit«, wurde 2006 eröffnet und füllt eine Lücke: »Unsere Kunden sind Geldverdiener. Sie gehören zur unteren Mittelklasse und haben ein Einkommen zwischen 4.000 und 10.000 Rand im Monat«, sagt Lebina. Mit den umgerechnet 380 bis 950 Euro können sie sich – wie die Mehrheit in Südafrika – keine Krankenversicherung leisten. Aber die von der Witwatersrand-Universität in Leben gerufene und von USAID geförderte Klinik bietet eine günstige Versorgung zum Preis von 460 Rand (ca. 45 Euro) monat-

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lich. Darin sind Arztbesuch, Tests und Laborkosten sowie Medikamente enthalten. Lebina hofft, dass mit der neuen Regierung auch die Versorgung in den staatlichen Klinken besser wird. Ihrer Ansicht nach zeigt der neue Gesundheitsminister Aaron Motsoaledi, seit Mai 2009 im Amt, mehr politischen Willen, Südafrikas Aidskrise in den Griff zu bekommen. Da ist sich die Ärztin mit der Lobbygruppe TAC einig. Laut TAC hört die neue Regierung wenigstens die Probleme der Gemeinden an. »Der Minister will mehr Qualität bei der Versorgung in den Provinzen sehen«, sagt Phillip Mokoena, stellvertretender TAC-Leiter. Für die Behandlung von HIV und Aids hat die Regierung 800 Millionen Euro eingeplant, ein Drittel mehr als im vergangenen Haushaltsjahr. Eine Partnerschaft zwischen Regierung, sozialen Organisationen und Aidsaktivisten zeichnet sich ab. Der Kampf gegen die Epidemie hat sich in den vergangenen Jahren verlagert: Von den Gerichtssälen auf die Provinzebene. »Vor dem Verfassungsgericht haben wir gegen Diskriminierung und für die Menschenwürde gekämpft«, sagt Mokoena. In einem zweiten Anlauf stritt TAC gemeinsam mit der Regierung gegen weltweite Pharma-Konzerne. Dabei ging es um die Reduzierung der Preise für Aidsmedikamente und um das Recht auf die Produktion von Generika, wirkstoffgleichen, preiswerteren Medikamenten. »Da waren wir erstmals mit der Regierung in einer Partnerschaft und forderten dann kostenlose Medikamente

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hiv-verbreitunG nach Geschlecht und alter 2008 in proZent

43% der Todesfälle 2009 sind auf Aids zurückzuführen.

für die Armen, die am stärksten betroffen sind und nicht zahlen können«, erinnert sich Mokoena. Anders als sein Vorgänger Mbeki unterstützt der neue Präsident Jakob Zuma den Kampf gegen Aids auf der politischen Ebene. Allerdings bereitet sein privates Verhalten den Aidsaktivisten Bauchschmerzen. »Er hat ungeschützten Sex in außerehelichen Beziehungen. Dabei ist unsere größte Herausforderung die Änderung von sexuellem Verhalten, hin zur Benutzung von Kondomen und vertrauensvollen Partnerschaften«, ärgert sich Mokoena über den Staatschef. »Zumas Affären sind ein schlechtes Vorbild und erschweren unsere Versuche, auch traditionelle Stammesälteste in unsere Arbeit in den Gemeinden einzubeziehen.« TACs Botschaft in den »imbizos«, den Dorfversammlungen, lautet: »Übernehmt mehr Verantwortung!« Die traditionellen Führer spielen eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, überkommene Denkweisen und Tabus aufzubrechen, und Erziehung in Gesundheits- und Aidsfragen zu fördern. Aber es ist nicht nur die Aufklärung, die in den Provinzen bisher zu kurz gekommen ist. Auch die Versorgung ist auf dem Land oft extrem schlecht. Es fehlt an mobilen Kliniken, denn die langen Wege zur nächsten Gesundheitsstation sind abschreckend und teuer. TAC ist es gemeinsam mit anderen Organisationen vor Ort gelungen, die Menschen zu mobilisieren, ihre Rechte einzufordern. Das Wissen »Wir können länger leben, wenn wir medizinisch versorgt sind« hat dazu geführt, dass

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SÜDAFRIKA

32,7

3,5 1,8

6,2 7,7

14,1 10,4 10,2

8,4

18,5

19,2 16,3

24,8

25,8 29,1 21,1 15,7 2,5 6,7

5,1

3,0 2,0

60+

verwendunG von kondomen in proZent (beim letZten sex) Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen

30,3 24,7 38,1 32,8 64,6 60,4

südafrikaner, die medikamente GeGen das hi-virus bekommen 2005 2006 2007 2008 2009

140.000 274.000 462.000 710.000 870.000

Quellen: Human Sciences Research Council 2008, UNAIDS/WHO 2008, Statistics South Africa 2009

Südafrika hat die höchste Zahl an HIV-Infizierten weltweit. Rund 5,7 Millionen Menschen sind betroffen, davon 300.000 Kinder unter 15 Jahren. (UN 2008 Global Report on the HIV and Aids Epidemic) Nach Berechnungen der südafrikanischen Statistikbehörde gab es 2009 etwa 1,9 Millionen Aidswaisen.

15–19 20–24 25–29 30–34 35–39 40–44 45–49 50–54 55–59

2002

hiv/aids

männlich weiblich

2–14

2005

410.000 650.000 1.000.000 1.500.000 2.000.000 2.700.000 3.300.000 3.900.000 4.300.000 4.700.000 5.000.000 5.300.000 5.400.00 5.600.000 5.700.000 5.700.000

2008

menschen mit hiv 1992 bis 2007 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007

870.000 Menschen in Südafrika Aidsmedikamente einnehmen. Schätzungsweise 1,2 Millionen Menschen bekommen jedoch keine Medikamente, obwohl sie diese benötigen. »Die langen Wartelisten in den Kliniken und Krankenhäusern nehmen den Menschen das Recht auf medizinische Versorgung wieder, das ihnen die Verfassung garantiert«, sagt Mokoena. »Es ist genug Geld da, um alle zu versorgen, doch die Lokalregierungen versagen.« Im vergangenen Jahr kam es in der Provinz Bloemfontein sogar zu einem Behandlungsmoratorium, denn die Kliniken hatten keine Medikamente auf Lager und Menschen wurden weggeschickt. Dramatisch ist die Situation auch in den Gefängnissen. Vergewaltigungen sind dort an der Tagesordnung, und es gibt keine klare Politik im Bezug auf HIV. Um hier etwas zu ändern, zog TAC erneut vor Gericht und forderte das Gesundheitsministerium und das Ministerium für Strafvollzug auf, Kranke nicht länger ohne ausreichende Behandlung in Zellen einzuschließen. In einigen Haftanstalten hat TAC bereits Verbesserungen erreichen können. »Menschenrechte für alle, infiziert oder nicht, einschließlich des Rechts auf bestmögliche medizinische Versorgung, bleibt unser gemeinsames Ziel. Dabei ist unsere Verfassung die beste Waffe«, sagt Mokoena. »Aber trotzdem gibt es keine Garantie.« Die Autorin lebt in Johannesburg und arbeitet als freie Journalistin.

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Festen Boden unter den Füßen A

ls Nelson Mandela vor 20 Jahren, am 11. Februar 1990, das Gefängnis verließ, waren die Tage der Apartheid gezählt. Bei seinem ersten öffentlichen Auftritt zitierte Mandela seine eigene Verteidigungsrede von 1964: »Ich habe gegen die weiße Vorherrschaft gekämpft, und ich habe gegen die schwarze Vorherrschaft gekämpft. Ich halte am Ideal einer demokratischen und freien Gesellschaft fest, in der alle Menschen in Harmonie und mit gleichen Möglichkeiten zusammenleben.« Er formulierte damit eine Vision von einem neuen Südafrika, die viele teilen konnten. Mandelas besonnene Worte konnten nicht verhindern, dass die folgenden vier Jahre von blutigen Auseinandersetzungen geprägt waren. Starke Kräfte in Polizei, Militär und Geheimdienst schürten den Konflikt zwischen Mangosuthu Buthelezis Zulubewegung Inkhata und Mandelas Afrikanischem Nationalkongress (ANC). Anhänger der Inkhata fielen mit Unterstützung der weißen Polizei über ANC-Anhänger her. Es entbrannte ein blutiger Kampf, dem in drei Jahren mehr als 3.000 Menschen zum Opfer fielen. Die zwei Massaker von Boipatong und Bisho brachten den Verhandlungsprozess fast zum Erliegen. Aber auch der ANC musste sich schwere Vorwürfe gefallen lassen. Amnesty International dokumentierte Fälle von Folter, Misshandlungen und Hinrichtungen in ANC-Flüchtlingslagern. Trotz der Gewalt arbeiteten zur gleichen Zeit Vertreter des alten Regimes, des ANC und anderer Organisationen konstruktiv an einer neuen Verfassung, die als international wegweisend und vorbildhaft gilt. Ihr Grundrechtskatalog enthält neben den bürgerlichen und politischen auch die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte. Die Verfassung hat außerdem wichtige Schutzmechanismen geschaffen, wie eine Ombudsstelle und Kommissionen für Menschenrechte sowie ein starkes Verfassungsgericht, das weitgehend unabhängig von politischen Einflüssen besetzt wird. Das Verfassungsgericht hat mittlerweile wichtige Urteile gefällt. So lehnte es die Wiedereinführung der Todesstrafe ab und verpflichtete die Regierung, HIV-infizierte Schwangere mit Medikamenten zu versorgen. Nur der Artikel 251 in der zunächst gültigen Übergangsverfassung, überschrieben mit »Nationale Einheit und Versöhnung«, lag auch Amnesty schwer im Magen. Denn er gewährte eine Amnestie für politisch motivierte Verbrechen, um endlich die Morde und blutigen Kämpfe zu beenden. Es war ein Sieg der »politischen Logik« über die »ethische Logik«, wie Alex Boraine – später stellvertretender Leiter der Wahrheits- und Versöhnungskommission – es ausdrückte.

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Nach den beeindruckenden ersten freien Wahlen und dem Beginn der Präsidentschaft von Nelson Mandela nahm die Wahrheits- und Versöhnungskommission ihre Arbeit auf. Immerhin gelang es ihr, die Straffreiheit an klare Bedingungen zu knüpfen: Voraussetzung war eine vollständige Aussage und ein Antrag innerhalb von 18 Monaten. Zu den wichtigsten Ergebnissen der Kommission zählt, dass sie die furchtbaren Details der Menschenrechtsverletzungen während der Apartheid aufdeckte. Dies geschah in öffentlichen Sitzungen des Komitees für Menschenrechte, über die alle wichtigen Medien ausführlich berichteten. Die Wahrheit erreichte nun auch die Weißen, die vorher der Apartheidregierung blind vertraut und keine Fragen gestellt hatten. Doch nur in den Reihen der Polizei führten erste Geständnisse dazu, dass sich mehr und mehr Täter meldeten, um in den Genuss der Amnestie zu kommen. Innerhalb des Militärs und bei der Inkhata blieb die Schweigefront weitgehend stabil. Zwar wurden viele Anträge auf Amnestie abgewiesen und alle Vorstöße für eine Generalamnestie scheiterten. Aber durch Anweisungen der Regierung an die nationale Anklagebehörde wurde fast das gleiche Ergebnis erreicht: Eine juristische Aufarbeitung unterblieb weitgehend. Und auch in der Entschädigungsfrage wurden die Opfer enttäuscht. Die Regierung zahlte nur einen Bruchteil dessen, was die Kommission empfohlen hatte. Auch viele weitere Hoffnungen haben sich nicht erfüllt. Der Anspruch, den die Verfassung formuliert, wird in vielen Fällen nicht eingelöst, etwa bei den Rechten von HIV-Infizierten oder Migranten. Erschreckend hoch ist auch noch immer die Zahl derjenigen, die in Haft oder Polizeigewahrsam getötet werden. Wir mussten lernen, dass mit dem Ende eines Schreckensregimes die Folter nicht verschwindet, weil die Polizei sich daran gewöhnt hatte, sie als Mittel zur Geständniserzwingung zu verwenden. Dennoch: Die Apartheid, das Unrechtsregime, gegen das die Mehrheit der Schwarzen und eine internationale Bewegung, zu der auch Amnesty gehörte, lange gekämpft hat, ist Geschichte. Die Fundamente, die für das neue Südafrika gelegt worden sind, haben sich als stabil erwiesen. Heute geht es in Südafrika, wie in vielen anderen Ländern, darum, die in der Verfassung garantierten Rechte zu verteidigen und in die Praxis umzusetzen. Der Autor ist seit 1979 in der Südafrika-Ländergruppe der deutschen Sektion von Amnesty International aktiv.

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Foto: Nikki Rixon / Twenty Ten / AMO / laif

Vor 20 Jahren wurde Nelson Mandela aus der Haft entlassen. Seither hat das Land eine beispiellose Veränderung erlebt. Von Ingo Jacobsen


Niemand nimmt ihnen mehr das Recht mitzuspielen, weil sie schwarz sind. Zwei Jungen im Township Khayelitsha in Kapstadt.

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SĂœDAFRIKA

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Berichte

Steinschlag und Polizei Von Felsbrocken bedroht. Häuser an der Al-Me’adessa-Straße im Kairor Stadtteil Manshiet Nasr. Foto: Bernd Hartung

42 Ägypten: Lebensgefährliche Slums in Kairo 48 Guatemala: In Aktenbergen Mörder suchen 50 Australien: Die Bevormundung der Aborigines 54 Bangladesch: Flucht vor der Sondereinheit 56 Papua-Neuguinea: Polizisten als Brandstifter 58 Usbekistan: BKA verhört im Foltergefängnis 41


Vertreiben und verstecken Einen Wasseranschluss hat hier keiner. Blick auf den Slum in Al-Duweiqa. Hier hat Hamdi Riad f端r 1.000 Euro ein Haus f端r sich und seine Familie gekauft.

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Die Bewohner der Slums in Kairo haben Hilfe dringend nötig. Der Staat bietet ihnen keinen Schutz, sondern bedroht sie. Von Jürgen Stryjak (Text) und Bernd Hartung (Fotos) Am Abend vor dem Prophetengeburtstag zieht kurz nach Sonnenuntergang ein Unwetter auf, wie es Kairo seit zehn Jahren nicht erlebt hat. Ein Wolkenbruch überschwemmt die Straßen der Innenstadt, er dauert über eine Stunde. Der Verkehr kommt zum Erliegen. Ein paar Kilometer östlich vom Zentrum bringt Hamdi Riad die Familie in Sicherheit. Seine Frau und die vier Kinder im Alter zwischen drei Monaten und elf Jahren verbringen den Abend bei Verwandten in einem Neubaublock in der Nähe. Der Familienvater geht zurück und wartet in der eigenen Wohnung auf das Ende des Unwetters. Sein Haus steht in einem Viertel an den Muqattam-Bergen. Am nächsten Tag zeigt der 35-Jährige, was der Wolkenbruch angerichtet hat. Es ist der Geburtstag des Propheten, überall in der Stadt schenken sich Muslime gegenseitig Süßigkeiten. Nicht so bei Hamdi Riad, Gebäck und Schokolade kann er sich nicht leisten, nicht einmal für die Kinder. Im schmalen Treppenflur steht eine Pfütze. Auch ins einzige Zimmer der Familie ist Wasser eingedrungen. Aber es hätte schlimmer kommen können. Das ist Hamdis einziges Geschenk zum Prophetengeburtstag. Am Abend zuvor waren Sturzbäche durch die steinigen Gassen zwischen den Hütten hinuntergerauscht. Gassen, die so schmal sind, dass gerade mal zwei Leute nebeneinander laufen können. Die armseligen Häuser dort haben selten Fundamente, und ihr Gebälk ist morsch. Starker Regen kann das poröse Mauerwerk schwächen oder Erdrutsche verursachen. Hamdi Riad und seine Nachbarn leben ständig mit der Gefahr, dass ihnen die vier Wände über den Köpfen zusammenbrechen. Sie wohnen in einem jener Viertel, die sogar Moustafa Madbouli, der oberste Städteplaner Ägyptens, als Slums bezeichnet. Er verwendet diesen Begriff mit Bedacht. Er beschränkt ihn auf Gebiete, »in denen es keinerlei Sicherheit für die Menschen gibt«. Denn ihre Bewohner hausen unter Hochspannungsleitungen oder können jederzeit lebendig unter Geröllmassen begraben werden. Alle sind sie von lebensgefährlichen Krankheiten bedroht, weil sie keine Abwasserentsorgung haben. Moustafa Madbouli ist der Vorsitzende der General Organization for Physical Planning, einer staatlichen Behörde mit Sitz in einer Villa in Garden City im Stadtzentrum. Madbouli hat in Rotterdam und Karlsruhe studiert und sein Traum ist es, Kairo bis 2020 in einen urbanen Großraum ohne Slums zu verwandeln. Dazu müssten die gefährdeten Gebiete, also die Slums, geräumt werden, es sei unmöglich, sie zu entwickeln. »Rund 100.000 Familien mit einer halben Million Menschen werden wir umsiedeln müssen«, sagt er. »Es gibt keine Alternative.« Wollte Moustafa Madbouli mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu Hamdi Riad fahren, müsste er am Tahrir Square ins erste Sammeltaxi steigen, an der Nasr Road ins nächste wechseln und dann einen klapprigen Jeep nehmen, der ihn bis nach Al-Duweiqa bringt, so wie es die Leute tun, die hier wohnen. Zwischen den tristen Neubauten von Al-Wahayid hindurch müsste Moustafa Madbouli schließlich in den Slum von Hamdi Riad laufen. Für den gesamten Weg würde er eine Dreiviertelstunde benötigen, obwohl es nur sechs Kilometer Luftlinie von seiner Dienstvilla bis hierher sind. Der politische Weg zu einem slumfreien Kairo aber ist noch weiter und beschwerlicher. Es lauern unüberwindbare Hinder-

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ÄGYPTEN

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nisse: Korruption und Geldmangel, einflussreiche Geschäftsleute, die mit Mafiamethoden ihre Interessen vertreten, und ein Regime, das sich um die Ärmsten der Armen nur schert, wenn sie seine Macht bedrohen. Das alles sind Hindernisse, die auch ein engagierter Funktionär wie Madbouli nicht überwinden kann. Hamdi Riad kam vor 19 Jahren aus der Halb-Oase Al-Fayoum nach Al-Duweiqa. Er kaufte sein Haus für umgerechnet tausend Euro. Das Geld lieh er sich von Verwandten. In Al-Duweiqa lebt er zwar in einem Slum, doch kann er hier sein Glück versuchen. Es ist die typische Biographie eines Bauernjungen auf Landflucht. Fast alle Familien der Bewohner des Stadtteils Manshiet Nasr, zu dem auch Al-Duweiqa gehört, kamen einst vom Land in die Großstadt, weit über eine halbe Million Menschen. Viel zu viele für das bisschen Glück, das es hier gibt. Auch Hamdi Riad kommt nur knapp über die Runden. Morgens in aller Frühe geht er aus dem Haus und fährt in die Muskistraße in der Altstadt. Dort kauft er für ein paar ägyptische Pfund Kleidungsstücke vom Großhändler, Herrenoberhemden zum Beispiel. Textilien, die so billig sind, dass Leute wie er sie sich leisten können. Die Kleiderbündel bringt er im Sammeltaxi in die Armenviertel Kairos oder in die Provinz. Dort stellt er sich auf die Märkte und verkauft die Sachen. Wie viel er verdient, weiß er nicht. In guten Monaten sind es vielleicht 1.000 Pfund (gut 130 Euro), oft weniger. Davon muss er auch den Transport bezahlen, die Polizisten auf den Schwarzmärkten schmieren und die Prepaid-Karten fürs Handy kaufen. Leute wie Hamdi Riad sammeln keine Quittungen und führen keine Geschäftsunterlagen. Wichtig ist, was er am Abend in der Tasche hat, und das ist jeden Tag eine andere Summe.

Wasserholen bei Verwandten im Neubau Nach der Arbeit setzt er sich auf den Teppich vor den Fernseher und guckt den ägyptischen Sportkanal. »Das ist meine Lieblingsbeschäftigung«, sagt er. »Wenn ich hier sitze und zum Beispiel Fußball gucken kann, dann bin ich glücklich.« Währendessen steht seine Frau am Herd und frittiert Gemüse. Der Herd befindet sich gleich neben dem einzigen Bett. In ihm schläft tagsüber Genna, die drei Monate alte Tochter, und nachts die ganze Familie. Das Doppelbett nimmt fast die Hälfte des einzigen Raumes ein. Er misst höchstens zehn Quadratmeter. Hier wird gekocht, gespielt und ferngesehen. In einem düsteren Verschlag nebenan befindet sich die Toilette, ein Loch im Boden. Dort stehen auch die Wasserkannen, die die Familie bei den Verwandten im Neubau füllt. Einen Wasseranschluss besitzt hier keiner. Am Eingang zu Riads Slum sitzen am Nachmittag ein paar Halbwüchsige auf Stühlen aus Palmenholz im ansonsten leeren Kaffeehaus. Es heißt »Asala«, benannt nach der populären syrischen Sängerin. Die Jugendlichen spielen mit ihren Handys. Mobiltelefone gelten als Statussymbol, obwohl sie längst kein Zeichen für Wohlstand mehr sind. Telefonate können sich die jungen Leute ohnehin nicht leisten. Es gibt so viele zahlungsunfähige Handybesitzer, dass die Firma Mobinil einen Service anbietet, der »Kalemni, shukran« heißt, auf Deutsch: Ruf mich an, danke! Man wählt einen Code, gefolgt von der Nummer desjenigen, mit dem man sprechen möchte, und Mobinil verschickt kostenlos eine SMS mit der Bitte, den Absender zurückzurufen. Wer die jungen Männer nach ihrem Lebenstraum fragt, erhält von allen dieselbe Antwort, die auch Khaled, der Kaffeehausbetreiber, gibt: »Endlich genug Geld für die Hochzeit zu

Einraumwohnung. Hamdi Riad sitzt mit seiner Familie in seinem Haus und hält seine Tochter Genna im Arm.

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haben!« Die Heirat ist für den 27-Jährigen das einzige halbwegs realistische Lebensziel. Direkt neben dem Kaffeehaus fertigt der 24-jährige Muhammed Abdu Damenbroschen in Handarbeit, in einer kleinen Kammer, in der er zusammen mit seinem Bruder auch schläft. Die Perlen besorgt er sich im Basar der Altstadt, wo die Broschen verkauft werden. Pro Tag verdient er 25 Pfund, umgerechnet gut drei Euro. Zu wenig für eine Hochzeit, denn Muhammed ist gleichzeitig auch der Ernährer seiner Familie. Hamdi Riad geht nie ins Kaffeehaus, nicht ins »Asala« um die Ecke und auch in kein anderes. »Ein Glas Tee kostet ein Pfund«, rechnet er vor, »wenn ich vier oder fünf davon trinke, fehlt mir am Ende viel Geld, das ich für meine Kinder brauche.« Dennoch lässt auch Hamdi Geld in seinem Slum. Er kauft Zigaretten am schäbigen Kiosk oder selbstgemachten Weißkäse aus der Blechschüssel einer alten Frau, die immer in der Gasse sitzt. Er bezahlt den Kahraba’i, der elektrischen Strom fürs Viertel stiehlt und jene Leitungen repariert, die bis in die Häuser reichen. So leben von dem wenigen Geld, das einige der Bewohner draußen verdienen, am Ende viele von Hamdis Nachbarn. Sie versorgen sich gegenseitig. Dass sich die Regierung um sie kümmert, das erwartet hier niemand. Der Staat beginnt irgendwo in der Ferne, weit hinter dem Verteilerkasten, von dem die Leute illegal Strom abzapfen. Er regiert in einer anderen Welt. Wenn der Staat in die Welt von Hamdi Riad und seinen Nachbarn eindringt, dann als Bedrohung. In den Tagen vor dem Prophetengeburtstag wurde ein Slum ganz oben auf dem Berg geräumt. Blaue Mannschaftswagen fuhren vor, Polizisten riegelten das Gebiet ab und ließen den Bewohnern 24 Stunden Zeit, ihre Habseligkeiten zu packen. Derzeit werden die Leute nach

Zamzam Abd Al-Nabi zeigt ein großes Loch im Dach eines Hauses. Hier durchschlug ein Felsbrocken die Decke und landete in einem Zimmer, in dem ein Baby schlief.

Leben und Überleben. Zamzam Abd Al-Nabi fordert eine sichere Bleibe. Muhammed Abdu stellt Schmuck her. Khaled betreibt ein Café.

BERICHTE

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ÄGYPTEN

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Zu wenig Glück für alle. Alte Sozialbauten in Al-Duweiqa (links) neben Häusern, die ohne Genehmigung gebaut wurden (rechts unten).

Al-Nahda umgesiedelt, in ein Viertel mit Billigneubauten 30 Kilometer nordöstlich von Kairo, weit weg vom Broterwerb, aber auch von den Augen der Öffentlichkeit. Denn am liebsten hat das Regime die Slumbewohner außer Sichtweite. Aus demselben Grund wird Journalisten, vor allem ausländischen, oft der Zugang zu den Slums verwehrt. Vor allem wenn sie eine Kamera dabeihaben.

Im Neubau droht die nächste Räumung Das feine soziale Gewebe, das die Leute in den Slums am Leben erhält, verschwindet mit der Zwangsumsiedlung von einem Tag auf den anderen. Hamdi Riad rechnet ständig mit diesem Schicksal. Außerdem erhalten nur die Familien in Siedlungen wie der von Al-Nahda eine Wohnung, die nachweisen können, dass sie seit langem in ihrem Slum wohnen. Aber wer hat schon Papiere, von denen er glaubt, dass sie der Willkür der Behörden standhalten? Auch Hamdi Riads Haus steht auf staatlichem Boden, er hat praktisch keine Rechte. Neben seinem Slum entstand in den vergangenen Jahren ein Neubauviertel für Zwangsumgesiedelte, die sogenannte Susanne-Mubarak-Siedlung, benannt nach der Gattin des Präsidenten. Von dort hört Hamdi Riad Geschichten wie die des 52-jährigen Muhammed Ahmed. 2002 wurden ihm, seiner Frau und den sieben Töchtern dort zwei kleine Zimmer zugewiesen. Die Wohnungsmiete beträgt 77 Pfund im Monat, aber Muhammed Ahmed verkauft Gemüse auf der Straße. Sein Einkommen reicht nicht für die Miete, er hat sie seit sieben Jahren nicht bezahlt. Anwälte vom Egyptian Center for Housing Rights versuchen, vor

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Gericht die Zwangsräumung abzuwenden. Sollte ihnen das nicht gelingen, landet die neunköpfige Familie auf der Straße. Unter anderem deshalb wünscht sich Hamdi Riad nichts sehnlicher, als dass sein armseliger Status quo erhalten bleibt. Gelegentlich arbeitet er als Reinigungskraft im Citystars Center in Medinet Nasr, einer riesigen, funkelnden Shopping Mall mit 800 Geschäften, Restaurants und Cafés, in denen ein Latte Macchiato mehr kostet, als so mancher Familie in Al-Duweiqa für den gesamten Tag zur Verfügung steht. Wie kommt Hamdi Riad mit dem Kontrast klar zwischen der Glitzerwelt der Reichen und seinem Slum? »Auf dem Weg nach Hause bin ich manchmal wütend«, antwortet er, »aber wenn ich mein Viertel erreiche und zu Hause meine Familie sehe, preise ich Gott dafür, dass alles noch so ist wie am Morgen, als ich das Haus verließ.« Sehr vielen Kairoern geht es kaum besser als ihm, auch außerhalb der Slums. Die Viertel der Mittel- und Oberschicht, Zamalek, Mohandessin oder die neuen, begrünten Wohnanlagen am Stadtrand, sind kleine Oasen. Sie stehen für nichts, was die Stadt ausmacht. Moustafa Madbouli, der oberste Stadtplaner, zählt im Großraum Kairo zwar nur 15 Slums, aber über 120 ’Ashwa’iyyas. Das sind sogenannte informelle Stadtteile – ohne Genehmigung errichtete, ungeplante Viertel, in denen die Bewohner oft genauso arm sind wie Hamdi Riad, nur dass sie nicht in Lebensgefahr schweben. Rund 70 Prozent aller Kairoer wohnen in einem ’Ashwa’iyya. Das sind über zwölf von rund 18 Millionen Menschen. »Wenn wir Glück haben«, sagt Moustafa Madbouli, »dann schaffen wir es bis 2020, die Lebensbedingungen in zwei oder drei von ihnen zu verbessern.«

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Wohnungen zu mieten. Die Susanne-Mubarak-Siedlung.

Flucht vor dem Steinschlag Anders als Hamdi Riad in Al-Duweiqa wollen die Menschen am Ende der Al-Me’adessa-Straße in Manshiet Nasr nicht einfach auf ihr Schicksal warten. Ihre Häuser befinden sich unmittelbar an den steilen Felsen der Muqattam-Berge. Im September 2008 stürzten genau solche Felsen in Al-Duweiqa auf Häuser und begruben mindestens 119 Menschen bei lebendigem Leib. Am Ende der Al-Me’adessa-Straße droht dieselbe Gefahr. Zamzam Abd Al-Nabi zeigt ein großes, notdürftig verschlossenes Loch im Dach eines Hauses. Hier durchschlug ein Felsbrocken die Decke und landete in einem Zimmer, in dem ein Baby schlief. Gottseidank wurde niemand verletzt. Seit Monaten versucht Zamzam, die Behörden zum Handeln zu zwingen. Menschenrechtsorganisationen wie das Egyptian Center for Housing Rights helfen ihr dabei, Amnesty International startete eine Eilaktion. Die 35-Jährige möchte für sich und ihre Nachbarn Wohnungen an einem Ort, an dem sie auch ihren Lebensunterhalt verdienen können. Aber sie selbst können sie nicht finanzieren. Am liebsten würden sie im Viertel bleiben, aber das befindet sich in der Nähe des Stadtzentrums und bietet einen grandiosen Blick auf den Al-Azhar-Park, die historische Altstadt und die Zitadelle. Es ist ein urbanes Filetstück, das auch Investoren begehren. Jeder hier im Viertel glaubt, dass seine Bewohner aus genau diesem Grunde an den Stadtrand umgesiedelt werden sollen. Zamzam, die Bäckersfrau, weist auf einen Felsen am südlichen Rand. Er sei instabil und könne jeden Moment zusammenbrechen. Während des Wolkenbruchs am Vorabend des Prophe-

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ÄGYPTEN

tengeburtstags flüchteten viele Familien aus den Häusern. Stunden verbrachten sie aus Angst um ihr Leben an der Hauptstraße im Regen. Die Gefahr, die von den Felsen ausgeht, wurde von Geologen längst bestätigt, aber selbst Protestaktionen vor Behördengebäuden, die Zamzam organisierte, blieben bislang folgenlos. Die Nachbarn sind stolz auf die junge Hausfrau, aber Zamzam behagt die Rolle als Aktivistin eigentlich nicht. Die Zeitungen berichten immer wieder davon, dass Slumbewohner, die Widerstand leisten, in Gefängnissen landen und dort misshandelt werden. Zamzam möchte nicht als Staatsfeindin gelten. »Wir lieben unser Land«, sagt sie, »Präsident Mubarak ist für uns so etwas wie ein Vater. Wir verlangen nur von den Behörden, dass sie uns helfen, nicht nur wegen der Gefahr, sondern weil das unser Recht ist.« Der Kampf von Zamzam und ihren Nachbarn ist auch einer um Respekt und Menschenwürde, daran lässt sie keinen Zweifel. »Ich würde meine beiden Söhne mit Freude unserem Land opfern, wenn sich Ägypten im Krieg verteidigen müsste. Aber wie soll ich das tun, wenn sie vorher unter dem Berg sterben?« Der Autor lebt in Kairo, arbeitet unter anderem für die ARD und ist Gründungsmitglied des Korrespondentennetzwerks Weltreporter.net. Ende 2009 hat Amnesty in einem Bericht die Situation in den von Schlammlawinen und Steinschlag bedrohten Slums in Kairo dokumentiert. Im Februar startete die Organisation eine Eilaktion für gefährdete Bewohner von Manshiyet Nasser. Mehr Informationen auf www.amnesty.org

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Das Recht zu Wissen Ein Polizeiarchiv kann Licht in Guatemalas dunkle Vergangenheit bringen. Von Jorun Poettering

Foto: Uli Stelzner

Wenn Lucio Yaxon loslegt, dann geht es um mehr als harte Beats und schnelle Worte. Der 27-jährige Rapper ist Maya, und wenn er in Guatemala auftritt, dann singt er von den vielen Demütigungen, die seinen Landsleuten angetan wurden: von den Massakern der Kolonisatoren, von der Brutalität der weißen Herrscher und vom Leiden im Bürgerkrieg, der 36 Jahre lang zwischen der Guerilla und dem Militär in seinem Land tobte. Seine Songs rappt er im indigenen Maya-Kakchiquel und in spanischer Sprache. In seinen Texten mischen sich alltägliche Gewalt und Hoffnung auf ein besseres Leben: »Hab’ keine Angst, unsere Zeit ist gekommen.« Seine Familie ist, wie die von so vielen Guatemalteken, geprägt von den Kämpfen und politischen Morden, die zwischen 1960 und 1996 rund 200.000 Menschen das Leben kosteten. Yaxons Vater wurde ermordet, drei seiner Onkel sind verschwunden. Was ist mit seinen Angehörigen genau geschehen? Das wollte Lucio Yaxon wissen. Mit 17 Jahren zog er vom Land nach Guatemala-Stadt und schloss sich der Bewegung an, die für die Aufklärung der Verbrechen kämpft. Lange Zeit schien es beinahe unmöglich, die Verantwortlichen ausfindig zu machen und sie vor Gericht zu stellen. Es fehlten die Beweise. Doch im Juni 2005 passierte etwas, das der Arbeit dieser Organisationen eine neue Grundlage und auch dem jungen Rapper wieder Hoffnung gab. Bei der Inspektion eines Polizeigeländes entdeckten Mitarbeiter

der staatlichen Ombudsstelle für Menschenrechte zufällig riesige Papierstapel. Die Akten, die da zwischen abgewrackten Autos und alter Munition versteckt waren, entpuppten sich als das Archiv der ehemaligen Nationalpolizei. Es handelte sich um äußerst brisante Dokumente, die Auskunft über Opfer und Täter des bewaffneten Konflikts geben können. Die Existenz eines solchen Archivs war bis dahin geleugnet worden, sowohl gegenüber der Wahrheitskommission, die 1999 einen Bericht über die Gewalttaten der Vergangenheit veröffentlichte, als auch gegenüber Anwälten, die Beweismaterial für die Aufklärung von Menschenrechtsverbrechen suchten. Das Archiv umfasst insgesamt 80 Millionen Dokumente – acht Regalkilometer –, die das Handeln der Nationalpolizei von 1882 bis zur Unterzeichnung der Friedensabkommen zwischen der Guerilla und dem Staat 1996 dokumentieren. 115 Jahre in Akten. Damit beherbergt das Archiv einen der weltweit größten Dokumentenbestände, der Ermittlern von Menschenrechtsverbrechen je zur Verfügung gestanden hat. Viele der Akten, die über Jahre dem Regen, dem Schimmel und den Fledermäusen ausgesetzt waren, fanden die Menschenrechtsverteidiger stark zerstört vor. Doch nach der Entdeckung begannen die Arbeiten zu ihrer Konservierung. Seither werden die Papiere gesäubert und stabilisiert, gescannt, kopiert und klassifiziert. 9,5 Millionen Dokumente aus dem Zeitraum zwischen 1975 und 1985 – in diesem Zeitraum wurden die meisten Menschenrechtsverletzungen verübt – sind bereits digitalisiert. Damit niemand Akten entwenden kann, ist das Archiv gut ge-

»Unser Land befindet sich nach wie vor im Krieg.« Maya-Rapper Lucio Yaxon.

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115 Jahre in Akten.

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Das Archiv umfasst 80 Millionen Papiere, die das Handeln der Nationalpolizei von 1882 bis 1996 dokumentieren.

schützt. Vor dem Betreten müssen die Mitarbeiter durch mit Stacheldraht umgebene Tore gehen, vorbei an bewaffneten Polizeibeamten mit scharfen Hunden. Die Fenster sind vergittert, es gibt schwere Metalltüren und Überwachungskameras. 24 Stunden am Tag sind Sicherheitsdienste auch innerhalb des Archivgebäudes eingesetzt. Rund 160 Männer und Frauen arbeiten seit 2006 auf dem Gelände. Viele von ihnen haben ein persönliches Interesse am Erhalt und der Auswertung der Unterlagen. Auch Lucio Yaxon hat mitgeholfen, die Akten vom Staub zu befreien und elektronisch zu archivieren. Vier Jahre lang war er im Archiv beschäftigt und nie hat er die Hoffnung aufgegeben, Informationen über seine Angehörigen zu bekommen. Die Arbeit sei eine doppelte Herausforderung gewesen, erklärt der junge Mann. »Einerseits geht es darum, die Repressionsmechanismen der Polizei und ihre Rolle bei der Verfolgung und dem ›Verschwindenlassen‹ tausender Personen zu untersuchen. Andererseits geht es um die Suche nach Informationen, die einen ganz persönlich berühren.« Yaxon hat die Namen einiger Menschen gefunden, die in seinem Leben eine wichtige Rolle spielten. Genügend Material für eine Anklage hat er aber nicht zusammenbekommen. Erfolgreicher waren die Angehörigen von Edgar Fernando García. Er ist eines der insgesamt 40.000 Opfer staatlich angeordneten »Verschwindenlassens«. Der 27-jährige Student und Gewerkschafter verließ am 18. Februar 1984 wie gewohnt sein Haus und ging zur Arbeit. Als er mit einem Bekannten an einer Polizeiwache vorbeikam, wurden die beiden aufgefordert, stehen zu bleiben. Doch sie versuchten zu flüchten. Die Polizei schoss, beide wurden verletzt und in Polizeikrankenhäuser gebracht. Noch am selben Abend kamen zwei Männer in Zivilkleidung zu seiner Frau und teilten ihr mit, dass García drei Tage später wieder nach Hause kommen würde. Sie nahmen einige seiner persönlichen Gegenstände mit und fuhren in Autos ohne

Nummernschilder weg. García wurde nie wieder gesehen. In diesen Fall haben die Dokumente des Polizeiarchivs geholfen. Über 20 Jahre nach dem Verschwinden des Mannes fand man dort Informationen zu dessen Entführung, die zur Verhaftung zweier mutmaßlicher Täter führten. Die beiden warten noch auf ihren Prozess. Doch das Archiv trägt nicht nur zur Wahrheitsfindung für die Zeit des bewaffneten Konflikts bei. Es wirft auch Licht auf andere Abschnitte der guatemaltekischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, aus denen sich die späteren grausamen Entwicklungen zum Teil erklären lassen. Vor rund einem Jahr wurde es für Opfer, Familienangehörige, Forscher und Journalisten geöffnet. Gleichzeitig veröffentlichte die Ombudsstelle für Menschenrechte einen ersten Bericht mit den Ergebnissen der seit 2006 unternommenen Untersuchungen. Er trägt den Titel »Das Recht zu Wissen« und zeigt, wie die Polizei in eine repressive Überwachungsinstitution umgewandelt wurde und in die Aufstandsbekämpfungsstrategie des Militärs eingebunden war. Die umfangreichen Dokumente sind ein Pulverfass, und so werden sie schnell zum Spielball verschiedener politischer Akteure, die im Bürgerkrieg eine Rolle gespielt haben: das Militär, die Regierung und ehemalige Mitglieder der Guerilla. Doch zugleich helfen sie jungen Guatemalteken, sich mit der qualvollen Vergangenheit ihres Landes auseinanderzusetzen und daraus ihre Vorstellungen für eine bessere Zukunft zu entwickeln. Menschen wie Lucio Yaxon, die das Wissen aus dem Archiv in die Bevölkerung tragen, spielen dabei eine wichtige Rolle. »Wir haben die Lieder geschrieben, damit alle erfahren, was wirklich in Guatemala passiert ist, und um zu helfen, die Erinnerung an das Geschehene zu bewahren«, erklärt er. Der Rap ist für ihn aber auch ein Werkzeug, »um der Gesellschaft vor Augen zu führen, dass sich unser Land nach wie vor im Krieg befindet, dass wir in Guatemala noch lange nicht von einer Demokratie sprechen können«. Im vergangenen Jahr verlor Lucio erneut zwei nahe Verwandte durch Gewalttaten. Auch er selbst fühlt sich bedroht.

Foto: Daniel LeClair / Reuters

Die Autorin ist Mitglied der Guatemala-Ländergruppe der deutschen Sektion von Amnesty International.

Archiv der ehemaligen Nationalpolizei in Guatemala-Stadt.

berichte

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Guatemala

Dass die Polizei in Guatemala auch heute noch für Gewalttaten verantwortlich ist, zeigt der jüngste Bericht von Amnesty International zu dem Land. Er schildert die Beteiligung von Polizisten an Morden, die oft als »soziale Säuberungen« bezeichnet werden. Mehr Informationen auf www.casa-amnesty.de

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Dritte Welt Down Under »Wenigstens hungern die Kinder nicht mehr.« Aborigine-Kinder im australischen Northern Territory.

Die meisten Aborigines führen ein Leben am Rand der australischen Gesellschaft. Mit einer diskriminierenden Sozialpolitik versucht die Regierung, ihre Situation zu verbessern – und macht vieles nur noch schlimmer. Von Urs Wälterlin (Text) und Rusty Stewart (Fotos) Der Schock und die Wut standen Irene Khan ins Gesicht geschrieben. In einem so hoch entwickelten Land wie Australien, meinte die damalige Generalsekretärin von Amnesty International im November 2009, sei »solche Armut nicht entschuldbar, unerwartet und unakzeptabel«. In der zentralaustralischen Wüste hatte sie gesehen, was sie sonst nur aus Entwicklungsländern kannte: Unterernährte, ausgemergelte Kinder, Krankheiten, Leid, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit. »Auf einem derart privilegierten Kontinent ist das nicht einfach nur entmutigend, es ist moralisch abscheulich.« Dritte Welt Down Under. 222 Jahre nachdem britische Soldaten die ersten Strafgefangenen auf den fünften Kontinent gebracht haben, sind viele Aborigines, wie die Nachfahren der australischen Ureinwohner genannt werden, nach wie vor marginalisiert. Wie prekär die Situation in vielen Gebieten des Landes ist, machte Premierminister Kevin Rudd Anfang Februar klar, als er zum zweiten Mal eine

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Zwischenbilanz des Projekts »Closing the Gap« (»Den Graben schließen«) zog. Das über zehn Jahre laufende Programm hatte 2008 begonnen. Anlass war Rudds Entschuldigung bei den sogenannten »gestohlenen Generationen«. Dieses historische »Sorry« richtete sich an Zehntausende sogenannte Mischlingskinder, die noch bis in die siebziger Jahre ihren Eltern weggenommen worden waren, um sie in die weiße Gesellschaft zu integrieren und zu »zivilisieren«. Entscheidend sei nun praktische Hilfe zur Selbsthilfe, so Rudd. Der Graben zwischen der indigenen Minderheit und der weißen Mehrheit müsse geschlossen werden. Insgesamt leben 517.000 Aborigines und Torres-StraitInsulaner in Australien – das sind 2,5 Prozent der Bevölkerung. Bei seiner Zwischenbilanz hatte der Ministerpräsident jedoch kaum Gutes zu berichten. Zwar besuchen heute deutlich mehr jüngere Kinder die Schule als noch vor zwei Jahren. Bei älteren Schülern hat sich die Situation jedoch verschlechtert. Der Befund ist erschreckend, denn mangelnde Bildung gilt als ein wesentlicher Grund für die Arbeitslosenrate von bis zu 80 Prozent unter den Aborigines. Die Lebenserwartung hat sich zwar nominell leicht erhöht. Aber nur, weil es bessere Berechnungsmöglichkeiten gibt. Noch immer sterben Aborigines im Durchschnitt 11,5 Jahre früher als

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»Diese Maßnahmen sind ein Rückschritt.« Banjo Morton Petyarr.

Unter Generalverdacht. Aborigine im Northern Territory.

die übrige australische Bevölkerung. Fehlernährung, häusliche Gewalt, Infektionskrankheiten und Drogenmissbrauch sind unter ihnen weitverbreitet. Die Mordrate ist unter Ureinwohnern sieben Mal höher als im Landesdurchschnitt. Seit 1788 bestimmt die Politik der Weißen über das Schicksal der Aborigines. Angefangen von dem Versuch, bei der Kolonialisierung des Kontinents die Aborigines systematisch auszurotten, über die Politik der »gestohlenen Generationen« bis hin zu gut gemeinten Versuchen der »Hilfe zur Selbsthilfe«, indem indigene Körperschaften geschaffen wurden, durch Landrückgaben oder Subventionen in Milliardenhöhe. Die sogenannte Intervention ist ein weiterer Versuch, begonnen 2007 von der konservativen Regierung unter Premierminister John Howard und weitergeführt von Kevin Rudd. Auslöser des Programms war ein Bericht über den sexuellen Missbrauch von AborigineKindern in 46 Gemeinden im Northern Territory. Das Papier war eine Chronik des Grauens: Von Gruppenvergewaltigungen von Kindern war die Rede, vom Missbrauch zweijähriger Mädchen, von brutalster sexueller Gewalt gegen Aborigine-Jungen. Die katastrophalen Lebensbedingungen, die in vielen Gemeinden herrschten, seien eine wesentliche Ursache für die sexuelle Gewalt, so die Studie.

Hunderte von Soldaten, Krankenschwestern und Polizisten marschierten in den betroffenen Gemeinden ein. Juristisch war dieser Eingriff in die Autorität des Northern Territory nur möglich, weil es sich bei dem Gebiet nicht um einen Bundesstaat handelt. Indem die Regierung das Anti-Rassismus-Gesetz außer Kraft setzte, konnte sie in Gemeinden, in denen fast ausschließlich Aborigines leben, den Konsum von Alkohol und Pornografie verbieten. Die wohl einschneidenste Maßnahme war aber die sogenannte Einkommensquarantäne: Seit Beginn der Intervention behält die Regierung 50 Prozent aller Fürsorgegelder zurück. Nur die Hälfte der Rente wird ausbezahlt. Für den Rest erhält jede Familie eine sogenannte Basic Card, mit der sie nur Lebensmittel, Kleider und Haushaltsgeräte kaufen kann. »Paternalistisch«, »diskriminierend«, »rassistisch«, lautete die Kritik von Menschenrechtsorganisationen und linken Politikern. Denn mit der Maßnahme werden die Aborigines unter Generalverdacht gestellt. Auch diejenigen, die nichts verbrochen haben, werden bevormundet. Einzig und allein deswegen, weil sie Aborigines sind. Selbst mehrere Menschenrechtsgremien der UNO protestierten. Trotzdem hielt auch die neue Regierung an der Maßnahme fest.

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Unentschuldbare Armut. Frau in ihrer Hütte im Northern Territory.

Die Veränderungen in Orten wie Nguiu auf den Tiwi-Inseln, eine halbe Flugstunde nördlich von Darwin, der Hauptstadt des Northern Territory, scheinen ihr Recht zu geben. Was noch vor kurzem in Teilen eher dem Slum in einem Drittweltland glich, ist heute eine gut funktionierende Gemeinde. Besonders auffällig: Die Kinder sind im Gegensatz zu früher gut gekleidet, wirken fröhlich und zufrieden. »Sie gehen heute fast jeden Tag zur Schule. Die Eltern sind gut zu ihren Kindern und sie werden gut ernährt«, erklärt die 36-jährige Künstlerin Donna Burak im örtlichen Malstudio. Burak ist typisch für viele Aborigine-Frauen im Northern Territory, die der Einkommensquarantäne viel Positives abgewinnen können. Denn der zweiwöchentliche Scheck vom Sozialamt war oft der Grund für eine verhängnisvolle Kette von Problemen. »Frauen wurden von ihren Männern zum Geldautomaten geprügelt«, so ein Polizist. Positive Entwicklungen bestätigen auch Sozialarbeiter und andere, die seit vielen Jahren in Aborigine-Gemeinden leben und arbeiten. »Die Frauen können ihre Kinder wieder ernähren«, sagt Mark Hoy, Betreiber eines Lebensmittelladens in Wadeye, rund fünf Stunden Autofahrt südlich von Darwin. Früher sei oft das gesamte Fürsorgegeld von den Männern für Alkohol ausgegeben worden. Der Alkoho-

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lismus führte zu Verwahrlosung, Kindesmissbrauch und Mangelernährung. Man könne viel sagen gegen das Programm, so Hoy, aber »wenigstens hungern die Kinder nicht mehr«. Doch bei einer solch weitflächigen und wahllosen Maßnahme wie der Intervention gibt es auch Opfer. Es sind in erster Linie die Männer. Viele kritisieren die Einkommensquarantäne als »ungerecht« und »demütigend«. Sie fühlen sich ihrer Würde beraubt und ihrer Verantwortung für das Wohl ihrer Familie. Wie Banjo Morton Petyarr. Seitdem er zwölf oder 13 Jahre alt war, hat er hart gearbeitet und seine Familie unterstützt, als Viehtreiber, Rinderzüchter oder Farmarbeiter. Die Hälfte seiner Rente bekommt er nun in Form der Basic Card ausgezahlt. »Wir wollen, dass es mit allen vorangeht, doch diese Maßnahmen sind ein Rückschritt.« Wie viele andere in seiner Gemeinde hält er die Einkommensquarantäne für einen Fehler, »weil sie gute und schlechte Menschen gleichermaßen bestraft«. Wie bei den weißen Männern sind auch die meisten Aborigines weder Trinker noch missbrauchen sie ihre Kinder. Trotzdem ist die Rudd-Regierung überzeugt, dass der Zweck die Mittel heiligt. Sie erwägt derzeit, die Einkommensquarantäne auf alle Sozialhilfeempfänger im Northern Territory anzuwenden. Danach will sie das Anti-Rassismus-Gesetz wieder in Kraft setzen. Amnesty International fordert die Regierung auf, die diskriminierende Politik zu beenden und nach einer Lösung zu suchen, die die Menschenrechte achtet. Einen langfristigen Schutz von Kindern und Frauen könne es nur geben, wenn die Menschen ermutigt und befähigt würden, selber Verantwortung zu übernehmen. Wie eine solche Lösung aussehen könnte, zeigt die Home Valley Station im westaustralischen Kimberley-Gebirge. Schon um fünf Uhr früh herrscht geschäftiges Treiben. Pferde werden gesattelt, der Viehtrieb beginnt. Alle Jackaroos – die australische Form des Cowboys – sind junge Aborigine-Männer. Home Valley ist eine Ausbildungsstätte, betrieben vom Indigenous Land Council (ILC). Auf der 250.000 Hektar großen Farm – hier wurden Teile des Films »Australia« gedreht – lernen die jungen Männer den Umgang mit Rindern. »Aborigines sind natürliche Experten«, sagt Nick Bradley, der das Trainingsprogramm auf die Beine gestellt und Home Valley lange geleitet hat. »Ihr Verständnis für Tiere ist einzigartig.« Wer die Ausbildung abschließt, erhält einen Fachausweis, der ihm einen Platz in der Arbeitswelt nahezu garantiert. Home Valley ist eine von 15 Farmen, die ILC betreibt. Es sind Projekte wie dieses, die den Wandel bringen werden, nicht Fürsorgegelder. Das glauben immer mehr Ureinwohner und Politiker. Obwohl Regierungen jeder politischen Couleur Milliarden öffentlicher Gelder in Gesundheits-, Ausbildungsund Wohnprogramme investierten, haben sich die Lebensumstände vieler Ureinwohner nicht grundlegend verbessert. Nur die Integration in die Arbeitswelt – unter Beibehaltung der einzigartigen Kulturen – könne langfristig ein Weg aus der Krise sein, sagt der Aborigine-Aktivist Noel Pearson. Mit der Selbstachtung komme auch die Achtung der anderen Australier. Doch solange Aborigines von den einflussreichen Boulevardmedien – oft mit rassistischem Unterton – nur als arbeitslose Sozialhilfeempfänger dargestellt werden – weil Tausende das noch immer sind – und nicht als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft, wird sich der Graben zwischen Schwarz und Weiß nicht schließen. Der Autor ist Australien- und Südpazifikkorrespondent für »Handelsblatt«, Schweizer Radio DRS und weitere Medien in Deutschland, der Schweiz und Österreich. Er lebt in der Nähe von Canberra.

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die menschenrechte. ich schĂźtZe sie – sie schĂźtZen mich Der Amnesty International Report 2009 liefert Daten und Fakten zum aktuellen Stand der Menschenrechtssituation in 157 Ländern der Welt. Er ist ein Appell an die WeltĂśffent lichkeit, nicht die Augen zu verschlieĂ&#x;en, sondern Menschenrechtsverletzungen aktiv entgegenzutreten.

edition menschenrechte Verschwunden: In geheimer Haft – Urs M. Fiechtner Das Verschwindenlassen von Menschen ist eine der schlimmsten Formen staatlichen Terrors. Broschur, 160 Seiten Art.-Nr. 09308 | 12,90 Euro

Broschur mit Länderkarten, 544 Seiten | S. Fischer Verlag 2009 | Art.-Nr. 01009 | 14,95 Euro

Asyl: Bedrohtes Recht – Christine Grunert Frauen, Gewalt und Armut. Vom Nachteil, eine Frau zu sein.

Die Situation von FlĂźchtlingen in Deutschland, in Europa und weltweit

Nach Schätzungen der UNO sind mehr als 70% der Menschen in Armut weiblich. Wie kommt es dazu? Die Broschßre gibt Antworten und Beispiele aus mehreren Ländern.

Broschur, 128 Seiten Art.-Nr. 09408 | 12,90 Euro

Broschßre, DIN A4, 20 Seiten, 1 Stßck Art.-Nr. 21510 | 3,00 Euro Folter: Angriff auf die Menschenwßrde – Urs M. Fiechtner Wohnen. In Wßrde.

Broschur, 144 Seiten Art.-Nr. 09008 | 12,90 Euro

Broschßre zu Slums und Zwangsräumungen DIN A4, 12 Seiten Art.-Nr. 21010 | Euro 3,00

Todesstrafe: Auge um Auge – Kazem Hashemi Broschur, 128 Seiten Art.-Nr. 09108 | 12,90 Euro Kinder: Ausgegrenzt und ausgebeutet – Reiner Engelmann

Filzhaus – SchlĂźsselanhänger: Wohnen. In WĂźrde.

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Amnesty macht Schule Unterrichtsvorschläge zu den Artikeln der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte fĂźr die Klassen 5–13 und fĂźr verschiedene Unterrichtsfächer.

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Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

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»Ich reagiere panisch, wenn ich schwarz gekleidete Menschen sehe« Ein Gespräch mit dem Journalisten Jahangir Alam Akash. Der Bangladeschi recherchiert seit zwanzig Jahren Menschenrechtsverletzungen in seiner Heimat. Im Mai 2007 filmte er für einen unabhängigen Fernsehsender den Überfall einer militärischen Elite-Einheit auf eine Familie. Als der inzwischen geschlossene Sender den Beitrag ausstrahlte, wurde Akash festgenommen und gefoltert. Im April veröffentlichen Sie ein Buch über Menschenrechtsverletzungen und Korruption in Bangladesch. Es ist Ihr fünftes innerhalb von 18 Monaten. Was ist Ihre Motivation? Schon als 15-Jähriger begann ich zu schreiben, um die Menschenrechtssituation in meinem Land zu verbessern. Damals hatte ich die Veruntreuung von Hilfsgütern beobachtet und beschloss, etwas dagegen zu unternehmen. Journalismus ist eine wichtige Quelle für Veränderungen und Demokratie. Ich bin stolz, mit meiner Arbeit etwas für die Menschen in meinem Land zu tun. Nachdem ich wegen meiner Tätigkeit als Journalist im Gefängnis gesessen hatte, verlor ich meine Auftraggeber. Deswegen schreibe ich jetzt Bücher über die Situation in meinem Land. In meinem neuen Buch »Der Kampf für Frieden« analysiere ich die Geschichte meines Landes seit der Unabhängigkeit bis heute. Es sollte ursprünglich schon im Dezember letzten Jahres, am internationalen Tag der Menscherechte, auf Englisch in Bangladesch erscheinen. Nach Problemen mit dem Verleger musste das Erscheinungsdatum verschoben werden. Inzwischen habe ich einen neuen Verlag gefunden und bin zuversichtlich, dass mein Buch nun wie geplant erscheinen wird. Ihre Tätigkeit als Autor hat Sie fast das Leben gekostet. 2007 wurden sie von Mitgliedern einer Sondereinheit, dem »Rapid Action Battalion« (RAB), verhaftet und gefoltert. In Bangladesch galten Notstandsgesetze und es war Sicherheitskräften erlaubt, »verdächtige« Personen ohne Angaben von

»Als sie mir eine schwarze Kapuze aufsetzten, glaubte ich, meine Frau und meinen Sohn nie wiederzusehen.« 54

Gründen zu verhaften. Eines Nachts kamen zwölf Männer in mein Haus, vollkommen schwarz gekleidet und bis an die Zähne bewaffnet. Sie legten mich in Handschellen, verbanden mir die Augen und schlugen vor den Augen meiner Familie auf mich ein. Als sie mir eine schwarze Kapuze aufsetzten, glaubte ich, meine Frau und meinen Sohn nie wiederzusehen. Ich wurde in die Zentrale des RAB gebracht. Sie hängten mich mit den Füßen an der Decke auf. 15 Stunden folterten mich zwei Mitglieder des RAB mit Elektroschocks und schlugen auf mich ein – einer der beiden ging übrigens wenige Monate später als Mitglied einer UNO-Friedensmission an die Elfenbeinküste! Ich verlor mehrere Male das Bewusstsein. Schließlich brachte man mich ins örtliche Gefängnis. Ich musste von zwei Häftlingen getragen werden, laufen konnte ich nicht mehr. Nach 28 Tagen ließ man mich auf Kaution frei. Danach tauchte ich unter und wechselte ständig meinen Wohnort. Leiden Sie noch an den Folgen der Folter? Ich spüre die Nachwirkungen noch immer – körperlich, seelisch und finanziell. Ich reagiere panisch, wenn ich schwarz gekleidete Menschen auf der Straße sehe. Manchmal habe ich tagsüber ganz plötzlich das Gefühl, kopfüber an der Decke zu hängen. Ich habe Schmerzen in der Hüfte, wenn ich zehn Minuten gegangen bin. Finanziell bin ich ruiniert. Seit zwei Jahren bekomme ich keine Aufträge mehr. Besonders schlimm sind die sozialen Folgen. Früher genoss ich in Bangladesch ein gutes Ansehen. Nach meiner Inhaftierung ließ man mich fallen. Freunde, sogar einige Mitglieder meiner Familie sind der Meinung, dass das alles nicht ohne Grund passiert sein kann. Nicht einmal Vertreter der lokalen Organisationen, für die ich aktiv war, haben zu mir gehalten. Das hat mich persönlich sehr enttäuscht. Ich habe lernen müssen, dass in meiner Heimat sogar im Journalismus und in Menschenrechtsorganisationen Korruption herrscht – auch darüber möchte ich irgendwann ein Buch schreiben. Wenn mir nicht internationale Organisationen, allen voran Amnesty International und die Asiatische Menschenrechtskommission, geholfen hätten, wäre ich jetzt tot. Sie sagen, dass Mitglieder des RAB hunderte Menschen ermordet haben. Sie werden nicht zur Verantwortung gezogen? Das Gesetz verbietet außergerichtliche Tötungen eindeutig. Der Oberste Gerichtshof verhandelt in diesem Zusammenhang sogar Fälle, aber die Mitglieder des RAB kümmern sich nicht um Gesetze. Gegründet wurde die Einheit offiziell zur Terrorismusbekämpfung. Aber schon die vorige Regierung nutze das RAB vor allem zur Durchsetzung der eigenen Interessen. Seit Gründung töteten die Mitglieder der Spezialeinheit sicher 1.600 Menschen. Offiziell heißt es dann, sie seien bei einem Schusswechsel gestorben. Die Medien veröffentlichen nur die Erklärungen des RAB.

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Foto: Abir Abdullah / EPA / picture alliance

»Sie kümmern sich nicht um Gesetze.« Mitglieder der Spezialeinheit RAB beziehen Stellung bei einem Schusswechsel in Dhaka, 25. Februar 2009.

Im vergangenen Jahr machte Bangladesch in deutschen Medien Schlagzeilen. Von einer Meuterei der Grenzschützer war die Rede, Massengräber wurden gefunden. Was genau passierte oder wer die Täter waren, ist immer noch unklar. Ich hatte gehofft, dass die Ereignisse untersucht würden – aber das ist bis heute nicht geschehen. In den Wochen danach wurden 5.000 Menschen unter dem Verdacht der Beteiligung verhaftet. 48 von ihnen starben unter ungeklärten Umständen in Haft. Auch über diese Todesfälle wissen wir nichts Genaues. Offiziell wurde zum Beispiel behauptet, Inhaftierte hätten Herzprobleme gehabt, aber ich glaube nicht an diese Erklärungen. In Bangladesch gibt es keine Menschenrechte. Wir haben keine richtige Demokratie, die Justiz ist korrupt und die Parteien haben keine demokratische Praxis. Es wurden 5.000 Menschen verhaftet – die sollen alle etwas mit der Meuterei zu tun gehabt haben? Daran glaube ich nicht.

Während eines Besuches von europäischen Menschenrechtsbeauftragten Ende 2009 kündigte Hasina harte Strafen für Menschenrechtsverletzungen an. Hat sie Wort gehalten? Sie sagt immer gerade das, was die jeweiligen Regierungsvertreter hören wollen. Diese Aussage machte sich gut vor Europäern. Vor der amerikanischen Presse sagte sie kurz zuvor, sie würde Terrorverdächtige gnadenlos verfolgen – was in der Praxis mit Menschenrechtsverletzungen einhergeht. Es kommt auf dasselbe heraus, die Regierung macht was sie will. Erst am 28. Januar wurden fünf Menschen hingerichtet, denen man vorwarf, den Staatsgründer und Vater von Hasina vor 35 Jahren ermordet zu haben. Bangladesch hat die Todesstrafe noch nicht abgeschafft und die Regierung unternimmt auch keine Schritte in diese Richtung. Ich hoffe trotzdem, dass der Besuch der Delegation etwas verändern wird. Es gibt Möglichkeiten, Druck auszuüben. Fragen: Tatjana Schütz

interview

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jahanGir alam akash

interview jahanGir alam akash Foto: privat

Seit gut einem Jahr hat Bangladesch eine neue Premierministerin. Hat sie wie versprochen die Menschenrechtslage verbessern können? Das kommt auf den Standpunkt an. Sheikh Hasina Wajed, die ja bereits zum zweiten Mal Premierministerin von Bangladesch ist, wurde im letzten Jahr vom UNO-Generalsekretär für ihre erfolgreiche Menschenrechtspolitik gelobt. Doch bei ihrem Amtsantritt versprach sie zum Beispiel, etwas gegen die außergerichtlichen Tötungen zu unternehmen. Ich sehe in diesem Punkt keine Verbesserung. Täglich werden Personen exekutiert und Menschenrechtsverteidiger oder Journalisten gefoltert, ohne dass die Regierung etwas dagegen unternimmt.

Der Journalist kam im Sommer 2009 als Stipendiat der Stiftung für Politisch Verfolgte mit seiner Familie nach Hamburg. Die BangladeschLändergruppe der deutschen Sektion von Amnesty International hatte sich für das Stipendium eingesetzt.

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Heimatland ist abgebrannt Hunderte Menschen verloren in Papua-Neuguinea durch rechtswidrige Zwangsräumungen ihr Zuhause. Das weltweit größte Goldbergbau-Unternehmen spielte dabei eine wichtige Rolle. Von Daniel Kreuz

Foto: Amnesty

Mehrere hundert Meter ragen die zerklüfteten Berge im Hochland Papua-Neuguineas über das Tal in Wuangima. An den dicht bewachsenen Hängen leben seit Jahrzehnten drei Großfamilien. Unten im Tal betreibt das Unternehmen Porgera Joint Venture (PJV) eine der größten Goldminen des Landes. Am 27. April 2009 bereiten sich am Fuße des Berges Spezialeinheiten der Polizei auf ihren Einsatz vor. Die Menschen oben im Dorf ahnen nicht, dass sie das Ziel des Einsatzes sind. Wenig später verhüllt dichter Rauch den Berg. Die Siedlung existiert nicht mehr. Die schwer bewaffneten Polizisten haben das Dorf umstellt, die Bewohner mit Sturmgewehren im Anschlag von

Mindestens 130 Häuser wurden zerstört. Eine Frau aus Wuangima vor den Resten ihres niedergebrannten Hauses.

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ihrem Land vertrieben, ihre Häuser niedergebrannt, ihre Gärten zerstört und ihre Tiere getötet. Schüsse fielen, mehrere Bewohner wurden geschlagen, drei Frauen sollen vergewaltigt worden sein. Als Polizisten John Irapu aufforderten, sein Haus zu verlassen, weigerte er sich: »Dies ist mein Haus, mein Garten, meine Frau lebt hier, meine Kinder. Warum sollte ich von hier fortgehen? Dies ist meine Heimat.« Die Polizisten sperrten ihn daraufhin in seinem Haus ein, übergossen es mit Benzin und zündeten es an. Nur mit Hilfe seiner Nachbarn konnte Irapu entkommen. Der Aktion folgten in der Region noch weitere Zwangsräumungen, die gegen internationales Recht verstießen. Bis Juli 2009 wurden mindestens 130 Häuser zerstört, Hunderte Bewohner verloren ihr Zuhause, darunter kleine Kinder, schwangere Frauen und ältere Menschen, aber auch Angestellte von PJV. Niemand war vorher informiert worden, die Betroffenen hatten keine Möglichkeit, gerichtlich gegen die Aktionen vorzugehen, und sie erhielten auch keine Ersatzunterkünfte. Dies dokumentiert ein im Januar 2010 veröffentlichter Amnesty-Bericht. In einem Gespräch mit Amnesty behauptete der stellvertretende Polizeichef Papua-Neuguineas, die Polizei habe die Bewohner mündlich gewarnt, doch wenn »sie sich nicht von selbst bewegen, bringen wir sie eben dazu«. Die Polizeieinheiten waren im April 2009 in der Region stationiert worden. PJV stellte ihnen Unterkünfte, Essen und Treibstoff unter der Bedingung, dass die Polizisten sich an nationale und internationale Gesetze halten. Sie sollten illegale Bergbauaktivitäten unterbinden und die Gewalt in der unsicheren Region eindämmen. Stattdessen wurden die Bewohner Opfer von Menschenrechtsverletzungen, begangen von denjenigen, die sie eigentlich hätten schützen sollen. Angeblich hätten die Bewohner in Behelfshütten gelebt und illegal Gold abgebaut. Doch wie der Bericht belegt, handelte es sich bei den zertörten Gebäuden um solide Holzkonstruktionen, in denen sich die Familien langfristig eingerichtet hatten, um ihre Gärten zu bewirtschaften. PJV wird zu 95 Prozent betrieben von Tochtergesellschaften des weltweit größten Goldbergbau-Unternehmens, Barrick Gold Corporation aus Kanada. Lange Zeit dementierten sowohl PJV als auch Barrick, dass es zu Zwangsräumungen gekommen war. Erst aufgrund der ausführlichen Amnesty-Recherchen vor Ort gaben sie in Gesprächen mit der Organisation zu, dass tatsächlich Menschen aus ihren Häusern vertrieben worden waren. Amnesty beschuldigt PJV und Barrick nicht, für die Zwangsräumungen und die Polizeibrutalität verantwortlich zu sein. Laut internationalen Richtlinien, zu denen sich die Unternehmen bekannt haben, hätten sie aber die Behörden über die Vorgänge unterrichten und eine Untersuchung fordern müssen, als sie davon erfuhren. Außerdem hätten sie die Polizei nicht weiter unterstützen dürfen. Doch das Gegenteil war der Fall. Amnesty fordert von der Regierung Papua-Neuguineas, die Vorfälle gründlich zu untersuchen, die Verantwortlichen zu bestrafen und die Opfer zu entschädigen. Denn diese erwarten endlich Antworten, so wie ein alter Mann aus Wuangima: »Ich habe kein Gold gestohlen und ich habe auch nichts falsch gemacht. Warum haben sie dann mein Haus abgebrannt?« Der Autor ist Volontär beim Amnesty Journal.

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MEIN ZUHAUSE. ZWANGSRÄUMUNGEN GEHÖREN WELTWEIT FÜR TAUSENDE ZUM ALLTAG.

Zwangsräumung in Phnom Penh, Januar 2009 © www.nicolasaxelrod.com

Wir setzen uns für die Rechte dieser Menschen ein. Mitmachen. www.amnesty.de/wohnen


Der Zeuge aus dem Foltergefängnis Für die Ermittlungen gegen die »Sauerland-Gruppe« verhörte die Bundesanwaltschaft einen Zeugen in einem usbekischen Gefängnis. Dort wird regelmäßig gefoltert. Von Marcus Bensmann

Foto: Amnesty

Ein Video zeigt das Verhör. Es wurde am 30. September 2008 in Taschkent aufgenommen. Beamte des Bundeskriminalamts und der Bundesanwaltschaft reisten in ein usbekisches Gefängnis und vernahmen dort den Zeugen Scherali Asisow. Er belastete Mitglieder der »Sauerland-Gruppe«, die Anschläge in Deutschland geplant hatten. Usbekistan ist ein Unrechtsstaat. Folter wird in dem zentralasiatischen Staat systematisch angewandt. »Die Befragung von Zeugen in solchen Staaten durch deutsche Ermittler ist ein Verstoß gegen das Folterverbot«, sagt Julia Duchrow von Amnesty International. »Auch wenn der Gefangene nicht vor den Augen der deutschen Beamten misshandelt wird, steht er bei dem Verhör unter der Drohung, gefoltert zu werden. Das dürfen die Ermittler nicht ausnutzen.« Die schwarze Anstaltskleidung wirft Falten um den mageren Körper des Häftlings. Der Schädel ist kahl geschoren, die Wangen wirken eingefallen. Beim Zuhören presst der Mann die Lippen aufeinander. Die Gesichtszüge bleiben starr, nur die braunen Augen wandern vom fragenden Deutschen zum Übersetzer. Asisow ist in Usbekistan als Terrorist verurteilt. Er soll 2006 einen Anschlag auf den Militärstützpunkt im usbekischen Termes geplant haben, den die Bundeswehr für den Krieg in Afghanistan nutzt. Aber nicht deswegen reisten die deutschen Ermittler nach Taschkent. Die Bundeswehr weiß auf Nachfrage auch drei Jahre später nichts von einem Attentatsversuch.

Verstoß gegen das Folterverbot. Asisow im Verhör durch BKA-Beamte.

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Asisow sagt aus, zwei Mitglieder der Sauerland-Gruppe in einem Ausbildungslager für Terroristen im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet erkannt zu haben. Er spricht über die Islamische Dschihad Union. Die zwei Deutschen, ein Mann und eine Frau in Anzügen, stellen ihre Fragen höflich. Die BKA-Beamtin schreibt eifrig mit. Der Bundesanwalt liest die Fragen ab und lässt den Kugelschreiber zwischen seinen Fingern kreisen. Es habe »keine Hinweise auf eine Beeinflussung des Zeugen durch psychische oder physische Zwangsmittel gegeben«, erklärt die Bundesanwaltschaft später. In der Tat, auf dem Video wird Scherali Asisow nicht vor den Augen der deutschen Gäste malträtiert. Im Protokoll der deutschen Ermittler heißt es aber, der Zeuge sei zusammen mit einem zweiten Usbeken verhaftet worden und dieser sei in der Haft an einem Unfall verstorben. Die deutschen Juristen sollten wissen, dass Unfalltod im usbekischen Gefängnis häufig eine Chiffre für Tod durch Folter ist. Vor dem Gericht in Düsseldorf hätten die Verteidiger gegen die Verwertbarkeit der Aussagen aus dem usbekischen Foltergefängnis protestiert. Doch dazu kam es nicht. Alle vier Angeklagten haben gestanden. Anfang März hat das Gericht sie zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, ohne dass Asisows Aussagen in den Prozess eingeführt wurden. Asisow ist Usbeke, er stammt aber aus dem Dorf Beskapa in dem usbekischen Nachbarstaat Tadschikistan. Seit Jahrhunderten siedelt dort eine usbekische Minderheit. Beskapa liegt in der tadschikischen Provinz Jawan, sechzig Kilometer südöstlich der Hauptstadt Duschanbe. Die Ausläufer des Vorpamirgebirges umschließen das fruchtbare Tal. Weiß getupfte Baumwollfelder überziehen die Ebene, am Eingang des Tals steht eine Chemiefabrik aus der Sowjetzeit. Die Anlagen sind verrostet, einige Aufbauten umgestürzt, zwei Schlote rauchen noch. Ein Melonenverkäufer an der Straße weist den Weg zum Haus der Familie. Entlang einer staubigen Straße grenzen Mauern aus Lehmziegeln die Gehöfte ab. Ein aus den Angeln gehobenes Metalltor steht vor dem Haus der Asisows. Die Mauer umschließt zwei Gebäude und einen Garten mit Maulbeer- und Walnussbäumen. Von Asisows Schicksal wusste seine Familie nichts. Erst die journalistische Recherche bringt die Nachricht von seiner Verhaftung und Verurteilung in Usbekistan nach Beskapa. Er war 2004 in den Iran gereist, um in der Stadt Sahedan den Koran zu studieren. Zwei Jahre später führte sein Vater Chaitali Asisow das letzte Telefongespräch mit ihm. Die Verbindung sei schlecht gewesen. Und dann abgebrochen. Seither war Asisow verschollen. Der 71-jährige Chaitali Asisow ist hager und trägt einen weißen Bart, und der blaue Kaftan verschluckt ihn förmlich. Scherali ist der jüngste seiner vier Söhne. Er wurde am 24. November 1975 geboren. Er war ein guter Schüler und lernte sogar Deutsch. Zweimal belegte Scherali in einer Wissensolympiade in Deutsch den dritten Platz. Das ist ungewöhnlich. Obwohl Asisow später

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Foto: Marcus Bensmann

»Scherali hat mir gesagt, dass er unschuldig ist.« Die Familie von Scherali Asisow in seinem Heimatdorf Beskapa in Tadschikistan.

vor deutschen Beamten aussagte, die Deutschen in Terrorlagern in Pakistan gesehen zu haben, hat er trotz seiner Sprachkenntnisse offenbar nicht versucht, mit ihnen Deutsch zu reden. Nach der Schule ging Asisow zum Militär. Er diente an der tadschikisch-afghanischen Grenze in den Ausläufern des Pamirgebirges. 1994 wütete in Tadschikistan noch der Bürgerkrieg. Das Wehrbuch dokumentiert seinen Aufstieg zum Unteroffizier. Er bekam einen Orden. Asisow begann sich für Religion zu interessieren und wollte Mullah werden. Drei Jahre lernte der Usbeke in Tadschikistan den Koran. Er heiratete und sollte als jüngster Sohn mit seiner Familie bei Vater und Mutter wohnen. Nach der Hochzeit pendelte er für drei Jahre zum Geldverdienen nach Russland. Im Juni 2003 brachte seine Frau Tochter Madina zur Welt. Bei einem Fest in Beskapa erklärte der Imam unwirsch, dass Asisow trotz seiner Studien kaum Arabisch könne. Daraufhin, so erzählt es sein Vater, beschloss er, im Ausland zu studieren. Im Februar 2004 flog er in den Iran. Ein Bekannter aus Tadschikistan begleitete ihn bis nach Sahedan, wo Asisow in eine Religionsschule eintreten wollte. In Sahedan verliert sich die Spur. Erst im Juli 2009 bekam die Familie Asisow einen Brief ihres Sohnes. Asisow hatte ihn bereits am 26. Februar 2009 im Gefängnis von Buchara geschrieben. Dort sitzt er in einem Hochsicherheitsgefängnis für Schwerverbrecher, 450 Kilometer südwestlich der Hauptstadt Taschkent. Im September 2009 besucht der Vater seinen Sohn. Scherali habe dürr ausgesehen, aber er sei gesund, sagt der Vater. »Scherali hat mir gesagt, dass er unschuldig ist.« Für Duchrow ist die tatsächliche Schuldfrage Asisows bei der Beachtung des Folterverbots unerheblich. Die Amnesty-Referen-

berichte

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usbekistan

tin wünscht sich bei deutschen Beamten mehr Rückgrat. »Sie hätten sich weigern sollen, nach Taschkent zu fliegen«, sagt Duchrow, denn Beamte seien dem Artikel eins des Grundgesetzes, der die Unverletzlichkeit der Menschenwürde garantiert, vor jeder Dienstanweisung verpflichtet. Der Autor ist freier Zentralasien-Korrespondent. Im Frühjahr 2009 spürte er Asisows Familie in Tadschikistan auf.

Der Schädel ist kahl geschoren. Die Gesichtszüge bleiben starr, nur die braunen Augen wandern vom fragenden Deutschen zum Übersetzer. 59


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Kultur

Blühende Vorurteile: Die Früchte nicht gestellter Fragen Auf dem Vormarsch. Ein Aktivist der rechtsextremen ungarischen Jugendbewegung »64 Komitate«, die ein Groß-Ungarn fordert. Foto: Balint Porneczi / AFP / Getty Images

62 Interview: György Dalos über Antisemitismus in Ungarn 66 Berlinale: Die Gewinner des Amnesty-Filmpreises 68 Menschenrechtsbildung: Neue Schulbücher sind nötig 70 Tuareg-Rock: »Tamikrest« zieht durch Europa 72 Bücher: Von »Afghanistan-Code« bis »Schutz statt Abwehr« 74 Film & Musik: Von »Liberté« bis »Sin Nombre« 61


Ein Leben auร erhalb Ungarns. Historiker und Schriftsteller Gyรถrgy Dalos.

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»In der Mitte des Hassvulkans« In Ungarn häufen sich neben gewalttätigen Übergriffen gegen Minderheiten auch verbale Attacken gegen linksliberale und jüdische Künstler. Ein Gespräch mit dem jüdisch-ungarischen Historiker und Schriftsteller György Dalos über antisemitische Hetze, Gewalt gegen Roma, Aufrufe zur Bücherverbrennung und das Schweigen der ungarischen Künstlerverbände.

Herr Dalos, das schöne Ungarland macht Schlagzeilen mit paramilitärischen Aufmärschen von Rechtsradikalen, mit Gewalt gegen Roma und Antisemitismus. Was empfinden Sie beim Blick auf Ihre frühere Heimat? Ich bin eigentlich ein ruhiger, kühl denkender Mensch. Aber wenn ich die ungarischen Rechtsradikalen heute reden höre, dann finde ich es einfach widerlich! Ein Land, das die demokratische Revolution von 1848 hervorgebracht hat, den antikommunistischen Volksaufstand von 1956, eine der besten Literaturen der Welt – und plötzlich solche Typen, das ist unfassbar.

Foto: Michael Danner

Sie leben seit langer Zeit überwiegend außerhalb Ungarns. Wenn Sie dorthin reisen, fühlen Sie sich auf den Straßen noch sicher? Ich fühle mich sicher, auch wenn ich von Pöbeleien gegen Juden und vor allem gegen Roma höre und lese. Ich glaube nicht, dass sie in Ungarn schon alltäglich sind, aber allein die Tatsache, dass es sie gibt, zeigt natürlich, dass dort etwas schief läuft. In milderer Form kenne ich das Gefühl der Ausgrenzung seit meiner Jugend. 1984 bekam ich zum ersten Mal ein Auslandsstipendium. Als ich einer alten Freundin davon erzählte, sagte sie: »Ihr habt es leicht, weil ihr zusammenhaltet.« Ich war verwirrt, ich dachte zuerst, sie meinte damit uns Leute aus der demokratischen Opposition, aber sie sagte: »Nein, ich meine euch Juden! Wir Ungarn halten leider nicht zusammen.« Diese Art der gedämpften Vorurteile gab es immer. Aggressiv wurde die Sache in den späten neunziger Jahren. Seitdem hat die Demokratie in Ungarn sehr an Qualität verloren. Manche Beobachter im Land sprechen davon, dass die Stimmung in der Gesellschaft gekippt sei. Der Hass gegen Juden, vor allem aber gegen Roma, nehme nicht nur rasant zu, sondern sei auch salonfähig geworden. In einer Millionenstadt wie Budapest geht vieles unter. Ganz massiv spürt man den Stimmungswandel im Internet. Der virtuelle Bereich ist ein Zuhause der Rechtsradikalen geworden. Dort spürt man ihre Vehemenz und ihre Lautstärke. Dort merkt

INTERVIEW

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GYÖRGY DALOS

man, dass sie, anders als noch vor zehn Jahren, inzwischen eine politische Kraft sind, die dazu gehört. Bei den Wahlen im April könnte die rechtsradikale Partei Jobbik laut Umfragen 15 Prozent bekommen und zweitstärkste Kraft im Parlament werden. 15 Prozent erhielten diese Neonazis schon im vorigen Jahr bei den Wahlen zum Europäischen Parlament. Doch lag die Wahlbeteiligung da nur bei 35 Prozent. Davon abgesehen, sehe ich das große Problem vor allem darin, dass das Gedankengut, aus dem eine Partei wie Jobbik schöpft, viel weiter verbreitet ist als so ein Wahlergebnis zeigt. In der Gesellschaft blühen die Vorurteile und die Ignoranz gegenüber historischen Tatsachen. Umfragen zufolge stehen 80 Prozent der Studenten unter dem Einfluss rechtsradikaler Ideen. Bei den Wahlen 2002 kam die Lebens- und Gerechtigkeitspartei des antisemitischen Schriftstellers István Csurka nicht mehr ins Parlament und verfehlte auch 2006 die Fünf-Prozent-Hürde. Wieso sind die neuen Rechtsradikalen aus der Jobbik-Partei so erfolgreich? Es gibt seit langem eine Hasskultur in Ungarn. Die Gesellschaft ist in zwei politische Richtungen gespalten: in links und rechts – nach den beiden großen Parlamentsparteien. Auf der einen Seite gibt es die wendekommunistischen Sozialisten, auf der anderen Seite den christlich-nationalen Bund Junger Demokraten, Fidesz. Es geht bei dieser Spaltung nicht um echte Inhalte, sondern um eine Abgrenzung vom jeweils anderen. Geschürt wurde die Hasskultur vor allem von den Jungdemokraten mit ihrer nationalen Rhetorik. Aus dieser Partei kommen auch viele der neuen Rechtsradikalen. Sie nehmen die »christlich-nationale« Rhetorik des Fidesz schon längst nicht mehr ernst, Fidesz ist ihnen zu kompromissbereit. Diese neue Generation der Rechtsradikalen springt sozusagen direkt in die Mitte des Hassvulkans. Das sind Leute der Internet-Generation, modern, wahnsinnig primitiv, aber nicht dumm. Sie haben keine Bildung und keinen Begriff vom Gegenstand ihrer Anfeindung, kein Programm, son-

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Foto: Bela Szandelszky / AP

dern nur ihren Hass. Ein Nazi-Mob, geführt von ein paar relativ intelligenten, aber zum Glück nicht eben genialen Leuten. Ungarn war einst das Musterland in Osteuropa und hat von 1988 bis 1990 den scheinbar erfolgreichsten Wandel der Region vollbracht. Woher auf einmal soviel Hass? In der Wendezeit war Ungarn sehr gemütlich, niemand stellte die wirklich peinlichen Fragen. Jetzt ernten wir die Früchte dieser nicht gestellten Fragen. Etwa: Was bedeutet Kapitalismus? Nirgendwo in Osteuropa wurde darüber gesprochen. Obwohl alle wussten, dass der Kapitalismus kommen würde. Nach einigen Jahren der Talfahrt gab es zwar eine günstige ökonomische Entwicklung in Ungarn, aber es entwickelte sich kein Sozialstaat. Die Armen sind arm geblieben, viele weitere sind von Armut bedroht. Eine andere Ursache der heutigen Probleme ist die Privatisierung. Die Neuverteilung des staatlichen Vermögens, das die Kommunisten ja vor 40 Jahren geraubt hatten, ist nun wieder ein Raub. Der Raub des Geraubten. Dieser Prozess löst bis heute leidenschaftliche politische Kämpfe aus. Die neuen Rechtsradikalen kennen auf solche Fragen natürlich nur eine Antwort: Schuld sind die Ausländer, die EU, die Minderheiten, vor allem die Roma und Juden. Ungarn soll wieder den Ungarn gehören. Vor einigen Monaten wurde die Ungarische Garde verboten, die paramilitärische Ordnungs- und Hilfstruppe der JobbikPartei. War das richtig? In diesem Verbot zeigt sich eines der größten Probleme der ungarischen Politik. Die Garde ist verboten, aber sie ist weiter aktiv. Das ist nicht der einzige Fall. Es gibt rechtsradikale Internetseiten, die verboten sind und weiter funktionieren. Das ist die Schande der ungarischen Demokratie. Sie ist nicht stark genug, solche Verbote durchzusetzen. Davon abgesehen ist es wirklich die Frage, ob ein Verbot der rechtsradikalen Gruppen und Medien allein das Problem löst. Verbote ohne reale Sanktionen – zum Beispiel hohe Geldstrafen – sind nichts anderes als kostenlose Werbung für Täter. Und die linken Medien spielen mit.

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Wären Sie für einen Boykott in der Berichterstattung? Ja. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Vor der Europawahl hat Krisztina Morvai … … früher Menschenrechtlerin und Feministin, heute hochaggressive Antisemitin und Jobbik-Abgeordnete im Europaparlament … … auf einer Internetseite geschrieben: »Die sogenannten jüdischen Patrioten sollten lieber an ihren beschnittenen Pimmeln herumspielen als mich zu kritisieren.« Das löste große Empörung aus. Am nächsten Tag fand eine öffentliche Wahlkampfdebatte statt. Und es geschah das traurige ungarische Wunder: Weder lud das öffentliche Fernsehen Krisztina Morvai aus, noch sagten die liberalen und sozialistischen EU-Kandidaten das Gespräch mit dieser Frau ab. Warum haben sie sich und uns das angetan? Wieviel der 15 Prozent, die Jobbik bei den Europawahlen erhielt, verdankt die Partei den Medien? Ich würde sagen, die Hälfte dieser 15 Prozent ist mediengemacht. Die Medien haben die Jobbik-Partei, ebenso wie deren Operetten-SA, die Ungarische Garde, ernst genommen. Die Jagd nach Quote und Auflage hat Tatsachen geschaffen. Nun stolzieren die Jobbik-Leute in Brüssel umher, und man muss zugeben, dass sie geschickt handeln. Wenn Krisztina Morvai, diese schlechte Parodie von Jeanne d’Arc, zwei Minuten redet, hört das dort niemand. Aber Jobbik stellt den »sensationellen Auftritt« auf die Website der Partei. Die Rechtsradikalen sind YouTube-Helden geworden. Sie können gut multiplizieren. Das ist eine Technik, die die früheren Rechten nicht kannten. Zu den Jobbik-Parolen zählt der Kampf gegen die sogenannte »Zigeunerkriminalität«. In den vergangenen zwei Jahren wurden bei rechtsterroristischen Anschlägen mehrere Roma ermordet, darunter auch Kinder. Verbal distanziert sich Jobbik von diesen Taten. Ist die Partei dennoch einer der geistigen Anstifter?

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Schlechte Parodie. Krisztina Morvai (Foto links), aggressive Antisemitin und Europa-Abgeordnete der rechtsradikalen Jobbik-Partei.

Die Konflikte, die von der rechten und rechtsradikalen Politik mitgeneriert werden, sind irgendwann nicht mehr zu stoppen, selbst diese Morde nicht. Der Moment, in dem aus verbaler Gewalt ein wirklicher Gewaltakt wird, lag seit Jahren in der Luft. Ja, in gewissem Sinne ist die billige Hetze gegen Roma auch eine Tat. Warum gibt es in der Öffentlichkeit so wenig Mitleid mit den Mordopfern? Warum findet in Ungarn kein Aufstand der Anständigen statt? Es gibt Anständige. Man könnte sie auch auf die Straße bringen. Aber die Sozialisten hätten in den vergangenen acht Jahren besser regieren müssen. Erfolg ist wichtig. Er ist etwas, das die Gesellschaft braucht. Wenn eine Regierung unter dem Etikett links firmiert und nur Korruption und fehlende Kompetenz produziert, dann hinterlässt das ein Gefühl der Niederlage und der Ohnmacht. In so einer Situation kann man nicht glaubwürdig gegen die Rechtsradikalen protestieren. Wie wirken sich das zugespitzte politische Klima und das Erstarken der Rechtsradikalen auf das kulturelle Leben in Ungarn aus, auf Literatur und Kunst? Wandern Ihre Schriftstellerkollegen jetzt aus? Nein, sie wandern nicht aus, sie schreiben weiter, wie Schriftsteller das eben tun. Ich gebe Ihnen ein Beispiel für die Lage: Im November 2009 erschien in dem rechtsradikalen Blatt »Magyar Demokrata«, mit einer Auflage von 20.000 Exemplaren immerhin eine der größeren Wochenzeitungen Ungarns, ein Artikel, in dem Schriftsteller wie Péter Eszterházy und Péter Nádas als »Landesverräter« verunglimpft wurden. In dem Artikel wurde auch dazu aufgerufen, ihre Bücher aus Bibliotheken zu entfernen und zu verbrennen. Kein Künstlerverband hat es für nötig gehalten, dagegen zu protestieren. Das ist bedrückend. Ist der ausgebliebene Protest symptomatisch für einen Rechtsruck auch unter Kulturschaffenden?

INTERVIEW

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GYÖRGY DALOS

Foto: Julian Röder / Ostkreuz

Verboten, aber aktiv. Gábor Vona (Foto rechts), Vorsitzender der Jobbik-Partei und Chef der inzwischen verbotenen paramilitärischen »Ungarischen Garde«.

Er ist symptomatisch für die Müdigkeit der Gesellschaft. Sie hat keine Kraft mehr, gegen den Rechtsradikalismus zu protestieren. Obwohl manche Juden in Ungarn heute offen über Auswanderung sprechen, wünschen sich die meisten doch nichts sehnlicher als dazuzugehören. Patrioten, die auf Ablehnung stoßen – empfinden Sie dies nicht als große Tragik? Wissen Sie, wir ungarischen Juden und Nichtjuden haben einen gemeinsamen Heiligen, den Dichter Miklós Rádnóti. Er wollte kein Jude sein, er hat die schönsten patriotischen Gedichte geschrieben. Die Judenverfolger haben ihn dann zum Juden gemacht und ein ungarischer Soldat hat ihn im November 1944 erschossen. Heute schreiben sich selbst die Antisemiten Rádnóti auf ihre Fahnen. Das ist ein bitterer Trost. Anderseits haben die Rechtsradikalen aber auch Pech. Einer der größten ungarischen Dichter war Jude, und der größte überhaupt, Attila József, war Kommunist. Das ist Pech für alle, die auf jede Frage nur eine einzige Antwort kennen. Fragen: Keno Verseck

interview GyörGy dalos Der Schriftsteller wurde 1943 in Budapest geboren. Er studierte Geschichte in Moskau und arbeitete als Museologe. 1964 veröffentlichte er seinen ersten Gedichtband. Bis 1968 war er Mitglied der KP, danach erhielt er Publikationsverbot und war ab 1977 ein wichtiger Vertreter der Oppositionsbewegung in Ungarn. Seit Mitte der achtziger Jahre lebt er überwiegend in Berlin. Für sein Buch »Der Vorhang geht auf. Das Ende der Diktaturen in Osteuropa« wurde er mit dem diesjährigen Leipziger Buchpreis zur europäischen Verständigung ausgezeichnet.

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Doppelt gewonnen

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Foto: Michael Danner

F

ilm ist eine universelle Sprache. Was keine Bilder hat, bleibt oft ohne Öffentlichkeit. Filme aus dem Irak und von einer brasilianischen Müllkippe, die gibt es nicht oft. Aber wenn es sie gibt, haben sie etwas zu sagen. Film, das ist aber auch ein sehr individueller Ausdruck, bei dem Vergleiche schwierig sind, zumal wenn es sich um verschiedene Genres handelt. Spiel- und Dokumentarfilme waren für die Amnesty-Filmpreis-Jury – Schauspielerin und Sängerin Barbara Sukowa, Regisseur Pagonis Pagonakis und Chloe Baird-Murray, Creative Relationship Manager bei der britischen Amnesty-Sektion – unvergleichbar bei der Sichtung der zwanzig nominierten Filme. Also wurden kurzerhand zwei Preise vergeben: Prämiert wurde der Spielfilm »Son of Babylon« und die Dokumentation »Waste Land«. »Son of Babylon« produzierte Regisseur Mohamed Al-Daradji selbst, denn das Budget war klein. Dieser Umstand hatte praktische Folgen: Es wurde an Originalschauplätzen mit Laien gedreht. Und das war eine gute Entscheidung: Shehzad Hussen spielt die Großmutter Um-Ibrahim, die mit ihrem Enkel Achmed (Yassir Taleeb) unterwegs ist. Gemeinsam irren die beiden durch eine karge Landschaft, den Nordirak. Sie sind in besonderer Mission unterwegs: Um-Ibrahim sucht ihren Sohn, den Vater des Jungen. Zum Ende des ersten Golfkriegs, zwölf Jahre zuvor, wurde er von Saddam Husseins Republikanischen Garden gefangen genommen und ist seither verschollen. Die Familie gehört zu den Kurden, die im nördlichen Teil des Landes leben und die von Saddam Husseins Truppen nach ihrem Aufstand verfolgt wurden. Wo kann er nur sein, der Vater, der Sohn? Um-Ibrahim wäre schon zufrieden, wenn sie wenigstens ein Zeichen, ein Grab finden würde. Der Irak drei Wochen nach Beendigung des Krieges im Jahre 2003: Den Menschen, denen die beiden auf ihrer Reise begegnen, geht es schlecht, dennoch sind sie hilfsbereit. Der eine nimmt sie mit dem Auto in die Stadt, bis es nicht mehr fährt. Und die gesamte Passagierschar eines Linienbusses sorgt dafür, dass die beiden nicht getrennt werden. Manch einer nimmt die Situation mit Humor: »Spiel mal was von Michael Jackson«, ruft ihnen ein Fahrer zu, als er Ahmed mit der Flöte seines Vaters sieht. Ein junger Mann schließt sich ihrer Suche an, dessen Gewissen rumort. Er erzählt, dass Saddams Republikanische Garden ihn in den Dienst gezwungen hätten. Und so sei er für den Tod vieler Menschen verantwortlich, da man ihn zu Strafaktionen gegen Kurden abkommandiert habe. Zum Hassen ist in »Son of Babylon« aber keiner unterwegs, der alte Feind wird zum Gefährten. Ihr gemeinsamer Weg führt sie von Friedhöfen zu einem Krankenhaus und zu Gefängnisrui-

nen. Täglich erhalten die beiden Nachrichten von neuen Massengrabstätten. Könnte der Sohn unter den Toten sein? Mit großer Eindringlichkeit spielen die Akteure vor dem leergefegten Land. Und sie wissen, wovon sie reden: Die Darstellerin der Großmutter, die Kurdin Shehzad Hussen, war die einzige Zeugin, die im Prozess gegen Saddam Hussein aussagte. UmIbrahims Schicksal ist auch das ihre. Trotz der tragischen Umstände aber ist der Film mit Leichtigkeit erzählt, weckt Mitgefühl und die Hoffnung auf Versöh-

Ausgezeichnet I. Peter Scarlett, Co-Produzent von »Son of Babylon«.

Foto: Berlinale

Die Amnesty-Filmpreis-Jury vergab das erste Mal zwei Preise auf der Berlinale. Ausgezeichnet wurden der Spielfilm »Son of Babylon« und der Dokumentarfilm »Waste Land«. Von Jürgen Kiontke

Gestrandet. Unterwegs im Nordirak – Szene aus »Son of Babylon«.

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Foto: Michael Danner

nung. Und so ist die wichtigste Szene jene, in der eine arabische Witwe auf dem Friedhof gemeinsam mit der kurdischen Großmutter trauert. Ein einfühlsames Roadmovie sei »Son of Babylon«, urteilte die Amnesty-Filmpreis-Jury in ihrer Begründung, »das mit bewegenden Bildern und Situationen die Suche nach Heilung in einem durch Krieg und Schreckensherrschaft zerstörten Land« zeige, wie Barbara Sukowa in ihrer Laudatio sagte. Denn das ist die Botschaft von »Son of Babylon« – die die Großmutter an den Enkel richtet und damit ans Publikum: »Wenn die Menschen dich verletzen, lerne, ihnen zu vergeben.« Der Dokumentarfilm »Waste Land« von Lucy Walker ist ein Film über die menschliche Würde. Der Künstler Vik Muniz, in São Paulo geboren und in Rio de Janeiro heimisch geworden, ist der Star der New Yorker Szene. Zu Beginn des Films sagt er: »Ich möchte den Leuten meiner Heimatstadt etwas zurückgeben.«

Ausgezeichnet II. Lucy Walker, Regisseurin von »Waste Land«.

Dafür zieht er auf Rios größte Müllkippe, den Jardim Gramacho, wo Lucy Walker unter anderem seine Arbeit mit der Kamera verfolgt. Hier arbeiten Menschen, denen für das, was sie täglich bewegen und in dem sie knietief stehen, das Wort »Müll« gar nicht in den Sinn kommt: Sie sortieren die Reste der brasilianischen Gesellschaft, von recyclebarem Material ist die Rede. Blech, Plastik, Metall – das sind die Rohstoffe, die sie sammeln und zum Händler bringen. Sie sind arm, aber nicht auf den Mund gefallen. Ihre Philosophie gewinnen sie aus dem Alltäglichen. »99 sind nicht 100«, sagt Valter, der zweite Vorsitzende der Müllwerkergewerkschaft, die die Arbeiter gerade gegründet haben. Der Satz bedeutet: Schau genau hin. Achte auf Zwischenstufen. Nichts ist nur schwarz oder weiß. Man nennt diese Leute »catadores«, Pflücker, und ihnen widmet Muniz seine Kunst: Er macht Porträtfotografien, die er aus großer Höhe auf den Boden einer leeren Fabrikhalle projiziert. Ihre Bilder legen die Sammler dann mit Recycling-Stoffen aus. Muniz fotografiert auch dies, und zieht die Bilder groß ab. Sie werden in Rio de Janeiro ausgestellt, und über eine Million Menschen kommen, um sie sich anzusehen. In London werden die Kunstwerke versteigert. 20, 30, 40.000 Dollar bringen sie ein. Das Geld kommt der Organisation der Müllwerker zugute. Lucy Walker zeigt die Menschen nicht nur an ihrem Arbeitsplatz, sie fährt auch mit ihnen nach Hause, wo sie in ärmlichen Hütten wohnen. Bis dorthin sind sie lange in Vorortzügen unterwegs. Und haben Zeit, sich die Dinge genauer anzusehen, die sie auf der Halde finden, die selbst auch eine Klassengesellschaft repräsentiert: hier Unterklasse-, da Mittel-, dort Oberklassegerümpel: »Wir finden hier viele Bücher«, sagt der Sammler und Literaturkenner Tiaõ. Und lässt sich als toter Marat, dem berühmten Bild von David nachempfunden, in einer weggeworfenen Badewanne ablichten. Dass der Film etwas von der »Größe, Würde und emotionalen Intelligenz« der Menschen transportiere, dies sei sein größter Verdienst, sagte Laudatorin Sukowa. Sollte irgendjemand den Menschen am Rande der Gesellschaft mit Vorurteilen begegnen, so »stellt sie dieser Film in Frage«. Lucy Walker ist ein Film gelungen, darüber, wie man in schwierigsten Situationen die Haltung bewahrt. »Son of Babylon«. IRQ, GB, F, NL, PAL, UAE, ET 2009. Regie: Mohamed Al-Daradji, Darsteller: Yassir Taleeb, Shehzad Hussen, Bashir Al-Majid

Foto: Berlinale

»Waste Land«. GB, BR 2010. Regie: Lucy Walker

Rohstoffe. Auf Rios größter Müllkippe – Szene aus »Waste Land«.

kultur

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Eine Dokumentation über die Würde von Rios Müll-Pflückern. Und ein Film über die Hoffnung auf Versöhnung im Irak. 67


Menschenrechtsbildung. In Schulen zumeist vernachlässigt.

Die Menschenrechtsbildung an Schulen oder in der Erwachsenenbildung lässt oft zu wünschen übrig: Neue Publikationen liefern Material und zeigen Perspektiven auf, um dies zu ändern. Von Joachim Rehbein

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ie Hälfte der Deutschen weiß nicht oder ist sich unsicher darüber, ob es Dokumente gibt, die Menschenrechte weltweit festlegen. Nur vier Prozent kennen die Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen wenigstens dem Namen nach. Mehr als 16 Prozent sind nicht in der Lage, spontan auch nur ein Menschenrecht zu nennen. Weniger als 20 Prozent wissen, was in wenigstens fünf der 30 Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte steht. Dies sind nur einige der zahlreichen Ergebnisse empirischer Untersuchungen zu den Menschenrechten, die Gert Sommer und Jost Stellmacher in ihrem Buch »Menschenrechte und Menschenrechtsbildung. Eine psychologische Bestandsaufnahme«, vorstellen. Die Autoren machen deutlich, wie dringend es einer

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Foto: Friederike Coenen

Intensivierung der Menschenrechtsbildung bedarf. Dabei verstehen Sommer und Stellmacher Menschenrechtsbildung als eine bedeutsame gesellschaftliche Aufgabe, die sowohl für die individuelle Persönlichkeitsentwicklung als auch zur Stärkung von Demokratie und Frieden relevant ist. Im zentralen Kapitel ihres Buches beleuchten Sommer und Stellmacher die Menschrechtsbildung aus psychologischer Perspektive. Der Frage, was denn Psychologie mit Menschenrechten zu tun habe, begegnen die Autoren mit zwei Argumenten. Zum einen könne die Psychologie erkennen, wie Menschenrechte im Denken und Handeln von Menschen verankert sind. Zum anderen könne sie erklären, wieso es bei der Wahrnehmung und Bewertung von Menschenrechten zu erheblichen Verzerrungen komme. So würden beispielsweise Menschenrechtsverletzungen, die das eigene Land begehe, eher hingenommen als Verstöße, die aus anderen Ländern bekannt werden. Diese Akzeptanz wachse mit zunehmendem Nationalstolz und der Neigung zum Autoritarismus. Laut Sommer und Stellmacher darf Menschenrechtsbildung nicht bei der Vermittlung von Wissen über die Bedeutung von Menschenrechten stehen bleiben. Sie muss vielmehr auf eine für Menschenrechte förderliche Sozialisation setzen. Die Massenmedien spielen bei der Schaffung eines Bewusstseins für Menschenrechte eine große Rolle, doch erfüllen sie ihre Aufgabe nicht. Zu diesem Ergebnis kommen Sommer und Stellmacher nach der Auswertung führender Zeitungen unterschiedlicher Ausrichtung und einiger Fernsehsender. Bedenklich ist auch ihre Feststellung, dass die Menschenrechte in Schulbüchern nur unzureichend behandelt werden. Mit Blick auf die 1995 von der Vollversammlung der Vereinten Nationen ausgerufene »Dekade der Menschenrechtsbildung« und das sich anschließende »Weltprogramm für Menschenrechtsbildung« kommen die Autoren zu dem Ergebnis, dass beide Aktivitäten nur wenig Erfolg hatten. Dieses Urteil träfe auch auf Deutschland zu, wo sich trotz der Empfehlungen der Kultusministerien wenig getan habe. Umso wichtiger sind die von den Autoren aufgezeigten Perspektiven für die Menschenrechtsbildung. Darunter finden sich die Forderungen, Menschenrechtsbildung in Schulen konsequent zu implementieren, den kritischen Umgang mit Menschenrechten zu lehren und Menschenrechtsbildung als Vermittlerin von Wissen, positiven Einstellungen und Handlungskompetenzen zu verwirklichen. Wer jedoch in der Schule Menschenrechtsbildung betreiben möchte, wird die Feststellung von Sommer und Stellmacher bestätigen, dass die meisten Schulbücher nur unzureichend Material bereitstellen. Hier können die Bände der »Edition Menschenrechte« helfen. Sie liefern hervorragendes Material, das sehr gut in der Arbeit mit Jugendlichen eingesetzt werden kann. Die Bücher behandeln verschiedene Themen und bieten Schülerinnen und Schülern ab der siebten Klasse unterschiedliche Möglichkeiten des Zugangs zu Menschenrechtsfragen. So erzählt beispielsweise Reiner Engelmann in dem Band »Kinder: ausgegrenzt und ausgebeutet«, was der Tod von Benjamins Vater in Deutschland mit Mudhakar zu tun hat, einem Jungen, der in Indien Grabsteine für den Export bearbeitet. Grabsteine aus Indien könnten »günstig« angeboten werden, hört Benjamin in Deutschland den Verkäufer sagen und erinnert sich an die Geschichte von Mudhakar, die er einmal gelesen hat. Die ganze Familie Mudhakars arbeitet in einem

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Was hat der Tod von Benjamins Vater in Deutschland mit Mudhakar zu tun, der in einem indischen Steinbruch Grabsteine für den Export bearbeitet? Steinbruch, in dem es keine Sicherheits- und Schutzvorkehrungen für die Arbeiter gibt. Durch Kredite, Zinsen und Vorschüsse, mit denen ein Arzt bezahlt werden musste, sind Mudhakars Eltern in die Schuldknechtschaft ihres ausbeuterischen Arbeitgebers geraten. Der Staub macht Mudhakars Vater krank, Geld für eine ärztliche Behandlung hat die Familie nicht. Als Mudhakars Vater stirbt, kann die Familie keinen Grabstein für ihn bezahlen. Eine zweite Erzählung schildert das Schicksal des ruandischen Mädchens Mutarama, das in der Zeit des Bürgerkrieges aufwuchs. Die Eltern wurden vor den Augen des Mädchens ermordet. Mutarama lebte auf der Straße, ohne Geld, ohne Schutz, bedroht von der Polizei und wurde als Straßenhändlerin ausgenutzt. Diese Geschichten zeigen, wie gegen die Prinzipien der Kinderrechtskonvention von 1989 verstoßen wird. Alle UNOMitgliedsstaaten haben die Konvention unterzeichnet, doch zwischen Anspruch und Wirklichkeit besteht immer noch eine große Diskrepanz. Neben dem emotionalen Zugang über die Erzählungen eröffnet der umfangreiche Materialteil eine eher rationale Annäherung an das Thema. In für Jugendliche verständlicher Form und Sprache werden die Kinderrechte erklärt, Verstöße benannt und mit Beispielen und Zahlen belegt. Alle Bücher der Edition sind in dieser Weise aufgebaut und eignen sich auch zur selbstständigen Gruppenarbeit. Gert Sommer, Jost Stellmacher: Menschrechte und Menschenrechtsbildung. Eine psychologische Bestandsaufnahme. VS Verlag, Wiesbaden 2009, 239 Seiten, 29,90 Euro Marion Schweizer (Hg.) in Zusammenarbeit mit Amnesty International: Edition Menschenrechte. Horlemann Verlag, Bad Honnef 2008/2009, je Band 12,90 Euro. Bisher erschienen: Urs M. Fiechtner: Verschwunden: in geheimer Haft. Kazem Hashemi: Todesstrafe: Auge um Auge. Karlheinz Dürr: Terror: Staat gegen Bürgerrechte. Christine Grunert: Asyl: bedrohtes Recht. Sophia Deeg: Streubomben: Tod im Maisfeld. Michail Krausnick: Behinderung: Wer behindert wen? Reiner Engelmann: Kinder: ausgegrenzt und ausgebeutet. Urs M. Fiechtner: Folter: Angriff auf die Menschenwürde

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Gitarren statt Kalaschnikows Die junge Tuareg-Band Tamikrest verbindet traditionelle Melodien mit Rock und Reggae. Sie artikuliert die Sehnsüchte der »Kel Tamashek«, die um ihre Unabhängigkeit kämpfen. Von Daniel Bax

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ls wir angefangen haben, kamen nur ein paar Leute, wenn wir spielten«, erzählt Ousmane Ag Moussa. »Aber mittlerweile hat sich unser Ruf in Mali und Algerien herumgesprochen.« Der 27-Jährige sitzt in einem Internet-Café mitten in der Sahara – genauer gesagt in Kidal, der Provinzhauptstadt der nordöstlichsten Region Malis, die an Algerien grenzt – und ist über Skype mit Deutschland verbunden. Die Verbindung ist schlecht, durch das laute Rauschen ist nicht immer alles gut zu verstehen. Aber so viel schon: »Wenn wir in Kidal spielen, dann ist das schon ein kleines Ereignis.« Tamikrest sind die jüngsten Vertreter eines Genres, das man getrost als Tuareg-Rock bezeichnen kann. Mit elektrischen Gitarren greifen sie jahrhundertealte Melodien auf, die an den Lagerfeuern der Sahara-Nomaden von Generation zu Generation weitergegeben wurden, und verweben sie mit den Mustern der westlichen Rockmusik und lang gezogenen Reggae-Rhythmen zu einem neuen Stil. Die Texte kreisen um zeitlose Themen wie die Liebe, artikulieren aber auch das Unbehagen der Kel Tamashek, wie sich die Tuareg selbst nennen, – die Leute, die Tamashek sprechen. Sie verleihen den Gefühlen und Sehnsüchten eines Volkes Ausdruck, das in den vergangenen Jahrzehnten einen radikalen Wandel seiner Lebensweise durchmachen musste und sich durch die Entwicklungen und die politischen Realitäten in seinen Ländern an den Rand gedrängt und unterdrückt fühlt. »Natürlich waren Tinariwen unsere Vorbilder«, erklärt Ousmane Ag Moussa. »Sie haben uns den Weg bereitet.« Die legendäre Tuareg-Band Tinariwen, deren Name so viel wie »Leerer Ort« bedeutet und auf ihre Herkunft aus der Wüste verweist, hat eine eigene Musikgattung begründet. Die Anfänge von Tinariwen lassen sich in ein Ausbildungslager zurückverfolgen, das der libysche Oberst al-Gaddafi Anfang der achtziger Jahre einrichten ließ. Zu jener Zeit waren viele junge Tuareg vor der Dürre und dem politischen Druck in Niger und Mali gen Norden geflohen, nach Algerien und Libyen, wo sie sich als Tagelöhner ohne Perspektive durchschlugen. Der libysche Potentat hoffte, aus diesen Flüchtlingen eine schlagkräftige Söldnertruppe schmieden zu können, um damit seine territorialen Ambitionen im Tschad und anderswo zu befriedigen. Politisch hielt sich der Erfolg in Grenzen. Aber musikalisch hatte er eine durchschlagende Wirkung. Anfangs waren die Musiker, die sich zur Keimzelle von Tinariwen formten, nicht viel mehr als ein Propaganda-Organ der

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Tuareg-Rebellengruppe »Mouvement Populaire de L‘Azawad« (MPA) im Norden Malis. Es ging ihnen darum, mit aufrührerischen Songs für die politischen Ziele dieser Bewegung zu werben und ihre Leute zum Aufstand gegen die Regierung anzustacheln. Auf Kassetten machten ihre Aufnahmen die Runde und verbreiteten ihren Ruf überall da, wo Tuareg lebten, von Mali über Algerien und Libyen bis Niger und Burkina Faso. Im Juni 1990 brach die Revolte los, die zweite große Tuareg-Rebellion – die erste hatte sich kurz nach der Unabhängigkeit von Frankreich in den Sechzigerjahren ereignet. Dieser bewaffnete Aufstand endete sechs Monate später mit einem vorläufigen, brüchigen Friedensabkommen, das erst 1996 mit einer feierlichen Zeremonie besiegelt wurde. Eine Gruppe um den charismatischen Sänger Ibrahim Ah Alhabib entschied damals, die Kalaschnikows endgültig gegen Gitarren einzutauschen. Erste Aufnahmen in Abidjan, die auf Kassetten zirkulierten, vor allem aber Mund-zu-Mund-Propaganda mehrten den Ruhm der Truppe, deren Lieder sich in der Tradition der Poeten und Geschichtenerzähler von Zelt zu Zelt und von Stadt zu Stadt verbreiteten. »Ich bin mit ihrer Musik aufgewachsen«, sagt Ousmane Ag Moussa von Tamikrest, der im Dorf Tin-Zaouaten im Adagh-Gebirge direkt an der algerischen Grenze geboren wurde. Seit sich 2002 der Warlord Ibrahim Ag Bahanga dort niederließ, gilt die Gegend als Rebellenhochburg und wurde zum militärischen Sperrgebiet erklärt. Ousmane Ag Moussa und seinen Freund Cheikh zog es darum weiter südlich in Sicherheit, eben nach Kidal, wo sie eine musikalische Laufbahn einschlugen. Mit Erfolg: »Heute sind wir mit den Musikern von Tinariwen befreundet«, sagt Ousmane. »Wir sind wie eine große Familie.« Tatsächlich ist um Tinariwen herum ein enges Netzwerk entstanden. Die Band hat einen Stil geprägt und damit auch andere beeinflusst: das von Frauen angeführte Ensemble Tartit etwa, das in einem Flüchtlingslager gegründet wurde; oder das Tuareg-Paar Toumast, das aus Niger stammt und heute in Frankreich lebt. Auch die ethnisch gemischte Gruppe Etran Finatawa, die aus der Zusammenarbeit zweier Ensembles aus Niger erwachsen ist, bewegt sich auf diesen sandigen Pfaden. Um das Jahr 2000 herum tauchten Tinariwen erstmals auf den Weltmusik-Festivals und Konzertbühnen Europas auf. In indigoblaue Gewänder gehüllt, die Männer mit charakteristischem Turban und Gesichtsschleier, waren sie eine imposante Erscheinung. Sie profitierten vom Exotik-Bonus, doch ausschlaggebend war ihre Musik: ein energischer Bluesrock, der einerseits vertraut und doch seltsam fremd klang – hypnotisch. In den vergangenen zehn Jahren haben Tinariwen vier CD-Alben veröffentlicht und eine wachsende Anhängerschaft gewonnen, auch unter Rock- und Independent-Fans. Für ihr letztes Album »Imidiwan« haben sie jüngere Mitglieder aufgenommen.

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Foto: Glitterhouse Records

Abrocken und Tee trinken. Die Tuareg-Rock-Band Tamikrest.

Tamikrest stehen nun für eine neue Generation. Im Januar 2006 liefen Ousmane und sein Freund Cheikh den anderen Musikern, mit denen sie eine Band gründen sollten, erstmals über den Weg. Im Kulturzentrum von Kidal probten sie erste Stücke ein und gaben sich den Namen Tamikrest, was auf Tamashek so viel wie Knotenpunkt oder Bündnis bedeutet. Das ist nicht ohne Ironie, denn Kidal, das vor hundert Jahren von der französischen Kolonialverwaltung als Militärposten gegründet wurde, gilt heute als Knotenpunkt für den Schmuggel von Zigaretten, Cannabis, Waffen und Armutsflüchtlingen, die nach Europa wollen. Doch Tamikrest meinen damit: »Kidal ist unser Arbeitsplatz, unsere Basis«, erläutert Ousmane. »Hier treffen wir uns, denn wir kommen ursprünglich aus ganz verschiedenen Gegenden.« Zwei Jahre nach den ersten musikalischen Versuchen traten Tamikrest schon beim berühmten »Festival au Désert« auf, das 2001 zur Feier der Tuareg-Kultur ins Leben gerufen worden war und seitdem internationale Gäste und Musiker aus aller Welt anzieht. Und dort, in den Dünen, stießen sie auf Chris Eckman, den Mitbegründer der Walkabouts aus Seattle, und dessen Freunde. Im Zelt traf man sich zum gemeinsamen Jam, zum Abrocken und Tee trinken, und aus der spontanen Begegnung erwuchs eine echte Kooperation.

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Ein Jahr später, im Juli 2009, trafen sich die Musiker in Malis Hauptstadt Bamako wieder, 1.600 Kilometer südlich von Kidal entfernt. Dort entstand das Album »Adagh«, mit dem Tamikrest jetzt nach Europa kommen. In den Liedern, die Ousmane Ag Mossa mit rauer Stimme vorträgt, geht es um das Leben in der Sahara, das Aufbegehren gegen Ungerechtigkeit und den Wunsch nach Freiheit und Eintracht. Es sind ausgedehnte, meditative Melodien, die eine trancehafte Atmosphäre erzeugen. Die geisterhaft flehenden Gitarren und der grummelnde Bass sind nur sparsam verstärkt und verzerrt und von zurückhaltender Perkussion untermalt. Die Aufnahmen besitzen einen intimen SessionCharakter, so dass man sich beim Hören in ein Zelt in der Wüste versetzt fühlen darf. Seit dem Mai 2006 hat sich die Lage um Kidal wieder zugespitzt. Zwischenzeitlich ein beliebtes Ziel für Sahara-Abenteuerreisen, ist der Tourismus praktisch zum Erliegen gebracht. Umso mehr drängt es Ousmane Ag Moussa und seine Freunde, zu neuen Horizonten aufzubrechen. »Wir waren noch nie in Europa«, sagt er mit Blick auf seine erste Konzertreise, die im Mai bevorsteht. »Ein wenig Angst habe ich schon. Es ist ein bisschen wie eine Prüfung, die man bestehen muss.« Tamikrest: Adagh (Glitterhouse Records)

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Foto: Christoph Bangert / laif

Deutsches Militär in Afghanistan. Friseursalon im Lager der Bundeswehr in Kundus.

Prophylaktische Tötung Die Kriegsreportagen von Marc Thörner ergänzen die deutsche Debatte über den Einsatz in Afghanistan um ein wesentliches Detail: Die NATO-Truppen vor Ort sind vor allem mit sich selbst beschäftigt. Von Ines Kappert

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arc Thörner reiste zwischen Juni 2008 und November 2009 vier Mal nach Afghanistan. Zeitweise ließ sich der erfahrene Kriegsreporter bei der deutschen, der französischen oder der US-amerikanischen Armee einbetten. Und so schildert er in seinem Reportageband »Afghanistan-Code« etwa die künstlichen und peinlich sauber gehaltenen Armee-Städte, in denen die Soldaten geparkt, leidlich unterhalten und mit puritanischen Schriften versorgt werden – ganz so als befände man sich im 19. Jahrhundert. Es gibt keine Bordelle und keine Zeitungen, aber Pfarrer, deren Seelsorge auf dem Programm »Think positiv!« und »Halte dich beim Töten immer an die Richtlinien!« basiert. Die Dienstleistungen sind nach nationalstaatlichen Mustern vergeben: Die Nepalesen sind in aller Regel mit der Säuberung der Toiletten- und Duschcontainer beauftragt, während die Afghanen, »die Bärte in ein antiseptisches Plastikfutteral gehüllt«, die Teller abwaschen und neue Nahrung in die Esshalle bringen. »Die Internet-Cafés betreiben, wer weiß warum, stets Kosovo-Albaner.« Der Kontakt der Soldaten mit den Einheimischen ist auf ein Minimum beschränkt. Thörner begegnet einer regelrecht paranoiden Berührungsangst unter den Soldaten, wenn es um die sogenannten »locals« geht. »Wenn sie solche Angst vor uns haben, warum kommen sie dann hierher?« Diese Bemerkung eines Passanten trifft für Thörner den Kern des absurden Einsatzes. Selbst die gleichfalls eingebetteten afghanischen Dolmet-

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scher wohnen am Rande der Militärcamps, in schäbigen Verschlägen. Da sie keine Armee-Angehörigen sind, hat das Militär eine Privatfirma mit ihrer Bezahlung beauftragt. Die überweist ihr Gehalt einmal im Monat auf Konten einer in Kabul ansässigen Bank. Das bedeutet für die Dolmetscher, dass sie alle vier Wochen eine lebensgefährliche Reise in die Hauptstadt unternehmen müssen, um ihr Geld abzuheben. Dabei werden immer wieder einzelne enttarnt und exekutiert. Thörners Buch liefert viele solcher beredten, bürokratischen Details: So wurden zwar Schulen gebaut, sie sind aber lehrerfrei, weil diese keinen Lohn erhalten. Die Internationale Sicherheitsunterstützungstruppe, kurz ISAF, leistet Zahlungen an die entsprechenden Gouverneure. Wenn diese das Geld versickern lassen, ist sie jedoch hilflos. Die allermeisten Recherchen versanden in einem Wust von unaufgearbeiteter Bürokratie. Soldaten, die Aufbauhelfern den für ihre Arbeit nötigen Feuerschutz geben, ist Thörner kaum begegnet. Diese Einblicke ergänzen die in den Medien geführte Diskussion über den Afghanistan-Einsatz um einen wesentlichen Aspekt. Während hier vor allem moralisch für oder gegen einen Einsatz argumentiert wird, widmet sich Thörner der Frage: Wozu ist der Militärapparat überhaupt in der Lage? Was genau tut er vor Ort? Seine Bilanz ist ernüchternd: Die ISAF-Truppen scheinen mehr als alles andere mit sich selbst, mit ihrer Versorgung und ihrem eigenen Schutz, beschäftigt. Die der eigenen Sicherheit dienende prophylaktische Tötung von Zivilisten wird toleriert. Hatte die Bundeswehr zunächst einen zivilgesellschaftlichen Ansatz verfolgt, so nähert sie sich zunehmend der USStrategie an: »Teile und herrsche« – Menschenrechte stehen dabei eher unten auf der Prioritätenliste. Marc Thörner: Afghanistan-Code. Reportagen über Krieg, Fundamentalismus und Demokratie. Edition Nautilus, Hamburg 2010, 160 Seiten, 16 Euro

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Afrikanische Identitäten

Harte Schule

»Es war eine gute Lüge, unsere Lüge, aus vielen glücklichen Wahrheiten.« Laurentina erfährt, dass ihre Mutter nicht ihre Mutter ist, und ihr Vater nicht ihr Vater. Daraufhin beschließt sie, ihre wahren Eltern aufzusuchen. Gemeinsam mit ihrem Freund verlässt sie Lissabon und macht sich auf nach Angola. Ihr biologischer Vater war ein berühmter Musiker – als Nelson Mandela sein Amt als Präsident antrat, ließ er sich mit ihm fotografieren. In den Siebzigern, Achtzigern und Neunzigern durchstreifte dieser Faustino Manso das südliche Afrika und gründete in fast jeder neuen Stadt eine Familie. Achtzehn Kinder werden ihm zugeschrieben. Soweit passt alles in das Afrika-Klischee: Eine junge Frau sucht nach ihren Wurzeln, ihr Vater ist so potent wie verantwortungslos, seine Frauen bleiben mit ihrer Liebe und ihren Kindern allein zurück. Doch der Roman »Die Frauen meines Vaters« macht es sich nur auf den ersten Blick einfach. Das Buch ist ein Roadmovie, das subjektive Erinnerungen an die sozialistischen Regimes und Bewegungen Afrikas mit aktuellen Problemen wie Bürgerkrieg, gescheiterter Demokratisierung, Aids und Migration verknüpft. Am Ende wird die desorientierte Tochter herausfinden, dass ihr angeblich leiblicher Vater unfruchtbar war. So folgt der Leser einer Reise, in deren Verlauf sowohl die Suche nach der Identität Afrikas als auch die nach der eigenen afrikanischen Identität scheitert. Eine Collage, die ein heterogenes Afrika zeichnet und eine Frau zeigt, die entdeckt, dass keine Wahrheit so gut ist, als dass man sie nicht erfinden dürfte.

Sherman Alexie ist Autor mehrerer Romane, Gedichte und Drehbücher, obwohl er als Spokane-Indianer in einem Reservat aufwuchs. Ein Widerspruch? Warum sich Erfolg in der weißen Welt und Indianersein eigentlich ausschließen, versteht, wer seinen ersten Jugendroman »Das absolut wahre Tagebuch eines Teilzeit-Indianers« liest, der auf Alexies eigener Geschichte gründet. In flapsiger Jugendsprache erzählt der 14-jährige Arnold Spirit darin, wie er es schafft, aus der desillusionierenden Armut und Lethargie des Reservats auszubrechen. Sein schmerzhafter Weg in die Freiheit beginnt, als er sich entschließt, auf ein weißes College außerhalb des Reservats zu gehen. Dort muss er nicht nur mit dem verächtlichen Spott der Weißen umgehen lernen: Ein Indianer bleibt bei seinem Stamm; wer das Reservat verlässt, verrät den Stamm, auch wenn ein Leben im Reservat ein Leben ohne Arbeit, Geld und Zugang zu Bildung bedeutet. Trotz der harten Schule, die der Ich-Erzähler durchmacht, handelt es sich nicht um Betroffenheitsprosa: Arnolds humorvolle Sicht auf die Dinge macht den »Teilzeit-Indianer« zur leicht lesbaren, mitreißenden und witzigen Lektüre.

José Eduardo Agualusa: Die Frauen meines Vaters. Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler. A 1 Verlag, München 2010, 384 Seiten, 22,80 Euro

Religiöse Aktivisten Der neue Kalte Krieg begann mit dem 11. September 2001 – das ist die Ausgangsthese von Mark Juergensmeyer. In seiner Studie »Die Globalisierung religiöser Gewalt« untersucht der in Kalifornien lehrende Soziologe die transnationale Bewegung des globalen Dschihad. Seinen Schwerpunkt legt er dabei auf Südostasien und den Nahen Osten, der Iran wird gestreift. Juergensmeyer stellt sich gegen den im Westen vorherrschenden Konsens, sogenannte Fundamentalisten entbehrten jeder Rationalität. Entsprechend lehnt er diese Bezeichnung als unpolitisch und pauschal abwertend ab und spricht stattdessen von »religiösen Aktivisten«. Juergensmeyer zeigt die Entwicklung von einer religiös fundierten Alternativbewegung zum säkularen Nationalstaat in den Siebzigerjahren bis hin zu einem religiösen Nationalismus, der auf der Verachtung der Menschenrechte und einem ausgreifenden Antiamerikanismus basiert. Seine Studie provoziert, weil sie die westliche Gewissheit in Frage stellt, das bessere politische System zu verteidigen. Dies zwingt die Leser, auf ungewohnte Distanz zur Idee des westlichen Nationalstaates zu gehen – ohne dass deshalb nahegelegt würde, einen antimodernen, religiösen Staat gutzuheißen.

Sherman Alexie: Das absolut wahre Tagebuch eines Teilzeit-Indianers. Bilder: Ellen Forney. Aus dem Amerikanischen von Katharina Orgaß und Gerald Jung. dtv, München 2009, 270 Seiten, 12,90 Euro. Ab 12 Jahren

Europäische Flüchtlingspolitik Europa wird immer mehr zu einer Festung ausgebaut. So lautet eine weitverbreitete Einschätzung: In erster Linie wehre Europa Flüchtlinge ab, anstattt sie zu schützen. Der Verdienst von Tillman Löhr ist es, durch eine sorgfältige Bestandsaufnahme der bestehenden Rechtslage und der derzeitigen europäischen Praxis eine Differenzierung dieser Einschätzung vorzunehmen. So trifft es zwar zu, dass nicht zuletzt in Deutschland das Recht auf Asyl systematisch eingeschränkt wurde. Im Hinblick auf den Schutz von Flüchtlingen, die vor nichtsstaatlicher Verfolgung fliehen, wurden aber beispielsweise Verbesserungen geschaffen. Löhr beschreibt auch die Verbesserungen, für die die EU mit Blick auf sogenannte Illegale gesorgt hat. So wurde, zumindest auf dem Papier, ermöglicht, dass Menschen ohne Aufenthaltsstatus ihren Lohn einklagen können, ohne dass sie an Ausländerbehörden gemeldet werden müssen. Auch einen zweiten, gleichfalls beliebten, Glaubenssatz stellt der promovierte Jurist richtig: Wer Flucht vermeiden will, muss die Situation in den Herkunftsländern verbessern. Das gilt zwar für Menschen, die vor Verfolgung oder Krieg fliehen. Bei anderen Ursachen von Migration gilt dies nicht. Löhr stellt fest, dass verbesserte Lebensbedingungen zunächst die Mobilität der Menschen erhöht und damit kurzfristig die Zahl der Ausreisewilligen steigen lässt. Löhr macht deutlich: Entwicklungspolitik ist kein Ersatz für Asylpolitik. Der Autor spart nicht mit Kritik an der Flüchtlingspolitik in der EU. Wer seine Studie gelesen hat, wird die Diskussion um Asylpolitik auf Höhe des Gegenstands führen können.

Mark Juergensmeyer: Die Globalisierung religiöser Gewalt. Von christlichen Milizen bis al-Qaida. Hamburger Edition,

Tillmann Löhr: Schutz statt Abwehr. Für ein Europa des

Hamburg 2009, 485 Seiten, 32 Euro

Asyls. Verlag Wagenbach, Berlin 2010, 96 Seiten, 9,90 Euro

Bücher: Ines Kappert, Sarah Wildeisen kultur

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Mexikanisches Verfolgungsdrama

Schummer-Latin

»Confetti« heißt der minderjährige Nachwuchs der Gang, in der Lil Mago, der bis zum Scheitel tätowierte Boss, die Kanone schwingt. Die Aufnahmeprüfung: 13 Sekunden lang so viele Schläge wie möglich einstecken. Für die Akquise neuer Jungs ist Willy zuständig, auch bekannt unter dem Kampfnamen »El Casper«. Personenbezeichnungen sind hier aber nur Knall und Rauch, deswegen heißt der Film von Cary Joji Fukunaga auch »Sin Nombre« – ohne Namen. Seine Kriegsbezeichnung versucht Willy denn auch dringend loszuwerden – allzu oft begegnet er ihr, als Graffiti an den Wänden der Armenviertel. Weil Mago Willys Freundin umgebracht hat, hat Willy ihn umgebracht. Und das kann die Gang nicht auf sich sitzen lassen – eine landesweite »Fahndungsaktion« beginnt, mit einem echten Profi als Anführer: Smiley ist ein rücksichtsloser Killer, der vor allem einen Vorteil auf seiner Seite hat. Für Skrupel ist der Ghetto-Soldat zu jung: Smiley ist gerade mal zwölf Jahre alt, und die 13 Sekunden »Aufnahmeprüfung« hat er noch nicht vergessen. Auf der Flucht lernt Willy Sayra kennen. Mit ihrem Vater und dem Onkel reist sie wie viele andere auf Güterwaggons Richtung USA. Gemeinsam mit Willy versuchen die drei, der Armut und vor allem Smiley zu entkommen. Ganz in der Tradition des neuen südamerikanischen Kinos mit Filmen wie »City of God« oder »Tropa de Elite« berichtet »Sin Nombre« ohne Schnörkel und eindringlich von der Brutalität des mexikanischen Alltags zwischen Drogen, Schlägereien und selbstgebauten Schusswaffen.

»Brownout« steht im Englischen für das Herunterdimmen von Licht. Das empfiehlt sich, wenn man die Musik dieser Latin-Combo aus Austin, Texas so richtig genießen will. In schummrigen und verrauchten Räumen voller Menschen kommt deren psychedelisches Salsa-Funk-Gebräu wohl am besten zur Geltung. Brownout sind ein Seitenarm des SalsaEnsembles Grupo Fantasma, das öfters mal von Prince zum Jam eingeladen wird. Die achtköpfige Band um den Gitarristen Adrian Quesada hat sich dem schweißtreibenden LatinFunk und Chicano-Rock der siebziger Jahre verschrieben und erweckt diesen Retro-Sound mit gniedelnden Gitarren, messerscharfen Bläsern und hüpfenden Congas zu neuem Leben. Sly Stone, James Brown und Carlos Santana standen Pate bei den überwiegend instrumentalen Songs, die sich perfekt eignen, einen Polizeifilm der siebziger Jahre zu untermalen – mit wilden Verfolgungsjagden und LSD-Tequila-Rausch inklusive. Der Titel »Aguilas and Cobras« nimmt Bezug auf den aztekischen Mythos vom Kampf zwischen Adler und Schlange, der emblematisch auf der mexikanischen Fahne abgebildet ist. Der Song »Con el Cuete«, mit dem das Album eröffnet, ist eine Hommage an die mexikanische Grenzstadt Nuevo Laredo, die als Zentrum des Drogenhandels und der Bandengewalt gilt. »Cuete« ist ein Slangausdruck für Revolver. Brownout machen mit diesem Stück – einem ihrer wenigen Songs mit Text – darauf aufmerksam, dass es jenseits der Gewalt auch noch eine andere Realität gibt, den musikalischen Grenzverkehr. Für dessen Lebendigkeit sind sie selbst das beste Beispiel.

»Sin Nombre«. Mexiko/USA 2008, Regie: Cary Joji Fukuna-

Brownout: Aguilas and Cobras (Six Degrees / Exil)

ga, Darsteller: Edgar Flores, Paulina Gaitan. Start: 29. April

Gebrochene Existenz Isolation und Orientierungslosigkeit: Yusuf saß zehn Jahre als politischer Häftling im Gefängnis, weil er sich Mitte der neunziger Jahre an der Universität in der Türkei politisch engagiert hatte. Nun aber ist er krank zu seiner Mutter ins Dorf zurückgekehrt. Und das karge Umfeld gibt sich alle Mühe, zupackend zu handeln: Während seine Mutter ihn verheiraten will, lässt ihn Freund Mikhail im Sägewerk mitarbeiten. Und dann ist da noch die Prostituierte Era aus Georgien, die sich in den verschlossenen Mann verguckt hat. Aber Regisseur Özcan Alper lässt keinen Zweifel aufkommen: Yusufs Gespür für Mitmenschen hat im Gefängnis schwer gelitten – all seine neuen Beziehungen verheißen keine Zukunft. »Herbst«, Alpers erster Langfilm, hat vor allem optisch einiges zu bieten: Sehenswerte Aufnahmen des Provinzlebens in der Türkei und wunderschöne Landschaftsaufnahmen. Yusufs politische und persönliche Vergangenheit durchbricht die scheinbar traumhaften Oberflächen, lässt aber jegliche Erklärung außen vor. Der Film beschäftigt sich damit, wie jahrelange Haft einen Menschen bricht: Ein ums andere Mal starrt Yusuf ins Leere – ein Mann, dem das Leben gestohlen wurde.

Afrikanisierter Soul Seit 15 Jahren lebt Angelique Kidjo in New York. Doch man sollte es nicht als Anbiederung an ihre neue Heimat missverstehen, wenn die Sängerin aus Benin auf ihrem neuen Album vor allem den US-amerikanischen Soulhelden der sechziger Jahre Tribut zollt. Es ist vielmehr die Musik ihrer Kindheit, die sie zu »Öyö« inspiriert hat. Das Album besteht gänzlich aus Cover-Versionen. Glaubt man der Auswahl, dann waren es wohl schwarze Soul-Stimmen wie die von Curtis Mayfield, Aretha Franklin oder James Brown, die Kidjo am meisten Bewunderung abgerungen haben und deren Hits sie jetzt zum Dank afrikanisiert hat. Am besten ist ihr das bei »Move On Up« gelungen, aber auch ihre Version von Otis Reddings »I got Dreams« kann sich hören lassen. Daneben verneigt sich Kidjo vor ihrem großen Vorbild Miriam Makeba oder vor Bella Bellow, einer früh verstorbenen Sängerin aus Togo. Als afrikanischer Superstar kann es sich Angelique Kidjo leisten, mit den Größen der New Yorker Nu-Soul-Szene wie John Legend, Diane Reeves oder dem Trompeter Roy Hargrove ins Studio zu gehen. Schon auf früheren Alben hat sie die Verbindungen zwischen Afrika und seiner amerikanischen, brasilianischen und karibischen Diaspora ausgelotet. Mit »Öyö« hat sie nun neue Verbindungen geschaffen.

»Herbst«. D/TR 2008. Regie: Özcan Alper, Darsteller: Onur Saylak, Raife Yenigül und Megi Kobaladze. Start: 13. Mai

Angelique Kidjo: öyö (naive)

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Der Rai der frühen Jahre Im vergangenen Jahr befreite sich Khaled, der algerische Meister des Pop-Rai, mit dem Album »Liberté« von seinem Hitsingle-Korsett. Nun geht der im französischen Exil lebende Sänger auf Deutschland-Tour. Von Daniel Bax

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ünf Jahre lang hatte man, bis auf ein paar Gerüchte, nichts mehr von Khaled gehört. Doch im vergangenen Jahr meldete sich der »König des Rai« mit einem Überraschungscoup zurück. Mit dem Album »Liberté« besann sich der Sänger, der die populären Schlager der Küstenstadt Oran ins globale Pop-Business eingeführt und sich als weltweit erfolgreichster Star des Pop-Rai etabliert hatte, auf seine Anfänge. Plötzlich klang er wieder so wie auf seinen alten Aufnahmen aus Algerien, als sein unverschämter Mix aus sehnsuchtsvollem Aufbegehren, leidenschaftlichen Lyrics und überhitzten Beats die maghrebinische Jugend elektrisierte. Ende der achtziger Jahre floh Khaled dann vor den Fundamentalisten in seinem Land und zog nach Frankreich. Seine größten Erfolge verdankte Khaled seit den neunziger Jahren Star-Produzenten wie Don Was (»Didi«) und Jean-Jacques Goldman (»Aicha«), die ihm allerdings auch ein enges Hitsingle-Korsett anlegten. So gesehen, war »Liberté« ein Befreiungsschlag. Lange hatte sich Khaled nicht getraut, ein solches Album aufzunehmen. Zu groß war seine Angst, damit europäische Hörer zu vergraulen. Die Reaktion seiner deutschen Plattenfirma bestätigte diese Befürchtungen: Sie hat das

Foto: Rafael Marchante / Reuters

Zurück zu den Wurzeln. Khaled.

Album nie regulär veröffentlicht, so dass es hierzulande nur als Import-CD zu haben ist. »Liberté« klingt betont roh und rootsig, es wartet mit erdigen, nordafrikanischen Grooves und viel orientalischem Schmelz auf. Im Mittelpunkt steht Khaleds einzigartiger Gesang, der zuletzt häufig unter Lagen von Synthie-Schwaden begraben und von Soundeffekten erdrückt schien. Auffällig sind die langgezogenen Gesangs-Intros, die vielen Songs voraus gehen. Diese Einleitungen, Mawwal genannt, sind ein Markenzeichen der traditionellen Rai-Musik. »Singe so, wie du früher auf Hochzeiten gesungen hast«, riet ihm der Produzent Martin Messonier, der Khaled bei den Aufnahmen zur Seite stand. Der Rai der frühen Jahre wurde in der Hafenstadt Oran geboren, wo sich die Kultur des französischen und jüdischen Bürgertums der Stadt mit den Traditionen der Berber und Beduinen vom Lande mischte. Auf »Liberté« erweist Khaled einigen seiner Vorbilder die Ehre: etwa Ahmed Wahby (1921 bis 1993), von dem das tänzelnde Liebeslied »Yamina« stammt, oder Blaoui El Houari (geboren 1921), der die Balladen »Ya Bouya Kirani« und »Zabana« schrieb – Letzteres ist eine Hymne an einen algerischen Widerstandskämpfer, der in den Fünfzigerjahren von der französischen Kolonialmacht hingerichtet wurde. Zu den weiteren Einflüssen, die den jungen Khaled geprägt haben, gehören die Sängerin Cheikha Rimitti (»Raikoum«), die marokkanische Band Nass El Ghiwane und die hypnotischen Rhythmen der GnawaBruderschaften des Maghreb. Die ungestüme Stimmkraft des ungebändigten Khaled konnte man zuletzt eher auf seinen Konzerten erleben, die gern mal zu einem mehrstündigen Musikrausch ausuferten. Da ist es eine gute Nachricht, dass der 50-Jährige nach langer Zeit mal wieder für ein paar Auftritte nach Deutschland kommt. Khaled: Liberté (Universal France / Wrasse / Import). Konzerte: 1. April München, 3. April Berlin, 4. April Hamburg

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Tag fĂźr Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt oder man lässt sie ÂťverschwindenÂŤ. amnesty international verĂśffentlicht regelmäĂ&#x;ig an dieser Stelle drei Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzu pran gern und zu beenden. Sie kĂśnnen mit Ihrem persĂśnlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, hĂśflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen BehĂśrden des Landes. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie bitte eine Kopie an amnesty international.

amnesty international Postfach, 53108 Bonn Tel.: 0228 - 98 37 30, Fax: 0228 - 63 00 36 E-Mail: info@amnesty.de, www.amnesty.de Spendenkonto Bank fĂźr Sozialwirtschaft (BfS), KĂśln Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00 oder Postbank KĂśln Konto: 22 40 46 - 502, BLZ: 370 100 50

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Foto: privat

briefe GeGen das verGessen

iran emadeddin baGhi Der Menschenrechtsverteidiger, Journalist und Autor Emadeddin Baghi wurde am 28. Dezember 2009 um 6.45 Uhr in seinem Haus festgenommen. Vier Bewaffnete hatten sich gewaltsam Zugang zu seinem Haus verschafft, wo sie auf Emadeddin Baghis Schwager einschlugen. Die PolizeiangehĂśrigen in Zivil zeigten dabei kurz einen Haftbefehl, in dem kein Name genannt war. Als Emadeddin Baghi sagte, dass er im Gefängnis stark bleiben werde, entgegneten ihm die Polizisten, er brauche sich nicht anzustrengen, da er im Gefängnis nicht lange Ăźberleben werde. Seine Festnahme erfolgte kurz nachdem ein Interview mit dem Geistlichen Ayatollah Montazeri, das Emadeddin Baghi zwei Jahre zuvor gefĂźhrt hatte, ausgestrahlt worden war. Emadeddin Baghi wurde bereits mehrere Male inhaftiert. Nach seiner jĂźngsten Festnahme rief der Menschenrechtsverteidiger seine Familie an und bestätigte, dass er sich in Trakt 240 des Evin-Gefängnisses in Teheran befinde. Er hat seither weder weiteren Kontakt zu seiner Familie noch zu einem Anwalt oder Arzt aufnehmen dĂźrfen. Amnesty International betrachtet ihn als gewaltlosen politischen Gefangenen. Emadeddin Baghi grĂźndete 2002 die Vereinigung zur Verteidigung der Rechte von Gefangenen (Association for the Defence of Prisoners’ Rights), eine Organisation, die Informationen Ăźber Folter und andere Misshandlungen von Gefangenen zusammenträgt. Im August 2009 wurde die Organisation von den BehĂśrden geschlossen. Bereits seit Oktober 2004 wird Emadeddin Baghi die Ausreise verwehrt. Daher war es ihm im November 2009 nicht mĂśglich, den Martin-Ennals-Preis fĂźr Menschenrechtsverteidiger in Genf persĂśnlich entgegenzunehmen. Bitte schreiben Sie hĂśflich formulierte Briefe an die Oberste Justizautorität und fordern Sie die sofortige und bedingungslose Freilassung von Emadeddin Baghi. Dringen Sie auĂ&#x;erdem darauf, dass man alle Anklagen gegen ihn fallen lässt und die Schikanen gegen ihn und seine Familie einstellt. Schreiben Sie in gutem Persisch, Arabisch, Englisch oder auf Deutsch an: Ayatollah Sadeqh Larijani Howzeh Riyasat-e Qoveh Qazaiyeh (Office of the Head of the Judiciary) Pasteur Street Vali Asr Avenue south of Serah-e Jomhouri Tehran 1316814737 IRAN (korrekte Anrede: Your Excellency) E-Mail: info@dadiran.ir (Betreff: FAO Ayatollah Larijani) Standardbrief Luftpost bis 20 g: â‚Ź 1,70 Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Islamischen Republik Iran S.E. Herrn Alireza Sheikh Attar Podbielskiallee 65–67, 14195 Berlin Fax: 030 - 84 35 35 35 E-Mail: iran.botschaft@t-online.de

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Mon Balaj, 26 Jahre, und Arben Xheladini, 34 Jahre, wurden am 10. Februar 2007 während einer De monstration in Pristina von nicht identifizierten Polizisten getĂśtet. Diese gehĂśrten zu einer Einheit der rumänischen Polizei, die im Rahmen der UNMission UNMIK fĂźr die Vereinten Nationen im Kosovo tätig war. Die Polizei war mit Tränengas und Gummigeschossen gegen Demonstrierende vorgegangen. Mon Balaj und Arben Xheladini starben an Kopfverletzungen, die sie durch Gummigeschosse erlitten. Eine interne Untersuchung machte Âťnicht namentlich bekannteÂŤ rumänische Polizeibeamte fĂźr den Tod verantwortlich. Vor Gericht gestellt wurde bislang niemand. Im März 2008 reichten die Eltern der GetĂśteten beim Beratenden Menschenrechtsausschuss (Human Rights Advisory Panel – HRAP) Beschwerde gegen die UNMIK ein. Der HRAP ist eine Einrichtung der UNMIK. Hier sollen Opfer von Menschenrechtsverletzungen Wiedergutmachungen zugesprochen bekommen, wenn AngehĂśrige der UNMIK ihre Rechte verletzt haben. Die UNMIK hat schon mehrere Male versucht, eine Bearbeitung des Falls durch den HRAP zu behindern, so verweigerte sie die Teilnahme an Ăśffentlichen AnhĂśrungen. Zudem bot die UNMIK den FamilienangehĂśrigen zwar eine Entschädigung an, forderte jedoch im Gegenzug ihre Zustimmung dazu, die Untersuchungen einzustellen. Im Oktober 2009 fĂźhrte die UNMIK schlieĂ&#x;lich eine neue Vorschrift ein, mit deren Hilfe der HRAP an einer weiteren PrĂźfung der Beschwerde gehindert werden kann. Bitte schreiben Sie hĂśflich formulierte Briefe an die Mission der Vereinten Nationen im Kosovo (UNMIK) und fordern Sie sie auf, sicherzustellen, dass die Familien von Mon Balaj und Arben Xheladini angemessene Entschädigungen erhalten. Dazu zählen unter anderem Schadensersatz, eine Ăśffentliche Entschuldigung und juristische Sanktionen gegen die Verantwortlichen. Fordern Sie die UNMIK auĂ&#x;erdem auf, bei der PrĂźfung des Falls mit dem Beratenden Menschenrechtsausschuss (HRAP) zu kooperieren und an einer Ăśffentlichen AnhĂśrung teilzunehmen. Schreiben Sie in gutem Englisch oder auf Deutsch an: H.E. Lamberto Zannier Special Representative of the UN Secretary-General and Head of UNMIK UNMIK Headquarters – Kosovo P.O. Box 515 1000 Skopje MAZEDONIEN (korrekte Anrede: Your Excellency) Fax: 001 - 212 - 963 98 77 E-Mail: ehailu@un.org Standardbrief Luftpost bis 20 g: â‚Ź 0,70 Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Kosovo S.E. Herr Dr. Vilson Mirdita Wallstr. 65, 10179 Berlin Fax: 030 - 240 47 69 29 E-Mail: embassy.germany@ks-gov.net

briefe GeGen das verGessen

Fotos: People's Democratic Party

Fotos: privat

kosovo (serbien) mon balaj und arben xheladini

vietnam tran Quoc hien und doan van dien Die ÂťUnited Workers-Farmers OrganizationÂŤ (UWFO) ist eine nabhängige Gewerkschaft in Vietnam, die 2006 gegrĂźndet u wurde, um die Rechte der Arbeiter zu schĂźtzen und zu fĂśrdern. Da unabhängige Gewerkschaften in Vietnam bislang verboten sind, setzt sich die UWFO auch fĂźr das Recht ein, frei von staatlicher Einflussnahme Gewerkschaften grĂźnden und sich ihnen anschlieĂ&#x;en zu dĂźrfen. Im November 2006 waren drei fĂźhrende Mitglieder der UWFO bei Aktionen gegen Regierungskritiker festgenommen geworden. Einer von ihnen war Doan Van Dien. Er wurde am 10. Dezember 2007 zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt und sitzt bis heute im Gefängnis. Tran Quoc Hien wurde am 12. Januar 2007 verhaftet. Er war Leiter einer Rechtsanwaltskanzlei in Ho Chi Minh Stadt. Die Kanzlei leistete Landwirten rechtlichen Beistand, deren Land von den BehĂśrden beschlagnahmt worden war. Zwei Tage vor seiner Festnahme war er zum Sprecher der UWFO gewählt worden. Er wurde in einer Gerichtsverhandlung am 15. Mai 2007 zu fĂźnf Jahren Haft verurteilt. Auch er befindet sich nach wie vor im Gefängnis. Amnesty International geht davon aus, dass man die Männer nur wegen ihrer gewerkschaftlichen Arbeit verhaftet hat. Sie sind daher gewaltlose politische Gefangene, die aufgrund der friedlichen AusĂźbung ihrer Rechte auf freie MeinungsäuĂ&#x;erung und Vereinigungsfreiheit inhaftiert wurden. Diese Rechte werden jedoch durch den Internationalen Pakt Ăźber bĂźrgerliche und politische Rechte, den auch Vietnam unterzeichnet hat, garantiert. Bitte schreiben Sie hĂśflich formulierte Briefe an den vietnamesischen Premierminister und dringen Sie auf die sofortige und bedingungslose Freilassung von Tran Quoc Hien und Doan Van Dien. Fordern Sie die BehĂśrden auf, friedvolle Regierungskritiker nicht länger zu schikanieren und zu inhaftieren. Schreiben Sie in gutem Vietnamesisch, Englisch oder auf Deutsch an: Prime Minister Nguyen Tan Dung Office of the Prime Minister Hoang Hoa Tham Ha Noi Viet Nam (korrekte Anrede: Dear Prime Minister) Fax: 0084 - 43 - 823 18 72 (c/o Ministry of Foreign Affairs) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: â‚Ź 1,70) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Sozialistischen Republik Vietnam S.E. Herr HoĂ BĂŹn Do Elsenstr. 3, 12435 Berlin Fax: 030 - 53 63 02 00 E-Mail: sqvnberlin@t-online.de

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AMNESTY AKTUELL

Mutter werden. Ohne zu sterben. Frauen in der Stadt Kaya unterstĂźtzen die Kampagne gegen MĂźttersterblichkeit von Amnesty International.

karawane der hoffnunG In einer Tour durch zehn Städte mobilisierte Amnesty International in Burkina Faso Menschen fĂźr die Kampagne gegen MĂźttersterblichkeit. Von Annette Hartmetz ÂťStoppt weibliche GenitalverstĂźmmelung an unseren MädchenÂŤ, steht auf Daniels selbst gemaltem Bild. Vor der ganzen Klasse erzählt der 14-jährige SchĂźler aus Gaoua im SĂźdwesten Burkina Fasos: ÂťIch schreibe das, weil ich keine Mutter mehr habe. Sie hat meine Geburt nicht Ăźberlebt, weil sie verstĂźmmelt war, und sie soll bei der Geburt furchtbare Schmerzen erlitten haben.ÂŤ In Burkina Faso sterben jedes Jahr mehr als 2.000 Frauen während der Schwangerschaft oder bei der Geburt. Das sind im Schnitt fĂźnf Frauen pro Tag. Sie verbluten nach der Entbindung, die meisten sterben zu Hause, einige auf dem Weg zum Krankenhaus, in Taxis, auf Motorrädern oder zu FuĂ&#x;. Die MĂźttersterblichkeit ist unter den Frauen am hĂśchsten, die arm sind, einen niedrigen Bildungsstand haben und auf dem Land wohnen. Ihr Leben kĂśnnte in den meisten Fällen gerettet werden. Die Regierung von Burkina Faso setzt sich zwar seit 2006 aktiv gegen MĂźttersterblichkeit ein. Aber es gibt zu wenig Gesundheitszentren und Krankenhäuser im Land, sie sind zudem

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unterbesetzt und schlecht ausgerßstet. Informationen ßber Familienplanung und Verhßtungsmittel sind schwer zu erhalten, auch deshalb werden Mädchen oft frßh und ungewollt schwanger. Die Genitalverstßmmelung ist gesetzlich verboten, aber auf dem Land dennoch weitverbreitet. Am 27. Januar verÜffentlichte Amnesty International einen Bericht ßber Mßttersterblichkeit in Burkina Faso. Im Vorfeld hatten Amnesty-Experten das Land fßr die Recherchen vier Mal besucht. Einen Tag, nachdem der Bericht in der Hauptstadt Ouagadougou auf einer Pressekonferenz vorgestellt worden war, setzte sich die Karawane der Hoffnung mit Trucks und Kamelen in Bewegung. Mitarbeiter aus der Londoner Amnesty-Zentrale sowie Mitglieder von Amnesty International in Burkina Faso machten bis zum 9. Februar Station in neun weiteren Städten und Ortschaften. Die Teilnehmer sprachen mit auszubildenden Hebammen und traditionellen Geburtshelferinnen ßber Verbesserungen im Gesundheitssystem und trafen sich mit Vertretern von nationalen und internationalen Organisationen. An Schulen informierten sie ßber die Arbeit und Ziele der Amnesty-Kampagne und befragten Schßlerinnen und Schßler zu ihren Erfahrungen. Neben Poster- und Malwettbewerben wurden mehrere Sportveranstal-

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Informieren im Radio und beim Sport. Mädchen beim FuĂ&#x;ballspielen.

Mit Trucks und Kamelen. Die Karawane fĂźhrte durch die Sahel-Region.

Erfolg. Amnesty-Generalsekretär Cordone (l.) mit Präsident CompaorÊ.

tungen organisiert, bei denen vor allem Frauenteams gegeneinander antraten. Radiostationen sendeten Frage-Antwort-Runden zum Thema MĂźttersterblichkeit, an denen sich viele ZuhĂśrer beteiligten. In Bobo-Dioulasso, der zweitgrĂśĂ&#x;ten Stadt des Landes, zog die Karawane mit 100 Demonstrantinnen vor den Amtssitz des Gouverneurs. Dort stellte eine der Frauen eine Geburt nach und verkĂźndete, dass sie unmittelbar vor dem Haus des Gouverneurs gebären wĂźrde, wenn er ihrem Anliegen nicht zuhĂśren wĂźrde. Er nahm schlieĂ&#x;lich den Amnesty-Bericht persĂśnlich entgegen. Da 80 Prozent der Menschen in Burkina Faso nie die MĂśglichkeit hatten, lesen und schreiben zu lernen, waren TheaterstĂźcke zum Thema MĂźttersterblichkeit ein besonders gutes Mittel, um auf das Problem aufmerksam zu machen. Die Veranstaltungen waren sehr gut besucht, insbesondere der Abend in Gon Boussougou am fĂźnften Tag, an dem Ăźber 1.000 Menschen zusammenkamen und angeregt diskutierten. Besonders bewegend war fĂźr die Karawanenteilnehmer, wie viele Menschen begeistert auf sie reagierten. Frauen konnten ihre UnterstĂźtzung nicht nur durch Unterschriften ausdrĂźcken, sondern auch durch ein StĂźck eines sogenannten Pagnes, eines bunten, westafrikanischen Tuchs. ÂťFrauen rissen sich unmittel-

bar vor Ort ein StĂźck Stoff aus ihren KleidernÂŤ, berichtete Paule Rigaud, Amnesty-Campaignerin fĂźr Westafrika. Die Mitglieder der Karawane erlebten nicht nur groĂ&#x;e UnterstĂźtzung, sie konnten sich auch ein Bild von den katastrophalen Zuständen in Gesundheitszentren machen, beispielsweise in Gon Boussougou, einer Stadt mit sehr schlechter Infrastruktur. ÂťAuf zwei Fahrzeugen stand ›Krankenwagen‚. Sie hatten jedoch keine RäderÂŤ, erzählte Amnesty-Mitarbeiterin Pauline Dionisi. Am Ende der Reise sprach Amnesty im Namen vieler Tausend UnterstĂźtzer in Ouagadougou mit Regierungsmitgliedern und forderte sie auf, noch mehr gegen die hohe MĂźttersterblichkeit zu unternehmen. Burkina Fasos Präsident Blaise CompaorĂŠ versicherte Amnesty-Generalsekretär Claudio Cordone, finanzielle HĂźrden abzubauen und den Zugang zu medizinischer Notversorgung und VerhĂźtungsmitteln zu gewährleisten. Damit in seinem Land nicht mehr so viele MĂźtter sterben mĂźssen.

Fotos: Amnesty

Mehr Rechte. Angehende Hebammen unterzeichen eine Petition.

amnesty aktuell

Die Autorin ist Kampagnen-Koordinatorin der deutschen Amnesty-Sektion. Beteiligen auch Sie sich an den Aktionen von Amnesty International fßr die Verringerung der Mßttersterblichkeit in Burkina Faso und anderen Ländern auf www.amnesty.de/muetter

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Fotos: Amnesty

AKTIV FĂœR AMNESTY

Symbolische Befreiung. Aktion der Amnesty-Gruppen aus der Oberpfalz auf dem Regensburger Neupfarrplatz am 27. Februar.

freiheit fßr shi tao Mit einer gespielten Gefangenenbefreiung haben die Amnesty-Gruppen aus der Oberpfalz am 27. Februar auf die Inhaftierung des chinesischen Menschenrechtsverteidigers Shi Tao aufmerksam gemacht. Gemeinsam mit Passanten demontierten sie eine auf dem Regensburger Neupfarrplatz aus Stellwänden nachgebaute Zelle und forderten die Freilassung des Journalisten. Shi Tao war 2005 zu zehn Jahren Haft verurteilt worden. Er hatte in einer E-Mail darßber informiert, dass die

REGENSBURG

chinesische Regierung Journalisten verboten hatte, im Vorfeld des Jahrestags ßber das Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens in Peking zu berichten (siehe auch S. 16). Die Befreiung Shi Taos fand im Rahmen der Bezirksversammlung der Amnesty-Gruppen statt, die sie immer mit einer Üffentlichen Aktion in der Regensburger Altstadt verbinden. 2009 entzßndeten die Mitglieder fßr Shi Tao 1.000 Teelichter und legten sie zu einer mit Stacheldraht umwickelten Kerze – dem Amnesty-Logo.

MENSCHENRECHTSBILDUNG IM MUSEUM ÂťGalgen, Rad und Scheiterhaufen – Einblicke in Orte des GrauensÂŤ heiĂ&#x;t eine Sonderausstellung im Neanderthalmuseum in Mettmann, die Prozesse, Richtstätten und Verurteilte porträtiert. Die Ausstellung schlägt einen Bogen von den frĂźhesten Hinweisen auf Hinrichtungsstätten im 13. Jahrhundert Ăźber die Zeit der Aufklärung bis zum heutigen Tag. Im Jahr 2008 wurden weltweit mindestens 2.390 Menschen exekutiert. 20.000 Verurteilte warten im Todestrakt auf ihre Hinrichtung. Diese Zahlen belegen, wie aktuell das Thema auch heute noch ist. Zum Begleitprogramm der Ausstellung gehĂśren museumspädagogische Veranstaltungen unter dem Motto ÂťFĂźr eine Welt ohne TodesstrafeÂŤ. Sie richten sich an SchĂźlerinnen und SchĂźler der Jahrgangsstufen 8 und 9 und werden von Mitgliedern der Amnesty-Gruppe gegen die Todesstrafe gestaltet. Dabei kĂśnnen sich die Jugendlichen nach der FĂźhrung durch die Ausstellung in der Werkstatt des Museums auch kĂźnstlerisch mit Farbe und Pinsel betätigen. Unter Anleitung sollen sie sich dort mit der Situation derjenigen auseinandersetzen, die an einer Hinrichtung unmittelbar beteiligt sind oder die zum Tode verurteilt

METTMANN

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wurden, und dies bildlich darstellen. Es ist eine sehr intensive und spannende Art der Bildungsarbeit, sagt Kßnstlerin und Amnesty-Mitglied Monika Hajak, die das Begleitprogramm betreut. Die Ausstellung läuft bis zum 27. Juni 2010. Die Work shops finden am 24. März, 28. April und 9. Juni statt, jeweils von 10 bis 13 Uhr. Anmeldung: info@amnesty-todesstrafe.de. Weitere Informationen auf www.neanderthal.de

AKTIV FĂœR AMNESTY Amnesty-Mitglieder geben den Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme und tragen somit einen unentbehrlichen Teil zur Arbeit von Amnesty International bei. Erfahren Sie mehr Ăźber weitere Aktionen und geplante Veranstaltungen auf www.amnesty.de/aktiv-vor-ort und www.amnesty.de/kalender. Seminarangebote finden Sie auf www.amnesty.de/seminare

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An drei Abenden im Februar zeigten Kinos in Leer und Papenburg den Gewinner-Film der Berlinale 2009 Eine Perle Ewigkeit von Claudia Llosa. Der Film handelt unter anderem von den Traumata, die Perus langer Bßrgerkrieg bei indigenen Frauen hinterlassen hat. Vor und nach dem Film informierten Mitglieder der Amnesty-Gruppe Papenburg die Kinozuschauer ßber die Geschichte von Carlos Jorge Garay, den sie seit einigen Jahren betreuen. Ursprßnglich sollte der gewaltlose politische Gefangene Ende 2009 freigelassen werden. Dies ist jedoch nicht geschehen. Daher ist es erforderlich, nochmals verstärkt auf seine Freilassung zu drängen, sagte Gruppen-Sprecher Gerold Siemer vor Beginn des Films. Dafßr benÜtigen wir die Hilfe der Kinobesucher. Ihre Unterschrift kann dazu beitragen, dass Carlos wieder zu seiner Familie und seiner vier Jahre alten Tochter zurßckkehren darf. Mehr als 100 Menschen folgten dem Aufruf und forderten mit ihrer Unterschrift die Freilassung von Carlos Jorge Garay.

PAPENBURG

ÂťWIDERSTAND IST WEIBLICHÂŤ EUTIN Weltweit haben Amnesty-Mitglieder den Internatio-

nalen Frauentag am 8. März dazu genutzt, gegen Menschenrechtsverletzungen an Frauen zu protestieren. Im Mittelpunkt standen dabei Aktionen, die unter dem Motto ÂťĂœber LebenÂŤ die Bekämpfung der weitverbreiteten MĂźttersterblichkeit in Burkina Faso forderten. Die AmnestyGruppe Eutin/PlĂśn nahm den Tag zum Anlass, um Ăźber die Situation der Frauen im Iran zu informieren. Die ira nische Anwältin und Menschenrechtsaktivistin Behjat Moaali berichtete in ihrem Vortrag ÂťDer Widerstand ist weiblichÂŤ Ăźber die Rolle der Frauen bei den regimekritischen Protesten. Bei den Demonstrationen laufen sie ganz vorne mit, viele werden inhaftiert und gefoltert, doch ihr Kampfgeist konnte bisher nicht gebrochen werden. Ergänzend zu diesem Vortrag zeigte die Gruppe am 14. März den Film ÂťGreen DaysÂŤ, der die Ereignisse um die Präsidentenwahl 2009 im Iran beleuchtet. Die Regisseurin Hana Makhmalbaf, die im Iran geboren ist und inzwischen im franzĂśsischen Exil lebt, mischt darin Spielfilmszenen mit Dokumentaraufnahmen. Sie hatte die Dreh arbeiten kurz vor den umstrittenen Wahlen begonnen.

MONIKA LĂœKE ĂœBER

AFGHANISTAN

Zeichnung: Oliver Grajewski

UNTERSCHRIFTENAKTION IM KINO

Seit kurzem haben wir es regierungsamtlich: Was in Afghanistan stattďŹ ndet, ist Krieg. VĂślkerrechtlich gesprochen, ein Âťnicht-internationaler bewaffneter KoniktÂŤ. Noch mehrere Jahre wird die Bundeswehr dort kämpfen. Nicht erst seit dem Luftangriff auf zwei Tanklaster nahe Kundus wissen wir, dass Zivilisten in Afghanistan besser geschĂźtzt werden mĂźssen. Es kann keinen Zweifel daran geben, dass die Bundeswehr in Afghanistan an das deutsche Grundgesetz gebunden ist. Das bedeutet zum Beispiel, dass Gefangene nicht an die afghanischen BehĂśrden Ăźbergeben werden dĂźrfen, solange ihnen dann Folter droht, und dass binnen 48 Stunden ein Richter Ăźber ihre Haft entscheiden muss. Wie lässt sich das im Feld hinbekommen? Das ist eine von vielen offenen Fragen. Denn was die Soldaten im Einzelnen dĂźrfen und was sie unterlassen mĂźssen, klärt das Grundgesetz nicht. Deshalb brauchen wir dringend ein Bundesgesetz, das dies im Einzelnen regelt. Ich habe in den vergangenen Wochen AuĂ&#x;enminister Westerwelle, Verteidigungsminister zu Guttenberg, Innenminister de Maizière und den SPD-Vorsitzenden Gabriel getroffen und ihnen unsere Anliegen zu Afghanistan vorgestellt. Dazu gehĂśren eine Polizeiausbildung, die groĂ&#x;en Wert auf die Menschenrechte legt, Aufbau einer funktionierenden Justiz, Ende von Folter und Misshandlung in den Gefängnissen, Schutz der Rechte von Frauen. Wir brauchen Klarheit und mehr Fokus auf die Menschenrechte. Damit Kundus sich nicht wiederholt und die Afghaninnen und Afghanen tatsächlich einer friedlicheren und freieren Zukunft entgegensehen kĂśnnen. Monika LĂźke ist Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty.

impressum Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., 53108 Bonn, Tel.: 0228 - 98 37 30, E-Mail: Info@amnesty.de, Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion Amnesty Journal, Postfach 58 01 61, 10411 Berlin, E-Mail: journal@amnesty.de (fĂźr Nachrichten an die Redaktion) Redaktion: Bernd Ackehurst, Markus N. Beeko, Daniel Kreuz, Ferdinand Muggenthaler (V.i.S.d.P.), Larissa Probst Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit Albrecht, Corinna Arndt, Daniel Bax, Marcus Bensmann, Hans-Ulrich Dillmann, Michael Gottlob, Annette Hartmetz, Ingo Jacobsen, Ines Kappert, JĂźrgen Kiontke, Martin KrauĂ&#x;, Monika LĂźke, Jan-Philipp Neetz, Dirk Pleiter, Jorun Poettering, Joachim Rehbein, Wera Reusch, Tom Schimmeck, Uta von Schrenk, Tatjana SchĂźtz, Martina Schwikowski, JĂźrgen Stryjak, Keno Verseck, Wolf-Dieter Vogel, Urs Wälterlin, Sarah Wildeisen

Druck: Johler Druck GmbH, Gadelander Str. 77, 24539 Neumßnster Bankverbindung: Amnesty International, Kontonr. 80 90 100, Bank fßr Sozialwirtschaft (BfS), KÜln, BLZ 370 205 00 Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und erscheint sechs Mal im Jahr. Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Nichtmitglieder kÜnnen das Amnesty Journal fßr 30 Euro pro Jahr abonnieren. Fßr unverlangt eingesandte Artikel oder Fotos ßbernimmt die Redaktion keine Verantwortung. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder. Die Urheberrechte fßr Artikel und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch fßr die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, fßr die Verbreitung im Internet oder fßr Vervielfältigungen auf CD-Rom.

ISSN: 1433-4356 | Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Recyclingpapier.

Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de

aktiv fĂźr amnesty

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BRANDHERD KOLUMBIEN MORDDROHUNGEN GEGEN DEN GEWERKSCHAFTER JAVIER CORREA

Kolumbien ist fĂźr Gewerkschaftsmitglieder eines der gefährlichsten Länder der Welt. Im vergangenen Jahr wurden 37 Morde gezählt, 46 im Jahr davor. Ihr Einsatz und Engagement fĂźr sozial Schwache, fĂźr Landvertriebene und fĂźr die Rechte von Arbeitern macht sie selbst zur Zielscheibe. In dem seit Ăźber vierzig Jahren andauernden KPVGTPGP DGYCHHPGVGP -QPĆƒ KMV YKTF FGP /KV gliedern von Gewerkschaften und sozialen Organisationen vorgeworfen, UnterstĂźtzer der )WGTKNNCU \W UGKP &GT 8QTYWTH IGJV XQP 4G gierungsvertretern und deren paramilitärischen VerbĂźndeten aus. Aktive Gewerkschafter und Menschenrechtsverteidiger werden deshalb schikaniert, massiv unter Druck gesetzt und einige wurden sogar ermordet. ,CXKGT %QTTGC 2TĂ€UKFGPV FGT .GDGPUOKVVGN IGYGTM schaft SINALTRAINAL in Bucaramanga, erhielt am 24. November 2009 zum wiederholten Male eine Morddrohung. Zwei weitere Mitglieder der Gewerkschaft sind bereits tot. Sie wurden vermutlich beide von Paramilitärs erschossen.

„Javier Correa, hĂśr auf mit deinem ideologischen Guerilla-Gerede – du musst die Region verlassen – ansonsten werden wir die Leichen deiner Familie an Weihnachten in ein Massengrab legen.“ Seit 2007 werden Javier Correa, JosĂŠ Domingo Florez und LuĂ­s Eduardo GarcĂ­a, fĂźhrende Mitglieder von SINALTRAINAL, immer wieder mit dem Tod bedroht. Auch ihre FamilienangehĂśrigen werden eingeschĂźchtert, geschlagen und bedroht.

WERDEN SIE AKTIV UND FORDERN SIE – ausreichenden Schutz fĂźr die Gewerkschaftsmitglieder und ihre FamilienangehĂśrigen, – dass alle Mitglieder von Gewerkschaften ihre Gewerkschaftsarbeit zukĂźnftig ungehindert ausĂźben kĂśnnen, – die Untersuchung und vollständige Aufklärung der Morde und der Morddrohungen.

HIER GEHT ES ZUR ONLINE-PETITION: www.amnesty.de/Gewerkschaften


Javier Correa Š Amnesty International


Abs.: Amnesty International, Postfach, 53108 Bonn Postvertriebsstßck ¡ 1201 ¡ Entgelt bezahlt

MENSCHENRECHTE BRAUCHEN AUSDAUER Sie mÜchten Ihre sportlichen Aktivitäten mit einem guten Zweck verbinden? Dann bitten Sie doch Verwandte und Bekannte bei Ihrem nächsten Wettkampf um eine Spende zugunsten von Amnesty International. www.amnesty-in-bewegung.de


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