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das Magazin für die Menschenrechte
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aMnesty joUrnal
fair Play für alle weltMeisterschaft, soziale Proteste Und das erBe der diktatUr in Brasilien.
ein anderes sPiel ist Möglich 24 seiten Beilage zum thema fußball und Menschenrechte. Mit reportagen und Berichten über außergewöhnliche Mannschaften und ungewöhnliche spieler
straflos in kiew in der Ukraine werden Misshandlungen durch die Polizei kaum geahndet
04/05
2014 aPril/Mai
Illustration: André Gottschalk
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Anton Landgraf ist Redakteur des Amnesty Journals
Foto: Mark Bollhorst / Amnesty
editorial
er wollte nUr ein Brot für seine faMilie kaUfen … … dann traf ihn eine Tränengasgranate am Kopf. Mitte März starb in Istanbul der 15-jährige Berkin Elvan nach 269 Tagen im Koma. Er war im vergangenen Sommer bei einer regierungskritischen Demonstration zufällig zwischen die Fronten geraten. Niemand wurde bislang für diesen Vorfall zur Verantwortung gezogen. Ministerpräsident Erdoğan bezeichnete die Sicherheitskräfte wenig später sogar als »Helden«. In den Tagen nach dem Tod von Berkin Elvan demonstrierten in der Türkei erneut mehr als zwei Millionen Menschen. Wieder wurden zahlreiche Teilnehmer verletzt und unzählige Tränengaspatronen verschossen. Über die Entwicklung in der Türkei werden wir in der nächsten Ausgabe berichten. Auch in Brasilien gab es in den vergangenen Wochen Proteste und Auseinandersetzungen. Im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft empören sich viele über die gewaltigen Kosten des Projekts, während das Land unter großen sozialen Problemen leidet. Immer wieder kommt es bei Demonstrationen zu Übergriffen der Militärpolizei, die bereits zu Zeiten der Diktatur eingesetzt wurde. In diesen Tagen jährt sich zum 50. Mal der Putsch der Generäle. Eine Gewaltherrschaft, die allgemein vergessen scheint – nicht jedoch von den Angehörigen der Opfer. Die Initiative »Nunca Mais« (Nie wieder), die auch von Amnesty International unterstützt wird, hat in Deutschland und in Brasilien ein umfangreiches Veranstaltungsprogramm organisiert, das sich mit der Aufarbeitung der Militärdiktatur beschäftigt (www.nuncamais.de). Die Weltmeisterschaft in Brasilien ist auch Anlass für unsere Beilage »Fußball und Menschenrechte«, die sich mit einigen ungewöhnlichen Aspekten des Spiels beschäftigt. Darin wird auch die Frage gestellt, warum menschenrechtliche Anliegen bislang bei der Vergabe sportlicher Großereignisse so wenig berücksichtigt worden sind. Eine Unterlassung, die künftig in diesem Maße nicht mehr möglich sein sollte. Kurz nach Redaktionsschluss gab es noch einen außergewöhnlichen Anlass zum Feiern: Die Verleihung des Amnesty-Menschenrechtspreises an die Anwältin Alice Nkom aus Kamerun. Sie ist nicht nur eine würdige Preisträgerin, sondern auch eine Inspiration für Aktivistinnen und Aktivisten in ganz Afrika. »Sogar meine Gegner sagen, dass ich diese Auszeichnung verdiene«, erklärte sie im Gespräch mit dem Amnesty Journal (Seite 48). Auch Alice Nkom und ihren Einsatz werden wir weiter aufmerksam verfolgen.
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Titelbild: Student bei einer Demonstration gegen Fahrpreiserhöhungen in São Paulo, Brasilien, am 17. Juni 2013. Foto: Miguel Schincariol / AFP / Getty Images
theMa 19 Eine brasilianische Geschichte Von Phyllis Bußler
20 Die Stunde der Unzufriedenen Proteste und Fußballweltmeisterschaft in Brasilien. Von Dawid Danilo Bartelt
24 Bleierne Jahre
rUBriken 06 Weltkarte 07 Erfolge 10 Panorama 12 Nachrichten 13 Interview: Lilija Schibanowa 15 Kolumne: Patrick Kroker 61 Rezensionen: Bücher 62 Rezensionen: Film & Musik 64 Briefe gegen das Vergessen 66 Aktiv für Amnesty 67 Selmin Çalışkan über Nofreteten aus Kamerun
In Brasilien verhindert ein Amnestiegesetz, dass Verbrechen aus der Zeit der Militärdiktatur verfolgt werden können. Eine Wahrheitskommission soll zur Aufklärung beitragen. Von Christian Russau
27 »Die Amnesty-Aktionen bereiteten den Militärs große Probleme« Vor 50 Jahren putschten sich in Brasilien Generäle an die Macht. Luiz Ramalho hat als Schüler in Rio de Janeiro und anschließend als Student in Deutschland gegen die Diktatur protestiert. Viel Unterstützung fand er dabei durch eine Amnesty-Gruppe aus Köln.
30 Mit Choro und Samba Seit gut zwei Jahren hat Amnesty ein Büro in Rio de Janeiro. Polizeigewalt, Zwangsräumungen und das Erbe der Militärdiktatur sind nur einige der Themen, mit denen es sich beschäftigt. Von Sara Fremberg
33 Hilferuf aus dem Fenster Auf dem Höhepunkt der Militärdiktatur wurde Luiz Rossi 1973 verschleppt und gefoltert. Um seine Freilassung zu erreichen, startete Amnesty zum ersten Mal eine sogenannte »Urgent Action«. Rossi wurde tatsächlich entlassen und Eilaktionen sind aus der Arbeit von Amnesty nicht mehr wegzudenken. Von Sara Fremberg
34 Die Fenster von Prestes Maia Fotos oben: Yasuyoshi Chiba / AFP / Getty Images | Gustavo Germano | Andreea Tanase | Ahmed Hassan
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Berichte
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38 Die Unerwünschten
54 Der demokratische Platz
Im rumänischen Ort Miercurea Ciuc hausen 150 Roma in einem Slum neben der städtischen Kläranlage. Von Keno Verseck
42 Eine Entschuldigung ist nicht genug In der Ukraine wurden bei den Protesten hundert Menschen von der Polizei getötet und 800 verletzt. In dem osteuropäischen Land gibt es eine langjährige Kultur der Straflosigkeit. Von Jovanka Worner
44 »Es könnte Blut fließen« Präsident Lukaschenko regiert die osteuropäische Republik Belarus mit eiserner Hand. Im Interview spricht der Journalist Aliaksandr Atroshchankau über seine Zeit im KGB-Gefängnis, seine Angst vor einem Bürgerkrieg und die Gleichgültigkeit des Westens.
46 Zeit für Fair Play Im Mai wird die Eishockey-WM in der belarussischen Hauptstadt Minsk ausgetragen. Sportfans sollten nicht die Augen vor Menschenrechtsverletzungen in dem Land verschließen. Von Jovanka Worner
47 »Wir haben mächtige Gegner« Seit mehr als zwei Jahrzehnten kämpft Natalia Sarapura in Argentinien für die Rechte der Ureinwohner. Im Interview spricht die 39-Jährige über die Verbrechen der Kolonialzeit und den Landraub ausländischer Konzerne.
48 »Ja, ich bin die Mama der Schwuchteln…« Alice Nkom kämpft in ihrer Heimat Kamerun für die Rechte von Schwulen und Lesben. Die 69-Jährige spricht im Interview über das Verbot von Homosexualität, christliche Homophobie und die Gefahr, die ihre Arbeit mit sich bringt.
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Jehane Noujaims Dokumentation »Al midan« hat bei der diesjährigen Berlinale den Amnesty-Filmpreis gewonnen. Die engagierte Erzählhaltung und die mutige Kameraführung des Films vermitteln einen unmittelbaren Eindruck von der Protestbewegung in Ägypten. Von Jürgen Kiontke
56 Vergessener Blutzoll Paco Ignacio Taibo II ist Mexikos eigenwilligster Autor. In seinen Kriminalromanen vermittelt er Geschichte und in seinem jüngsten Buch hat er einen längst vergessenen Genozid an einem indigenen Volk verarbeitet. Die Dokumentation über die Yaqui ist in Mexiko bereits ein Bestseller. Von Knut Henkel
58 Deutschland im geheimen Krieg Viele machen für die Drohnenangriffe in Afghanistan, Jemen und Somalia allein die USA verantwortlich. Doch Deutschland mischt mit. Neue Bücher, Filme und Webseiten geben erste Einblicke. Von Maik Söhler
60 Fast alles ist geschehen Die schweren Menschenrechtsverletzungen, die in Brasilien während der Militärdiktatur verübt wurden, sind bis heute nicht aufgearbeitet. Bernardo Kucinskis eindrucksvoller Roman »K. oder Die verschwundene Tochter« fordert Aufklärung. Von Wera Reusch
63 Blick in eine verborgene Welt Das kurdische Frauen-Trio »Mara« will die weibliche Seite kurdischer Balladen aufzeigen – in der Türkei auftreten können die politisch engagierten Musikerinnen nicht. Von Daniel Bax
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sPanien
türkei
syrien
In Spanien könnte Abtreibung bald wieder illegal sein. Die konservative Regierung plant, das entsprechende Gesetz massiv zu verschärfen. Ein Schwangerschaftsabbruch wäre demnach künftig nur noch in wenigen Ausnahmefällen legal – wenn die Frau Opfer einer Vergewaltigung wurde oder ihr Leben durch die Schwangerschaft in Gefahr ist. Bislang war es Frauen möglich, während der ersten 14 Wochen selbst über einen Schwangerschaftsabbruch zu entscheiden. Amnesty hat das Gesetzesvorhaben scharf kritisiert. Die Menschenrechtsorganisation befürchtet, dass in Spanien künftig illegale Abtreibungen an der Tagesordnung sein könnten, bei denen Frauen ihre Gesundheit oder gar ihr Leben aufs Spiel setzen.
Berkin Elvan lag 269 Tage im Koma, nun ist der 15-Jährige seinen Verletzungen erlegen. Der türkische Junge war im vergangenen Juli auf dem Weg zum Bäcker, als er bei einer Demonstration zwischen die Fronten geriet. Ein Tränengasgeschoss der Polizei traf ihn am Kopf. Die Nachricht seines Todes löste am 11. März in rund 30 türkischen Städten Proteste aus. In Istanbul ging die Polizei mit Tränengas und Wasserwerfern gegen etwa 1.000 Demonstranten vor, die sich vor dem Krankenhaus versammelt hatten, in dem Berkin Elvan gestorben war. Seit dem Beginn der Massenproteste gegen die Regierung Erdoğan sind vier Menschen durch Polizeigewalt ums Leben gekommen. Amnesty International kritisierte, dass keine strafrechtlichen Ermittlungen gegen die Polizisten eingeleitet wurden.
Sie setzen Hunger als Kriegswaffe ein: Die Soldaten des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad belagern seit Monaten Yarmouk, einen Vorort der Hauptstadt Damaskus – und machen sich dabei schwerer Kriegsverbrechen schuldig. Ein neuer Bericht von Amnesty International belegt, dass die Bewohner Yarmouks bewusst ausgehungert werden. Mindestens 128 Menschen sind bereits den Hungertod gestorben. Zudem haben syrische Truppen wiederholt zivile Gebäude wie Schulen und Krankenhäuser bombardiert, in denen Flüchtlinge Unterschlupf gesucht hatten. Insgesamt dokumentiert der Amnesty-Bericht den Tod von fast 200 Zivilisten in Yarmouk.
Ausgewählte Ereignisse vom 28. Februar bis 12. März 2014
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nigeria
sUdan
Die Gewalt in Nigeria hat einen neuen Höhepunkt erreicht: Im Nordosten des Landes wurden allein in den ersten beiden Monaten dieses Jahres mehr als 600 Menschen von unbekannten Kämpfern ermordet. Auch Minderjährige zählen zu den Opfern. Experten vermuten, dass hinter den Taten die Terrorgruppe Boko Haram steckt. Die islamische Sekte führt im stark muslimisch geprägten Norden des Landes einen brutalen Feldzug. Ihr Ziel ist die Errichtung eines islamischen Gottesstaates auf Grundlage der Scharia. Amnesty International kritisierte das Versagen der nigerianischen Regierung, Zivilisten effektiv vor Angriffen zu schützen.
Mit übermäßiger Gewalt sind sudanesische Sicherheitskräfte am 11. März in der Hauptstadt Karthum gegen Demonstranten vorgegangen. Auch Schusswaffen kamen dabei zum Einsatz. Ein Demonstrant wurde getötet, ein weiterer schwer verletzt. Mehr als hundert Personen wurden festgenommen. Die Demonstranten hatten vor der Universität Karthum gegen das militärische Vorgehen der sudanesischen Regierung in der Konfliktregion Darfur protestiert. Amnesty International kritisierte den brutalen Einsatz der Sicherheitskräfte und forderte die Behörden des Landes auf, gegen die Verantwortlichen strafrechtliche Ermittlungen einzuleiten.
Malaysia Es war ein überraschendes Urteil: Der malaysische Oppositionsführer Anwar Ibrahim soll für fünf Jahre ins Gefängnis, weil er sich der Homosexualität »strafbar« gemacht habe. Gleichgeschlechtliche Liebe ist in dem islamisch geprägten Land verboten. Der 66-jährige Anwar Ibrahim zählt zu den prominentesten Oppositionellen Malaysias. Bereits vor zwei Jahren stand er wegen des Vorwurfs der Homosexualität vor Gericht, damals sprachen ihn die Richter frei. Nun hat ihn ein Berufungsgericht schuldig gesprochen. Prozessbeobachter gehen davon aus, dass die Vorwürfe politisch motiviert sind. Amnesty International hat die malaysische Justiz aufgefordert, den Schuldspruch zu revidieren.
aMnesty joUrnal | 04-05/2014
Foto: Amnesty North Africa
erfolge
»Freiheit für Jabeur!« Auf der ganzen Welt setzten sich Amnesty-Aktivisten für die Freilassung des jungen Tunesiers Jabeur Mejri ein.
eine karikatUr Und ihre folgen Das Gerichtsurteil machte weltweit Schlagzeilen: Der junge Tunesier Jabeur Mejri sollte 2012 wegen »Blasphemie« für siebeneinhalb Jahre hinter Gitter. Der Grund: Er hatte auf Facebook eine Karikatur des Propheten Mohammed und islamkritische Texte gepostet. Nach zwei Jahren Haft hat ihn nun Tunesiens Präsident Moncef Marzouki begnadigt. Der heute 30jährige Mejri durfte am 4. März das Gefängnis verlassen. Amnesty International begrüßte die Freilassung, kritisierte aber zugleich, dass die tunesischen Behörden das Urteil nicht aufgehoben haben. »Jabeur Mejri hätte niemals angeklagt, geschweige denn verurteilt und inhaftiert werden dürfen. Schließlich ist das Recht, seine Meinung frei zu äußern, in Tunesiens neuer Verfassung verbrieft«, sagte Amnesty-Experte Philip Luther. »Dass Jabeur Mejri für die Veröffentlichung der Bilder im Internet überhaupt zwei Jahre im Gefängnis verbringen musste, ist eine Farce. Die Hoffnung auf wirkliche Meinungsfreiheit in Tunesien wäre dadurch fast zerstört worden. Die Behörden müssen seinen Fall richtigstellen und seinen Namen endgültig reinwaschen.«
tUnesien
kongolesischer warlord in den haag verUrteilt
Für die Richter in Den Haag ist seine Schuld erwiesen: Der Internationale Strafgerichtshof hat den kongolesischen Rebellenführer Germain Katanga wegen Beihilfe zu Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. Das Strafmaß wird in den kommenden Wochen bekanntgegeben. Der heute 35-Jährige soll vor elf Jahren an dem Überfall des Dorfes Bogoro im Osten der Demokratischen Republik
dr kongo
erfolge
Amnesty International hatte Jabeur Mejri als gewaltlosen politischen Gefangenen anerkannt und sich wiederholt für ihn eingesetzt – unter anderem im Rahmen eines Briefmarathons, bei dem im vergangenen Dezember Tausende Aktivisten in Briefen an die tunesischen Behörden seine Freilassung forderten. »Dass Jabeur Mejri nun das Gefängnis verlassen durfte, ist eine große Erleichterung für seine Familie und ein wichtiger Erfolg für alle Aktivisten, die sich weltweit für ihn stark gemacht haben«, so Amnesty-Experte Luther. Allerdings droht Mejri bereits neues Ungemach: Derzeit ermitteln die Behörden wegen Unterschlagung gegen ihn. Die Vorwürfe könnten ihm bis zu zehn Jahre Haft einbringen. Jabeur Mejri weist die Anschuldigungen zurück, laut seinem Anwalt gibt es keinerlei Beweise. Amnesty International befürchtet, dass es sich bei den Ermittlungen um reine Schikane handeln könnte, die einem alten Muster folgt: Unter Präsident Ben Ali, der im Januar 2011 seines Amtes enthoben wurde, waren konstruierte Anklagen und frei erfundene Anschuldigungen an der Tagesordnung.
Kongo beteiligt gewesen sein. Mehr als 200 Menschen, darunter viele Kinder, wurden damals von Rebellen mit Macheten niedergemetzelt. Das Strafgericht sprach Katanga jedoch von dem Vorwurf frei, Kindersoldaten rekrutiert und Mädchen als Sexsklavinnen missbraucht zu haben. Amnesty International begrüßte den Richterspruch. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
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Foto: Thomas Trutschel / Photothek / Getty Images
Sein Kampf geht weiter. Das Folteropfer Dimitri Bulatov während eines Besuchs im deutschen Außenministerium in Berlin, Februar 2014.
ende eines MartyriUMs Er wurde zu einer Ikone der Revolution: Der ukrainische Regierungskritiker Dimitri Bulatov war im Januar verschleppt und tagelang in extremer Weise gefoltert worden. Dass er seine schweren Verletzungen im Ausland behandeln lassen konnte, ist wohl auch den Eilaktionen von Amnesty International zu verdanken. »Sie haben mich gekreuzigt, meine Hände durchbohrt, mir ein Stück vom Ohr abgeschnitten, mein Gesicht zerschnitten. Es gibt an meinem Körper keine Stelle, die unverletzt ist.« Es sind drastische Worte, mit denen der Ukrainer Dimitri Bulatov sein Martyrium beschreibt. Wohl weil er sich an den Protesten gegen den inzwischen gestürzten Präsidenten Janukowitsch beteiligt hatte, war der 35-Jährige am 22. Januar von Unbekannten verschleppt und tagelang misshandelt worden. Dass die ukrainischen Behörden ihm am 1. Februar gestatteten, ins Ausland zu reisen, um seine Verletzungen behandeln zu lassen, ist vermutlich vor allem dem internationalen Druck zu verdanken. Auch Amnesty hatte sich mit Eilaktionen dafür stark gemacht. Bulatov war einer der Anführer des sogenannten »Automaidan« – einer Gruppe zumeist junger Pkw-Besitzer, die mit ihren Autos durch die Hauptstadt Kiew fuhren, um Europafahnen zu schwenken, Polizeibussen den Weg zu versperren und vor den Prunkvillen der ukrainischen Polit-Elite zu demonstrieren. Vermutlich wurde Dimitri Bulatov dieses Engagement zum Verhängnis. Wie er später berichtete, wurde er von Männern verschleppt, die mit russischem Akzent sprachen. Die Folterer unterstellten ihm Spionagetätigkeit, fragten nach Drahtziehern des »Automaidan« und nach ausländischen Geldgebern. Nachdem ihn seine Peiniger tagelang misshandelt hatten, setzten sie ihn am 30. Januar bei eisiger Kälte in einem Wald-
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stück außerhalb von Kiew aus – was einem Todesurteil gleichkam: Bulatov war schwer verletzt, er hatte seit Tagen kaum gegessen und es herrschten Minustemperaturen. Doch ihm gelang das schier Unmögliche: Er schleppte sich unter enormen Schmerzen in das nächste Dorf, um seine Freunde zu kontaktieren. Anschließend wurde Bulatov in ein Krankenhaus in Kiew gebracht, wo er auch prominenten Besuch empfing: Oppositionsführer Vitali Klitschko versicherte dem Schwerverletzten seine Solidarität. Bulatov selbst, seine Familie, Parlamentsabgeordnete und ausländische Organisationen forderten die Behörden auf, ihm die Ausreise zu gestatten. Der internationale Druck zeigte Wirkung: Das Gericht von Shevchenkovskiy in Kiew erlaubte Bulatov am 1. Februar, zur medizinischen Behandlung die Ukraine zu verlassen. Einen Tag später reiste er in die litauische Hauptstadt Vilnius. Bulatov ist kein Einzelfall. Auch andere Aktivisten wurden verschleppt, gefoltert und bei Minusgraden im Wald ausgesetzt. Einer von ihnen war Yury Verbytsky, der seinen Leidensweg nicht überlebte. Er wurde einen Tag vor Bulatovs »Verschwinden« tot in einem Waldstück aufgefunden. Seine Rippen sollen gebrochen gewesen sein. Nach dem Sturz von Viktor Janukowitsch hat sich die Lage in der Ukraine mitnichten entspannt. Doch für Dimitri Bulatov ist eines klar: Er wird weiter für eine demokratische Ukraine kämpfen. Nachdem seine Folterverletzungen in Litauen medizinisch behandelt wurden, kehrte er in seine Heimat zurück. Dort gehört er mittlerweile als Minister für Sport und Familie der neuen Übergangsregierung an. Text: Victoria Flägel
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einsatz Mit erfolg Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen mit Appellschreiben an den »Urgent Actions«, den »Briefen gegen das Vergessen« und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz drohende Menschenrechtsverletzungen verhindert und Menschen in Not hilft, zeigen diese Beispiele.
deserteUr in freiheit
türkei Er landete im Gefängnis, weil er den Dienst an der Waffe nicht mehr mit seinem Gewissen vereinbaren konnte: Der ehemalige türkische Soldat Murat Kanatlı war im Februar zu einer zehntägigen Haftstrafe verurteilt worden, weil er sich 2009 geweigert hatte, an einer Militärübung teilzunehmen. Am 6. März wurde er nach Verbüßung der Haftzeit aus dem Gefängnis entlassen. Auch in den Jahren 2010 und 2011 hatte Kanatlı die Teilnahme an Militärübungen verweigert. Zwei weitere Verfahren sind deshalb noch anhängig. Nach seiner Freilassung dankte er allen Amnesty-Aktivisten, die sich mit einer Eilaktion für ihn eingesetzt hatten: »Diese Eilaktion war sehr wichtig, um den Behörden zu zeigen, dass die Welt zusieht und dass Personen, die aus ähnlichen Gründen angeklagt werden, ebenfalls nicht allein sein werden.«
hinrichtUng aUsgesetzt
kinder aUs haft entlassen
Bahrain Zwei Kinder im Alter von zehn und 13 Jahren verbrachten mehr als einen Monat im Gefängnis. Nun sind sie wieder frei: Ein Jugendgericht in der bahrainischen Hauptstadt Manama hat am 27. Januar angeordnet, die beiden Minderjährigen Jehad Nabeel al-Samee’ und ’Abdullah Yousif al-Bahrani freizulassen. Bis zur endgültigen Urteilsverkündung am 17. April werden die beiden jedoch unter der Aufsicht von Sozialarbeitern stehen. Die beiden Jungen waren Mitte Dezember in Jid Hafs unweit der Hauptstadt von Bereitschaftspolizisten festgenommen worden. Die Behörden legen den Kindern zur Last, während eines regierungskritischen Protestmarsches eine
Foto: Mohammed Al-Shaikh / AFP / Getty Images
Malaysia Am 7. Februar sollte er sterben, doch nun darf Chandran Paskaran wieder hoffen. Nachdem sich Amnesty und andere Menschenrechtsorganisationen für
ihn eingesetzt hatten, ist seine Hinrichtung bis auf Weiteres ausgesetzt worden. Seit elf Jahren ist Paskaran in einem Gefängnis unweit der malaysischen Hauptstadt Kuala Lumpur inhaftiert. Im April 2008 wurde er wegen Mordes zum Tode verurteilt. Das Todesurteil bleibt weiterhin bestehen, sodass Paskaran noch immer die Hinrichtung droht, falls der internationale Druck auf die Behörden nachlässt. Paskaran hat alle Rechtsmittel ausgeschöpft. Sein Gnadengesuch ist vom malaysischen König abgelehnt worden. Hunderten Menschen droht gegenwärtig in Malaysia die Vollstreckung ihrer Todesurteile. Hinrichtungen finden in dem südostasiatischen Staat im Geheimen statt – die Öffentlichkeit wird darüber weder vorher noch nachher informiert.
Im Fadenkreuz des Regimes. Bahrainische Kinder auf einer regierungskritischen Demonstration.
erfolge
Polizeistreife mit Steinen beworfen zu haben. Seit drei Jahren gehen in dem arabischen Königreich Menschen auf die Straße, um Freiheitsrechte und Mitbestimmung einzufordern. Die Sicherheitskräfte verschleppen regelmäßig Kinder, die im Verdacht stehen, an den Protesten teilgenommen zu haben. Im Gefängnis werden die Kinder routinemäßig gefoltert.
weiterhin chance aUf schlichtUng israel Und Besetzte PalÄstinensische geBiete
Seit Jahren will die israelische Armee rund 1.000 Palästinenser, darunter fast die Hälfte Kinder, aus ihren Dörfern im Süden des besetzten Westjordanlandes vertreiben, um Platz für ein militärisches Übungsgebiet zu schaffen. Nun dürfen die Palästinenser weiter hoffen, denn die Schlichtungsverhandlungen sind bis zum 24. April verlängert worden. Am 2. September 2013 hatte das Oberste Gericht Israels entschieden, dass die palästinensischen Dorfbewohner mit den israelischen Behörden in Verhandlungen treten sollten, um den Interessenskonflikt beizulegen. Die Verhandlungsdauer sollte ursprünglich vier Monate betragen. Das Gericht hatte die drohende Zwangsräumung der acht Dörfer allerdings nicht für rechtswidrig erklärt.
lgBti-verfahren eingestellt
Sie war wegen »Homosexuellenpropaganda« angeklagt, nun hat ein Gericht das Verfahren gegen die Russin Elena Klimova eingestellt. Die Journalistin hatte im März 2013 das Online-Projekt »Children 404« ins Leben gerufen, auf dem sich lesbische, schwule, bisexuelle, transgender und intersexuelle (kurz: LGBTI) Jugendliche über ihre Sorgen austauschen können. Das rief die Strafbehörden auf den Plan. In Russland ist seit vergangenem Sommer ein Gesetz in Kraft, welches »Propaganda für nicht-traditionelle sexuelle Beziehungen« unter Strafe stellt. Das Gericht in der im Ural gelegenen Stadt Nischni Tagil sprach Elena Klimova jedoch von dem Vorwurf frei. Vitaliy Milonov, der Parlamentsabgeordnete aus Sankt Petersburg, der die Klage gegen die Journalistin eingereicht hatte, will gegen die Entscheidung Rechtsmittel einlegen. rUssische föderation
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Foto: Siegfried Modola / Reuters
zentralafrikanische rePUBlik: gewalt gegen MUsliMe
Ein Putsch stürzte das Land im März 2013 in die Krise. Seither liefern sich Christen und Muslime in der Zentralafrikanischen Republik schwere Gefechte. Nun ist die Gewalt weiter eskaliert: In einem neuen Bericht wirft Amnesty International den christlichen Milizen vor, im Nordwesten des Landes Verbrechen an muslimischen Zivilisten begangen zu haben. Die Menschenrechtsorganisation spricht von »ethnischen Säuberungen«, die auch vor Kindern, Frauen und Greisen nicht Halt machten. »Das Ergebnis ist eine Massenflucht der Muslime von historischem Ausmaß«, heißt es in dem Bericht. Amnesty erhebt auch Vorwürfe gegen die internationalen Friedenstruppen, die sich seit Dezember 2013 im Land befinden. Die rund 2.000 französischen und 6.000 afrikanischen Soldaten hätten etliche Massaker verhindern können, blieben aber untätig. Kurz nach Veröffentlichung des Amnesty-Berichts forderte UNO-Generalsekretär Ban Ki-Moon den Sicherheitsrat auf, 10.000 Blauhelm-Soldaten und 1.820 UNO-Polizisten zur Friedenssicherung in das zentralafrikanische Land zu entsenden.
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venezUela: harter kUrs gegen deMonstranten
Die Unruhen reißen nicht ab und fordern immer mehr Tote: In Venezuela gehen seit Wochen Tausende gegen die Regierung auf die Straße. Sie protestieren gegen Korruption, Kriminalität und die grassierende Wirtschaftsmisere. Die Behörden reagieren mit Härte: Bei Straßenschlachten wurden bis Anfang März mindestens 18 Menschen getötet, mehr als 250 wurden verletzt. Nach Erkenntnissen von Amnesty International gingen die Sicherheitskräfte mit unverhältnismäßiger Gewalt gegen Demonstranten vor und machten dabei auch von Schusswaffen Gebrauch. Zudem gehen auch Bewaffnete in Zivil gegen Protestierende vor – offenbar mit Einverständnis der Behörden. Amnesty International hat Venezuelas Regierung aufgefordert, das Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit ohne jegliche Einschränkung zu gewährleisten. Die bisherigen Todesfälle müssen dringend untersucht werden. Gleichzeitig ermahnte die Menschenrechtsorganisation auch die Demonstranten, keine Gewalt anzuwenden. Foto: Juan Barreto / AFP / Getty Images
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Thema: Brasilien
In Brasilien findet bald das größte Sportereignis der Welt statt. Die Vorbereitungen für die Fußballweltmeisterschaft laufen auf Hochtouren. Doch auch die Kritiker sind am Start. Sie kritisieren die Kosten, die Korruption und die übermäßige Polizeigewalt. Diese ist auch ein Erbe der Militärdiktatur, die vor 50 Jahren begann.
Die Nationalflagge darf bei den Protesten nicht fehlen. Demonstrant in Fortaleza, Juni 2013. Foto: Victor R. Caivano / AP / pa
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Nein zu Privatisierung und Abriss. Proteste im Maracan達-Stadion in Rio de Janeiro, April 2013.
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aMnesty joUrnal | 04-05/2014
Foto: Silvia Izquierdo / AP / pa
Eine brasilianische Geschichte
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Brasilien
»Wenn mein Kind krank wird, soll ich es dann ins Stadion bringen?«, riefen die Protestierenden im vergangenen Juni, als in Brasilien die Menschen in Massen auf die Straße gingen, um für ein besseres Gesundheits- und Bildungssystem und gegen Korruption zu demonstrieren. Auch die extremen Kosten für die Fußball-Weltmeisterschaft wurden angeprangert. Wie wir wissen, ging die Polizei mit Gummiknüppeln, Tränengas und Wasserwerfern gegen die Protestierenden vor – selbst Journalisten wurden nicht verschont. Doch die WM steht erst noch bevor: Den zu erwartenden Demonstrationen begegnen die Ausrichterstädte, indem sie weiter militärisch aufrüsten. Mit der geplanten Verabschiedung eines sogenannten AntiTerrorgesetzes, das die Demonstrationsrechte erheblich einschränken soll, ist zudem eine weitere Kriminalisierung der Proteste zu erwarten. 2014 ist in Brasilien nicht nur das Jahr der WM – in diesem Frühjahr jährt sich auch der Militärputsch von 1964 zum 50. Mal. Mit dem Putsch brach eine mehr als zwei Jahrzehnte währende Militärdiktatur an, die von Repression, Folter und dem »Verschwindenlassen« von Personen geprägt war. Viele Andersdenkende suchten Asyl im Ausland. Schon damals kam Amnesty International eine wichtige Rolle zu, als sich Kölner Mitglieder für politisch Verfolgte in Brasilien einsetzten und damit die Brasilienarbeit der deutschen Sektion begründeten. Die Folgen des Militärregimes zeigen sich noch heute, etwa im repressiven Umgang mit Protesten. Damit sieht sich auch das Amnesty-Büro in Rio de Janeiro konfrontiert, das vor zwei Jahren gegründet wurde. Das Amnesty-Team demonstrierte im vergangenen Jahr mit – und bekam Pfefferspray und Tränengas der Polizei am eigenen Leib zu spüren. Die Herausforderungen, vor denen das noch junge Büro steht, schildert der Generalsekretär der brasilianischen Sektion Atila Roque. Phyllis Bußler ist Sprecherin der Brasilienkoordinationsgruppe der deutschen Amnesty-Sektion.
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Die Stunde der Unzufriedenen Proteste und FuĂ&#x;ballweltmeisterschaft in Brasilien. Von Dawid Danilo Bartelt
Im Aufbau. Demonstration gegen Korruption und steigende Preise in Recife, Juni 2013.
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aMnesty joUrnal | 04-05/2014
Foto: Yasuyoshi Chiba / AFP / Getty Images
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Brasilien
Foto: Luiz Maximiano / laif
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as bringt eigentlich so eine Fußballweltmeisterschaft? Die Antwort auf diese Frage hängt sehr von der Gegenfrage ab: »Für wen?« Den Zwangsgeräumten hat sie den Verlust ihres Heimes und zumeist auch ihrer wirtschaftlichen Lebensgrundlage gebracht. Ihre Häuser und Hütten mussten neuen Straßen, neuen Stadien oder neuen Apartments und Shoppingcentern für Besserverdienende weichen. Und nur in wenigen Fällen hielten sich die Verantwortlichen an die internationalen Normen für Zwangsräumungen, wie rechtzeitige Information und Beteiligung der Betroffenen, angemessene Entschädigung oder gleichwertiger Ersatz, wenn irgend möglich in der Nähe der alten Wohnung. Diese Normen finden sich auch in brasilianischen Gesetzen. Etwa 170.000 Menschen, so schätzt der Dachverband der brasilianischen WM-Volkskomitees, wird dies nicht helfen. Auch für die Allgemeinheit ist die Bilanz fragwürdig. Die Regierung verspricht erhebliche direkte und indirekte Effekte auf Wirtschaftswachstum und Beschäftigung, die von Ökonomen mehrheitlich bezweifelt beziehungsweise widerlegt werden. Die WM in Deutschland hat etwa drei Milliarden Euro gekostet, die in Südafrika 2010 vier Milliarden und in Brasilien sind es offiziell derzeit 8,5 Milliarden, davon bringt die öffentliche Hand mehr als 80 Prozent auf. Allein die Stadien verschlingen voraussichtlich knapp drei Milliarden Euro; die Aussicht, dass man sie nach der WM noch braucht, ist bei der Hälfte sehr gering, wenn nicht ausgeschlossen. Gewinner der WM sind schon jetzt die FIFA (voraussichtlich vier Milliarden Euro wird der Fußballverband in Brasilien einnehmen, steuerfrei) und die großen Baufirmen; die Tourismusbranche dagegen hat erhebliche Zweifel, dass das Weltereignis für sie lukrativ sein wird. Was bleibt, sind im besten Fall die Imagegewinne, die sich mittelfristig kapitalisieren sollen. Das deutsche Sommermärchen von 2006 wird hier gern genannt und nach offiziellem Willen soll es 2010 auch Südafrika gelungen sein, sich als moderne und tolerante »Regenbogennation« zu präsentieren. Die Brasilianer müssen der Welt nicht erst beweisen, dass sie feiern können und ein umgängliches Volk sind. Aber gerade was das Image angeht, fürchtet die Regierung unter Präsidentin Dilma Rousseff ein Eigentor. Denn die Chancen stehen gut, dass sich Bilder wiederholen, die seit Juni 2013 um die Welt gehen, von aufgebrachten Demonstranten, Tränengasschwaden, brennenden Barrikaden und einer hilflos und brutal agierenden Polizei. Mit Prügel und Gummikugeln gehen die Sicherheitskräfte gegen Brasilianerinnen und Brasilianer vor, die die Weltmeisterschaft im eigenen Land kritisieren. Nicht, weil sie Fußball nicht mögen oder der Seleção nicht die Daumen drücken, das tun die meisten sehr wohl. Sondern weil die von Regierung und Medien – nicht zuletzt ausländischen – beharrlich wiederholte Erfolgserzählung immer weniger mit den Alltagserfahrungen der Großstadtbrasilianer und damit der Mehrheit der Bevölkerung in Einklang zu bringen war. Am 21. Juni 2013, einen Tag, nachdem mehr als eine Million Menschen landesweit auf die Straße gegangen waren, sagte Rousseff: »Die Straße sendet uns eine direkte Botschaft. Es geht um die Ausübung staatsbürgerlicher Rechte, um bessere Schulen und Krankenhäuser, um das Recht auf Beteiligung … um öffentlichen Nahverkehr von Qualität und zu gerechten Preisen, um das Recht, Entscheidungen aller Regierungen sowie der Legislative und Judikative zu beeinflussen.« Die Präsidentin war damit so nahe dran an den Motiven wie andere Interpreten, die von einer allgemeinen Krise der politischen Legitimation spra-
Wem nützt die Weltmeisterschaft? Proteste in Belo Horizonte, Juni 2013.
chen. Tatsächlich war die Motivgemengelage komplex. Es begann mit dem Protest gegen Fahrpreiserhöhungen. Mobilisiert von der seit 2005 aktiven »Bewegung für einen kostenlosen Nahverkehr« hatten viele endgültig genug von überfüllten Bussen, langen Wartezeiten und noch viel längeren Fahrzeiten zur Arbeit, vom täglichen Verkehrskollaps der auf Individualverkehr setzenden Stadtpolitik. Gleichzeitig rühmte die Regierung, Brasilien sei nun sechstgrößte Volkswirtschaft der Welt und mittlerweile eine Mittelklassegesellschaft. Aber dass Wirtschaftswachstum allein noch keine zivilisatorische Entwicklung bedeutet, können die Brasilianer jeden Tag in ihren Schulen und Krankenhäusern beobachten, vor allem diejenigen, denen das Geld für Privatschulen und private Krankenversicherungen fehlt. Zudem brach das Wirtschaftswachstum ein und erreichte 2012 nur 0,9 Prozent. »Wir wollen Krankenhäuser und Schulen nach FIFAStandard«, war während der Proteste eine der Lieblingsparolen auf den handgemalten Plakaten in den Straßen. Auch die kaum verhehlte Korruption und Selbstbereicherung der politischen Klasse schürte die Unzufriedenheit. Immerhin entließ Präsidentin Dilma Rousseff allein in ihrem ersten Amtsjahr sieben Bundesminister, sechs davon wegen Korruption. Die Verflechtungen der großen Baufirmen mit der Politik sind ein offenes Geheimnis und Meldungen von Abgeordneten, die die Flugbereitschaft der Luftwaffe kostenlos nutzten, um mit ihrer Familie während des Confederation Cup ein Spiel zu sehen, rundeten das Bild ab. Folgerichtig hielten alle Parteien und Politiker wochenlang still, erklärten sich allenfalls solidarisch mit den Protestierenden. Sie wussten genau, dass sie alle gemeint waren. Es war eine gemischte Bewegung, die da plötzlich die Straße als öffentlichen und demokratischen Raum entdeckte: Studentinnen und Studenten vor allem aus der alten Mittelklasse, neben ihnen die dunkelhäutigen Kommilitonen der neuen Mittelklasse, darunter viele, die als Erste ihrer Familien ein Hochschulstudium absolvieren. Auch die Favelas gingen auf die Straße. Mobilisation per Facebook, Anonymous-Masken, Ocupa Copa: In Form und Symbolik reihten sie sich ein in die Bewegungen von Tunis bis zur New Yorker Wall Street. Ergänzt, wie oft in
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Foto: Mario Tama / Getty Images
Privatwohnung des Gouverneurs Sergio Cabral. Taxifahrer streikten, ebenso die Lehrer. Viele mussten lernen, was es heißt, einer kaum ausgebildeten, aber auf gewaltsame, ja tödliche Unterdrückung trainierten Polizei gegenüberzustehen: massenhafter Einsatz von Tränengasbomben oder Schockgranaten auch mitten in Wohnvierteln voller Restaurants und Geschäfte, Gummikugeln-Streufeuer, Pferdeund Schlagstockeinsatz. Eine längst überfällige Polizeikritik begann sich zu etablieren, nicht zuletzt, wie es schien, weil regelmäßig Journalisten von der Polizei misshandelt wurden. Doch je öfter radikalere Gruppen das mediale Protestbild bestimmten, desto weniger wurde das Polizeiverhalten problematisiert. Und immer weniger wurde differenziert: Aus Demonstranten wurden nun »Vandalen« – »etwa so, wie Favela-Bewohner alle Drogenkriminelle sind«, so Denis Neves, einer der Organisatoren der Proteste der Großfavela Rocinha. Dauerhafte Besatzung. Polizeieinsatz in einer Favela in Rio de Janeiro, Oktober 2013. Mindestens 13 Menschen sind einer Zählung des Unabhängigen Medienzentrums Rio zufolge während der Proteste an den Folgen von TräBrasilien, durch einen trotzig-militanten Nationalismus: »Ich nengas oder auf der Flucht vor der Polizeigewalt gestorben. Zahlbin stolz, ein Brasilianer zu sein« skandierend und die Nationalreiche wurden verletzt, vor allem durch Gummigeschosse. Vier hymne singend fanden sich viele zusammen, Nationalflaggen Tage nach den Massenprotesten erschoss die Sondereinheit der als Umhang wurden zum Verkaufsschlager. Auch einige rechte Polizei BOPE im Favela-Komplex Maré als Reaktion auf eine Schlägertrupps marschierten mit, griffen Gewerkschafter und Raubserie in einer Nacht zehn Menschen. Das Massaker fand Linke an. Und viele Zivilpolizisten, die zum Beispiel versuchten, außerhalb der Favela kaum Beachtung – zu normal ist es, dass die Demonstranten illegale Wurfgeschosse in den Rucksack zu Polizei dort nicht mit Gummi, sondern mit Blei schießt. Die Geschmuggeln. walt durchsetzt den öffentlichen Raum und führt zu permanenRegierungen und Parlamente reagierten überraschend ten Spannungen. Fälle von Selbstjustiz vor allem gegen Armutsschnell im Versuch, der Bewegung die Dynamik zu nehmen. kriminelle häufen sich, unlängst wurde ein schwarzer Junge, der Umgehend nahmen zahlreiche Stadtregierungen Fahrpreiserein Handy geklaut hatte, auf offener Straße nackt mit einem höhungen zurück. Die Regierung versprach ein Plebiszit über Fahrradschloss um den Hals an einen Laternenpfahl gekettet. eine »politische Reform«. Die zentralen systemischen Fehler jeUnverhältnismäßige Polizeigewalt ist aus Menschenrechtsdoch blieben unangetastet, die Klientelpolitik, die ins Absurde sicht ein altes Kernproblem der Sicherheitspolitik Brasiliens. In wuchernden Kosten der Staatsmaschinerie und die fehlende Rio haben die Pazifizierungseinheiten der Polizei (UPPs) seit Programmatik und Fraktionsdisziplin der sogenannten Parteien. Um Wahlkampffinanzierung soll es gehen, um Mehrheits- 2009 von sich reden gemacht und dies durchaus positiv. Die Strategie lautet, Favelas dauerhaft zu besetzen, anstatt wiederoder Verhältniswahlrecht und die Frage, ob ein Senator zwei holte Razzien mit schwerbewaffneten Einheiten durchzuführen, Stellvertreter haben muss. wobei immer wieder viele Unbeteiligte durch Querschläger beiKnapp ein Jahr später redet von diesem Plebiszit niemand der Seiten getötet wurden. mehr. Brasilien braucht dringend eine Politik- und ParteienreDas Ende dieser heißen Kriegsstrategie und Kollektivstrafe form, aber viele der Protestierenden stellten das Format Partei gegen die Favelas hat die Lebensqualität der Bewohner deutlich schlechthin infrage. Rousseff regiert mit einer Koalition aus 14 verbessert. Es hat auch erheblich dazu beigetragen, die Zahl der Parteien, die anderen bilden keine echte Opposition. Alle befinvon der Polizei Getöteten und zumeist außergerichtlich Hingeden sich auf der Innenseite des Systems, wie es Marcos Nobre, richteten zu senken. In Rio erschoss die Polizei 2007 nach offiPhilosophieprofessor in Campinas, formuliert hat. Doch nicht ziellen Zahlen 1.330 Menschen. Bis 2012 sank die Zahl um zwei nur Parteipolitiker, auch traditionelle soziale Bewegungen wie Drittel auf »nur« noch 414, doch sie steigt wieder, und auch die Gewerkschaften und NGOs haben den jungen Protestierenden Zahl der »Verschwundenen« – Menschenrechtsexperten vermuzufolge als Vermittler politischer Inhalte ausgedient. Die Krise ten, dass ein Teil der Toten in der Statistik dahin verschoben der Repräsentation ist auch ein Generationenkonflikt. wurde. Nach Juli 2013 verloren die Proteste an Beteiligung, gewanTrotz manch positiver Entwicklung: Eine Bürgersicherheit nen aber an Breite und Vielfalt und auch an Militanz. Nachbarn für Favelas ist mit dieser Polizei nicht herzustellen. Sicherheitstrafen sich auf den Plätzen und diskutierten Probleme wie experten sind sich daher einig, dass es einer umfassenden PoliLärmbelästigung und Müllentsorgung. Unterdessen besetzten zeireform bedarf. Die Entmilitarisierung und Vereinheitlichung andere das Landesparlament und belagerten über Wochen die
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Die Militärpolizei ist nicht nur militärisch organisiert. Sie führt Krieg und tötet.
Foto: Cale / Polaris / laif
der Polizei steht dabei ganz oben, denn die Militärpolizei ist nicht nur militärisch organisiert – mit starrer Hierarchie, blindem Gehorsam, rein interner Disziplinarstrategie –, sie agiert auch militärisch: Sie führt Krieg und tötet – straffrei – Feinde. Ein Antrag auf Verfassungsänderung soll nun diese Polizeireform endlich ermöglichen. Amnesty Brasilien unterstützt das Vorhaben. Die Proteste haben für Brasilien zwei neue Akteure hervorgebracht: »Ninja« und die »Black Blocs«. Ninja – das steht für »Unabhängige Narrative, Journalismus und Aktion« – berichtet von der Mitte der Bewegung, nutzt die Netzwerke, über die etwa ihr Ableger »Post-TV« Livebilder streamt. Ninja ist strukturell aufseiten der Protestierenden wie die herrschenden Medien auf der Seite der alten Ordnung. Aber ohne Ninja wäre der Student Bruche Besorgnis ruft – nicht nur bei Menschenrechtlern – eine anno Teles ins Gefängnis gewandert; ihre Aufnahmen konnten bedere Gesetzesinitiative hervor, die »Unordnung auf öffentlichen weisen, dass nicht er einen Molotowcocktail geworfen hatte, wie Plätzen« bestrafen will, und sei es nur denjenigen, der daran Polizisten bezeugten. Ninja filmt willkürliche Festnahmen; User mittelbar beteiligt ist. Vermummung soll verboten werden (ist versammeln sich binnen Minuten vor der Polizeiwache und sie bisher nicht), Demonstrationen müssen mindestens 48 Stunschützen die Verhafteten durch öffentliche Aufmerksamkeit. den vorher angemeldet werden, das Strafmaß für SachbeschädiDie Black Blocs reagieren auf die Brutalität und Maßlosigkeit gung, Plünderung und den Gebrauch von Feuerwerkskörpern der Polizei; ähnlich wie in Deutschland ist das anarchistische (sonst jedem Fußballfan vor seiner Wohnung das ganze Jahr lang Widerstandskonzept der Kerngruppen auf symbolische Gewalt unbenommen) wird verschärft. Auf Landes- und kommunaler gegen Zeichen der Unterdrückung begrenzt. Eine Beschränkung, Ebene verschärfen die Parlamente Gesetze zu Sachbeschädigung die die zumeist jugendlichen Anhänger nicht kennen oder nicht kennen wollen. Die Black Blocs dominieren seit einigen Monaten oder Körperverletzung oder planen, Demonstrationen nur noch zu genehmigen, wenn sie den Verkehrsfluss nicht behindern. die Proteste in den größten Städten Rio und São Paulo, mit zwei Präsidentin Rousseff hat vor Kurzem einen neuen KommuEffekten: Gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei nikationsminister ernannt und ihn beauftragt, der Bevölkerung sind programmiert; das hält weniger gewaltbereite Menschen schnellstmöglich zu erklären, warum die WM gut für sie sei. Und davon ab, auf die Straße zu gehen. Und es liefert den Regierunsie ließ einen Twitteraccount einrichten: #VaiTerCopa – gen den ersehnten Anlass, massiv gegen die Protestbewegung #DieWMFindetStatt. vorzugehen. Bei einem Protest in Rio im Februar 2014 gegen die erneut angehobenen Busfahrpreise verletzte ein vermutlich Der Autor ist Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Rio de Janeiro. fehlgeleiteter Feuerwerkskörper einen Kameramann tödlich am Kopf. Der führende Medienkonzern Globo entfachte daraufhin Diesen Artikel können Sie sich in unserer iPad-App vorlesen lassen: eine beispiellose Kampagne; die Proteste wurden nun pauschal www.amnesty.de/app als kriminell und terroristisch gewertet. Die Berichterstattung ging so weit, mit der Protestbewegung sympathisierende Figuren des öffentlichen Lebens als Unterstützer von Terroristen zu denunzieren, allen voran den Landtagsabgeordneten Marcelo Freixo, der vor seiner politischen Karriere als Menschenrechtsaktivist Amnesty Deutschland zwei Mal besuchte und sich als Initiator und Vorsitzender einer Untersuchungskommission gegen Privatmilizen in Rio de Janeiro einen Namen gemacht hat. Die jüngste »Urgent Action« der jungen Sektion von Amnesty in Brasilien richtet sich gegen eine pauschale Kriminalisierung der Protestbewegung. Denn Brasilien soll nun auch seine Anti-Terrorgesetzgebung bekommen. Nach 2011 liegt dem Senat nun ein zweiter Gesetzentwurf vor, der Terrorismus zu definieren sucht und Strafmaße festsetzt. Die Definitionen sind nach Einschätzung von Amnesty Brasilien extrem vage und können dazu verwendet werden, Menschenrechte einzuschränken. Unter anderem ist der Tatbestand »Terrorismus gegen Sachen« vorgesehen. ÄhnliPauschale Kriminalisierung. Demonstration in Rio de Janeiro, Juli 2013.
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Bleierne Jahre In Brasilien verhindert ein Amnestiegesetz, dass Verbrechen aus der Zeit der Militärdiktatur (1964–1985) verfolgt werden können. Eine Wahrheitskommission soll zur Aufklärung beitragen. Von Christian Russau
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mit den Subversiven« vorgeworfen wurde, sind bis heute verschwunden. 2010 wurden die sterblichen Überreste von zehn Menschen im Araguaia-Gebiet gefunden, nachdem sich Militärangehörige in der Presse zu möglichen Fundstellen geäußert hatten. Auch Oberst Curió sagte damals aus. Curió gewährte der Tageszeitung »O Estado de São Paulo« Einblick in sein Privatarchiv und erklärte, er habe nicht 25 Guerilleros hingerichtet, wie bislang angenommen, sondern 41. Im Jahr 2012 wurde Anklage gegen ihn erhoben, allerdings nicht wegen dieser Exekutionen, sondern wegen des Verschwindens von fünf Guerilleros. Sie wurden zwischen Januar und September 1974 im Araguaia-Gebiet von Militärs gefangen genommen und in eine Kaserne gebracht, die unter dem Befehl von Oberst Curió stand. Bis heute ist in Brasilien das Amnestiegesetz vom 28. August 1979 gültig. Es verhindert die juristische Aufarbeitung von Straftaten, die während der Zeit der Militärdiktatur (1964–1985) begangen wurden. Seit 2012 versuchen Bundesstaatsanwälte, das
1970. Alex de Paula Xavier Pereira.
2012. – .
Fotos: Gustavo Germano
ie Hoffnung unter den Angehörigen der Opfer war groß, als im März 2012 die brasilianische Bundesanwaltschaft Anklage erhob. Zum ersten Mal schien es, dass sich ein Militärangehöriger wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen, die während der Diktatur begangen worden waren, verantworten müsse. Doch schon bald wurde die Klage gegen den pensionierten Offizier wieder abgeschmettert. Dabei hatte der Täter die Verbrechen gar nicht bestritten. Im Gegenteil: Er sprach sogar öffentlich darüber. Der Beschuldigte ist in Brasilien unter dem Namen »Oberst Curió« bekannt. 1972 wurde der Offizier in geheimer Mission ins Amazonasgebiet geschickt, getarnt als Forstingenieur für die Agrarreformbehörde. Er sollte die Guerilla am Araguaia-Fluss im Süden des Bundesstaates Pará bekämpfen. Die bewaffnete Gruppe operierte zwischen 1972 und 1974 als militanter Arm der verbotenen Kommunistischen Partei Brasiliens (PcdoB). Die etwa siebzig bis achtzig Mitglieder der Gruppe sowie eine unbekannte Zahl von Bewohnern der Region, denen »Kollaboration
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Fotos: Gustavo Germano
1970. Iara Xavier Pereira, Iuri Xavier Pereira.
2012. Iara Xavier Pereira, – .
Amnestiegesetz durch einen juristischen Schachzug auszuhebeln: Weil die Verschwundenen bis heute nicht aufgetaucht sind, halte die Entführung an, argumentieren sie. Ein fortwährendes Verbrechen falle nicht unter die Bestimmungen des Amnestiegesetzes, sondern müsse bestraft werden. Dies gelte auch im Fall von Oberst Curió: Weil die sterblichen Überreste der fünf Guerilla-Mitglieder nie gefunden wurden, werde das Verbrechen der Entführung weiterhin begangen, sagte Bundesstaatsanwalt Sérgio Gardenghi Suiama, als er im März 2012 die Klageschrift gegen den Oberst der Reserve einreichte. Das Schicksal der fünf Personen sei ungeklärt, ab dem Zeitpunkt, als sie in die Kaserne gebracht worden waren. Deshalb sei es »fundamental, dass die Justiz die Fälle analysiert, eine Beweisaufnahme ermöglicht und die Geschichte der Opfer ans Tageslicht bringt«. Dies sah der zuständige Richter anders. Er erklärte, es sei zu bezweifeln, dass die Verschwundenen nach mehr als dreißig Jahren noch immer vom Angeklagten in Gefangenschaft gehalten würden. Es sei vielmehr davon auszugehen, dass die Verschwundenen mit hoher Wahrscheinlichkeit tot seien und bereits damals ermordet wurden. Die Tat sei somit verjährt und falle unter das Amnestiegesetz, sagte der Richter. Damit wurde der erste Strafprozess in Brasilien wegen Taten aus der Zeit der Militärdiktatur wieder eingestellt. Dennoch bemühen sich Angehörige, Menschenrechtsgruppen und Staatsanwälte, die Straflosigkeit, die das Amnestiegesetz gewährt, zu beenden. So wandte sich die brasilianische Anwaltskammer 2012 an den Obersten Gerichtshof Brasiliens, um prüfen zu lassen, ob das Amnestiegesetz im Einklang mit der Verfassung steht. Zwei Jahre zuvor hatte der Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof Brasilien aufgefordert, den Verbleib von mindestens 62 Ermordeten oder Verschwundenen der Araguaia-Guerilla aufzuklären und das Amnestiegesetz endlich zu annullieren. Derzeit laufen noch weitere Verfahren, in denen Bundesanwälte argumentieren, dass Verhaftete bis heute verschwunden sind und die Verantwortlichen von damals deshalb auch heute noch zur Rechenschaft gezogen werden können. Presseberichten zufolge sind weitere Klagen gegen Ex-Militärs geplant, in denen es um mindestens 24 Fälle von Verschwundenen aus der Zeit der Militärdiktatur gehen soll. In einem dieser Prozesse spielt Oberst Carlos Alberto Bril-
hante Ustra eine wichtige Rolle. 2008 hatten Angehörige der Familie Teles aus São Paulo gegen ihn geklagt. Da er strafrechtlich wegen des Amnestiegesetzes nicht belangt werden konnte, reichten fünf Familienmitglieder eine Zivilklage gegen ihn ein. Dabei ging es um das Recht der Angehörigen, den Offizier öffentlich als Folterer bezeichnen zu dürfen. Ustra leitete in den siebziger Jahren das berüchtigte Folterzentrum DOI-CODI in São Paulo. 1972 folterte er dort Maria Amélia de Almeida Teles und ihren Mann, César Augusto Teles. Amélias Schwester Criméia de Almeida, die damals im siebten Monat schwanger war, wurde ebenfalls gefoltert. Auch die beiden klei-
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die Brasilianische MilitÄrdiktatUr Die Diktatur begann mit dem Putsch gegen Präsident João Goulart am 1. April 1964 und dauerte bis zum 14. März 1985, als José Sarney zum Präsidenten ernannt wurde. Am 13. Dezember 1968 erließ Präsident Marschall Artur da Costa e Silva den berüchtigten »Institutionellen Akt Nr. 5«: Dieses in Brasilien als »AI-5« bekannte Dekret gab ihm die Befugnis, das Parlament aufzulösen, Politiker ihres Amtes zu entheben und die Repression zu verschärfen. In Anlehnung an den Spielfilm »Die bleierne Zeit« (1981) der deutschen Regisseurin Margarethe von Trotta wird der Zeitraum von Dezember 1968 bis zum Amtsende von General Emílio Garrastazu Médici am 15. März 1974 als »die bleiernen Jahre« bezeichnet. Neue Untersuchungen des Instituts für Studien zur Gewalt des Staates (Instituto de Estudos da Violência de Estado) kommen zu dem Ergebnis, dass während der brasilianischen Militärdiktatur 475 Menschen ermordet wurden oder verschwanden, 24.560 Personen wurden verfolgt. Das Amnestiegesetz vom 28. August 1979 hat in Brasilien noch heute Gültigkeit. Es verhindert die juristische Aufarbeitung aller Straftaten aus der Zeit der brasilianischen Militärdiktatur. Im Jahr 2011 wurde die Brasilianische Wahrheitskommission gegründet, um die Vorkommnisse während der Militärdiktatur zu untersuchen. Die Erkenntnisse der Kommission haben aber keine rechtlichen Konsequenzen.
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Fotos: Gustavo Germano
1964. María do Amparo Almeida Araújo, María José Mendes de Almeida Araújo, Luiz Almeida Araújo.
nen Kinder des Ehepaars wurden in das Folterzentrum gebracht. Carlos Nicolau Danielli, ein führendes Mitglied der verbotenen Kommunistischen Partei Brasiliens, wurde im DOI-CODI zu Tode gefoltert. 2008 gewann die Familie Teles den Prozess in erster Instanz – sie darf Carlos Alberto Brilhante Ustra seitdem öffentlich als Folterer bezeichnen. Im August 2012 bestätigte der 5. Strafgerichtshof von São Paulo das Urteil. Zur Begründung hieß es, zwar verhindere das Amnestiegesetz, dass Taten aus der Zeit der Militärdiktatur strafrechtlich verfolgt werden könnten, dies gelte jedoch nicht für zivilrechtliche Fälle. Außerdem würden Verbrechen wie Folter in Brasilien nicht verjähren. Bundesanwälte reichten gegen Ustra ebenfalls eine Klage wegen des anhaltenden Straftatbestands der Entführung ein. Denn unter seiner Leitung verschwand 1971 der politische Gefangene Edgar de Aquino Duarte aus dem DOI-CODI. Sein Leichnam wurde bis heute nicht gefunden. Inzwischen hat das Gericht erste Zeugenaussagen aufgenommen. Der Beklagte erschien nicht zu den Anhörungsterminen. Das Verfahren soll im März in São Paulo fortgesetzt werden. Ob die Argumentation des anhaltenden Verbrechens der Entführung vor Gericht Bestand haben wird, ist zweifelhaft. Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff, die selbst während der Militärdiktatur inhaftiert war und gefoltert wurde, ist sehr an einer juristischen Aufarbeitung gelegen. Am 16. Mai 2012 wurde eine Wahrheitskommission eingesetzt, die die Repression, Folter und Unterdrückung, insbesondere in den »bleiernen Jahren« zwischen 1968 und 1974 untersuchen soll, die jedoch keine Strafvollmachten hat. Die sieben Mitglieder des Gremiums sollen in 13 Arbeitsgruppen verschiedene Themen bearbeiten, darunter die »Operation Cóndor«, die Repression gegen Gewerkschaften, Menschenrechtsverletzungen in ländlichen Gebieten und gegen Indigene sowie Gewalt gegen Frauen. In der Folge wurden zahlreiche weitere Wahrheitskommissionen auf kommunaler Ebene eingerichtet. Auch einzelne Institutionen wie die Universität von São Paulo bildeten eigene Wahrheitskommissionen zur Aufarbeitung der Vergangenheit. Diese Kommissionen sind Teil eines langjährigen Kampfes um die Aufarbeitung der brasilianischen Geschichte – und sie sind ein Kompromiss. Denn sie ändern nichts daran, dass das Amnestiegesetz die strafrechtliche Aufarbeitung der Taten verhindert.
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2012. María do Amparo Almeida Araújo, María José Mendes de Almeida Araújo, – .
»aUsências – aBwesenheiten« Der argentinische Fotograf Gustavo Germano, von dem unsere Bilder auf den Seiten 24 bis 29 stammen, dokumentiert die Folgen der brasilianischen Militärdiktatur (1964–1985), indem er alte Familienbilder Jahrzehnte später am gleichen Ort nachstellte – nur ohne die Opfer des Regimes. »Ausências«, also Abwesenheiten, hat der Fotokünstler sein Projekt genannt, das im Rahmen der »Nunca Mais«-Brasilientage in Berlin ausgestellt wird.
die »nUnca Mais«-Brasilientage Am 31. März 2014 jährt sich der Militärputsch in Brasilien zum 50. Mal. Während der Diktatur waren Repression, Folter und das »Verschwindenlassen« an der Tagesordnung. Die deutsch-brasilianische Initiative »Nunca Mais – Nie Wieder«, an der auch Amnesty International beteiligt ist, organisiert dazu eine mehrmonatige Veranstaltungsreihe: die »Nunca Mais«-Brasilientage. Ab März 2014 wird es bundesweit Filmreihen und Ausstellungen, Workshops und Gesprächsrunden geben. Gleichzeitig findet eine ähnliche Veranstaltungsreihe in Brasilien statt. Weitere Informationen: www.nuncamais.de
Mit der anhaltenden Straflosigkeit wollen sich vor allem viele junge Brasilianer nicht mehr abfinden. So gab es im März 2013 erstmals Aktionen, wie sie aus Chile und Argentinien bekannt sind: Beim sogenannten »escrache« werden die Wohnhäuser der verantwortlichen Militärs mit Farbe und Mehl gekennzeichnet – manchmal trifft das Mehl auch einen ehemaligen Folterer. Diese Aktionen nahmen sich die Jugendlichen in Brasilien zum Vorbild: In São Paulo, Belo Horizonte, Belém und Porto Alegre, später auch in Rio de Janeiro, Fortaleza und weiteren Städten zogen mehrere hundert Demonstranten vor die Wohnhäuser ehemaliger Folterer. Auf Transparenten und Plakaten nannten sie die Täter beim Namen und beschrieben deren Verbrechen. Der Autor ist Mitarbeiter des Forschungs- und Dokumentationszentrums Lateinamerika (FDCL) in Berlin.
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Fotos: Gustavo Germano
1969. Suzana Keniger Lisbôa, Milke Valdemar Keniger, Luiz Eurico Tejera Lisbôa.
2012. Suzana Keniger Lisbôa, Milke Valdemar Keniger, – .
»Die Amnesty-Aktionen bereiteten den Militärs große Probleme« Vor 50 Jahren putschten sich in Brasilien Generäle an die Macht. Bis heute wirkt die Zeit der Militärdiktatur nach, auch, weil viele Verbrechen nie aufgeklärt wurden. Luiz Ramalho hat als Schüler in Rio de Janeiro und anschließend als Student in Deutschland gegen die Diktatur protestiert. Viel Unterstützung fand er dabei durch eine Amnesty-Gruppe aus Köln. Wie sind Sie nach Deutschland gekommen? Ich komme ursprünglich aus Rio und schloss mich in den sechziger Jahren noch als Schüler der Protestbewegung gegen die Militärdiktatur an. Ich wurde 1968 bei einer Demonstration angeschossen, festgenommen, aber anschließend als junger Mitläufer wieder freigelassen. Danach entschied ich mich, zunächst für ein Jahr nach Deutschland zu gehen. Nach meiner Ankunft bin ich einige Male öffentlich aufgetreten und habe über die Ereignisse in Brasilien berichtet. Sogenannte »Freunde Brasiliens«, in dem Fall ein Honorarkonsul aus Aachen, haben mich deswegen bei der brasilianischen Botschaft denunziert. Daraufhin wurde mir mein Pass entzogen. Heute gibt es viele solcher »Papierlosen«, damals aber war es ein außergewöhnlicher Fall. Es gab aber eine große Bereitschaft, sich um den jungen Mann zu kümmern, der hier gestrandet war. Können Sie die damalige Situation in Brasilien beschreiben? Als die Generäle 1964 an die Macht kamen, marschierte die Mittelklasse noch für die Militärs. »Mit Gott für die Familie und die Freiheit«, wie es damals hieß, gegen Kommunisten und Gewerkschafter. Die traditionellen Politiker versuchten ein Jahr
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später erfolglos, die Militärs wieder von der Macht abzulösen. Daraufhin entstand vor allem in den urbanen Zentren eine starke Protestbewegung aus Intellektuellen, Künstlern, Christen, aber auch aus Angehörigen der Arbeiterklasse. 1969 wurde der sogenannte »Institutionelle Akt Nr. 5« verabschiedet und das Parlament aufgelöst. Die Rechte aller bekannten Politiker wurden auf zehn Jahre suspendiert. Das trieb einen Teil dieser Massenbewegung in den Untergrund. Als im selben Jahr der US-Botschafter von einer Guerillagruppe entführt wurde, nahmen die Sicherheitskräfte Massenverhaftungen vor und begannen, systematisch zu foltern. Allein aus meiner ehemaligen Klasse kamen sechs oder sieben Mitschüler dabei ums Leben. Wer hat Sie in Deutschland unterstützt? Ich wurde von einer Familie in Aachen aufgenommen, als ich das Abitur nachgemacht habe. Die Diakonie stellte für mich als Flüchtling ein Monatsgeld zur Verfügung, nebenher habe ich noch gearbeitet. So bin ich über die Runden gekommen. Die Evangelische Kirche hat 1973 ein Stipendienprogramm für Flüchtlinge aufgelegt. Dadurch sind viele Chilenen und Brasilianer nach Deutschland gekommen.
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Fotos: Gustavo Germano
1964. Tânia Gurjão Farias, Simone Fontenele de Vasconcelos Soares, Bergson Gurjão Farias.
2012. Tânia Gurjão Farias, Simone Fontenele de Vasconcelos Soares, –.
In Köln arbeiteten Sie eng mit einer Gruppe von Amnesty International zusammen. Wie haben Sie die Aktivisten erlebt? Das waren ganz normale Bürger, die sich engagiert haben. Das war ja das Beeindruckende daran – es waren keine Politprofis, sondern Leute, die sich für Menschenrechtsfragen interessiert und unmittelbar den Menschen, die hier gestrandet sind, geholfen haben.
São Paulo galt schon damals als die Stadt mit den meisten deutschen Unternehmen in Lateinamerika. Nachdem die Militärs die Regierung übernahmen, entwickelte sich bald eine Diskussion, wie wir sie heute über China kennen: Menschenrechte gegen wirtschaftliche Zusammenarbeit. Die Militärregierung sei zwar nicht sympathisch, hieß es damals, aber man könne diesen wichtigen Wachstumsmarkt nicht einfach ignorieren. Die brasilianische Wirtschaft wuchs Anfang der siebziger Jahre jährlich um bis zu acht Prozent, die Rede war von einem »brasilianischen Wirtschaftswunder«. Willy Brandt hat als Außenminister die enge Zusammenarbeit vorangetrieben und diese Politik unter seiner Kanzlerschaft fortgesetzt. 1975 folgte der deutsch-brasilianische Atomvertrag, der während der Amtszeit von Bundeskanzler Helmut Schmidt vereinbart wurde. Dieser Vertrag beinhaltete auch militärische Komponenten, wie man heute weiß.
Welche Wirkung hatte dieses Engagement? Brasilien war in der deutschen Öffentlichkeit überhaupt kein Thema. Aber die Arbeit der Amnesty-Gruppe zeigte durchaus Wirkung. Ein Freund von mir war damals noch eine Zeitlang Abgeordneter im brasilianischen Parlament. Er erzählte mir, wie sehr sich die Militärs über die Postkartenaktion von Amnesty geärgert haben. Der Justizminister hat getobt und versucht, diese Aktionen zu unterbinden – was ihm natürlich nicht gelang. In Deutschland wurde unter anderem mit Unterstützung von Amnesty 1972 ein Brasilien-Tribunal aufgelegt. Ich habe die Unterlagen des brasilianischen Geheimdienstes bekommen. Darin wird unter der Rubrik »Internationaler Kommunismus« beschrieben, wie in Deutschland angeblich die Presse manipuliert wird. Diese Aktionen von Amnesty haben die Militärs sehr stark wahrgenommen, sie bereiteten ihnen erhebliche Probleme. Sie reagierten empfindlicher als die argentinische Militärjunta auf Druck von außen, denn sie legten Wert darauf, einen demokratischen Schein zu bewahren. Die brasilianische Militärdiktatur wurde in der deutschen Öffentlichkeit nie so kritisch verfolgt wie beispielsweise die Junta in Chile. Ein Grund besteht sicherlich darin, dass der Militärputsch kurz nach der Kuba-Krise erfolgte, während eines Höhepunkts des Kalten Krieges. Dann agierten die brasilianischen Militärs zunächst eher vorsichtig und versuchten zumindest einen formalen Anschein demokratischer Legitimität zu wahren. In Chile wurde hingegen eine demokratisch gewählte Regierung gestürzt und bereits in den ersten Tagen Tausende Menschen inhaftiert oder getötet. Entscheidend war aber auch, dass Brasilien wirtschaftlich viel bedeutender war als Chile oder Argentinien. Für die deutsche Wirtschaft war es ein faszinierendes Wachstumsland.
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Wann änderte sich die Situation? Die Militärs haben sich 1979 mit dem Amnestiegesetz selbst amnestiert. Wenig später kehrten über 90 Prozent der Exilierten nach Brasilien zurück und machten schnell Karriere als Politiker, Professoren, Künstler oder Schriftsteller. Dieser »brasilianische Übergang« ist für die Aufarbeitung der Militärdiktatur eine schwierige Geschichte. Beide Seiten, Exilierte wie Militärs, wollten nicht an die Vergangenheit rühren. Andere lateinamerikanische Länder wie Argentinien betreiben eine intensive Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzun-
»Für die deutsche Wirtschaft war Brasilien ein faszinierendes Wachstumsland.« aMnesty joUrnal | 04-05/2014
Fotos: Gustavo Germano
1967. Fernando Augusto de Santa Cruz Oliveira, Ana Lucia Valença de Santa Cruz Oliveira, Ana Carolina Valença de Santa Cruz Oliveira, Marcelo de Santa Cruz Oliveira, Ana María Valença Maia.
2012. – , Ana Lucia Valença de Santa Cruz Oliveira, Ana Carolina Valença de Santa Cruz Oliveira, Marcelo de Santa Cruz Oliveira, Ana María Valença Maia.
gen, die während der Diktatur stattfanden. Warum fällt diese Aufarbeitung in Brasilien so schwer? Fehlt es an Informationen? Die Zeit wurde sogar sehr gut aufgearbeitet. Das Projekt »Tortura nunca mais« (Nie wieder Folter) listet ausführlich die Repressionsmethoden auf, ebenso die Namen der Folterer. Wann aber ist der richtige Zeitpunkt, an dem sich eine Gesellschaft mit der Diktatur auseinandersetzen kann? Als die Militärs noch regierten, war eine Aufarbeitung nicht möglich. Ebenso, als die ersten demokratischen Regierungen an die Macht kamen. Die Militärs hatten klare Bedingungen formuliert, bevor sie sich wieder in die Kasernen zurückzogen. Dazu gehörte das Amnestiegesetz. Das war eine rote Linie, die nicht überschritten werden durfte.
Bevölkerung die Mindeststandards von Menschenrechten und Demokratie einzuhalten.
Nach dem Ende der Militärdiktatur ging die politisch motivierte Gewalt deutlich zurück. Zugleich aber nahm im Alltag die Polizeigewalt sogar zu. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären? Während der Diktatur waren die Kinder der Mittelklasse Opfer der Repression. Damit möchte ich deren Leiden keineswegs mindern. Aber sie können ihre Erlebnisse öffentlich machen, sie können schreiben, sie treten in Filmen oder im Fernsehen auf. Heute richtet sich die Repression gegen die Ausgeschlossenen, die keine Lobby haben, die sich oft nicht ausdrücken können. Diese Repression ist brutal wie früher. Ein Bewusstsein für Demokratie ist im Militärapparat ebenso wie bei der kasernierten Militärpolizei (Policia Militar) nur defizitär vorhanden. Es fehlt ein Konzept für eine demokratiewürdige Polizei auf allen Ebenen. Aber das ist eine der entscheidenden Fragen einer demokratischen Gesellschaft: Ob es gelingt, auch gegenüber der armen
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Brasilien
Fragen: Anton Landgraf
interview lUiz raMalho Foto: Amnesty
Die aktuelle brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff saß während der Diktatur selbst in Haft und wurde gefoltert. Welche Rolle spielt sie bei der Aufarbeitung? Sie ist dabei sehr wichtig. Unter anderem hat sie die Wahrheitskommission ins Leben gerufen. Damit erfolgt zwar keine strafrechtliche Aufarbeitung wie in Argentinien. Dort sind schließlich viele Mitglieder der Junta zu langen Haftstrafen verurteilt worden. Aber durch die Wahrheitskommission wird das Thema erstmals von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen.
Welche Rolle kann Amnesty in diesem Konflikt spielen? Ich sehe leider noch viel Arbeit für Amnesty. Denn dieses Moment der internationalen Beobachtung, die früher eine so wichtige Rolle gespielt hat, ist auch für die aktuelle brasilianische Situation wichtig.
Dr. Luiz Ramalho, geb. 1952 in Rio de Janeiro, ist Soziologe, Ökonom und Initiator der »Nunca Mais«Brasilientage. Er hat in Frankfurt/M., Paris und Berlin studiert und an der Freien Universität Berlin promoviert, wo er von 1977 bis 1982 als wissenschaftlicher Assistent gearbeitet hat. In Juni 1968 erlitt er in Rio de Janeiro bei der »Sexta Feira Sangrenta« (Blutiger Freitag) eine schwere Schussverletzung. 1969 verließ er Brasilien. Wegen öffentlicher Auftritte in Deutschland gegen die Militärregierung wurde ihm der brasilianische Pass 1970 entzogen. Ohne Papiere wurde er jahrelang von der Deutschen Ausländerbehörde geduldet, nachdem die Evangelische Kirche und mehrere Politiker sich für seinen Verbleib in Deutschland eingesetzt hatten. Dr. Luiz Ramalho ist seit über 35 Jahren in der internationalen Zusammenarbeit und Entwicklungsarbeit tätig. Er hat in Westafrika (Mali, Kapverde, Guinea) und im Südpazifik (Papua-Neuguinea) mehrere Jahre gearbeitet und hatte berufliche Kurzzeiteinsätze in mehr als 30 Ländern, zuletzt in Zentralasien und dem Kaukasus. Von 1990 bis 1995 kehrte er nach Brasilien als Landesdirektor des Deutschen Entwicklungsdienstes zurück. Zurzeit berät er die mexikanische Regierung beim Aufbau der mexikanischen Entwicklungsagentur AMEXCID.
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Die Fenster von Prestes Maia
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ão Paulo ist eine Stadt der Gegensätze. Die MegaMetropole zählt rund 20 Millionen Einwohner, hier pumpt das Herz der brasilianischen Wirtschaft. Doch die Kluft zwischen Arm und Reich ist groß. Während die wohlhabenden Bürger in hermetisch abgeriegelten Luxussiedlungen residieren, leben Millionen in Slums. Dabei müsste in São Paulo niemand auf der Straße leben, denn Hunderttausende Immobilien stehen leer. Die Obdachlosen der Stadt haben daher bereits vor Jahren den Kampf aufgenommen. Zwei graue, verfallene Doppeltürme mitten im Zentrum São Paulos wurden zum Symbol dieses Kampfes. Ihre Adresse lautet: Avenida Prestes Maia, Hausnummer 911. Mit seinen 22 Etagen galt der
Hochhauskomplex einst als modernstes Gebäude Lateinamerikas. Aber das ist lange her. Seit 1990 standen die Türme leer, der hochverschuldete Besitzer gab sie dem Verfall preis. Im Jahr 2002 enterten 468 Familien das Gebäude und machten es damit zum wohl größten besetzten Haus der Welt. Im Keller richteten sie eine Bibliothek ein, im neunten Stock veranstalteten sie Workshops und politische Diskussionsrunden. Für Künstler und Intellektuelle wurde das besetzte Haus zum Treffpunkt. Der Fotograf Julio Bittencourt lichtete damals die unterschiedlichen Bewohner an ihren Fenstern ab und fügte die Bilder in dieser Collage zusammen. Immer wieder drohten die Behörden damit, die Hausbesetzer gewaltsam auf die Straße
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zu setzen. Mit Demonstrationen und Straßenblockaden wehrten sich die Familien gegen die drohende Zwangsräumung. Auch Amnesty International unterstützte sie in ihrem Kampf. Die Proteste hatten Erfolg. Zwar blieb es dabei: Die Familien mussten das Gebäude räumen. Doch die Behörden willigten im Sommer 2007 ein, sie dafür finanziell zu entschädigen. Das Thema »Zwangsräumungen« bleibt in Brasilien indes hochaktuell, denn die FußballWM 2014 und die Olympischen Spiele 2016 werfen schon lange ihre Schatten voraus: Tausende Menschen wurden in den vergangenen Jahren vertrieben, weil Slums Großbauten Platz machen sollen, oder auch nur, weil man den Sporttouristen den Anblick der Ärmsten ersparen will.
Foto: Julio Bittencourt
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38 Rumänien: Die Unerwünschten 42 Ukraine: Polizeigewalt und Straflosigkeit 44 Interview: Aliaksandr Atroshchankau 46 Belarus: Vor der Eishockey-WM 47 Argentinien: Indigene und ihre Rechte 48 Interview: Alice Nkom
»Alle Kinder haben das Recht auf eine schöne Kindheit.« Roma-Kinder vor ihrem Elternhaus in einem Vorort von Miercurea Ciuc, Rumänien. Foto: Andreea Tanase
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Die Unerwünschten
Sie sind EU-Bürger, leben jedoch wie in einem Land der Dritten Welt: Im rumänischen Ort Miercurea Ciuc hausen 150 Roma in einem Slum neben der städtischen Kläranlage. Sie fristen ein Dasein am untersten Rand der Gesellschaft – wie die meisten Roma in Rumänien. Von Keno Verseck (Text) und Andreea Tanase (Fotos) Der Vater war Trinker und hatte die Familie verlassen. Die Mutter interessierte sich nicht für ihr Kind. Gleich nach der Geburt gab sie Csaba Blénesi in ein Heim. Seine frühesten Erinnerungen sind die an Schläge von Erziehern, daran, dass sie ihn einen »dreckigen Zigeunerbastard« nannten und dass unter den Kindern das Recht des Stärkeren herrschte. Mit vierzehn kam er wegen Diebstahls zum ersten Mal in ein Jugendgefängnis, das war 1984. Von da an war sein Leben eine Abfolge von Haftstrafen. Mal saß er wegen Einbruchs oder Diebstahls, mal wegen Körperverletzung. Jetzt ist Csaba Blénesi 43 Jahre alt, er hat mehr als die Hälfte seines Lebens in Gefängnissen verbracht. Er sieht aus wie ein alter Mann, ein Großteil seiner Zähne fehlt, vor einigen Jahren fing er sich im Gefängnis Tuberkulose ein. Miercurea Ciuc, eine Kleinstadt mit 40.000 Einwohnern, liegt in Ostsiebenbürgen, einer armen Region Rumäniens, in der vor allem Ungarn und ungarischsprachige Roma siedeln. Csaba Blénesi lebt in einem Roma-Slum am südwestlichen Stadtrand, direkt neben der städtischen Kläranlage, am Ende eines Weges, der den Namen »Frühlingsstraße« trägt. Auf dem 3.000 Qua-
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dratmeter großen Gelände stehen ein Dutzend Wohncontainer aus Blech und ebenso viele Bretterhütten, überall liegt Müll herum, halbnackte Kinder spielen trotz der Kälte im Schlamm. Es gibt einen einzigen Wasserhahn für 150 Leute, keine Kanalisation, geheizt wird mit eisernen Öfen. Bis Mitte 2004 lebte ein großer Teil der hiesigen Roma in der Innenstadt von Miercurea Ciuc. Die meisten Wohnungen waren völlig heruntergekommen, teilweise baufällig, die hygienischen Zustände unhaltbar, deshalb ließ der Stadtrat die Bewohner evakuieren. Ein Teil der Roma zog in einen Slum im Ortsteil Șumuleu am nördlichen Stadtrand, einen anderen Teil brachte der Stadtrat auf das Gelände neben die Kläranlage und stellte Wohncontainer auf, sieben auf zweieinhalb Meter groß. Einigen Familien gestattete man, Hütten zu bauen. Es hieß, die Roma würden hier nur vorläufig untergebracht sein, man wolle sich um bessere Unterkünfte kümmern. Doch aus dem Provisorium sind inzwischen fast zehn Jahre geworden. Einige Wohncontainer sind durchgerostet, in manchen kleinen Bretterhütten drängen sich nachts bis zu zwanzig Leute.
Leben auf zwölf Quadratmeter Auch Csaba Blénesi und seine Lebensgefährtin Gyöngyi Moldován, 32, leben seit damals im Slum neben der Kläranlage. Sie haben sich eine winzige Hütte gebaut, zwölf Quadratmeter, einen Meter siebzig hoch, ein kleines Stück überdachter Erdboden dient als Vorraum, Küche und Waschstelle. Die Eheleute bekommen jeweils achtzig Euro Sozialhilfe im
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Am Ende der Frühlingsstraße. Csaba Blénesi steht mit seiner Frau vor der gemeinsamen Unterkunft (oben). Ihre Tochter Mária beim Mittagsschlaf.
Monat, dafür müssen sie fünf Tage die Woche gemeinnützige Arbeit leisten. Sie verdienen sich etwas Geld hinzu, indem sie Metallschrott sammeln. Im Sommer und Herbst pflücken sie im Wald Blaubeeren und sammeln Pilze, die sie dann am Rand des Marktes feilbieten. Das Paar hat sechs Kinder, fünf wurden von den Behörden in einem Kinderheim untergebracht. An Wochenenden kommen die fünf manchmal zu Besuch. Die kleinste Tochter, Mária, ist sechs Jahre alt und lebt bei ihren Eltern. An diesem Nachmittag liegt sie auf dem Bett und schläft. Fliegen krabbeln über ihr Gesicht. Einige Male verscheucht Gyöngyi Moldován die Fliegen aus dem Gesicht ihrer Tochter, aber irgendwann gibt sie auf. Schließlich legt eine Nachbarin, die gerade zu Besuch ist, der Kleinen ein Stück Tüllgardine über das Gesicht. Csaba Blénesi blickt auf seine Tochter. »Es ist gut, dass die anderen im Familienheim sind«, sagt er. »Hier können sie unmöglich leben.«
Dauerhaftes Provisorium Dritte-Welt-Verhältnisse in einem EU-Land: Ähnlich wie das Ehepaar leben die meisten Roma in Rumänien. Rund 620.000 Roma gibt es offiziell im Land, tatsächlich sind es wohl eher eineinhalb bis zwei Millionen. Im ostsiebenbürgischen Szeklerland, der Region in der auch die Stadt Miercurea Ciuc liegt, ist die Situation der Roma besonders perspektivlos. Die gesamte Gegend ist strukturschwach. Es gibt kaum Industrie, der Tourismus ist trotz idyllischer Land-
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schaften schwach entwickelt. Weil sie sonst keine Arbeitsplätze finden, leben viele Bewohner von Subsistenz-Landwirtschaft oder verdingen sich von Frühjahr bis Herbst als Gastarbeiter im Nachbarland Ungarn. Die Roma stellen geschätzte sechs bis acht Prozent der regionalen Bevölkerung, die meisten sprechen nur Ungarisch und kein Rumänisch, in anderen Landsteilen können sie daher nicht auf Arbeitssuche gehen. Besuch beim Stadtrat von Miercurea Ciuc. Der stellvertretende Bürgermeister Attila Antal ist der Zuständige für die Probleme der Roma. Er reagiert missmutig auf das Thema. »Die Leute in der Frühlingsstraße sind selbst für ihre Situation verantwortlich«, sagt Antal. »Wir versuchen ihnen zu helfen, aber sie wollen unsere Hilfe oft nicht. Zum Beispiel ist dort alles zugemüllt, obwohl wir die Kosten für die Müllabfuhr tragen.« Immerhin einen Erfolg kann die Stadt vorweisen: Fast alle Kinder besuchen eine Grundschule, weil der Stadtrat das Lehrmaterial für die Kinder und die Schulspeisung bezahlt. Attila Antal sieht trotzdem keine Perspektive für die Roma. Je länger das Gespräch dauert, desto mehr macht er seinem Ärger Luft. »Die Zigeunerfrage wurde noch nirgendwo gelöst«, sagt er. »Ganz Westeuropa schreibt uns seit zwanzig Jahren vor, was wir zu tun und zu lassen haben. Aber jetzt, wo sie die Zigeuner selbst am Hals haben, sind sie überrascht und wollen sie am liebsten abschieben.«
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»Menschen wie alle anderen auch.« Irén Zaiba und ihre Schüler.
Das Gelände in der Frühlingsstraße sollte nur ein vorläufiger Wohnort sein. Wie geht es weiter, im Jahr zehn des Provisoriums? Antal zuckt die Schultern. »Wir wissen auch nicht, wie es weitergehen soll.«
Enge Bindung »Die Roma sind doch Menschen wie alle anderen auch«, sagt Irén Zaiba halb entrüstet, halb verwundert, so als könne man das gar nicht anders sehen. Die Fünfzigjährige arbeitet als Lehrerin und Direktorin der János-Xantusz-Grundschule im Ortsteil Șumuleu von Miercurea Ciuc. Hier, im Norden, wohnen eigentlich die Bessersituierten der Stadt, es gibt viele Villen und schicke neue Einfamilienhäuser. Doch am Rand des Ortsteils befindet sich neben Äckern der zweite Roma-Slum von Miercurea Ciuc, hier leben etwa 150 Roma ebenfalls in völlig heruntergekommenen Hütten. Die Kinder der hiesigen Roma-Familien gingen schon immer auf die János-Xantusz-Grundschule, die Schule ihres Einzugsgebiets. Irgendwann, einige Jahre nach dem Ende der Diktatur, erinnert sich Irén Zaiba, begannen immer mehr ungarische Eltern, ihre Kinder auf andere Grundschulen zu schicken. Sie wollten nicht, dass ihre Sprösslinge mit Roma-Kindern zusammen lernten, weil sie der Meinung waren, dass diese das Niveau drückten und dass sich Irén Zaiba zu viel um die Roma-Kinder kümmerte. So entwickelte sich die János-Xantusz-Grundschule schließlich zu
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einer Schule, auf die nur noch Roma-Kinder gehen. Natürlich können grundsätzlich auch rumänische Kinder kommen, doch es waren schon lange keine mehr angemeldet. Irén Zaiba billigt das nicht, aber sie sagt, sie könne die Eltern subjektiv verstehen. »Die Eltern der meisten Roma-Kinder sind Analphabeten, sie haben zuhause noch nie einen Stift in der Hand gehabt, während andere Kinder zum Teil schon das Alphabet kennen. Deshalb müssen wir hier erst einmal mit Kindergarten- und Vorschulniveau anfangen.« Irén Zaiba liebt ihre Schulkinder, im Unterricht spricht sie oft zärtlich mit ihnen. Obwohl sie für einen Hungerlohn von umgerechnet 250 Euro im Monat arbeitet, würde sie die Schule niemals verlassen. »Da die Eltern meistens Analphabeten sind, bin ich im Lernprozess der Kinder oft die einzige Bezugsperson, und daher habe ich zu den Kindern eine sehr enge Bindung. Sie sind fast wie meine eigene Familie. Ich möchte ihnen so viel wie möglich geben, denn wie alle Kinder in der Welt haben sie das Recht auf eine schöne Kindheit und darauf, dass man sich mit ihnen beschäftigt.«
»Ich lerne gerne.« Wenn der Name Irén Zaiba fällt, dann lächelt István Ötvös, und seine Augen leuchten. Er war ihr Grundschüler. Jetzt ist er siebzehn, geht auf ein Gymnasium und macht eine Berufsausbildung zum Kfz-Schlosser. »Ich lerne gerne und Frau Zaiba hat mich zum Lernen ermutigt«, sagt István. »Ich will etwas aus meinem Leben machen, ich habe die Nase voll vom Elend.« István lebt im Slum von Șumuleu. Er lebt mit seinen Eltern und seinen sechs Geschwistern in einer kleinen Hütte: neun Menschen auf sechzehn Quadratmetern. István ist der Älteste, nachts schläft er zusammen mit drei Geschwistern, aneinander gedrängt wie Sardinen in einer Dose. Oft wacht er nachts auf. Von dem Gedränge
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und davon, dass die Nachbarn draußen wieder Musik in voller Lautstärke hören, trinken und schreien. Es hat keinen Sinn, sie darum zu bitten, leiser zu sein. Es käme nur zum Streit, vielleicht zu einer Schlägerei. Wenn er nicht mehr einschlafen kann, malt er sich seine Zukunft aus. Noch ein Jahr Schule und Lehre, dann wird er anfangen, zu arbeiten. Der Chef der Werkstatt hat ihm eine Stelle versprochen. Er wird Geld verdienen. Irgendwann ein Grundstück kaufen, ein Haus bauen. Er wird seine Eltern und seine Geschwister mitnehmen. Er wird alles mit Bedacht planen, damit nichts schief geht und sie nicht irgendwann wieder hierher zurück müssen, in den Dreck und das Elend. Mária Ötövs, Istváns Mutter, ist erst 36, neben ihrem Sohn sieht sie aus wie dessen ältere Schwester. Sie ist Analphabetin. Sie und ihr Mann beziehen Sozialhilfe, außerdem Kindergeld, zusammen haben sie etwa 200 Euro im Monat für die ganze Familie. Die Eheleute sammeln Plastikflaschen, das bringt ihnen im Monat nochmal zwanzig, dreißig Euro. Mária Ötvös ist stolz auf ihren großen Sohn István. »Meine Kinder sollen es einmal besser haben«, sagt sie, »deshalb habe ich sie immer streng ermahnt, zu lernen.« Dreimal in der Woche ist Schule, dann steht István um halb sieben auf, an den beiden anderen Tagen, wenn er in die Autowerkstatt muss, eine Stunde früher. Er reibt sich den Schlaf aus den Augen, macht Feuer im Ofen, dann geht er raus, vorbei an Kindern, die barfuß im Matsch herumlaufen, und holt einen Eimer Wasser aus dem Gemeinschaftshahn. Seine Mutter brüht Kaffee auf, während er ein Stück Brot mit Leberpastete oder Fleischwurst isst so wie die anderen Geschwister. Die Autowerkstatt liegt am anderen Ende der Stadt. Um Viertel nach sechs radelt István los. Er muss um sieben anfangen, aber er ist immer ein bisschen früher da, weil er seinem Chef beweisen möchte, dass er pünktlich sein kann. István hat keine Fehlstunden, er ist der geschickteste Lehrling und erledigt gewissenhaft alle Arbeiten. Das sagt sein Chef
und Lehrmeister Levente Balázs, der auch Eigentümer der KfzWerkstatt ist. »Die Schule hat ihn letztes Jahr hergeschickt. Bei zwei anderen Werkstätten wollten sie ihn nicht haben, weil er Zigeuner ist. Ich war auch skeptisch. Aber ich wollte ihm eine Chance geben. Bis jetzt war alles gut. Er hatte einige Probleme am Anfang, aber jetzt ist er besser und fleißiger als die anderen Lehrlinge, die keine Zigeuner sind.« Hat ihn das überrascht? »Ja«, sagt Levente Balázs. Hat sich sein Bild über Roma geändert, seitdem István sein Lehrling ist? »Nein«, sagt Levente Balázs. »Ich halte nicht viel von ihnen, ganz ehrlich. Nur mein Bild von István hat sich geändert. Er ist eine Ausnahme. Er ist hier willkommen, aber nur er. Seine Kumpel und seine Sippschaft soll er nicht hierher bringen.« Der Autor ist Südosteuropa-Korrespondent. Diesen Artikel können Sie sich in unserer iPad-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app
Hoffen auf eine bessere Zukunft. István Ötvös bei der Arbeit (unten), in seiner Siedlung (rechts) und mit seiner Familie (oben).
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Eine Entschuldigung ist nicht genug
Kultur der Straflosigkeit. Unabhängigkeitsplatz in Kiew, 3. März 2014.
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Foto: Sonja Och / laif
In der Ukraine wurden bei den Protesten gegen Präsident Viktor Janukowitsch 100 Menschen von der Polizei getötet und 800 verletzt. In dem osteuropäischen Land gibt es eine langjährige Kultur der Straflosigkeit. Misshandlungen und Übergriffe der Polizei werden zumeist nicht geahndet. Von Jovanka Worner Im Juli 2013 besuchte ich das Büro von Amnesty International in Kiew und traf mich mit Vertretern verschiedener NGOs. Dabei schlenderte ich auch über den Maidan – den zentralen Unabhängigkeitsplatz – und genoss das schöne Wetter. Kaum vorzustellen, dass es knapp ein halbes Jahr später auf diesem Platz und in anderen Städten der Ukraine zu Demonstrationen kommen sollte, an denen sich Hunderttausende beteiligten. Auslöser war, dass die ukrainische Regierung im November 2013 die Verhandlungen über ein Assoziierungsabkommen mit der EU abgebrochen hatte. Bei den anschließenden Protesten wurden mehr als 100 Menschen getötet und 800 verletzt. »Es fühlte sich an wie Krieg.« So beschreibt Zoryan Kis von Amnesty Ukraine die Ereignisse auf dem Maidan am 19. Februar 2014: »Die Polizei hat scharfe Munition gegen die Protestierenden eingesetzt, neue russische Blendgranaten, Tränengas, Gummigeschosse, drei Wasserwerfer und zwei Truppentransporter.« Amnesty hat seit Beginn der Proteste zahlreiche Fälle dokumentiert, in denen die Sicherheitskräfte unverhältnismäßige Gewalt angewendet haben. Außerdem kam es zu unfairen Verfahren gegen Demonstranten. Personen, die Beschwerde gegen das Vorgehen der Behörden einlegten, wurden eingeschüchtert. So wie im Fall von Iryna Rabchenyuk. Die 54-Jährige nahm am 1. Dezember 2013 in Kiew gemeinsam mit ihrem Mann, ihrem Sohn und ihrer Tochter an einer friedlichen Demonstration auf dem Maidan teil. Sie berichtete Amnesty später, die Luft sei voller Rauch gewesen, deshalb habe sie die Bereitschaftspolizei, die sich ihr näherte, nicht kommen sehen. Iryna Rabchenyuk hatte gerade ihrem Sohn aufgeholfen, der vor ihr gestolpert war, als sie sich umdrehte und einem Beamten der Bereitschaftspolizei gegenüberstand. Er schlug sie mit einem Schlagstock ins Gesicht, obwohl er sehen konnte, dass sie unbewaffnet war. Durch den Schlag wurde Iryna Rabchenyuks Nase gebrochen und ihr rechtes Auge verletzt. Außerdem erlitt sie eine Schädelfraktur und eine Gehirnerschütterung. Gegenwärtig kann sie auf dem rechten Auge nicht sehen, und es ist möglich, dass sie ihre Sehfähigkeit nie wieder erlangt. Ihr Sohn und ihr Mann wurden von Beamten der Bereitschaftspolizei ebenfalls mit Schlagstöcken traktiert. Iryna Rabchenyuk reichte wegen ihrer Verletzungen bei der Kiewer Staatsanwaltschaft Beschwerde ein. Als ein Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft sie deswegen im Krankenhaus besuchte, fragte er lediglich, ob sie an der Demonstration in der Bankova-Straße teilgenommen habe, bei der es zu gewalttätigen Ausschreitungen gekommen war. Iryna Rabchenyuks Fall ist nur einer von vielen, die Amnesty im Zusammenhang mit den jüngsten Protesten in der Ukraine dokumentiert hat. Bereits in den vergangenen Jahren gab es etliche Fälle von Misshandlungen und Folter durch die Polizei. In der Ukraine stellen Polizeigewalt, Folter und Straflosigkeit seit Jahren ein Problem dar, das in Zusammenhang mit den Demonstrationen gegen Präsident Viktor Janukowitsch auf besonders drastische Weise zutage trat. Menschen werden oft willkürlich festgenommen, ohne Grund in Untersuchungshaft gehalten und schwer misshandelt und gefoltert. Es gab in der Vergangenheit immer wieder Todesfälle in Haft, die zumeist nicht aufgeklärt
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Ukraine
wurden. Die Verantwortlichen für diese Menschenrechtsverletzungen werden nur in den seltensten Fällen zur Rechenschaft gezogen. Tausende Menschen werden jedes Jahr Opfer von gewalttätigen Übergriffen der Polizei und anderer Ordnungskräfte. Aus Furcht vor Vergeltungsmaßnahmen erstatten die Opfer jedoch nur selten Anzeige. Und die Staatsanwaltschaft ist nicht in der Lage, entsprechende Vorwürfe unparteiisch zu untersuchen. Im Sommer 2012, anlässlich der Fußball-EM in Polen und der Ukraine, unterzeichneten mehr als 25.000 Menschen die Amnesty-Petition »Rote Karte für Polizeigewalt«, in der eine unabhängige Institution zur Untersuchung von Amtsmissbrauch durch die Polizei gefordert wurde. Eine solche Institution einzurichten, wäre nach der im November 2012 eingeführten Strafprozessordnung möglich. Bisher wurden jedoch noch keine konkreten Schritte in diese Richtung unternommen. Anfang des Jahres lenkten Presseberichte über einen MaidanDemonstranten, der von Sicherheitsbeamten ausgezogen, gedemütigt und geschlagen wurde, die Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit auf Folter und Misshandlung in der Ukraine. In einem ungewöhnlichen Schritt entschuldigte sich der damalige ukrainische Innenminister öffentlich bei dem Betroffenen – doch eine Entschuldigung allein ist nicht ausreichend. Im Februar erklärte Valeriya Lutkovska, die Beauftragte des ukrainischen Parlaments für Menschenrechte, bei einer Veranstaltung in Berlin, dass die für den Vorfall Verantwortlichen identifiziert worden seien und zur Verantwortung gezogen würden. In der Zwischenzeit wurde Präsident Janukowitsch abgesetzt und eine Interimsregierung gewählt. Ende Mai 2014 sollen in der Ukraine vorgezogene Präsidentschaftswahlen stattfinden. Doch ganz unabhängig davon, wie sich die politische Lage entwickeln wird, fordert Amnesty, alle Todesfälle und Verletzungen, die durch ukrainische Sicherheitskräfte verursacht wurden, zügig und unabhängig zu untersuchen. Außerdem müssen die Verantwortlichen für die zahlreichen Übergriffe strafrechtlich zur Verantwortung gezogen und die Kultur der Straflosigkeit bei Amtsmissbrauch beendet werden. Die Autorin ist Sprecherin der Belarus/Ukraine-Ländergruppe der deutschen Amnesty-Sektion.
online-Petition Seit Beginn der Euromaidan-Proteste in der Ukraine wurden von Amnesty International zahlreiche Fälle von missbräuchlicher Gewaltanwendung durch Polizisten dokumentiert. Eine bereits langjährige Kultur der Straflosigkeit fördert derartige Übergriffe, da begründete Beschwerden über Polizeigewalt bisher nicht untersucht werden. Amnesty International fordert deshalb umgehende unabhängige Untersuchungen zu allen Anschuldigungen über exzessive Gewaltanwendung durch Ordnungskräfte bei den Euromaidan-Protesten, die strafrechtliche und disziplinarische Verfolgung der Verantwortlichen sowie die schnellstmögliche Einrichtung einer unabhängigen Institution zur Untersuchung von Polizeigewalt, um ähnlichen Fällen in Zukunft vorzubeugen und der Straflosigkeit ein Ende zu setzen. Beteiligen Sie sich an unserer Online-Petition gegen die Straflosigkeit in der Ukraine: www.amnesty.de/ukraine
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»Es könnte Blut fließen« Seit zwei Jahrzehnten regiert Alexander Lukaschenko die osteuropäische Republik Belarus (Weißrussland) mit eiserner Hand. Der im Exil lebende Journalist Aliaksandr Atroshchankau spricht im Interview über seine Zeit im KGB-Gefängnis, seine Angst vor einem Bürgerkrieg und die Gleichgültigkeit des Westens. Es gibt eine Diktatur im Herzen Europas. Doch die meisten Europäer interessiert das kaum. Warum schenkt man Belarus so wenig Aufmerksamkeit? Diese Frage müssen Sie sich selbst stellen. Vermutlich fühlen sich die meisten Europäer wohl, solange sie einen guten Job haben, shoppen können und einmal im Jahr in den Urlaub fliegen. Wen interessiert da schon die Diktatur in Belarus? Doch die Europäer schaden sich selbst, wenn sie vor Lukaschenkos Regime die Augen verschließen. Warum? Schurken wie Gaddafi oder Chavez waren Lukaschenkos Kumpel. Heute ist Syriens Diktator Assad sein Busenfreund. Wer glaubt, dass sich diese Typen darüber austauschen, wie man am besten Tulpen pflanzt, der liegt falsch. Sie diskutieren über Waffengeschäfte, Drogenschmuggel und Menschenhandel. Ist es möglich, dass sich das Regime von innen modernisiert? Nein, warum sollte sich das Regime wandeln? Die Machthaber sitzen an den Fleischtöpfen. Und ihre Gedanken kreisen nur darum, wie sie dort bleiben können. Es muss einen radikalen Wandel geben. Ich sage nicht unbedingt, dass Gewalt zum Einsatz kommen muss. Aber dieses Regime muss weg. Hatte Lukaschenko nicht lange Zeit die Mehrheit des Volkes hinter sich? Ja, als Lukaschenko im Jahr 1994 zum Präsidenten gewählt wurde, war er in der Tat der Kandidat des Volkes. Offiziell stimmten 80 Prozent für ihn. Doch wer genau hinsah, konnte damals schon erkennen, dass Lukaschenko ein Mann der Vergangenheit war. Er ist mit seiner ganzen Denkweise in der Sowjet-Ära steckengeblieben. Aber es stimmt: Das Volk unterstützte ihn. Und er nutzte das Vertrauen der Menschen aus, um Schritt für Schritt eine Diktatur zu errichten. Bevor Sie ins polnische Exil gingen, haben Sie in Ihrer Heimat für einen demokratischen Wandel gekämpft. Was hat Sie in die Politik geführt? Ich wollte nicht politisch aktiv werden, sondern musste. Die große Politik war mir eigentlich immer suspekt. Aber die Ereignisse ließen mir keine Wahl. Im Jahr 1999 ließ das Regime mehrere Oppositionelle entführen und ermorden. Das war einer der größten Wendepunkte meines Lebens. Plötzlich wur-
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de mir klar: In Belarus ist es unmöglich, politisch neutral zu bleiben. Es gibt einen zweiten Wendepunkt in Ihrem Leben, nämlich den 19. Dezember 2010. Was geschah an diesem Tag? Ja, der 19. Dezember 2010 – das war einer der traurigsten Tage in der Geschichte meines Landes. Es war der Tag der Präsidentschaftswahl. Die Gesellschaft war tief gespalten: Lukaschenko hatte noch immer viele Bürger hinter sich. Aber die Zahl der Regimegegner wuchs. Die Herrscherclique reagierte panisch: Das Regime fälschte die Wahlen, knüppelte Demonstranten nieder und nahm die Wortführer der Opposition fest. Sieben der neun Präsidentschaftskandidaten landeten hinter Gittern – bevor überhaupt die Stimmen ausgezählt worden waren. Sie waren damals Pressesprecher von Andrei Sannikau, dem wichtigsten Oppositionskandidaten. Auch er landete in der Wahlnacht im Gefängnis. Ja, unser gesamtes Wahlkampfteam wurde festgenommen. Die Polizei warf alle meine Vorgesetzten ins Gefängnis. Ich habe in dieser Nacht eine steile Karriere hingelegt: Am Abend war ich noch ein kleiner Pressesprecher und am nächsten Morgen plötzlich der Chef des Wahlkampfteams. Wenn auch nur für kurze Zeit … Ja, es dauerte nicht lange, bis sie auch mich abholten. Ich wollte am Morgen nach der Wahl eilig eine Pressekonferenz organisieren, als Sicherheitskräfte die Tür meiner Wohnung eintraten. Die Beamten fesselten mich, stülpten mir einen Sack über den Kopf und verprügelten mich. Dann verschleppten sie mich in ein Kerkerloch des Geheimdienstes KGB. Drei Monate verbrachte ich dort ohne Kontakt zur Außenwelt. Wie wurden Sie behandelt? Wir wurden gefoltert – psychologisch und körperlich. Der KGB hat über Jahrzehnte seine Methoden perfektioniert, um Menschen in den Wahnsinn zu treiben. Sie wollten falsche Geständnisse erpressen und uns dazu nötigen, für den Staatsapparat als Agenten zu arbeiten. Was warf man Ihnen offiziell vor? Sie behaupteten, ich hätte Straßenschlachten organisiert, bei denen Schusswaffen zum Einsatz kamen. Das ist natürlich Unsinn. Die Beamten sagten mir: »Wenn du Glück hast, verschwindest du für lange Zeit im Knast. Wenn du Pech hast, werden wir dich erschießen!« Nach drei Monaten wurde ich in einem Schauprozess zu vier Jahren Haft verurteilt. Ein halbes Jahr später entließ man Sie vorzeitig aus dem Gefängnis. Warum?
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Foto: Dmitry Brushko / AP / pa
»Einer der traurigsten Tage.« In Minsk protestiert ein Demonstrant in der Wahlnacht 2010 gegen die Manipulation der Präsidentschaftswahl.
Sie leben nun im Exil in Polen. Warum haben Sie Ihre Heimat verlassen? Als ich aus dem Gefängnis kam, habe ich mein Land nicht mehr wiedererkannt. Es ist überhaupt kein politisches Engagement mehr möglich, jede Opposition wird im Keim erstickt. Eine Situation wie in der Ukraine, wo die Bürger für ihre Rechte auf die Straße gingen, wäre in Belarus unmöglich. In meiner Heimat haben die Menschen schon Angst, festgenommen zu werden, wenn sie in ihrer eigenen Wohnung zu laut über Politik diskutieren. Mein Land ist auf dem Weg zum Totalitarismus. Wie sollte sich der Westen verhalten? Fordern Sie schärfere Sanktionen gegen Belarus? Ja, definitiv. Der Westen sollte alles unternehmen, um Lukaschenkos Regime zu schwächen. Nur so kann eine Katastrophe verhindert werden. Ich habe Angst, dass sich in meiner Heimat irgendwann Szenen wie in Syrien abspielen könnten, wo der Bürgerkrieg ein ganzes Land mit Blut überschwemmt. Lukaschenko unterdrückt nicht nur die Opposition, sondern das ganze Volk. Das kann nicht lange gut gehen. Es könnte viel Blut fließen. Dabei ist doch bereits genug Blut geflossen. Kann es denn überhaupt einen friedlichen Wandel geben? Lukaschenko wird wohl kaum freiwillig abtreten.
interview
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Nein, aber Lukaschenko ist ja nur der Kopf des Systems. Hinter ihm stehen Oligarchen, die permanent gefüttert werden wollen. Lukaschenko geht allmählich das Geld aus. Wenn er kein Geld mehr hat, werden sich die Oligarchen von ihm abwenden. Und dann bricht die gesamte Maschinerie in sich zusammen. Was können gewöhnliche Europäer tun, um den Belarussen zu helfen? Sie können Ihre Politiker zu Rede stellen. Fragen Sie den Parlamentsabgeordneten ihres Wahlkreises, warum Lukaschenko für den Westen akzeptabel ist. Warum kaufen wir sein Erdöl? Warum bezahlen wir seine Polizeikräfte? Warum geben wir einem Diktator Finanzspritzen, damit er weiter an der Macht bleiben kann? Im Westen herrscht Demokratie, und die Politiker müssen sich vor ihren Wählern verantworten. Fragen: Ramin M. Nowzad
interview aliaksandr atroshchankaU Foto: Amnesty
Weil die internationale Gemeinschaft Druck ausgeübt hatte. Das würde ich gerne auch allen auf den Weg geben, die sich bei Amnesty engagieren: Der Einsatz lohnt sich!
Weil er ein Abzeichen der oppositionellen Jugendorganisation »Subr« trug, wurde er 2001 erstmals festgenommen. Seither kämpft der Journalist Aliaksandr Atroshchankau für einen demokratischen Wandel in seiner Heimat Belarus.
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»Ja, ich bin die Mama der Schwuchteln…« tion, sondern wurde 1977 selbst mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Nun kann ich meinen Kritikern selbstbewusst ins Gesicht sagen: Ja, ich bin die Mama der Schwuchteln – und verdammt stolz darauf!
Amnesty hat Sie mit dem Menschenrechtspreis 2014 geehrt. Das könnte Ihnen in Ihrer Heimat mächtig Ärger eintragen. Sie haben natürlich recht: Unterstützung aus dem Westen wird in Kamerun nicht immer gern gesehen. Als ich 2011 Hilfsgelder der Europäischen Union angenommen hatte, drohte ein Regierungsmitglied öffentlich damit, mich verhaften zu lassen. Aber mit dem Menschenrechtspreis von Amnesty verhält es sich anders. Sogar meine Gegner sagen, dass ich diese Auszeichnung verdiene. Allerdings sollten wir nicht nur über mich sprechen! Homosexualität ist in meiner Heimat noch immer verboten. Menschen landen im Gefängnis, nur weil sie einen anderen Menschen lieben. Ihnen will ich diesen Preis widmen.
Wer öffentlich für die Rechte Homosexueller kämpft, lebt in Kamerun gefährlich. Ihr Freund und Mitstreiter Eric Lembembe wurde im vergangenen Sommer tot in seiner Wohnung aufgefunden. Seine Mörder hatten ihn mit einem Bügeleisen gefoltert, um ihm anschließend das Genick zu brechen. Ja, der Mord war grauenhaft. Die Tat versetzte Kameruns Schwule und Lesben in einen kollektiven Schockzustand. Eric war einer der bekanntesten Aktivisten des Landes. Als ich von seinem Tod erfuhr, bin ich sofort zum Tatort geeilt. Was ich dort sah, war ein Skandal: Die Polizisten unternahmen nichts. Sie sperrten den Tatort nicht ab, vernahmen keinen Zeugen, sicherten kein einziges Beweisstück. Auch seither rührten Polizei und Justiz keinen Finger, um den Fall aufzuklären. Offenkundig haben die Behörden überhaupt kein Interesse daran, die Täter zu fassen. Der Staat macht sich somit zum Komplizen der Mörder. Wir müssen das Verhalten der Behörden als Signal verstehen: Homosexuelle haben vom Staat keinen Schutz zu erwarten – und ihre Unterstützer auch nicht. Wir sind vogelfrei.
Aber unter uns: Ein bisschen stolz wird Sie der Preis wohl schon machen, oder? Klar! Ich fühle mich wie der Sprint-Star Usain Bolt, wenn er beim 100-Meter-Lauf über die Zielgerade schießt. Ich kämpfe in Kamerun seit zehn Jahren als Anwältin für die Rechte von Schwulen und Lesben. Damit habe ich mir in meiner Heimat nicht nur Freunde gemacht. Man nannte mich »die Anwältin des Teufels« und diffamierte meine Arbeit als »schmutzig«. Andere beschimpften mich als »Mama der Schwuchteln«. Dass ich nun für meinen Einsatz erstmals mit einem Preis geehrt werde, bestätigt mich enorm. Amnesty ist ja nicht irgendeine Organisa-
Auch Sie werden regelmäßig mit dem Tod bedroht. Wann haben Sie zuletzt Angst empfunden? Dafür bin ich längst zu alt! Ich blicke auf ein langes Leben zurück und weiß, dass ohnehin nicht mehr viele Jahre vor mir liegen. Mich kann niemand mehr einschüchtern, denn ich bin bereit, aus diesem Leben zu scheiden. Kameruns Schwule und Lesben sind »meine Kinder«. Bis ans Ende meiner Tage werde ich wie eine Löwin für ihre Rechte kämpfen. Und ich weiß, dass »meine Kinder« diesen Kampf nach meinem Tod weiterführen werden. Dieser Kampf hat etwas Göttliches: Vor unserem Schöpfer sind wir alle gleich!
Muss sich Amnesty eigentlich bei Ihnen entschuldigen? Nicht dass ich wüsste. Wieso?
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Foto: Sarah Eick
Seit zehn Jahren kämpft Alice Nkom in ihrer Heimat Kamerun für die Rechte von Schwulen und Lesben. Amnesty hat die Anwältin dafür mit dem Menschenrechtspreis 2014 ausgezeichnet. Im Interview spricht die 69-Jährige über das Verbot von Homosexualität, christliche Homophobie und die Gefahr, die ihre Arbeit mit sich bringt.
interview alice nkoM Im Jahr 1969 war Alice Nkom die erste schwarze Frau, die in Kamerun als Rechtsanwältin zugelassen wurde. Die heute 69-Jährige kämpft in ihrer Heimat seit nunmehr zehn Jahren für die Rechte sexueller Minderheiten. Laut Artikel 347a des kamerunischen Strafgesetzbuchs sind homosexuelle Handlungen mit einer Gefängnisstrafe von bis zu fünf Jahren zu ahnden. Als Rechtsanwältin verteidigt Alice Nkom Personen, die wegen des Artikels 347a vor Gericht landen. Im Jahr 2003 rief sie zudem ADEFHO ins Leben, die erste Nichtregierungsorganisation, die sich in Kamerun für die Belange sexueller Minderheiten einsetzt. Die Organisation bietet unter anderem psychologische Beratung, sexuelle Aufklärung und Sicherheitstrainings an. Für ihr Engagement erhielt Alice Nkom im März den Menschenrechtspreis der deutschen Amnesty-Sektion. Die mit 10.000 Euro dotierte Auszeichnung wird alle zwei Jahre an Persönlichkeiten und Organisationen verliehen, die sich unter schwierigen Bedingungen für die Menschenrechte einsetzen.
Kämpferin mit Weitsicht. Alice Nkom bei einem Besuch im Berliner Amnesty-Büro.
Das wird in Ihrer Heimat nicht jeder so sehen. Sind es nicht gerade Christen, die in Kamerun den Hass auf Homosexuelle schüren? Ja, das ist leider wahr. Prediger hetzen in Kamerun öffentlich gegen Schwule und Lesben. Sie gebärden sich damit christlicher als der Papst. Sogar das neue Oberhaupt der Katholischen Kirche hat Schwule und Lesben mittlerweile öffentlich gegen Diskriminierung verteidigt. »Wer bin ich, einen Homosexuellen zu verurteilen?«, sagte Papst Franziskus jüngst in einem Interview. Und er hat Recht! Der Hass auf Homosexuelle ist mit Religiosität nicht zu vereinbaren. Auch Schwule und Lesben sind Geschöpfe Gottes. Wer Homosexuelle ablehnt, stellt Gottes Schöpfung in Frage. Und das nennt man Blasphemie! Nicht nur gläubige Menschen lehnen in Kamerun Homosexualität ab. Das stimmt. Wer in meiner Heimat als homosexuell geoutet wird, kann sogar die Liebe seiner Mutter verlieren. So wie mein Mandant Jean-Claude Roger Mbede. Als er im Verdacht stand, homosexuell zu sein, verlor er alles: Erst seine Freiheit, dann seine Familie. Und nun sein Leben. Er ist am 10. Januar im Alter von nur 34 Jahren gestorben.
interview
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alice nkoM
Wollen Sie mir seinen Fall schildern? Roger war der ganze Stolz seiner Eltern. Er war brillant, besuchte die Universität und stand kurz davor, seinen Master zu absolvieren. Doch dann stürzte ihn eine einzige SMS ins Verderben. »Ich liebe Dich!«, hatte Roger einem Freund geschrieben. Für diese SMS wurde er 2011 zu drei Jahren Haft verurteilt. Wärter und Mithäftlinge haben ihn im Gefängnis schwer misshandelt. Als er wieder freikam, war er sehr krank. Roger hätte dringend behandelt werden müssen. Doch seine Familie hielt ihn zuhause gefangen und verweigerte ihm das Essen. Sie wollte, dass er stirbt. Weil man ihn als Homosexuellen verurteilt hatte, war er für seine Familie zum Fluch geworden. Was gibt Ihnen angesichts solcher Geschichten überhaupt noch Hoffnung? Es sind kleine Momente, die mir große Zuversicht geben. Jüngst gestand mir ein Verwaltungsbeamter, dass er sein ganzes Leben lang Homosexuelle gehasst habe. Doch eines Tages sah er mich im Fernsehen. Er hörte sich meine Argumente an – und plötzlich wurde ihm klar, dass er im Unrecht war! Fragen: Ramin M. Nowzad
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LIEBE IST KEIN VERBRECHEN Jetzt Petition unterschreiben!
AMNESTY.DE
Weil man sie fĂźr lesbisch hielt, wurden mehrere Frauen aus der kamerunischen FuÂťballnationalmannschaft entlassen. In Kamerun werden Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Intersexuelle QHHGP FKUMTKOKPKGTV CPIGITKHHGP WPF JĂ€WĆ‚I YKNNMĂ˜TNKEJ HGUVIGPQOOGP 5GZWGNNG *CPFNWPIGP \YKUEJGP INGKEJIGUEJNGEJVNKEJGP 2GTUQPGP MĂ’PPGP OKV HĂ˜PH ,CJTGP *CHV DGUVTCHV YGTFGP 1HVOCNU FTQJV DGTGKVU bei einem Kuss, der falschen Kleidung oder einer bloĂ&#x;en Anschuldigung die Festnahme.
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54 Berlinale: Amnesty-Filmpreis für »Al midan« 56 Literatur: Paco Ignacio Taibo II über einen Genozid in Mexiko 58 Multimedia: Der geheime Krieg der USA 60 Bücher: Von »K. oder Die verschwundene Tochter« bis »Der menschliche Körper« 62 Film & Musik: Von »Deri« bis »Population Boom«
Amnesty-Filmpreisträgerin 2014. Jehane Noujaim. Foto: Ahmed Hassan
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Fotos: Courtesy of Noujaim Films
Neue Freundschaften auf dem Tahrir-Platz in Kairo. Stills aus der Dokumentation »Al midan«, die mit dem diesjährigen Amnesty-Filmpreis ausgezeichnet wurde.
Der demokratische Jehane Noujaims Dokumentation »Al midan« hat bei der diesjährigen Berlinale den Amnesty-Filmpreis gewonnen. Die engagierte Erzählhaltung und die mutige Kameraführung des Films vermitteln einen unmittelbaren Eindruck von der Protestbewegung in Ägypten. Von Jürgen Kiontke
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ast hätte es den Film »Al midan« (The Square, USA/EGY 2013) gar nicht gegeben: Es ist Nacht und die Kamera läuft, als ein Panzerwagen über den Kairoer Tahrir-Platz schießt, mitten in die Menge hinein, in der auch Regisseurin Jehane Noujaim steht. Mehrere Menschen werden bei diesem Angriff getötet. Es sind nicht die einzigen Toten, die es auf dem Tahrir-Platz in Kairo in den vergangenen drei Jahren gegeben hat. Die »Arabellion«, wie die Proteste genannt werden, die in Ägypten 2011 begannen und die zum Sturz von Präsident Hosni Mubarak führten, hat laut Amnesty International mehr als 2.000 Opfer gefordert. Die Demonstranten, die auf dem Tahrir-Platz gegen Korruption und Vetternwirtschaft protestierten, wurden mehrfach überfallen und sogar von Scharfschützen angegriffen. Dass eine dieser grausamen Attacken nun filmisch dokumentiert ist, ist der Hartnäckigkeit des Teams um »Al midan«Regisseurin Jehane Noujaim zu verdanken. Die ägyptisch-ameri-
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kanische Regisseurin und ihre Mitstreiter harrten fast drei Jahre auf dem Platz aus, um die Ereignisse zu verfolgen. »Al midan« war einer der Beiträge im Forum der Berliner Filmfestspiele, die vom 6. bis 16. Februar 2014 stattfanden. Der Dokumentarfilm ist Chronik, Reportage und Kommentar gleichermaßen – er zeigt Bilder der eindrucksvollsten und der schlimmsten Ereignisse rund um die Platzbesetzung für Demokratie und Menschenrechte. Verschwiegen wird nichts – auch nicht die Widersprüche und Wirrungen der Protagonisten, die zunächst mit der Armee, dann mit den Muslimbrüdern sympathisieren und später beide gleichermaßen bekämpfen. Mit beiden werden die Ägypter nicht wirklich glücklich werden, sie werden weiter protestieren: laut und bunt. Der Film ist nah an seinen Protagonisten: Ahmed ist ein junger Mann, der schon als Kind Geld verdienen musste, dann gibt es den Schauspieler Khalid und schließlich Magdy, der als Muslimbruder unter Mubarak inhaftiert und gefoltert worden war und der nun fordert, Präsident Mursi eine Chance zu geben. Auf dem Tahrir-Platz werden Magdy, Khalid und Ahmed Freunde, über gesellschaftliche Grenzen hinweg. Dies ändert sich jedoch, als die Muslimbrüder der Korruption verdächtigt werden und ihre Unfähigkeit zur Demokratie augenfällig wird. Der Film zeigt aber auch Soldatenführer, die die Demonstranten für reine Selbstdarsteller halten, Radikale, die den Protest vereinnahmen wollen, und Politiker, die die verschiedenen Religionsgruppen gegeneinander ausspielen wollen. Auf Seiten der Demonstranten ist die Solidarität und Kreati-
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Platz vität groß: »Wir stellen uns den Kugeln entgegen, weil wir das Leben lieben, und wir gehen ins Gefängnis für die Freiheit«, schreibt einer aus der Haft. Der Kairoer Tahrir-Platz symbolisiert die Offenheit, er soll für alle Beteiligten ein demokratisches Ausbildungscamp werden. Menschen stehen gegen Autoritäten auf und wenn sich neue Machtverhältnisse bilden, protestieren sie weiter: Ein Zelt und eine Decke werden alle unsere Probleme lösen, sagen sie. Am Ende wird es heißen: »Die Armee ist gefallen. Mursi ist gefallen. Wer ist der nächste?« Fortsetzung folgt. Wer den Film sieht, soll vor allem die Atmosphäre auf dem Platz spüren. Durch die Kameraführung, die sehr nahe herangeht, meint das Publikum, selbst bei den Ereignissen zugegen zu sein. Wer filmisch so erzählt, inmitten des Kampfes um Demokratie und Teilhabe, der gewinnt auch den Amnesty-Filmpreis. Schon zum zehnten Mal wurde der mit 5.000 Euro dotierte Preis vergeben. In der Begründung der Jury hieß es, »Al midan« sei eines »der mutigsten Werke, das wir in den letzten Jahren gesehen haben. Neben der politischen Brisanz und der Menschlichkeit der Geschichten hat uns ganz besonders die Bildsprache überzeugt«. Zur Jury gehörten in diesem Jahr die Schauspielerin Melika Foroutan, Deutschlands wichtigste Filmproduzentin Regina Ziegler und Amnesty-Kommunikationsreferentin Ines Wildhage. Nach Ansicht der Jurorinnen zeigt der Film, dass der Mut und die Entschlossenheit der Ägypter nicht vergeblich waren: Sie hätten gelernt, gegen jedes System aufzustehen, das sie unterdrückt, und sie hätten
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Berlinale
gelernt, ihre Würde unter unwürdigen Bedingungen einzufordern. »Wer diesen Prozess drei Jahre lang begleitet, hat mit seinem Film eindeutig einen Vorteil bei der Jury«, sagt Regina Ziegler dem Amnesty Journal. »Al midan« sei in dieser Hinsicht der nachhaltigste Film gewesen. »Mich kann man kriegen«, bekennt die Produzentin. »Und ›Al midan‹ hat mich gekriegt.« »Wir haben nach einem Dokumentar- oder Spielfilm Ausschau gehalten, der spannend ist, das Publikum berührt, die Menschen aufrüttelt und ihre Solidarität hervorruft«, sagt Ines Wildhage. »Ästhetisch und dramaturgisch beeindruckend, kinofähig und authentisch – insofern ist ›Al midan‹ eine sehr gute Wahl.« Den richtigen Amnesty-Film zu finden, macht aber auch schlichtweg Spaß: »Ich durfte dreimal am Tag ins Kino, dreimal am Tag brisante Themen, die ans Herz gegangen sind, die mich gerührt oder zum Lachen gebracht haben«, sagt Melika Foroutan. »Und vor allem: Die Jury-Arbeit war sinnvoll.« Sinn ist der wichtigste Rohstoff, der den Amnesty-Preis ausmacht. Insgesamt 16 Filme aus vier Festival-Sektionen standen diesmal auf der Nominierungsliste. Ein beeindruckendes Werk unter diesen war »Difret« (ETH 2013). Der Spielfilm thematisiert die weitverbreitete Praxis der Frauenentführung am Beispiel Äthiopien. Die 14-jährige Hirut (Tizita Hagere) erschießt ihren Peiniger, weil er sie mit Gewalt zur Ehe zwingen will – auf dem Land keine unübliche Methode. Anwältin Meaza Ashenafi (Meron Getnet), die in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba ein Netzwerk gegründet hat, das mittellosen Frauen und Kindern kostenlosen Rechtsbeistand gewährt, übernimmt die Verteidigung des Mädchens. Ein Machtspiel zwischen Tradition und Moderne beginnt. Der Film diskutiert fast bis zum Schluss dramaturgisch gelungen die konträren Positionen der Beteiligten: Hat Hirut einen Mord begangen, wie die Dorfgesellschaft meint, oder war es Selbstverteidigung? Wie reagiert das Umfeld auf den unerwarteten Widerstand der jungen Frau? Regisseur Zeresenay Berhane Mehari zeichnet anhand dieses Falls, der auf wahren Gegebenheiten beruht, ein differenziertes Gesellschaftsbild und schildert einen grundsätzlichen Konflikt, der auch in anderen Ländern virulent ist: Wie löst die neue die alte Ordnung ab? »Difret« ist erst der vierte Langspielfilm, der je in Äthiopien gedreht wurde. Er genoss prominente Unterstützung: Angelina Jolie fungierte als ausführende Produzentin. Ein anderes Highlight lieferte das wie immer hochklassige Jugendfilmfest »Generation« mit dem Spielfilm »Were Dengê Min« (Folge meiner Stimme) von Hüseyin Karabey aus der Türkei. Er spielt in einem abgelegenen kurdischen Bergdorf. Der Vater der kleinen Jiyan (Melek Ülger) wurde eingesperrt. Frei kommt er nur, wenn er seine Waffen abliefert. Allerdings hat er überhaupt keine. Die Polizeikräfte machen von Anfang an klar, dass sie den Fall nicht gar so genau nehmen und schlagen einen dubiosen Handel vor: Wir besorgen die Gewehre, die Familie kauft sie uns ab. Gemeinsam mit der Großmutter bemüht sich das Mädchen auf recht komische Art und Weise um eine Familienzusammenführung und kämpft dabei gegen Armut und für Würde. Ein Menschenrechts-Roadmovie zu Fuß. Auch Karabey gelingt in den besten Momenten seines Films, was in »Al midan« die Regel ist: Man fühlt sich, als sei man mittendrin und nicht im Kinosaal. Alle nominierten Filme gibt es auf: www.amnesty.de/presse/2014/2/4/16berlinale-filme-fuer-den-amnesty-filmpreis-2014-nominiert
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Foto: Transcendental Graphics / Getty Images
Deportiert und vernichtet. Yaqui-T채nzer 1910 in New Mexico.
Vergessener Blutzoll Paco Ignacio Taibo II ist Mexikos eigenwilligster Autor. In seinen Kriminalromanen vermittelt er Geschichte und in seinem j체ngsten Buch hat er einen l채ngst vergessenen Genozid an einem indigenen Volk verarbeitet. Die Dokumentation 체ber die Yaqui ist in Mexiko bereits ein Bestseller. Von Knut Henkel
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ie Klingel im Parterre des Gründerzeithauses in der Colonia Condesa ist nicht beschriftet. Paco Ignacio Taibo II, 65 Jahre alt, ist kein Freund von überraschenden Besuchen und hat ohnehin am liebsten seine Ruhe. »Ich habe zu tun«, heißt es dann lapidar und es folgt die Armbewegung in Richtung Schreibtisch. Der steht an der Stirnseite eines geräumigen, von vollgestopften Bücherregalen gesäumten Wohnzimmers. Auf dem Schreibtisch türmt sich das Material für seine laufenden Projekte – meist zwischen sechs und einem runden Dutzend. An ihnen schreibt Mexikos derzeit wohl kreativster Schriftsteller parallel. »Je nachdem, worauf ich morgens nach dem Aufstehen eben Lust habe. Fiktion kann ja sehr viel unterhaltsamer sein als Geschichte oder ein politischer Artikel«, sagt Paco Ignacio Taibo II. In den vergangenen beiden Jahren war das allerdings anders. Da hat der Historiker und Soziologe überwiegend an einem Thema gearbeitet, das ihn nicht losgelassen hat: der Genozid an den Yaqui. »In einem Archiv bin ich bei der Recherche für ein Buch auf Papiere gestoßen, die von der Deportation eines indianischen Volkes, eben der Yaqui, berichteten. Da habe ich die Fährte aufgenommen und bin ihr gefolgt«, erklärt der Schriftsteller. »Die Yaqui leben in den Bergen des Bundesstaats Sonora. Ihr Reichtum ist das Wasser. Sie leben an einem Fluss, der ihnen zwei Ernten im Jahr garantiert. Dieses lukrative Land war der Grund für eine 42 Jahre andauernde brutale Verfolgung.« Die Vertreibung ereignete sich in den Jahren zwischen 1868 und 1909 und die Yaqui leisteten energisch Widerstand. Taibo II weiß von einem jungen Yaqui, der erste mehrere Wochen schuftete und dann, als er seinen kargen Lohn erhalten hatte, mehr als 350 Kilometer gen Norden in die USA wanderte, um dort neun Kugeln zu kaufen, die er, zurück in Sonora, der Yaqui-Guerilla übergab. Der Widerstand der kleinen Ethnie war kollektiv organisiert. Doch trotz aller Aufopferungsbereitschaft, der Blutzoll war immens: Von rund 30.000 Menschen um 1868 sank die Zahl der Yaqui auf rund 6.000 zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Viele von ihnen wurden zunächst nach Yucatán oder Oaxaca deportiert: »Dort mussten sie unter inhumanen Bedingungen schuften, in Steinbrüchen zum Beispiel. Sie wurden de facto versklavt. Viele starben in den ersten drei Jahren der Zwangsarbeit«, erläutert der Historiker die Ergebnisse seiner Recherchen. Für die Geschichte der Yaqui ist der Erfinder von Héctor Belascoarán Shayne, einem Detektiv im Großstadtdschungel von Mexiko-Stadt, selbst zum Detektiv geworden. Taibo II wollte wissen, wie es in der Region der Yaqui heute aussieht. Er wollte sich ein Bild der historischen Orte machen, die er in mühevoller Kleinarbeit lokalisiert hatte, und mit den Nachfahren sprechen. »Das Problem ist, dass die Yaqui keine Schriftsprache haben. Daher gibt es keine direkten Überlieferungen. Ich musste also kreuz und quer recherchieren, überlegen, wo ich auf Material stoßen könnte«, sagt Taibo II. Die Recherche ist gelungen, wie sich in dem Buch mit dem schlichten Titel »Yaquis« nachlesen lässt, das im vergangenen Herbst in Mexiko erschien. Ein Buch gegen das Vergessen, so Taibo II. Die mexikanische Revolution von 1910 drängte die ethnische Verfolgung in den Hintergrund des kollektiven Gedächt-
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Paco ignacio taiBo ii
»Das lukrative Land der Yaqui war der Grund für eine 42 Jahre andauernde brutale Verfolgung.« nisses. Dies hat nun ein Ende gefunden. Derzeit ist die vierte Auflage in Vorbereitung. Paco Ignacio Taibo II gehört in Mexiko zu den angesehenen Linken. Er beteiligt sich etwa regelmäßig an den »Konferenzen der Straße«, auf denen er einen Zeitungsartikel oder eine Textpassage vorliest, über den oder die dann diskutiert wird. Oft sind es Ereignisse aus der Geschichte, manchmal auch aktuelle Kämpfe der Arbeiterbewegung, die dann öffentlich analysiert werden. Den Yaqui, in deren Gemeinden heute wieder zwischen 25.000 und 30.000 Menschen leben, hofft Paco Ignacio Taibo II mit seiner Recherche weitgehend Unbekanntes aus der eigenen Geschichte vermitteln zu können. »Ich hoffe, dass das Buch ihnen ein wenig hilft, ihnen die Augen öffnet und zugleich auch ein bisschen Aufmerksamkeit erzeugt, denn schließlich droht sich die Geschichte zu wiederholen«, warnt er. Internationale Unternehmen haben das Land der Yaqui erneut im Visier, sagt Taibo II. Deshalb will er in diesem Frühjahr nach Sonora fahren – um aufmerksam zu machen auf Enteignungsvorhaben im Zusammenhang mit Staudammprojekten und industriellen Agrarprojekten am Río Yaqui. Taibo II – sein Vater war der bekannte Fernsehjournalist und Autor Paco Ignacio Taibo I – stammt aus einer politischen Familie. Taibo II wurde 1949 im spanischen Gijón geboren. Seine Mutter stammte aus einer Arbeiterfamilie. Ihr Vater, ein anarchistischer Gewerkschafter, hatte im Spanischen Bürgerkrieg gegen Franco gekämpft und war mit einem schwerbewaffneten Fischkutter im Gefecht auf hoher See untergegangen. Seinem Großvater hat »Pit II«, wie der Autor der Kürze halber in Mexiko auch genannt wird, so manche literarische Aufwartung gemacht, und immer wieder finden sich in seinen Krimis Ausflüge in die anarcho-syndikalistische Gewerkschaftswelt der damaligen Zeit. Paco Ignacio Taibo II, ganz in der Tradition der Familie, hält Distanz zum Staat, tritt ein für Arbeiterrechte und mehr Partizipation von unten sowie gegen die Dominanz des Kapitals. Stattdessen reist er zu den Yaqui oder engagiert sich gegen die Energiereform des Präsidenten Enrique Peña Nieto, die ihm als Ausverkauf der nationalen Schätze und als Selbstbedienung gilt. Im literarischen Establishment Mexikos wird Taibos immenser Output eher naserümpfend zur Kenntnis genommen, sein Einfallsreichtum und seine Neugier werden hingegen neidvoll registriert. Letztere hat ihn auf die Fährte der Yaqui geführt und dafür wird der Vielschreiber nicht nur von Mexikos Linken verehrt. Grund genug, auf die Beschriftung des Klingelschilds zu verzichten. Der Autor ist freier Journalist und berichtet regelmäßig aus Lateinamerika.
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Viele machen für die Drohnenangriffe in Afghanistan, Jemen und Somalia allein die USA verantwortlich. Doch Deutschland mischt mit. Neue Bücher, Filme und Webseiten geben erste Einblicke. Von Maik Söhler
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ie Regierung des Jemen ist es leid. Hunderte Menschen fielen mittlerweile Angriffen zum Opfer, die die USA im Kampf gegen Al-Qaida mit bewaffneten Drohnen ausgeführt haben. Zuletzt wurden im Dezember in der zentraljemenitischen Provinz Bajda 17 Menschen getötet. Die Attacke galt einem radikalen Islamisten, doch die meisten der Opfer waren wohl Zivilisten, die im Konvoi einer Hochzeitsgesellschaft mitfuhren. Egal ob im Jemen, in Afghanistan, Pakistan oder Somalia – der Drohnenkrieg, der sich auf Todeslisten stützt, die von Sondereinheiten US-amerikanischer Armee und Geheimdienste erstellt wurden, geht trotz internationaler Kritik weiter. US-Präsident Barack Obama hat als Oberbefehlshaber der Streitkräfte zwar im Januar angekündigt, die Zahl der Drohnenangriffe zu verringern, unklar ist allerdings, ab wann das gelten soll. Die mögliche Verringerung mag dem Widerstand einzelner Staaten wie dem Jemen geschuldet sein oder einer kritischen Debatte und juristischen Bedenken in den USA. Von einem Ende der Angriffe ist jedenfalls bislang nicht die Rede. Inzwischen richtet sich die Aufmerksamkeit zunehmend auch auf die Rolle Deutschlands in diesem »geheimen Krieg« – denn weder mit dem Jemen noch mit Somalia oder Pakistan befinden sich die USA offiziell im Krieg. Aufbauend auf Recherchen von US-Autoren wie Jeremy Scahill verfolgen Journalisten der »Süddeutschen Zeitung« und des NDR Spuren, die nach Deutschland führen. Dabei kommen erstaunliche Ergebnisse ans Licht, wonach insbesondere der »United States Africa Command« (Africom) in Stuttgart-Möhringen und die US-Airbase Ramstein an Drohnenangriffen in Somalia beteiligt sind.
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»Die Phase der Entführungen und Verschleppungen ist vorbei. Wir befinden uns jetzt in der Phase der Hinrichtungen«, schreiben Christian Fuchs und John Goetz in ihrem neuen Buch »Geheimer Krieg«. Gemeint ist, dass sich die Strategie im »Krieg gegen den Terror« unter US-Präsident Obama geändert hat. Während unter George W. Bush einst Geheimgefängnisse und Folter als wichtigste Mittel gegen Al-Qaida angesehen wurden, töten heute mit Hellfire-Raketen ausgerüstete Drohnen. Seit 2007 sollen ihnen laut Jeremy Scahill mindestens 5.000 Menschen zum Opfer gefallen sein. Nach Ansicht der Autoren handelt es sich dabei um außergerichtliche Hinrichtungen – ohne Anhörung der Betroffenen und ohne dass zuvor ein Gericht über Schuld oder Unschuld, Freispruch oder Strafmaß befunden hätte. Auf der gemeinsam vom NDR und der »Süddeutschen Zeitung« betriebenen Webseite www.geheimerkrieg.de werden die Rechercheergebnisse zur Rolle Deutschlands im »geheimen Krieg« der USA zusammengetragen und aktualisiert. Dazu zählen die Recherchen von Fuchs und Goetz, Berichte der ARD-Sendung »Panorama«, Zeitungsartikel sowie weiterführende Informationen, die in einer Datenbank und auf interaktiven Onlinekarten gesammelt werden. In einer Auftragsdatenbank lassen sich rund 150.000 Datensätze durchforsten, die Aufträge der US-Regierung an deutsche Unternehmen beinhalten. »Spionieren Sie zurück!«, heißt denn auch der zentrale Satz, den die Seitenbetreiber ihrem Rechercheprojekt vorangestellt haben, und weiter: »Finden Sie die Agenten vor Ihrer Haustür! Die wichtigste Regel für Geheimdienste lautet: Lass dich nicht erwischen! Denn das Einzige, das Spione weltweit nicht dürfen, ist dabei ertappt zu werden, wie sie arbeiten.« Schnell wird deutlich, dass sich www.geheimerkrieg.de nicht allein auf den US-Drohnenkrieg und seine Vorbereitung in Deutschland beschränkt. Die Präsenz der US-Geheimdienste in unterschiedlichen Städten und Regionen ist ebenso Thema wie die Kooperation deutscher Dienste mit den US-Kollegen. Auch werden US-Unternehmen wie die »Computer Science Corpora-
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Foto: Christian O. Bruch / laif
Deutschland im geheimen Krieg
Schlieren in der Idylle. Kondensstreifen von Flugzeugen, die von der US-Airbase Ramstein in Richtung Afghanistan gestartet sind.
tion« aufgelistet, die der Verschleppung und Folter von US-Kriegsgefangenen beschuldigt werden und trotzdem in Deutschland unbehelligt arbeiten können. Teilweise bekommen sie sogar Aufträge hiesiger Behörden, unter anderem von zehn unterschiedlichen Ministerien und vom Bundeskanzleramt. »Viele der Aufträge betreffen hochsensible Bereiche«, heißt es auf der Webseite. Auch die tätige Mithilfe bei der Informationsbeschaffung für den Drohnenkrieg und den Antiterrorkampf in Afrika gerät in den Blick. Sei es, dass die Hauptstelle für Befragungswesen in Berlin, die mit dem Bundesnachrichtendienst kooperiert, Asylbewerber in Deutschland vernimmt und dabei offensichtlich mit US-Agenten zusammenarbeitet; sei es, dass das Bundeskriminalamt die kenianische Polizei schult und ausrüstet. Jene Polizei also, der Philip Alston, UNO-Sonderberichterstatter über außergerichtliche Hinrichtungen, attestiert, längst ein »eigenes Recht« geschaffen zu haben. Wirkten das Buch »Geheimer Krieg« und die »Panorama«Sendungen zum Thema anfangs wie eine bemühte und fast schon verzweifelte Suche nach Fakten, mit denen sich eine Beteiligung bzw. die Duldung des US-Drohnenkrieges in Afrika durch deutsche Behörden und Geheimdienste belegen lässt, wird auf www.geheimerkrieg.de nunmehr ein Netzwerk sichtbar, das durchaus Rückschlüsse auf die Rolle Deutschlands zulässt.
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»geheiMer krieg«
Noch immer stehen kaum Beweise zur Verfügung – etwa dass US-Kampfdrohnen über Somalia von Stuttgart oder Ramstein aus gesteuert werden. Man wünschte sich, dass mehr Informationen zur Verfügung stünden, dass gerade die Webseite und ihre Social-Media-Kanäle öfter aktualisiert würden und dass auch Dementis und Recherchefehler gut sichtbar ausgewiesen würden. Diese Mängel machen das Buch, die TV-Beiträge und vor allem die Webseite jedoch nicht weniger interessant. Sie stehen für den Anfang einer Suche nach der Wahrheit, während die Gegenseite in der Kriegsführung mit Drohnen Jahre und beim Verbergen von Informationen sogar Jahrzehnte Vorsprung hat. Christian Fuchs/John Goetz: Geheimer Krieg. Wie von Deutschland aus der Kampf gegen den Terror gesteuert wird. Rowohlt, Reinbek 2013. 256 Seiten, 19,95 Euro. Webseite: www.geheimerkrieg.de Datenbank: www.geheimerkrieg.de/#auftragsdatenbank Facebook: www.facebook.com/SecretWarsGeheimerKrieg Facebook: www.facebook.com/GeheimerKrieg Twitter: http://twitter.com/TheSecretWars Süddeutsche Zeitung: www.sueddeutsche.de/thema/ Geheimer_Krieg NDR: http://daserste.ndr.de/panorama/geheimerkrieg147.html
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Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt oder man lässt sie »verschwinden«. aMnesty international veröffentlicht regelmäßig an dieser Stelle drei Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden. Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie bitte eine digitale Kopie an aMnesty international.
aMnesty international Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 Fax: 030 - 42 02 48 - 488 E-Mail: info@amnesty.de, www.amnesty.de Spendenkonto Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE 233 702050 0000 8090100 BIC: BFSWDE33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00)
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Fotos: privat
Briefe gegen das vergessen
Bahrain jehad sadeq aziz salMan Und eBrahiM ahMed radi al-Moqdad Die beiden 15-jährigen Jugendlichen Jehad Sadeq Aziz Salman und Ebrahim Ahmed Radi al-Moqdad wurden am 23. Juli 2012 auf einer regierungskritischen Demonstration in der Hauptstadt Manama festgenommen. Sie durften 48 Stunden lang weder mit ihren Familien noch mit einem Anwalt sprechen und wurden ohne die Anwesenheit eines Rechtsbeistandes verhört. Jehad Sadeq Aziz Salman berichtete später, dass er während der Fahrt zur Polizeistation mit einer Pistole geschlagen worden sei. Auch Ebrahim Ahmed Radi al-Moqdad hat ausgesagt, geschlagen worden zu sein. Beide seien zudem zum Unterschreiben eines „Geständnisses“ gezwungen worden. Die beiden Jungen wurden im April 2013 zu Haftstrafen von jeweils zehn Jahren verurteilt. Ihre Familien durften bei der Verkündung des Urteils nicht im Gerichtssaal anwesend sein. In einem Rechtsmittelverfahren im September 2013 wurden die Urteile bestätigt. Die Jungen sitzen in einer Hafteinrichtung für Erwachsene ein. Am 14. Mai 2013 kam es in der Gefängniszelle, in der Jehad Sadeq Aziz Salman und Ebrahim Ahmed Radi al-Moqdad inhaftiert waren, zu Handgreiflichkeiten. Nabeel Rajab, ein Mitgefangener und bekannter Menschenrechtsverteidiger, gab an, gesehen zu haben, wie Gefängniswachen mehrere junge Männer schlugen. Nach diesem Vorfall wurden Jehad Sadeq Aziz Salman und 13 weitere Gefangene in Einzelhaft verlegt. Besuche von Familienangehörigen wurden ihnen verboten. Später wurden sie, wie Jehad Sadeq Aziz Salman seinem Vater berichtete, wieder in die normalen Zellen zurückverlegt. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe, in denen Sie an den bahrainischen Justizminister appellieren, die Urteile gegen die beiden Jugendlichen aufzuheben, da sie als Erwachsene verurteilt wurden, obwohl sie noch minderjährig sind. Fordern Sie, dass die beiden in eine Jugendhaftanstalt verlegt werden, ihr Fall vor einem Jugendgericht neu verhandelt wird und sie wirksam vor Folter und anderen Misshandlungen geschützt werden. Schreiben Sie in gutem Arabisch, Englisch oder auf Deutsch an: Minister of Justice and Islamic Affairs Shaikh Khaled bin Ali Al Khalifa P.O. Box 450 al-Manama, BAHRAIN (Anrede: Your Excellency / Exzellenz) Fax: 009 73 - 17 - 53 12 84 oder 009 73 - 17 - 53 63 43 Twitter: @Khaled_Bin_Ali E-Mail: minister@justice.gov.bh (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,75 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft des Königreichs Bahrain S. E. Herrn Ebrahim Mohmood Ahmed Abdulla Klingelhöfer Straße 7, 10785 Berlin Fax: 030 - 86 87 77 88 E-Mail: info@bahrain-embassy.de oder über die Webseite: www.bahrain-embassy.de/kontakt/
aMnesty joUrnal | 04-05/2014
Die Dichterin und Künstlerin Liu Xia hatte im Januar einen Herzinfarkt und ist seither herzkrank. Die erforderliche Behandlung im Krankenhaus wurde ihr verweigert und wir machen uns zunehmend Sorgen um ihren physischen und psychischen Gesundheitszustand. Wir gehen davon aus, dass sie zusätzlich zu ihrer Herzerkrankung an schweren Depressionen leidet. Liu Xia befindet sich seit dem 8. Oktober 2010 ohne rechtliche Grundlage unter Hausarrest. An jenem Tag wurde bekannt, dass ihr Ehemann, der inhaftierte Liu Xiaobo, für seine Menschenrechtsarbeit den Friedensnobelpreis erhalten würde. Wenige Stunden nach der Bekanntgabe beschlagnahmten Polizeibeamte Liu Xias Telefon. Anschließend brachten sie sie in die Provinz Liaoning, wo sie Liu Xiaobo im Gefängnis besuchen konnte. Nach dem Besuch berichtete Liu Xia über Twitter, dass ihr Mann bei ihrem Besuch weinend zusammengebrochen sei. Sicherheitsbeamte brachten Liu Xia am selben Tag nach Peking zurück. Seither ist sie eine Gefangene in ihrer eigenen Wohnung. Sie darf die Wohnung nicht verlassen und auch keinen Besuch erhalten. Bitte schreiben Sie Liu Xia zu ihrem Geburtstag am 1. April eine Nachricht auf http://messagesforliuxia.tumblr.com/, um Ihre Solidarität zu zeigen und ihr Mut zu machen. Liu Xia wird dann 53 Jahre alt. Bitte schreiben Sie auch an den chinesischen Präsidenten und fordern Sie ihn auf, Liu Xia umgehend Zugang zur erforderlichen medizinischen Behandlung zu gewähren und alle Einschränkungen ihrer Bewegungs- und Meinungsfreiheit unverzüglich aufzuheben. Schreiben Sie in gutem Chinesisch, Englisch oder auf Deutsch an: President Xi Jinping 習近平 The State Council General Office 2 Fuyoujie, Xichengqu Beijingshi 100017 VOLKSREPUBLIK CHINA (Anrede: Your Excellency / Exzellenz)
Foto: Iman AL Qahtani @ImaQh
Foto: privat
china liU xia
Usa MohaMed al-qahtani Der saudi-arabische Staatsbürger Mohamed al-Qahtani befindet sich seit mittlerweile über zwölf Jahren ohne Gerichtsverhandlung in US-Gewahrsam. Im Dezember 2001 war er nach elf Tagen in pakistanischem Gewahrsam US-Streitkräften in Afghanistan übergeben worden. Seit 13. Februar 2002 wird er auf dem US-amerikanischen Marinestützpunkt Guantánamo Bay auf Kuba festgehalten. 2002 begannen die US-amerikanischen Behörden Mohamed al-Qahtani der Mitwisserschaft bezüglich der Anschläge vom 11. September 2001 zu verdächtigen. Sie hielten ihn sechs Monate lang in Isolationshaft – in einer kalten, rund um die Uhr künstlich beleuchteten Zelle ohne Sonnenlicht, die er nicht verlassen durfte. Zu den Verhörmethoden, die bei ihm angewendet wurden, zählten Schlafentzug, Beschallung mit lauten Geräuschen, permanente helle Beleuchtung, erzwungenes langes Verharren in unbequemen Positionen, der Einsatz von Hunden zur Einschüchterung, sexuelle Erniedrigung und erzwungene Nacktheit. »Wir haben Qahtani gefoltert«, gab der verantwortliche Beamte 2009 zu. »Seine Behandlung entsprach dem, was rechtlich als Folter definiert ist.« Niemand ist dafür bisher rechtlich zur Verantwortung gezogen worden. 2008 war vom Militärausschuss Anklage gegen Mohamed al-Qahtani wegen Kapitalverbrechen erhoben worden, die jedoch wenig später wieder fallengelassen wurde. Die Regierung unter Präsident Obama kündigte im Januar 2010 an, Mohamed al-Qahtani vor Gericht zu stellen, er ist bisher jedoch noch nicht neu angeklagt worden. Die erstmals 2005 gegen seine Inhaftierung eingelegten Rechtsmittel haben bis jetzt zu keinem Urteil geführt. Im Dezember 2013 setzte ein US-amerikanischer Bundesrichter das Verfahren gegen Mohamed al-Qahtani aus, mit der Begründung, dieser wirke immer noch »unfähig und nicht in der Lage, in dem gegen ihn geführten Verfahren wirksam mitzuwirken«. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den US-Präsidenten, in denen Sie ihn auffordern, Mohamed al-Qahtani unverzüglich einer anerkannten Straftat anzuklagen und ihn in einem fairen Prozess vor ein Bundesgericht zu stellen oder ihn sofort freizulassen. Drängen Sie bitte auch darauf, dass die Verantwortlichen für Folter und andere Misshandlungen, die Mohamed al-Qahtani erleiden musste, vor Gericht gestellt werden. Schreiben Sie in gutem Englisch oder auf Deutsch an: President Barack Obama The White House 1600 Pennsylvania Avenue Washington, DC 20500, USA (Anrede: Dear President Obama / Sehr geehrter Herr Präsident)
Briefe gegen das vergessen
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Foto: Henning Schacht
aktiv für aMnesty
Eisige Zeiten für die russische Zivilgesellschaft. Amnesty-Aktion vor dem Brandenburger Tor in Berlin, 30. Januar 2014.
Medaillen für die Menschenrechte Die Aktivisten mussten sich warm einpacken an diesem eisigen Morgen des 30. Januar: Anlässlich der Olympischen Winterspiele im russischen Sotschi hatte Amnesty International zu einer Protestkundgebung vor dem Brandenburger Tor in Berlin geladen. Dort inszenierte die Menschenrechtsorganisation eine »Siegerehrung«, bei der drei Aktivisten – als Wintersportler verkleidet – aufs Treppchen stiegen. Die drei »Sportler« symbolisierten die drei »Disziplinen« Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Diese Menschenrechte sind in Russland seit Beginn der dritten Amtszeit Putins durch gesetzliche Regelungen bedroht. Die Aktivisten forderten eine Rücknahme der Gesetze, die dazu führen, dass die Spielräume für die russische Zivilgesellschaft immer enger werden. Unterstützt wurden sie dabei von der deutschen Degenfechterin Imke Duplitzer, selbst mehrfache Olympiateilnehmerin, sowie Lilija Schibanowa, Leiterin der russischen Nichtregierungsorganisation Golos (siehe Interview Sei-
Mit Pinseln Und troMMeln für ÄgyPtens zUkUnft
Vor drei Jahren verjagte das ägyptische Volk Präsident Husni Mubarak aus dem Präsidentenpalast – doch noch immer ist das Land nicht zur Ruhe gekommen. Anlässlich des 3. Jahrestages des Revolutionsbeginns veranstaltete Amnesty am 25. Januar eine bunte Demonstration durch Berlin. Mit dieser Aktion wollte die Menschenrechtsorganisation diejenigen unterstützen, die sich in Ägypten weiterhin für die Achtung der Menschenrechte stark machen. Bereits in den Monaten zuvor hatten AmnestyMitglieder Stoffbahnen mit einem Motiv des ägyptischen Künst-
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te 13). Amnesty International überreichte Schibanowa, die als Wahlbeobachterin eine wichtige Rolle spielte und selbst von den repressiven Gesetzen betroffen ist, eine Auswahl der mehr als 9.000 Botschaften, die im Zuge der Solidaritätsaktion »Liebesgrüße nach Russland« verfasst wurden. Anschließend zogen die Teilnehmer zur russischen Botschaft in Berlin, um die Petitionslisten der Amnesty-Aktion »Russland: Freiheit statt Kontrolle« zu übergeben, die sich an Präsident Putin richteten. Fast 17.000 Menschen hatten sich allein in Deutschland gegen die restriktiven Gesetze gewandt. Parallel zur Aktion in Berlin fanden weltweit Veranstaltungen statt, bei denen mehr als 300.000 Unterschriften aus 112 Ländern überreicht wurden. In Moskau übergaben die Direktoren von acht Amnesty-Sektionen gemeinsam die international gesammelten Unterschriften im Präsidentenbüro. Text: Selene Mariani
lers El-Zeft bemalt: es zeigt Nofretete mit einer Gasmaske. Über 500 Stück davon wurden für die Aktion in Berlin zu vier Meter langen Bannern zusammengenäht. Nach der Auftaktkundgebung am Brandenburger Tor mit Selmin Çalışkan, Generalsekretärin der deutschen Amnesty-Sektion, und Hoda Salah, einer deutsch-ägyptischen Publizistin und Frauenrechtlerin, zogen die Aktivisten mit Bannern und Trommeln vor die ägyptische Botschaft und richteten ihre Forderung nach Einhaltung der Menschenrechte so direkt an die Regierung in Kairo.
aMnesty joUrnal | 04-05/2014
»Musik ist ein Transporter von Ideen. Lasst uns die Guten verbreiten!«, sagen Inga Humpe und Tommi Eckart von der Berliner Band 2raumwohnung. Zum Start ihrer »Achtung fertig«-Tour 2014 haben die beiden Musiker ein Fan-T-Shirt herausgegeben, das zugunsten von Amnesty International und fünf weiteren NGOs verkauft wird. Das T-Shirt trägt die Logos der beteiligten Organisationen und ist unter Fair-Trade-Bedingungen aus ökologisch nachhaltigen Rohstoffen hergestellt. Verkauft wird das Shirt in einer limitierten Edition am Merchandise-Stand auf den Konzerten sowie im Online-Shop der Band: http://2raumwohnung.themerchrepublic.com
aktiv für aMnesty
Durch ganz unterschiedliche Veranstaltungen geben Amnesty-Mitglieder den Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme. Diese Aktionen vor Ort sind ein unentbehrlicher Teil der Arbeit von Amnesty International. Mehr Informationen darüber finden Sie auf http://blog.amnesty.de und www.amnesty.de/kalender
iMPressUM Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, Tel.: 030 - 42 02 48 - 0, E-Mail: info@amnesty.de, Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion Amnesty Journal, Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, E-Mail: journal@amnesty.de (für Nachrichten an die Redaktion) Redaktion: Bernd Ackehurst, Markus N. Beeko, Anton Landgraf (V.i.S.d.P.), Ramin M. Nowzad, Larissa Probst Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit Albrecht, Dawid Danilo Bartelt, Daniel Bax, Phyllis Bußler, Victoria Flägel, Sara Fremberg, Knut Henkel, Jürgen Kiontke, Daniel Kreuz, Patrick Kroker, Selene Mariani, Wera Reusch, Christian Russau, Uta von Schrenk, Maik Söhler, Keno Verseck, Jovanka Worner, Marlene Zöhrer Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck: Hofmann Druck, Nürnberg Vertrieb: Carnivora Verlagsservice, Berlin Bankverbindung: Amnesty International, Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE 233 702050 0000 8090100, BIC: BFSWDE33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00) Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und erscheint sechs Mal im Jahr. Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Nichtmitglieder können das Amnesty Journal für 30 Euro pro Jahr abonnieren. Für unverlangt eingesandte Artikel oder Fotos übernimmt die Redaktion keine Verantwortung. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder. Die Urheberrechte für Artikel und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, für die Verbreitung im Internet oder für Vervielfältigungen auf CD-Rom.
ISSN: 1433-4356
aktiv für aMnesty
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Foto: Amnesty
Foto: Das Kowalski Komitee
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Im Januar haben wir mit 500 wunderschönen selbstgemalten Nofretete-Transparenten in Berlin unter knallblauem Himmel für Ägyptens Zukunft demonstriert. Trotz klirrender Kälte hatten sich viele Amnesty-Aktivistinnen und Aktivisten vor dem Brandenburger Tor versammelt, um Solidarität für die Menschen in Ägypten zu zeigen. Unter ihnen war auch Alice Nkom. Es hat mich nicht überrascht, dass sie trotz Knieschmerzen und vollem Terminkalender dabei sein wollte. Schließlich ist sie eine Aktivistin. Folglich stand die 69-jährige Anwältin bewundernd vor den Nofretete-Plakaten und sah, ohne es zu wissen, selbst wie Nofretete höchstpersönlich aus (allerdings wie eine mit Sonnenbrille)! Alice Nkom setzt sich in Kamerun mutig für die Rechte von Lesben, Schwulen und Transgender ein. Dafür bekommt sie dieses Jahr unseren Menschenrechtspreis. Lesben, Schwule und Transgender in Kamerun leben gefährlich: Sie kommen wegen einer SMS, »falscher Kleidung« und bloßen Vermutungen über ihre sexuelle Orientierung und/oder Identität ins Gefängnis. Alices Arbeit begann vor zehn Jahren, als vier Männer sie in ihrer Kanzlei besuchten und ihr klar wurde, dass zwei von ihnen offen schwul lebten – allerdings in Paris. Sie war sofort besorgt und bat sie, sich in der Öffentlichkeit nicht an den Händen zu halten oder zu küssen. Allerdings war sie über ihre eigene Reaktion erschrocken und merkte, wie absurd es ist, sich verstellen zu müssen. Das war die Geburtsstunde ihrer Nichtregierungsorganisation ADEFHO. Seither engagiert sie sich mit Kraft, Klugheit und einem gewissen Witz für Menschen, die anders lieben und leben wollen. Sie ist Vorbild und Hoffnungsträgerin – in Afrika und weltweit. Für mich, genauso wie für Alice, sind Lesben, Schwule und Transgender »keine sexuelle Minderheiten«: Sie leben in der Mitte der Gesellschaft und nicht am Rand. Mit eigenen Lebensentwürfen, in denen Sexualität nur ein wichtiger Aspekt ist. So wie bei allen anderen Menschen auch. In den Interviews wurde sie manchmal gefragt, ob sie selber lesbisch sei. Très bizzare! Den Journalistinnen und Journalisten müsste angesichts der Lage in Kamerun doch klar sein, dass diese Frage öffentlich am besten gar nicht gestellt wird. Um sie nicht noch mehr zur Zielscheibe der konservativen Kräfte in ihrem Land zu machen. Und überhaupt: Für uns als Amnesty ist diese Frage doch völlig irrelevant, wenn es um den Einsatz für die Menschenrechte geht. Oder seht ihr das anders? Selmin Çalışkan ist Generalsekretärin der deutschen Amnesty-Sektion.
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ICH HAB EIN GEHEIMNIS. ARTIKEL 12:
Niemand darf willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung und seinen Schriftverkehr ausgesetzt werden.
DIE ALLGEMEINE ERKLÄRUNG DER MENSCHENRECHTE ICH SCHÜTZE SIE – SIE SCHÜTZT MICH Mehr zu den 30 Artikeln der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und weitere Informationen unter www.amnesty.de