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AMNESTY JOURNAL
04/05
2015 APRIL/ MAI
RELIGION UND MEINUNGSFREIHEIT
MYANMAR Unterdrückung der muslimischen Minderheit
DIGITALE SPUREN Massenüberwachung und Menschenrechte
AMNESTY FILMPREIS Auszeichnung für Doku über Afghanistan
INHALT
TITEL: RELIGION UND MEINUNGSFREIHEIT 16 Schläge für die Freiheit In Saudi-Arabien ist der Blogger Raif Badawi zu 1.000 Stockhieben verurteilt worden, weil er sich für liberale Reformen aussprach. 21 Fragen verboten Wer die Stimme gegen fundamentalistische und nationalistische Einstellungen erhebt, muss in vielen Ländern mit gravierenden Folgen rechnen. 22 Mord mit Ansage Der Tod des Bloggers und Religionskritikers Avijit Roy in Bangladesch. 24 »Ich kann nur schreiben« Der Blogger Asif Mohiuddin setzt sich gegen religiösen Fundamentalismus und für Frauenrechte und Meinungsfreiheit in Bangladesch ein. 26 Schnell beleidigt Türkei: Die »Verunglimpfung religiöser Gefühle« ist einer von zahlreichen Artikeln im Strafgesetzbuch, mit denen die freie Meinungsäußerung beschränkt werden kann. 28 Treibgut des Krieges Der »Islamische Staat« mordet und brandschatzt in Syrien. Eine Reportage von Carsten Stormer
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THEMEN
KULTUR
34 »Für uns gibt es keine Gerechtigkeit« In Myanmar werden die muslimischen Rohingya seit Jahren systematisch unterdrückt. Das Meer ist ihr einziger Ausweg.
50 Extrem scharf geschossene Bilder Der Film »Tell Spring Not to Come This Year« hat bei der diesjährigen Berlinale den Amnesty-Preis gewonnen.
40 Gefangen im Netz Die digitale Massenüberwachung verletzt die Privatsphäre und gefährdet die Meinungsfreiheit.
53 »Der hat uns geflasht!« Interview mit Marcus Vetter, Mitglied der Jury des Amnesty-Filmpreises bei der Berlinale.
43 Eine Chance für die Freiheit Kuba: Hoffnungen auf eine Verbesserung der Menschenrechtslage.
54 Foltern per Dienstanweisung CIA-Folterreport des US-Senats: Ein Dokument des Grauens und eines der Demokratie zugleich.
44 Zweifelhafte Untersuchung Mexiko: Untersuchungen zum Fall der 43 verschwundenen Studenten. 46 Falsches Raster Kontrollieren Polizisten Personen etwa wegen ihrer Hautfarbe, handelt es sich um ein unzulässiges Vorgehen, das »Racial Profiling« genannt wird. 48 Ein Opfer unter vielen Der Fall des 18-jährigen Afroamerikaners Michael Brown wirft ein Schlaglicht darauf, wie die US-Polizei systematisch Minderheiten diskriminiert.
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56 Das Porträt eines Landes Das Istanbuler Fotokollektiv »Nar Photos«. 58 Wortwechsel »Asyl-Dialoge«: Ein Theaterstück zur Situation von Flüchtlingen. 60 Lähmung, Aufbruch, Krieg Die Journalistin Ute Schaeffer legt ein Buch zur Situation in der Ukraine vor. 63 Alles nichts an diesem Ort Das »Zomba Prison Project« über die Zustände im Zentralgefängnis von Malawi.
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AMNESTY JOURNAL | 04-05/2015
RAIF BADAWI …
Titelbild: Kundgebung vor der saudischen Botschaft in Den Haag, 15. Januar 2015. Foto: Jorn van Eck / Amnesty
RUBRIKEN 04 Weltkarte 05 Good News: Erste »der 17« Frauen in El Salvador frei 06 Panorama 08 Interview: Micha Brumlik 09 Nachrichten 11 Kolumne: Sergej Nikitin 12 Einsatz mit Erfolg 13 Selmin Çalışkan über Rechtsstaat und Rüstung 61 Rezensionen: Bücher 62 Rezensionen: Film & Musik 64 Briefe gegen das Vergessen 66 Aktiv für Amnesty 67 Impressum
… ist nicht der einzige gewaltlose politische Gefangene in Saudi-Arabien, aber sicher der bekannteste. Nur weil er seine Meinung äußerte, wurde er zu einer brutalen Strafe verurteilt. Sein Schicksal hat weltweit Aufmerksamkeit und Empörung erregt. Badawi ist kein Einzelfall. Immer wieder werden Menschen drangsaliert, verfolgt oder gar getötet, weil sie angeblich religiöse Werte verletzen. So wurde kürzlich der Blogger und Religionskritiker Avijit Roy in Bangladesch auf offener Straße ermordet. Auch bei den mörderischen Angriffen auf die Redaktion der Zeitschrift »Charlie Hebdo« in Paris und ein Kulturzentrum in Kopenhagen ging es um eine der elementarsten Ideen, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgehalten ist: das Recht auf freie Meinungsäußerung. Zu den Menschen, die bei der Ausübung dieses Rechts ihr Leben verloren haben, gehört auch der US-amerikanische Journalist Steven Sotloff. Er wurde in Syrien von Kämpfern des »Islamischen Staats« entführt und später hingerichtet. Sein Kollege Carsten Stormer beschreibt in seiner Reportage (Seite 28) die Geschichte eines syrischen Medienaktivisten und Mitarbeiters von Sotloff, der ebenfalls in die Fänge der Fanatiker geriet – und überlebte. Das Amnesty Journal hat schon mehrfach Beiträge von Carsten Stormer veröffentlicht. Immer wieder berichtet er trotz hohen Risikos aus Syrien, damit die Opfer des blutigen Konflikts nicht in Vergessenheit geraten. Umso mehr freut es uns, dass Carsten Stormer unter anderem mit einem Beitrag aus dem Amnesty Journal für den diesjährigen »Reemtsma Liberty Award« nominiert wurde, einem der renommiertesten Preise für Meinungs- und Pressefreiheit im deutschsprachigen Raum. Auch das Amnesty Journal wurde wieder mit Auszeichnungen bedacht – unter anderem für die beste Titelgestaltung beim »International Creative Media Award«, dem größten Branchenwettbewerb in Europa (Seite 67). Die Ehrung haben wir auch zum Anlass genommen, um das Amnesty Journal noch attraktiver zu gestalten. Wir haben insbesondere die Einstiegsseiten überarbeitet und mit neuen Rubriken und Grafiken versehen. Wir wünschen Ihnen eine interessante Lektüre.
Fotos: Martin Franke | Henning Schacht | Carsten Stormer | Maria Feck / laif | Ralf Rebmann | Foto Editorial: Amnesty
INHALT
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EDITORIAL
Anton Landgraf ist Redakteur des Amnesty Journals
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WELTKARTE
USA Vier Polizisten rangeln mit einem Obdachlosen, am Ende des Handgemenges erschießen sie ihn mit fünf Schüssen. Bei dem Vorfall in Los Angeles Anfang März starb erneut eine schwarze Person bei einer alltäglichen Polizeikontrolle. Ein Passant hatte den Vorfall gefilmt und auf Youtube gestellt. Nach Darstellung der Behörden soll der Mann bei der Auseinandersetzung nach der Pistole eines der beteiligten Polizisten gegriffen haben. Amnesty in den USA hatte bereits nach den Todesschüssen auf den schwarzen Teenager Michael Brown in Ferguson gefordert, dass »die Debatte um Rassismus bei der Polizei weitergehen muss«. !
UKRAINE Die exzessive Polizeigewalt während der Maidan-Proteste in Kiew zwischen Ende 2013 und Anfang 2014 ist bis heute weder umfassend untersucht worden, noch wurden die Betroffenen entschädigt. Mehr als 100 Personen waren während der Proteste getötet worden. Neben unangemessener Gewalt hat Amnesty auch Folter und andere Misshandlungen dokumentiert und die Erkenntnisse den Behörden zukommen lassen. Bislang konnte jedoch in keinem der Fälle ein Fortschritt beobachtet werden. Die amtierende Regierung scheint die Verantwortung ausschließlich auf den ehemaligen Präsidenten Wiktor Janukowitsch und die damalige politische Führung abzuschieben. "
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ÄQUATORIALGUINEA Wegen Flugblättern waren die drei Männer Mitte Januar in Haft gekommen: Celestino Okenve, Antonio Nguema und Miguel Mbomio hatten gegen die Austragung der Fußball-Afrikameisterschaft in ihrem Land protestiert. Willkürlich und ohne Anklage verbrachten sie mehr als zwei Wochen in Haft. Ihre Anwälte durften während der Verhöre nicht anwesend sein. Nach internationaler Kritik an den Behörden folgte die Freilassung der drei. Auch Amnesty hatte sich für sie eingesetzt. Celestino Okenve bekräftigte, dass er auch nach dem Vorfall weiterhin politisch aktiv sein will.
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ÄGYPTEN Sie berichteten für das englischsprachige Programm des Fernsehsenders »Al-Jazeera« aus Ägypten und saßen plötzlich in Haft: Mohamed Fahmy, Baher Mohamed und Peter Greste waren wegen angeblicher Unterstützung der Muslimbruderschaft im Dezember 2013 inhaftiert worden. Während Peter Greste bereits Anfang Februar nach Australien abgeschoben wurde, kamen seine Kollegen Mitte Februar vorerst frei und warten auf eine neue Verhandlung ihres Falls vor Gericht. Die Journalisten waren nach einem unfairen Verfahren zu sieben bis zehn Jahren Haft verurteilt worden. Das Urteil hatte zu internationalen Protesten geführt.
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SYRIEN Der politische Aktivist Louay Hussein wurde am 25. Februar gegen Kaution freigelassen. Das Verfahren gegen ihn läuft aber weiter. Hussein war im November 2014 unter dem Vorwurf der »Schwächung des Nationalgefühls« und der »Schwächung der nationalen Moral« an der Grenze zum Libanon festgenommen worden. Anlass war ein Text, den er im Sommer 2014 veröffentlicht hatte. Ähnliche Anschuldigungen gegen friedliche Menschenrechtsaktivisten häuften sich zuletzt in Syrien.
AMNESTY JOURNAL | 04-05/2015
GOOD NEWS
Foto: José Cabezas Reuters
RUSSISCHE FÖDERATION Mitten in Moskau wurde Boris Nemzow am 27. Februar gezielt erschossen: Die Attentäter konnten zunächst entkommen. Nemzow gehörte zu den aktivsten und sichtbarsten Vertretern der russischen Opposition. Immer wieder war er den Repressionen der Behörden ausgesetzt. Der prominente Aktivist war unter anderem wegen friedlicher Straßenproteste zwischenzeitlich inhaftiert. Amnesty fordert eine lückenlose und unabhängige Aufklärung des Mordes, insbesondere in Anbetracht der vielen vorangegangenen Morde und Übergriffe auf Regierungskritiker, die vielfach ungeklärt und ungestraft blieben. +
Überraschender Erfolg. Vásquez (rechts) nach ihrer Freilassung. ,
ERSTE »DER 17« FRAUEN FREI
Ausgewählte Ereignisse vom 10. Februar bis 2. März 2015
WELTKARTE
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GOOD NEWS
EL SALVADOR Wegen einer Fehlgeburt verurteilte ein Gericht in El Salvador Carmen Guadalupe Vásquez Aldana zu 30 Jahren Haft – jetzt begnadigte das Parlament die Frau. Sie war 2007 als 18-Jährige wegen Mordes angeklagt worden – ein üblicher Vorgang in El Salvador, wo Schwangerschaftsabbrüche unter allen Umständen strafbar sind. Man unterstellte ihr eine vorsätzliche Fehlgeburt, als sie in einem Krankenhaus in der Hauptstadt Hilfe suchte. Sieben Jahre verbrachte sie in Haft. Die Gefängnisse in dem mittelamerikanischen Land sind stark überfüllt. Andere Frauen leben oft auch mit ihren Kindern in den engen Zellen. Ob ihre Begnadigung eine Kehrtwende einleitet, ist unklar. 16 weitere Frauen hatten ebenfalls um eine Begnadigung gebeten – zusammen mit Vásquez wurden sie als »Die 17« international bekannt. Alle sind wegen Fehlgeburten zu Haftstrafen von bis zu 40 Jahren verurteilt worden. Die Anwälte der »17« hatten alle sonstigen rechtlichen Möglichkeiten zuvor erfolglos ausgeschöpft. Mit nur einer Stimme Mehrheit votierte das Parlament für die Freilassung von Vásquez – eine überraschende Entscheidung. Die junge Frau gilt jedoch nach wie vor als vorbestraft. Nur eine Abschaffung der restriktiven Gesetze, die zu den strengsten weltweit gehören, könnte sie endgültig entkriminalisieren. Bis zu 50 Jahre Haft drohen Frauen, wenn medizinische Komplikationen während der Schwangerschaft auftreten. Ein Schwangerschaftsabbruch ist auch dann nicht erlaubt, wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist oder der Fötus außerhalb des Mutterleibs nicht lebensfähig ist. Das gleiche gilt für Schwangerschaften infolge einer Vergewaltigung. Vermögende Frauen suchen Privatkliniken auf oder lassen den Eingriff im Ausland vornehmen. Einer der Anwälte von Vásquez spricht deshalb auch von einer »Hexenjagd gegen arme Frauen«. Zwischen 2000 und 2011 kam es zu 129 Verfahren; 23 Frauen wurden wegen illegaler Abtreibung, 26 weitere wegen Mordes verurteilt. Schwangere Mädchen begehen häufig Selbstmord. Unter Teenagern gilt Suizid als zweithäufigste Todesursache. Auch Vásquez war erst 18 Jahre alt, als sie verurteilt wurde. Schwanger geworden war sie nach einer Vergewaltigung, wie viele andere junge Frauen auch. Jetzt ist sie wieder frei, darauf hoffen auch die anderen 16.
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Foto: Dave Tacon / Polaris / laif
CHINA: FRAGWÜRDIGE GESETZESNOVELLE
Die Definitionen sind vage, die Spielräume weit: Die in China geplanten neuen Antiterrorgesetze werden – nach dem derzeitigen Entwurf – die Religionsfreiheit und die Rechte ethnischer Minderheiten weiter beschneiden. In der Provinz Xinjiang war bereits vergangenes Jahr das Tragen von Schleiern und langen Bärten sowie zum Teil auch das Fasten während des Ramadans verboten worden. Unter dem Deckmantel der nationalen Sicherheit drohen nun weitere und grundlegendere Einschränkungen, darunter Bewegungseinschränkungen und Haft für vermeintlich Terrorverdächtige.
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AMNESTY JOURNAL | 04-05/2015
PANORAMA
GRIECHENLAND: ERSCHRECKENDES AUSMASS AN RASSISMUS
Trotz neuer Antirassismus-Gesetze nehmen Hassreden und Gewalt gegen Flüchtlinge weiter zu. Insbesondere die rechtsextreme Partei »Goldene Morgenröte« habe zu lange unbehelligt agiert, sagte die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz und forderte weitere Schritte, um dem weitverbreiteten Rassismus in Griechenland entgegenzutreten. Dabei nahm sie insbesondere die Behörden in die Pflicht: Richter und Polizisten müssten besser geschult werden, um gezielter mögliche Hassmotive von Gewalttaten zu erkennen und zu ahnden. Foto: Myrto Papadopoulos / Redux / laif
PANORAMA
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INTERVIEW MICHA BRUMLIK Micha Brumlik, Erziehungswissenschaftler und Publizist, ist gegenwärtig Senior Advisor am Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. Der 67-Jährige ist emeritierter Professor am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/M., einer seiner Schwerpunkte ist Antisemitismusforschung.
Foto: Stefan Boness / Ipon
Es kommt darauf an, wo man wohnt. Sogar in Paris sind die Stadtquartiere, in denen die Oberschicht oder die gehobene Mittelschicht wohnt, wenig problematisch. Charakteristischerweise haben sich all diese Morde und Übergriffe in den Vororten ereignet, in denen eine ärmere Bevölkerung lebt, die aus nordafrikanischen Immigranten muslimischer und nicht-muslimischer Herkunft zusammengesetzt ist.
»DAS IST EINE NEUE QUALITÄT DES ANTISEMITISMUS« Fünf jüdische Bürger, die bei Attentaten in Paris und Kopenhagen getötet wurden, sowie alltägliche Übergriffe überall in Europa zeugen von einem verstärkten Antisemitismus. In Deutschland stieg die Zahl antisemitischer Straftaten von 788 im Jahr 2013 auf 1.076 im Jahr 2014, und der Zentralrat der Juden warnte davor, in »Problemvierteln« eine Kippa zu tragen. Im Januar debattierte die UNO-Vollversammlung erstmals in ihrer Geschichte über Antisemitismus. Paris und Kopenhagen zeigten es zuletzt: Immer häufiger kommt es zu tödlichen Anschlägen auf jüdische Bürger in Europa. Erreicht der Antisemitismus damit eine neue Qualität? Die mörderischen Anschläge vor allem in Frankreich, aber auch in Dänemark zeigen ein Bild, das es seit dem Zweiten Weltkrieg jedenfalls im westlichen Europa nicht gegeben hat. Das ist eine neue Qualität des Antisemitismus. Zugleich hat es antisemitische Einstellungen und Haltungen schon immer gegeben, das ist nichts Neues. Jenseits dieser extremen Gewalttaten – wie gefährlich ist es gegenwärtig in Europa, seinen jüdischen Glauben alltäglich und offen zu praktizieren?
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In Deutschland wird der Vorwurf des Antisemitismus gerne auf Muslime oder Islamisten abgewälzt. Halten Sie das für zulässig? Nein, da genügt ein Blick in die polizeiliche Kriminalstatistik: Für antisemitische Vergehen sind nach wie vor vor allem deutsche Rechtsextremisten verantwortlich, die keineswegs eingewandert sind. Meinungsumfragen zufolge ist der Antisemitismus unter Muslimen keineswegs ausgeprägter als innerhalb der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Allerdings gibt es hierbei auch immer ein Dunkelfeld. Den Berliner Rabbiner Daniel Alter schlugen vor knapp zwei Jahren vermutlich junge Immigranten nieder. Was hilft gegen den gegenwärtigen Antisemitismus? Es ist wichtig, mit Jugendlichen zu arbeiten, ihnen aufzuzeigen, was das Judentum ist, und ihnen deutlich zu machen, dass Judentum und die jeweilige Politik israelischer Regierungen nicht dasselbe sind. Denn wichtig ist: Der klassische Antisemitismus, der eine jüdische Weltverschwörung zusammenfantasiert, spielt kaum noch eine Rolle. Wer heute als Antisemit »up to date« sein will, präsentiert sich als sogenannter Israelkritiker – was im Umkehrschluss nicht heißt, dass alle Leute, die, aus welchen Motiven auch immer, die jeweilige Politik israelischer Regierungen kritisieren, deswegen Antisemiten sind. Was aber auffällt: Es gibt keine Englandkritik, keine Frankreichkritik, aber eine Kapitalismuskritik, eine Islamkritik und eine Israelkritik. Schon die Semantik zeigt, dass da etwas nicht stimmt. Ein Gerichtsurteil aus Wuppertal machte zuletzt Schlagzeilen: Können Gewalttäter versuchen, eine Synagoge anzuzünden, ohne dabei »per se antisemitisch« zu handeln, wie es der Richterspruch nahelegt? Das ist ein Fehlurteil. Die Richter meinten vermutlich, die Intentionen der Täter erkannt zu haben, und dachten wohl, sie hätten es mit einem dummen Jungenstreich zu tun. Aber auch dumme Jungenstreiche können antisemitisch motiviert sein. Fragen: Andreas Koob
AMNESTY JOURNAL | 04-05/2015
Foto: Tanja Schnitzler / Amnesty
»DIE ESKALIERENDEN BEWAFFNETEN KONFLIKTE HABEN ZUR GRÖSSTEN FLÜCHTLINGSKATASTROPHE SEIT DEM ZWEITEN WELTKRIEG GEFÜHRT. ABER NICHT DIE REICHEN LÄNDER NEHMEN DIE MEISTEN FLÜCHTLINGE AUF, SONDERN DIE NACHBARLÄNDER.« SELMIN ÇALIŞKAN, GENERALSEKRETÄRIN DER DEUTSCHEN AMNESTY-SEKTION, ANLÄSSLICH DER VERÖFFENTLICHUNG DES AMNESTY REPORTS 2014/15
Foto: Akos Stiller / The New York Times / Redux / laif
UNGARN SCHIKANEN GEGEN NGOS
Unerwünschte Kritik. Zivilgesellschaftlicher Massenprotest gegen Ungarns Regierung.
Seit Sommer 2014 geht die ungarische Regierung unter Ministerpräsident Viktor Orbán mit fragwürdigen Maßnahmen gegen zivilgesellschaftliche Organisationen vor. Vier ungarischen NGOs droht ein Gerichtsprozess, eine der vier verlor auch ihre Steuernummer, da sie – so der Vorwurf – nicht ausreichend mit der staatlichen Kontrollbehörde kooperiert habe. Insgesamt 59 NGOs wurden ausgiebigen
Buchprüfungen unterzogen. Innerhalb kürzester Fristen sollten sie weitreichende Auskünfte und Belege vorlegen. Betroffen waren Organisationen, die Geld aus Norwegen und anderen Ländern erhalten oder weiterleiten. Die ungarische Regierung warf ihnen Misswirtschaft und unlautere Unterstützung einer Oppositionspartei vor. Auch die Polizei ermittelte: Bei groß angelegten Razzien in zwei
NGO-Büros und in der Privatwohnung einer Mitarbeiterin wurden Computer, Server und Dokumente beschlagnahmt. Ein Gericht erklärte dieses Vorgehen im Januar 2015 für unzulässig. Über diese weitreichenden Schikanen und Repressionen hinaus, äußerte sich Orbán wiederholt diffamierend über die betroffenen Organisationen: Es handele sich um »gekaufte politische Aktivisten«, die versuchten, »fremde und gegen Ungarn gerichtete Interessen zu stärken«. Die einflussreichen, regierungsnahen Medien übernahmen diese Darstellung. Kritische Medien teilten hingegen die Ansicht der NGOs, die von einer Hetzkampagne sprachen und vor einer »Putinisierung Ungarns« warnten. Auch außerhalb Ungarns stieß die Maßnahme auf starke Kritik. Der Menschenrechtskommissar des Europarats, Nils Muižnieks, verurteilte die »stigmatisierende Rhetorik« gegenüber renommierten Projekten, die sich gegen Korruption, für die Rechte von Roma, Frauenrechte oder gegen die Diskriminierung von Schwulen und Lesben einsetzen. Orbán regiert Ungarn seit 2010, von Beginn an gab es heftige Kritik an seiner Politik, unter anderem wegen eines umstrittenen Mediengesetzes, einer neuen Verfassung und eines veränderten Wahlrechts.
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MENSCHEN ERTRINKT BEI DEM VERSUCH, ÜBER DAS MITTELMEER NACH EUROPA ZU GELANGEN. DAMIT IST ES DIE TÖDLICHSTE SEEROUTE DER WELT. (Quelle: Amnesty International)
INTERVIEW
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NACHRICHTEN
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Foto: Amnesty
»Das war eine schwierige Zeit.« Die Mexikanerin Claudia Medina nach dem lang ersehnten Freispruch.
EIN SIEG GEGEN DIE WILLKÜR Claudia Medina Tamariz war unschuldig: Ihr Freispruch belegt, wie wertlos »Geständnisse« sind, die mit Folter erzwungen werden. Gegen diese Praxis will sie auch jetzt weiter vorgehen. Ihre silbernen Ohrringe glitzern unter dem schulterlangen, schwarzen Haar hervor. Überglücklich bedankt sich Claudia Medina Tamariz bei Amnesty International für die Unterstützung in den vergangenen zweieinhalb Jahren. »Das war eine schwierige Zeit«, sagt sie. Alles begann im August 2012, als nachts Soldaten in ihr Haus eindrangen, sie fesselten, ihr die Augen verbanden und sie auf einen Marinestützpunkt brachten. Dann ging alles ganz schnell: Verhör, Geständnis, Anklage. Schon am folgenden Tag ließ sich das Bild der scheinbar unmittelbar überführten Straftäterin überall in den Medien finden: Zu sehen war die dreifache Mutter, vor ihr ein breitgefächertes Waffenarsenal sowie beschlagnahmte Drogen. Die Hände hinter dem Rücken gefesselt, stand sie mit anderen Verdächtigen in einer Reihe gedrängt vor einer Wand: Die vermeintlich überführte Bande, die nach Ansicht der Polizei Teil eines mächtigen Kartells war und zuletzt fünf Journalisten getötet hatte. Diesen Vorwürfen hatte Claudia Medina stets widersprochen. Doch die Marinesoldaten erpressten sie mit Folter: Sie versetzten ihr Elektroschocks, schlugen und traten sie. Sie berichtet auch von sexuellen Übergriffen, Erniedrigungen und massiven Drohungen. Schließlich unterschrieb Medina ein Dokument, das sie selbst nicht lesen durfte – das vermeintliche Geständnis. Eine Woche später bei der ersten gerichtlichen Anhörung zog sie die erzwungene Aussage zurück und berichtete von den Umständen ihrer Festnahme und der Folter. Das Gericht hielt an der Anklage wegen illegalen Waffenbesitzes fest, alle anderen Anschuldigungen ließ es hingegen fallen. Claudia Medina
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kam gegen Kaution frei. Bei der eigentlichen Verhandlung bekräftigte sie die Foltervorwürfe und nannte weitere Details. Der Richter wies die Generalstaatsanwaltschaft an, die Vorwürfe zu untersuchen. Doch nichts geschah, trotz mehrfacher Nachfragen, trotz Claudia Medinas Beschwerde bei der Nationalen Menschenrechtskommission und obwohl im Rahmen einer Amnesty-Kampagne 300.000 Menschen weltweit ihre Forderung unterstützten: Die Folterer blieben bis heute ungestraft. Dabei ist spätestens jetzt mit ihrem endgültigen Freispruch klar, dass die Behörden Claudia Medina völlig willkürlich ins Visier nahmen. Auch der illegale Waffenbesitz – der einzig verbliebene Anklagepunkt – erwies sich als haltlose Anschuldigung. »Wenn sie mich nicht gefoltert hätten, hätte ich das Geständnis nie unterschrieben«, sagte sie Amnesty International. Ihr Schicksal ist kein Einzelfall. Berichte belegen, dass Folter in Mexiko sehr häufig eingesetzt wird, um Geständnisse zu erpressen, vor allem wenn es um vermeintlich schnelle Ermittlungserfolge geht. Die ihr unterstellte Tat – der Mord an fünf Journalisten – hatte über Mexiko hinaus großes Aufsehen erregt. Die Behörden standen unter Druck, das Bild der schnell überführten Bande passte nur zu gut. Spaziert Claudia Medina heute durch die Stadt, bekommt sie »unfassbare Panik«, wenn zufällig Soldaten der Marine in ihrer Nähe auftauchen. Mit solchen Gefühlen ist sie in Mexiko nicht allein. Einer Amnesty-Umfrage zufolge haben nahezu zwei Drittel der Bevölkerung Angst vor Folter, wenn sie in Kontakt mit Behörden kommen. Auch deshalb kämpft Claudia Medina weiter, um ihre Folterer vor Gericht zu stellen: »Es muss weitergehen, bis keine einzige Frau in Mexiko mehr gefoltert wird.« Text: Andreas Koob
AMNESTY JOURNAL | 04-05/2015
Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen mit Appellschreiben an den »Urgent Actions«, den »Briefen gegen das Vergessen« und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz drohende Menschenrechtsverletzungen verhindert und Menschen in Not hilft, zeigen diese Beispiele.
VORZEITIG FREIGELASSEN
Tun Aung wollte schlichten, als es im Westen Myanmars zu Gewalt zwischen Buddhisten und Muslimen kam. Dazu hatten die Behörden den Arzt sogar aufgefordert: Doch dann wurde er dafür festgenommen und in einem unfairen Verfahren zu 17 Jahren Haft verurteilt. Nach zweieinhalb Jahren Haft kam er jetzt frei, allerdings nur auf Bewährung. Damit könnte er weiteren Repressionen ausgesetzt sein, wenn er sich auch künftig für die Menschenrechte in seinem Land einsetzen will. Sein Fall war 2013 Teil des AmnestyBriefmarathons. Die Nationale Menschenrechtskommission von Myanmar bestätigte nun, dass der Einsatz von Amnesty ein Grund dafür war, den Fall erneut zu prüfen.
MYANMAR
ABGEMILDERTE REVISION
BAHRAIN Wegen »Beleidigung einer Religionsfigur« verurteilte
ein Gericht in Bahrain den Aktivisten Nader Abdulemam zu sechs Monaten Haft: Ein Berufungsgericht verkürzte die Haftstrafe auf vier Monate. Da er so lange bereits inhaftiert war, kam Nader Abdulemam unmittelbar nach dem neuen Urteil frei. Eine Twitternachricht war Anlass für die Verurteilung: Der 41-jährige hatte sich darin über einen Gefährten des Propheten Mohammed geäußert. In einem anderen Verfahren gegen ihn wegen »illegaler Versammlung« steht die Entscheidung noch aus. Amnesty wird Nader Abdulemam, wenn nötig, weiter unterstützen.
HINRICHTUNG AUSGESETZT
USA Die neuen Beweise werden geprüft, bis dahin ist die
Hinrichtung von Rodney Reed ausgesetzt. Das texanische Gericht folgte damit einem Antrag der Verteidigung. Reed war 1998 wegen Mordes zum Tode verurteilt worden, hat die Tat jedoch stets bestritten. Er hatte eine sexuelle Beziehung zu dem Opfer, die er im Rahmen der Ermittlungen zunächst verheimlicht hatte. Reed war zum Tode verurteilt worden, weil die Gerichtsmedizin Spermaspuren gefunden hatte, die ihm zugeordnet wurden. Der forensische Gutachter wirft dem Gericht allerdings vor, sein Gutachten »missbraucht« zu haben, da die Spuren nicht unbedingt mit dem Mord in Verbindung stehen müssen. Zudem sagten mehrere Zeugen aus, sie hielten Reed nicht für den Täter.
GESETZ GEGEN FOLTER
Zunächst hatten Folteropfer erfolgreich auf Entschädigung geklagt, jetzt soll in Togo auch ein Gesetz eingeführt werden, das Folter ausdrücklich verbietet. Schon vor 26 Jahren hatte das westafrikanische Land die UNO-Antifolterkonvention ratifiziert. Trotzdem wandten Polizisten jüngst wiederholt Folter an und misshandelten Beschuldigte, um »Geständnisse« zu erpressen. TOGO
EINSATZ MIT ERFOLG
SELMIN ÇALIŞKAN ÜBER
RECHTSSTAAT UND RÜSTUNG
Foto: Amnesty
EINSATZ MIT ERFOLG
Der aktuelle Amnesty Report 2014/2015 dokumentiert einen erschreckenden Trend: In immer mehr Ländern gehen bewaffnete Gruppen oder Terrororganisationen brutal gegen zivile Personen vor. Die Gründe, warum etwa Boko Haram oder der »Islamische Staat« stark werden konnten, sind komplex. Aber eines können wir feststellen: Die Verletzungen der Menschenrechte sind ein Nährboden für Gewalt. So wurden in Nigeria Tausende mutmaßliche BokoHaram-Unterstützer willkürlich inhaftiert, gefoltert und zum Teil auf offener Straße hingerichtet. Eine solche Politik schützt nicht die Bevölkerung, sondern schürt neue Gewalt. Für uns gilt: Der Einsatz für die Menschenrechte aller Menschen, ungeachtet ihrer Zugehörigkeit zu verschiedenen Konfliktparteien, ist das A und O, um neuer Gewalt vorzubeugen und die wichtigste Investition in Frieden und Versöhnung im Land. Das sollte künftig durch mehr Friedensfachkräfte, Menschenrechtsexperten und Polizeikräfte in UNO- und EU-Missionen in die Praxis umgesetzt werden, wie es auch das Zentrum für Internationale Friedenseinsätze in Berlin fordert. Zurzeit sind nur 24 deutsche Polizisten an UNO-Missionen beteiligt. Deutschland ist sich nicht bewusst, welche Kompetenz es gewinnen könnte, wenn es den politischen Willen gäbe, die Konfliktprävention zu stärken. Stattdessen sind wir der drittgrößte Rüstungsexporteur weltweit. Dass Menschenrechte ebenso wie die Sicherheit und die Wirtschaft im eigenen nationalen Interesse sein sollten, ist den meisten Politikern noch nicht klar. Die Staaten müssen die Bevölkerung vor Terrorakten schützen, das machen die Anschläge von Paris und Kopenhagen leider allzu deutlich. Aber reflexartig drakonische Maßnahmen zu verhängen und Freiheiten zu beschneiden, ist der falsche Weg. Der »war on terror« nach den Anschlägen von 2001 hat uns gezeigt, dass mit Folter und vermehrten Rüstungsexporten unsere Lage nicht sicherer wird, sondern gefährlicher. Wer die Menschenrechte anderer verletzt, der bereitet den Boden für neue Gewalt. Daher sollten wir anfangen, den Rechtsstaat statt Rüstung zu exportieren. Selmin Çalışkan ist Generalsekretärin der deutschen Amnesty-Sektion.
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AMNESTY JOURNAL | 04-05/2015
Religion und Meinungsfreiheit
Die Anschläge auf die Redaktion der französischen Satirezeitschrift »Charlie Hebdo« in Paris und auf ein Kulturzentrum in Kopenhagen haben weltweit Entsetzen und Empörung hervorgerufen. Aber auch in vielen anderen Regionen der Welt werden Menschen bedroht und verfolgt, nur weil sie ihre Meinung äußern. So wie der Blogger Raif Badawi in Saudi-Arabien.
Liberalismus als Grundübel. Amnesty-Mitglied vor der saudi-arabischen Botschaft in Warschau. Foto: Grzegorz Żukowski / Amnesty
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Tausend Stockhiebe in 20 Wochen. Protestaktion in Helsinki.
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AMNESTY JOURNAL | 04-05/2015
Foto: Tomi Asikainen / Amnesty
RELIGION UND MEINUNGSFREIHEIT
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Schläge für die Freiheit In Saudi-Arabien ist der Blogger Raif Badawi zu 1.000 Stockhieben verurteilt worden, weil er sich für liberale Reformen aussprach. In dem Königreich gilt eine ultra-konservative Auslegung des Islams als Staatsreligion – wer dagegen aufbegehrt, muss mit drakonischen Strafen rechnen. Von Regina Spöttl
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Foto: Amnesty
s ging auf die Mittagsstunde des 18. Rabi al-Awwal des Jahres 1436 AH zu, als uniformierte Wächter einen jungen Mann in Fesseln auf den Platz vor der Al-DschafaliMoschee in der saudi-arabischen Stadt Dschidda brachten. Als die Gläubigen nach dem Freitagsgebet in Scharen herbeigelaufen waren, schlug einer der Wächter mit einer langen Gerte 50 Mal auf Rücken und Beine des jungen Mannes, der die Tortur wortlos und sichtlich unter Schmerzen erduldete. Nach dem 50. Schlag skandierte die Menge »Allahu Akbar« und löste sich auf, während der Delinquent wieder abgeführt wurde. Was auf den ersten Blick wie eine mittelalterliche Folterszene anmutet, fand nicht etwa vor vielen hundert Jahren statt, sondern im 21. Jahrhundert. Denn der 18. Rabi al-Awwal 1436 bezeichnet ein Datum des islamischen Mondkalenders und entspricht dem 9. Januar 2015. Der junge Mann, der vor der Mo-
Meinungsfreiheit? Protestaktion in Helsinki.
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schee öffentlich verprügelt und gedemütigt wurde, heißt Raif Badawi und ist 31 Jahre alt. Er hat eine Ehefrau und drei kleine Kinder, die im kanadischen Exil leben und ihren Ehemann und Vater seit drei Jahren nicht mehr gesehen haben. Raif Badawi war am 7. Mai 2014 von einem Strafgericht zu zehn Jahren Haft, 1.000 Stockschlägen, einer Geldstrafe von umgerechnet etwa 195.000 Euro und einem anschließenden Reiseverbot von zehn Jahren verurteilt worden. Über einen Zeitraum von 20 Wochen sollten ihm immer nach dem Freitagsgebet jeweils 50 Stockhiebe verabreicht werden. Sein Verbrechen: Er hatte das Online-Forum »Saudi-arabische Liberale« gegründet, eine Internetseite mit einem Blog, auf der er sich mit anderen mutigen Menschen über Ideen für ein moderneres, menschlicheres und toleranteres Saudi-Arabien ausgetauscht hatte. Dort wurde über Themen wie Politik, Menschenrechte, Meinungs- und Religionsfreiheit, Kultur und die Trennung von Religion und Staat als Schlüssel zu mehr Freiheit diskutiert. Er fand, die Zeit sei reif für dringend benötigte Reformen für ein liberaleres Königreich. »Sobald ein Denker seine Ideen äußert«, schrieb Raif Badawi in seinem inzwischen abgeschalteten Blog, »werden sofort Hunderte Fatwas (islamische Rechtsgutachten) erlassen, die ihn als Ungläubigen anprangern, nur weil er den Mut besessen hat, heilige Themen zur Diskussion zu stellen. Ich habe die Befürchtung, dass arabische Denker demnächst alle das Land verlassen werden, um wieder frei atmen zu können und dem Schwert der Religionsbehörden zu entkommen.« Er ging sogar noch einen Schritt weiter, als er sagte: »Die Trennung von Staat und Religion ist die beste Lösung, um Länder (wie auch das unsere) aus der Dritten Welt in die Erste, die moderne Welt zu katapultieren.« Jeder Mensch sollte das Recht haben, seine Religion frei zu wählen. Badawi sieht Religion als das persönliche spirituelle Verhältnis zwischen dem Individuum und seinem Schöpfer und sagt, dass weltliches Recht, wie zum Beispiel Verkehrsregeln oder das Arbeitsrecht, nicht von der Religion abgeleitet werden könne. In Saudi-Arabien, so Raif Badawi, beanspruche die Regierung allerdings das Monopol auf
AMNESTY JOURNAL | 04-05/2015
»Sobald ein Denker seine Ideen äußert, werden sofort Hunderte Fatwas erlassen, die ihn als Ungläubigen anprangern, nur weil er den Mut besessen hat, heilige Themen zur Diskussion zu stellen.« Raif Badawi in seinem Blog
die einzige und allgemein gültige Wahrheit. Liberalismus wird als Grundübel hingestellt, alle Menschen, die anderen Religionen angehören, gelten als Ungläubige und Abtrünnige. »Aber wie sollen wir mit dieser Einstellung normale Beziehungen zu den sechs Milliarden Menschen auf der Welt pflegen, von denen viereinhalb Milliarden keine Muslime sind?« Damit hat Raif Badawi an den Grundfesten des autokratischen saudi-arabischen Staats gerüttelt, der seit der Eroberung der arabischen Halbinsel und der ersten Staatsgründung durch Mohammed Ibn al-Saud im 18. Jahrhundert auf zwei Säulen ruht: dem Königshaus der al-Saud und dem »Rat der höchsten Religionsgelehrten« (Ulama), der auf den Religionsgründer Mohammed Abd al-Wahab zurückgeht. Beide halten sich in diesem Machtgefüge gegenseitig die Waage. Solange das Königshaus die strenge, ultrakonservative Form des wahabitischen Islams aufrechterhält – was meist nur mit Unterdrückung zu bewerkstelligen ist – und solange der Koran die Verfassung des Landes und die Scharia das unangefochtene Gesetz ist, so lange wird die Geistlichkeit die Monarchie der al-Saud nicht in Frage stellen. Umgekehrt unterstützt die Ulama das Königshaus, indem sie beispielsweise unbeliebte Verbote mit oftmals absurden Begründungen legitimiert und Wissenschaft und Forschung diffamiert und behindert. So laufen Frauen, die ein Auto steuerten, angeblich Gefahr, unfruchtbar zu werden und ihre Jungfräulichkeit zu verlieren. Im September 2011 behaupteten saudische Kleriker ernsthaft, es gebe Scharia-Astronomen, deren Ansichten über das Universum die einzig wahren und richtigen seien. Dementsprechend verkündete vor Kurzem ein Dozent während einer Lehrveranstaltung, die Erde drehe sich nicht, sondern stehe still. Wer es wagt, den Klerus zu kritisieren, wird wegen »Diffamierung des Islam« vor Gericht gestellt und zu hohen Strafen verurteilt. Raif Badawi hatte sich unter anderem über das »Komitee zur Förderung des Guten und Verhinderung des Bösen«, die berüchtigte Religionspolizei, lustig gemacht und Reformen gefordert. Die Folgen sind bekannt. Saudi-Arabien ist das Land mit den wohl schärfsten Einschränkungen des Menschenrechts auf Religionsfreiheit. Der wahabitische Islam ist Staatsreligion, schon die überwiegend im Osten des Landes lebenden schiitischen Muslime werden gern als »Ungläubige« bezeichnet und im täglichen Leben diskriminiert. Die Ausübung aller anderen Religionen ist bei Strafe verboten. Im Gegensatz zu den übrigen Golfstaaten sucht man in Saudi-Arabien vergebens nach christlichen Kirchen, Synagogen oder gar Hindutempeln. Schon der Besitz einer Bibel oder eines Davidsterns ist strafbar. Kein Wunder also, dass Raif Badawis Ruf nach einer Säkularisierung des Landes alle Alarmglocken zum
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Mächtige Idee Die Anschläge auf die Satirezeitschrift »Charlie Hebdo« in Paris und das Kulturzentrum »Krudttønden« in Kopenhagen waren Angriffe auf eine mächtige Idee: Die Idee, dass jeder Mensch die Freiheit hat, »Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten«. So steht es in Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Saudi-Arabien war eines der vielen Länder, welches die Anschläge verurteilte. Doch nur zwei Tage nach dem Attentat in Paris fand im saudi-arabischen Dschidda die öffentliche Auspeitschung des Bloggers Raif Badawi statt. Er hatte auf dem von ihm gegründeten Online-Forum »Saudische-arabische Liberale« religiöse Autoritäten des Landes kritisiert. Seine Strafe: 1.000 Schläge und zehn Jahre Haft. Im Februar ermordeten Unbekannte in Bangladesch den religionskritischen Autor Avijit Roy nach seinem Auftritt auf einer Buchmesse. Er hatte zuvor Drohungen von Islamisten erhalten (Seite 22). Der Blogger Asif Mohiuddin, der 2013 ein Attentat überlebte, berichtet im Gespräch über die schwierige Situation in dem Land (Seite 24). Auch die Entwicklung in der Türkei ist besorgniserregend. Die türkische Presse unterliegt erheblichen Einschränkungen und sieht sich vermehrt Einschüchterungsversuchen ausgesetzt. Ein Gericht verbot den Nachdruck der Mohammed-Karikaturen aus »Charlie Hebdo«. Eine Zeitung wagte es trotzdem und bekam sogleich die Konsequenzen zu spüren (Seite 26). Meinungsfreiheit ist Grundvoraussetzung für einen Wettstreit der Ideen. Sie ermöglicht, Unrecht aufzudecken und Lebensbedingungen zu verbessern. Selbst Kritik, Spott und Satire, die das Potenzial haben, »Gefühle zu verletzen«, sind durch die Meinungsfreiheit geschützt. Der britische Schriftsteller George Orwell brachte es auf den Punkt: »Wenn Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann das Recht, anderen Leuten das zu sagen, was sie nicht hören wollen«. Benjamin Titze ist Mitglied der Themenkoordinationsgruppe Meinungsfreiheit der deutschen Amnesty-Sektion.
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schenrechtsorganisation »Monitor of Human Rights in Saudi Arabia« gegründet hatte, die Menschenrechtsverletzungen dokumentierte. Zudem hatte er viele Menschenrechtsaktivisten vor Gericht verteidigt. Wie viele andere Gefangene war auch Waleed Abu al-Khair in der Haft gefoltert und misshandelt worden. Raif Badawi ist somit nicht der einzige gewaltlose politische Gefangene in Saudi-Arabien, wohl aber der derzeit bekannteste. Sein Schicksal hat eine Welle der Entrüstung und Anteilnahme in aller Welt ausgelöst. Hundertausende Unterschriften konnten bisher bei Demonstrationen und Mahnwachen vor den Botschaften Saudi-Arabiens rund um den Globus übergeben werden. Das Interesse an seinem Fall ist noch immer überwältigend, und die sozialen Netzwerke sind voll mit Solidaritätsbekundungen für Raif Badawi und seine Familie und Appellen an die saudi-arabische Regierung, die restlichen 950 Stockhiebe auszusetzen und das Urteil aufzuheben. Politiker aus aller Welt setzen sich für den Blogger ein. Die gute Nachricht: Raif Badawi hat seit dem 9. Januar 2015 keine Stockhiebe mehr ertragen müssen. Die Prügelstrafe wurde vorübergehend ausgesetzt, aus »medizinischen Gründen«, wie es hieß. Sein Fall ist vom Obersten Gerichtshof an das Strafgericht in Dschidda zurückverwiesen worden. Das Verfahren könnte somit neu aufgerollt werden, ein Anhörungstermin steht allerdings noch nicht fest. Solange das Urteil jedoch nicht aufgehoben ist, befindet sich Raif Badawi noch immer in höchster Gefahr. Die grausame Szene vor der AlJafali-Moschee in Dschidda könnte sich jederzeit an einem der kommenden Freitage wiederholen. Und damit nicht genug. Bei einer Wiederaufnahme des Verfahrens vor dem Strafgericht in Dschidda läuft Raif Badawi Gefahr, erneut wegen Apostasie angeklagt und womöglich zum Tode verurteilt zu werden. Es sei denn, der neue saudi-arabische König Salman bin Abdul Aziz begnadigt Raif Badawi im Rahmen einer Amnestie zu seinem Amtsantritt und ordnet seine sofortige und bedingungslose Freilassung an. Dann könnte der Traum von Raifs Ehefrau Ensaf Haidar und der drei Kinder vielleicht doch noch Wirklichkeit werden: Dass sie am Flughafen von Montréal ihren Ehemann und Vater endlich wieder in die Arme schließen können.
Pilgerstätte in Mekka. Islam als Staatsreligion.
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Die Autorin ist Sprecherin der Ländergruppe Saudi-Arabien und Golfstaaten der deutschen Amnesty-Sektion.
Foto: Saudi Press Agency / AP / pa
Schrillen brachte und sofort unterbunden werden musste. Dies erklärt auch, warum der Betrieb einer Internetseite und das Führen eines Blogs derart drakonisch bestraft wurden. An Raif Badawi musste ein Exempel statuiert werden, auch um die vielen Nutzer sozialer Netzwerke wie Facebook, Twitter oder Instagram in die Schranken zu weisen. Denn am Cyberspace beißen sich die Zensoren mittlerweile die Zähne aus. Nicht jede Internetseite kann kontrolliert werden, viele Facebook-Einträge oder Twitter-Nachrichten rutschen durch das enge Netz der Überwachung. »Twitter ist unser Parlament«, sagte kürzlich ein junger Saudi hoffnungsfroh. Der Wunsch nach Reformen, mehr Freiheiten und Weltoffenheit ist groß im Land. Die saudi-arabischen Frauen, die immer noch die Zustimmung eines männlichen Vormunds benötigen, wenn sie wichtige Entscheidungen treffen, sehnen sich nach Gleichberechtigung und Selbstbestimmung. Und sie wollen endlich Autofahren. Doch auch hier schlägt die Obrigkeit gnadenlos zu. Frauen, die am Steuer eines Wagens erwischt werden, kommen in Haft und können seit einem Jahr unter dem neuen Antiterrorismusgesetz angeklagt und verurteilt werden, auch zu Stockschlägen. Autofahren wird somit als terroristischer Akt eingestuft, doch lassen sich die Frauen nicht länger davon abhalten. Das 21. Jahrhundert ist auch in Saudi-Arabien angekommen und die sehr junge Gesellschaft – zwei Drittel der Bevölkerung sind unter 25 Jahre alt – will ungehindert daran teilhaben und die vielen Restriktionen und Verbote endlich aus dem Weg räumen. Regierungskritiker und friedliche Reformer leben allerdings gefährlich und zahlen oft einen hohen Preis für ihr mutiges Einstehen für Freiheit und Menschenrechte. Seit Jahren erstickt die saudi-arabische Regierung jegliche Kritik Andersdenkender. Fast alle Gründungsmitglieder der inzwischen verbotenen Menschenrechtsorganisation ACPRA wurden zu Haftstrafen von bis zu zehn Jahren verurteilt. Namhafte Reformer und Menschenrechtsverteidiger, darunter Rechtsanwälte, ehemalige Richter und Universitätsprofessoren, verbüßen nach unfairen Gerichtsverfahren lange Freiheitsstrafen. Im Februar 2015 bestätigte ein Berufungsgericht das Urteil gegen den Menschenrechtsanwalt Waleed Abu al-Khair, Raif Badawis Rechtsbeistand und Schwager. Er muss für 15 Jahre ins Gefängnis, weil er 2008 die Men-
Salman bin Abdul Aziz. Neuer König und Premierminister.
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Fragen verboten Wer die Stimme gegen fundamentalistische und nationalistische Einstellungen erhebt, muss in vielen Ländern mit gravierenden Folgen rechnen. So wie in Russland, wo sich Elena Klimova wegen ihrer »positiven Einstellung gegen nicht-traditionelle sexuelle Beziehungen« verantworten muss. Oder wie in Myanmar, wo sich Htin Lin Oo gegen die Diskriminierung muslimischer Minderheiten wendet. Von Andreas Koob
Elena Klimova
Htin Lin Oo
Mit der Webseite »Children 404« schuf Elena Klimova eine Plattform für lesbische, schwule, bi-, trans- und intersexuelle Jugendliche in Russland. Die Zukunft ihres Projekts ist mehr als ungewiss. Die Journalistin wurde im Januar verurteilt und muss eine Geldstrafe zahlen. Unter Bezug auf das umstrittene russische Gesetz, das »Propaganda von nicht-traditionellen sexuellen Beziehungen gegenüber Minderjährigen« unter Strafe stellt, hatte die russische Medienaufsicht eine Klage gegen sie eingereicht. »Children 404« will schutzlose junge Menschen unterstützen, die Diskriminierung und anderen Problemen ausgesetzt sind. Mit der Webseite sollen sie einen Raum bekommen, um sich als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen und über Probleme zu sprechen. Der Name »Children 404« bezieht sich auf die Fehlermeldung »404 page not found«, die im Browser erscheint, wenn man eine nicht existierende Webseite aufruft. Tatsächlich schließt Klimovas Plattform jene Lücke, auf die der Name anspielt: Videoclips dokumentieren die alltägliche Schikanierung ebenso wie einen selbstbewussten Umgang damit. Auch in sozialen Netzwerken ist »Children 404« aktiv. Klimova hat das Projekt in der im Ural gelegenen Stadt Nischni Tagil gegründet. Inzwischen ist es weit über Russland hinaus bekannt. Personen aus zahllosen Ländern haben sich mit der Webseite vernetzt und posten dort ihre persönlichen Geschichten. Die Medienaufsicht hatte »Children 404« an den Pranger gestellt, da die Webseite beabsichtige, »bei Kindern den Eindruck zu vermitteln, dass es ein Zeichen von Mut, Stärke, Selbstbewusstsein und Selbstrespekt sei, wenn man homosexuell ist«. Somit propagiere Klimova nach Ansicht der Medienaufsicht eine »positive Einstellung zu nicht-traditionellen sexuellen Beziehungen unter Jugendlichen«. Klimova bekam keinen fairen Prozess. Obwohl ihr Anwalt erkrankt war, wurde ihre Anhörung nicht verschoben. Und auch eine von ihr eingeforderte zweite Expertenmeinung zu ihrer Webseite wurde nicht eingeholt. Die Richterin befand sie schuldig, »nicht-traditonelle sexuelle Beziehungen propagiert zu haben« und verhängte eine Geldstrafe von umgerechnet 640 Euro. Klimova legte gegen das Urteil Rechtsmittel ein. Nur wenn sie Erfolg hat, kann das Projekt fortbestehen. Bereits im vergangenen Jahr stand Klimova vor Gericht: Der Parlamentsabgeordnete Vitaliy Milonov aus St. Petersburg hatte Klage gegen sie eingereicht und sich dabei ebenfalls auf das sogenannte Propagandagesetz bezogen. Damals war das Verfahren allerdings eingestellt worden.
Er kritisierte, dass sich Buddhismus und Nationalismus in Myanmar immer stärker vermischen, was Ausschluss und Diskriminierung zur Folge habe. Jetzt steht der Schriftsteller Htin Lin Oo in Myanmar vor Gericht. In einer Rede hatte er sich vor allem mit fundamentalistischen Strömungen im Buddhismus beschäftigt: »Wenn Du extremer Nationalist sein willst, glaube nicht an Buddha«, ist der am häufigsten daraus zitierte Satz, mit dem er von seinen Gegnern gezielt diffamiert wird. Lokale Beamte aus dem Ort, in dem er die Rede hielt, hatten ihn angezeigt und damit das Verfahren ins Rollen gebracht. Seine Kritik an Vorurteilen und Diskriminierung im Namen der Religion ruft massive Gegenkritik hervor. Auch die Behörden werfen ihm vor, er habe die Religion verunglimpft und religiöse Gefühle verletzt. Bis zu drei Jahre Haft kann das heißen. Htin Lin Oo ist kein Unbekannter. Bis zuletzt war er Informationsbeauftragter der größten Oppositionspartei Myanmars, der Nationalen Liga für Demokratie (NLD). Aber auch von seiner Partei bekommt er keine Rückendeckung und verlor inzwischen sein Amt. Sein Anwalt kritisiert den Umgang mit Htin Lin Oo. Die allgemeine Entrüstung fuße vor allem auf einem im Internet kursierenden Video. Die Sequenzen des zehnminütigen Clips würden jedoch einen verzerrten Eindruck von der fast zweistündigen Rede vermitteln. Nach einer Gerichtsanhörung im Januar sagte Htin Lin Oo: Als Buddhist müsse er sich entschuldigen, wenn er irgendjemanden verletzt habe – unabhängig davon, ob er selbst richtig liege oder nicht. Htin Lin Oos Kritik bezieht sich auf die schwierige Situation religiöser Minderheiten in Myanmar: Angesichts antimuslimischer Gewalt hat sich insbesondere die Lage der Rohingya-Minderheit verschlechtert, wie der Amnesty Report 2014/15 dokumentiert. Übergriffe bleiben vielfach ohne strafrechtliche Konsequenz, während die staatliche Politik die Diskriminierung und Ausgrenzung noch weiter verschärft (siehe auch unsere Reportage ab Seite 34). Htin Lin Oos Fall und die Entwicklung in Myanmar finden kaum Beachtung, auch in der allgemeinen Debatte um Religion und Meinungsfreiheit. Die Agenda nationalistischer buddhistischer Mönche und die Repression gegenüber Andersdenkenden scheint nahezu ausgeblendet: Htin Lin Oo aber bräuchte diese Aufmerksamkeit sehr dringend.
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Mord mit Ansage Wer in Bangladesch den Islam kritisiert, wird eingeschüchtert und im schlimmsten Fall ermordet, wie jüngst der Blogger und Religionskritiker Avijit Roy. Doch anstatt die potenziellen Opfer zu beschützen, gehen die Behörden regelmäßig gegen jene vor, die ihre Meinung frei äußern wollen. Von Bernhard Hertlein
Wer die Religion kritisiert, muss um sein Leben fürchten. Tatort in Dhaka.
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Foto: Mohammad Asad / Pacific Press / pa
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r kam, um Freunde zu treffen: Avijit Roy, ein in Bangladesch geborener Software-Spezialist, Blogger, Religionskritiker, Autor und mittlerweile US-Staatsbürger, wollte in der Hauptstadt Dhaka sein neues Buch vorstellen. Was er nicht wusste: Dort warteten schon seine Mörder. Sie töteten den 42-Jährigen am 26. Februar 2015 mit Messerstichen in Hals und Rücken. Auf die gleiche brutale Weise war ein Jahr zuvor, am 15. Februar 2014, Rajib Haider umgebracht worden. In den Jahren zuvor waren Asif Mohiuddin und Humayun Azad ebenfalls durch Messerstiche lebensgefährlich verletzt worden. Azad starb später an den Folgen des Überfalls. Dieses Mal waren es zwei Täter der Terroristengruppe »Ansarulla«. Sie griffen außerdem Rafida Ahmed Bonya an, die Frau von Avijit Roy, die schwer verletzt wurde. Wie Humayun Azad, Asif Mohiuddin und Rajib Haider war auch Avijit Roy Atheist. Er nahm für sich das Recht in Anspruch, alle Religionen – also auch den Islam – zu kritisieren. Dafür erhielt er von Islamisten schon seit geraumer Zeit Morddrohungen, auch öffentlich, zum Beispiel auf Facebook. Einige drohten ihm sogar unter ihrem wirklichen Namen, wie Farabi Shafiur Rahman zum Beispiel, der sich auch nicht mit Morddrohungen gegen den mittlerweile in Deutschland lebenden Blogger Asif Mohiuddin zurückhält. Anfang 2013 hatte Farabi auf Facebook die Bestrafung zweier minderjähriger Schüler in Chittagong verlangt. Ihr »Verbrechen«: Sie hatten in dem sozialen Medium einige kritische Nachfragen über den Propheten Mohammed gestellt. Dafür wurden sie erst von Gefolgsleuten Farabis verprügelt und dann von der Polizei inhaftiert. Der US-Konzern Facebook hat bislang nichts gegen die Morddrohungen unternommen. Auch der bangladeschische Staat ergreift keine Maßnahmen, um die Bedrohten zu schützen oder die Morde aufzuklären. Stattdessen gehen die Behörden regelmäßig gegen diejenigen vor, die durch die Inanspruchnahme ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung angeblich den öffentlichen Frieden gefährden.
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Dabei hatte das unabhängige Bangladesch 1971 neben Demokratie, Sozialismus und Nationalismus auch Säkularismus zu einer der vier grundlegenden Säulen des neuen Staates erklärt. Und bis heute gibt es in dem Land, in dem 85 Prozent der 160 Millionen Einwohner dem muslimischen Glauben angehören, kein Blasphemiegesetz. Dennoch nehmen die Einschränkungen der Meinungsfreiheit spürbar zu. Avijit Roy, der jetzt ermordete Religionskritiker, reiste nicht zufällig im Februar nach Dhaka. In diesem Monat findet aus Anlass des Internationalen Tags der Muttersprache (21. Februar) traditionell die größte Buchmesse des Landes statt. Die »Ekushey Book Fair« ist als Ort der freien Kommunikation über Literatur und als Einnahmequelle für die Verlage von zentraler Bedeutung. In diesem Jahr war die Anspannung allerdings von Anfang an groß. Seit Jahresbeginn wird das Land beinahe täglich von Brand- und Bombenanschlägen erschüttert. Die Opposition, die die Wahlen 2014 boykottierte und deshalb keinen Sitz im Parlament hat, versucht die Regierung durch Terror aus dem Amt zu jagen. Ministerpräsidentin Sheikh Hasina Wajed hält ihrerseits gewaltsam dagegen, indem sie Oppositionspolitiker, aber auch unabhängige kritische Stimmen festnehmen lässt. Das Gesetz zur Informations- und Kommunikationstechnologie (»Information and Communication Technology Act«) wurde so verschärft, dass Blogger wegen angeblicher Beleidigung religiöser Gefühle oder wegen Gefährdung des Staates zu langjährigen Haftstrafen verurteilt werden können. Besonders stark leiden ethnische und religiöse Minderheiten unter den Einschränkungen. Eine neue Verordnung will vorschreiben, dass Ausländer und Mitarbeiter nationaler Nichtregierungsorganisationen mit Bewohnern nur noch im Beisein von Sicherheitskräften reden dürfen. Vor diesem Hintergrund war es schon erstaunlich, dass die Buchmesse zunächst einigermaßen friedlich ablief – sieht man vom Angriff einiger Islamisten auf einen Verlag ab, der das neu übersetzte Werk eines iranischen Autors über den Propheten Mohammed im Programm führt. Als die Täter mit weiteren Angriffen drohten, reagierten die Behörden in einer für Bangladesch fast schon typischen Manier: Sie schlossen einfach den Messestand des Verlages. Dann folgte die Ermordung Avijit Roys. Seither erhält auch sein Verleger Ahmedur Rashid Tutul auf Facebook Morddrohungen. Der Autor ist Sprecher der Bangladesch-Ländergruppe der deutschen Amnesty-Sektion.
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»Ich kann nur schreiben« Der Blogger Asif Mohiuddin setzt sich gegen religiösen Fundamentalismus und für Frauenrechte und Meinungsfreiheit in Bangladesch ein. Deshalb wurde der 30-Jährige von Islamisten bedroht und mehrfach angegriffen. Im Januar 2013 verletzten ihn drei Attentäter lebensgefährlich. Fundamentalisten setzten ihn auf eine Todesliste und die Behörden nahmen ihn wegen Verletzung religiöser Gefühle fest. Mohiuddin kam zunächst gegen Kaution frei, sein Verfahren und die Drohungen dauerten jedoch an. Auf Einladung von Amnesty International konnte er Anfang 2014 nach Deutschland ausreisen, wo er heute lebt. Fundamentalisten bezeichnen Sie als »Feind des Islam«. Sind Sie das? Ich bin ein Feind von Heuchelei und Intoleranz und damit ein Gegner aller religiösen Gruppierungen, die Menschenrechte verletzen – nicht aber der Religionen an sich. Ich bekämpfe nur den politischen Fundamentalismus. Sie sind als Muslim geboren. Woher kam Ihre Kritik an Religion? In meiner Kindheit wurde im indischen Ayodhya die BabriMoschee zerstört. Als Vergeltung mussten in Bangladesch viele Hindus leiden. Damals fühlte ich, dass ein einzelner Mensch mehr zählen muss als eine große Moschee. Gebetshäuser sind aus Steinen gemacht, Menschen aus Fleisch und Blut. Sie leiden, Steine nicht. In Bangladesch stellen Muslime die Mehrheit. Die Religionsführer rufen dazu auf, Andersgläubige zu töten oder zu vergewaltigen. Sie berufen sich auf den Koran und die Hadithe. Zunächst dachte ich, sie interpretieren die Schriften nur falsch. Später stellte ich fest, dass sich manches tatsächlich in diesen Schriften findet. Das macht auch andere Religionen unverträglich mit modernem Denken und moderner Moral und führt nicht zuletzt zu Menschenrechtsverletzungen. Was sind ihre Kernthemen als Blogger? Ich richte mich gegen Fundamentalismus und Terrorismus, gegen Bildungssysteme und Politik, die auf Religion aufbaut, gegen die Unterdrückung von Frauen, insbesondere durch die Scharia. Ich befürworte in meinem Blog dagegen säkulare Politik, Menschenrechte, Rechte von Homosexuellen, das Recht auf freie Bildung und Meinungsfreiheit. Wie greifen Sie die Themen auf? Oft erzähle ich Einzelfälle, wie den von Hana. Sie wurde als Zwölfjährige mit einem fast 40-jährigen Mann verheiratet. Mit 14 wurde sie vergewaltigt. Nicht der Vergewaltiger, sondern sie
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wurde vor ein Dorfgericht gestellt – auf Antrag ihrer Eltern. Es galt das Recht der Scharia. Weil sie keine Burka getragen hatte, wurde sie für die Vergewaltigung verantwortlich gemacht und wegen Ehebruchs zu 101 Stockschlägen verurteilt. Nach 70 Schlägen wurde sie bewusstlos in ein Krankenhaus gebracht, wo sie eine Woche später starb. Polizisten und Ärzte attestierten Selbstmord – vermutlich aus Angst vor dem Scharia-Gericht. Hana ist keine Ausnahme. Geschichten wie ihre greife ich auf. Wie lässt sich die Bloggerszene in Bangladesch beschreiben? Es gibt Blogger aller Ausrichtungen, auch Fundamentalisten. Lange Zeit war das Internet eine Plattform für den freien Austausch von Meinungen. Im Zuge der »Shabhag-Bewegung«, die gegen den zunehmenden Fundamentalismus in unserem Land zu Feld zog, wurden Blogger im Frühjahr 2013 zeitweise zur Stimme einer modernen Nation. Bangladesch wurde als säkularer Staat gegründet. Später wurde die Verfassung in Richtung Islam verändert. Etwa 15 Prozent der Bevölkerung gehören anderen Religionsgemeinschaften an. Wie ist die Lage für Hindus, Buddhisten und Christen? Es gab zuletzt viele Übergriffe auf religiöse Minderheiten. Hindus und Buddhisten wurden attackiert, Tempel zerstört, Häuser und Geschäfte niedergebrannt, Besitz geplündert, Frauen vergewaltigt, einige getötet. Niemand half, keine Partei, keine Polizei. Kaum jemand wurde zur Rechenschaft gezogen, nicht zuletzt wegen einflussreicher Unterstützer. Staat und Regierung werben für den Islam. Unsere Premierministerin Hasina Wajed spricht vom Islam als einzig wahrer Religion. Bangladesch sei ein muslimisches Land. Wie ist es Ihnen ergangen, nachdem Sie Kritik im Internet geäußert hatten? Es gab Gewalt und sogar Todesdrohungen. Fundamentalis-
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Foto: Christian Ditsch / Amnesty
Acht tiefe Stiche. Asif Mohiuddin.
ten versuchten mich mehrmals zu entführen – allerdings erfolglos. Im Januar 2013 wurde ich von drei Mitgliedern des Netzwerks Al-Qaida in Bangladesch brutal überfallen. Sie stachen mit Messern zu: Ich hatte acht tiefe und 53 kleinere Stiche. Nur mit viel Glück habe ich überlebt. Wurden die Täter inzwischen gefasst? Die Attentäter wurden mittlerweile inhaftiert, ihr Verfahren steht noch aus. Ich habe sie im Gefängnis getroffen, nachdem ich später selbst inhaftiert worden war. Sie kündigten mir weitere Gewalt an. Dabei wissen sie nicht einmal, weshalb sie mich angegriffen haben. Sie lesen keine Blogs. Sie folgen nur ihren Führern. Das Hauptproblem sind nicht sie, sondern das Bildungssystem, das solche kriminellen Fundamentalisten hervorbringt. Jedes Jahr absolvieren Millionen Schüler die fundamentalistischen Koranschulen. Warum wurden Sie inhaftiert? Das war eine politische Entscheidung. Eine Fundamentalistengruppe hatte die Regierung unter Druck gesetzt. Sie überreichten der Regierung eine Liste mit 84 Personen, für die sie die Todesstrafe forderten. Andernfalls würden sie das selbst übernehmen und die Hauptstadt verwüsten. Meine Festnahme sowie die drei weiterer Blogger sollte die Islamisten ruhigstellen. Auf welches Gesetz beriefen sich die Behörden? Wir sollen die religiösen Gefühle verletzt haben. Mein Blog wurde wegen Blasphemie geschlossen, konkret hatte ich den Gedanken aufgegriffen, dass Gott in jedem Menschen ist. Zweitens bin ich angeklagt, Bangladesch in ein »Homosexuellenland« verwandeln zu wollen – weil ich mich für die Menschenrechte sexueller Minderheiten einsetze. Und die dritte Anklage wirft mir vor, alle Moscheen in Dhaka zerstören und stattdessen öffentliche Frauentoiletten errichten zu wollen. Ich hatte mich da-
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für eingesetzt, dass ein säkularer Staat keine Moscheen finanzieren, aber öffentliche Bibliotheken und Toiletten für alle bereitstellen soll. Denn in Bangladesch gibt es meist nur für Männer öffentliche Toiletten. Wie ist die Situation der drei anderen Blogger? Derzeit sind sie gegen Kaution frei. Sie werden sich aber ihr ganzes Leben lang nicht sicher fühlen. Demjenigen, der den Bloggern die Hände abtrennt, versprachen Fundamentalisten eine Geldprämie. Gibt es überhaupt Meinungsfreiheit in Bangladesch? Die Gesetze wurden 2013 dahingehend verändert, dass die Polizei jeden willkürlich festnehmen kann. Schon die Behauptung, man habe den Staat, die Regierung oder den Islam kritisiert, reicht aus. Das Gesetz soll offiziell nicht angewendet werden, aber dann sollte es auch nicht existierten. Jeder muss das Recht haben, jeden und alles zu kritisieren. Das steht in unserer Verfassung und ist die Basis jeder Demokratie. Faktisch stoßen alle, die frei denken, auf den Widerstand unseres etablierten politischen und religiösen Systems. Sie sind 2014 auf Einladung von Amnesty International nach Deutschland gekommen. Welche Erfahrungen haben Sie bisher gemacht? Was bedeutet dieser Aufenthalt für Sie? Ich spreche für mein Land, insbesondere für die Frauen, die religiösen Minderheiten und die Inhaftierten in den Gefängnissen. Ich bin ihre Stimme. Ich will mehr über Europa lernen und Erfahrungen mit nach Bangladesch nehmen. Das Leben hier fühlt sich freier und sicherer an. Für die Bedrohten ist es wichtig, zu wissen, dass sie nicht allein sind. Ich bin ohne Macht, ohne Geld, ohne eigene Organisation. Ich kann nur schreiben. Fragen: Bernhard Hertlein
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Schnell beleidigt
Zahlreiche Gewaltdrohungen. Protestaktion gegen die Zeitung »Cumhuriyet« in Istanbul.
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Die »Verunglimpfung religiöser Gefühle« ist einer von zahlreichen Artikeln im türkischen Strafgesetzbuch, mit denen die freie Meinungsäußerung beschränkt werden kann. Jetzt traf es die türkische Tageszeitung »Cumhuriyet« – sie hatte im Januar vier Seiten aus der Satirezeitschrift »Charlie Hebdo« veröffentlicht. Von Ralf Rebmann
Foto: Sedat Suna / EPA / pa
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ie Razzia begann in der Nacht zum 14. Januar 2015. Polizeieinheiten blockierten die Zufahrtsstraßen zu einer Druckerei im Westen Istanbuls und durchsuchten die Ladung mehrerer Lkws. Die Beamten waren auf der Suche nach einer besonderen Zeichnung – ein weinender Prophet Mohammed, ein Schild in seinen Händen, darauf die Aufschrift »Ich bin Charlie«. Der Grund für die nächtliche Razzia: Die türkische Tageszeitung »Cumhuriyet«, die ihre Ausgaben in dieser Druckerei fertigstellen lässt, enthielt vier Seiten der französischen Satirezeitschrift »Charlie Hebdo«. Zwar verzichtete man darin auf die Titelseite mit der Mohammed-Karikatur. Die Kolumnisten Ceyda Karan und Hikmet Çetinkaya hatten sie jedoch im BriefmarkenFormat neben ihren Texten platziert. Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten: Bewaffnete Polizisten mussten am nächsten Morgen Mitarbeiter der Zeitung vor wütenden Demonstranten schützen, die Kolumnisten erhielten über Twitter zahlreiche Gewaltdrohungen. Gegen beide wurde zudem eine Untersuchung wegen »Provokation« und der »öffentlichen Verunglimpfung religiöser Werte« eingeleitet. Bei einer Verurteilung droht ihnen bis zu ein Jahr Haft. »Recht auf Meinungsfreiheit heißt nicht Recht auf Beleidigung«, beschwerte sich der türkische Premierminister Ahmet Davutoğlu am nächsten Tag. Gleichzeitig ordnete ein Gericht im südöstlichen Diyarbakır an, sämtliche Webseiten zu sperren, die die Titelseite veröffentlicht hatten. Die Seite von »Charlie Hebdo« ist mittlerweile ebenfalls nicht mehr erreichbar. Das Beispiel von »Cumhuriyet« zeigt, wie restriktiv Artikel 216 Absatz 3, die »Erniedrigung religiöser Werte«, ausgelegt wird. Als »drastische Einschränkung der Meinungsfreiheit und staatliche Zensur« kritisierte Andrew Gardner, Türkei-Experte von Amnesty, die Polizeirazzia. Man könne nicht die Meinungsfreiheit einschränken, nur weil die Möglichkeit einer Beleidigung bestehe. Zuletzt wurde im Fall von Fazıl Say um den BlasphemieParagrafen gestritten. Der türkische Pianist erhielt 2013 wegen mehrerer Twitter-Nachrichten eine Bewährungsstrafe von zehn Monaten. Doch auch gegen den Karikaturisten Bahadır Baruter oder den türkisch-armenischen Autor Sevan Nişanyan wurde aus diesem Grund ermittelt. Nişanyan erhielt 2013 für einen islam-kritischen Blogeintrag eine Gefängnisstrafe von dreizehneinhalb Monaten. »Die Anschuldigung, religiöse Gefühle zu verletzen, kann man sehr weit auslegen«, sagt Özgün Özçer. Der 29-Jährige ist Redakteur der sozialistischen und regierungskritischen Tageszeitung »BirGün«. »Oft ist es schwierig nachzuvollziehen, wieso genau dieser Tweet oder Bericht ein Problem ist.«
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Gegen drei Redakteure von »BirGün« wurde im November 2014 ebenfalls eine Untersuchung wegen Blasphemie eingeleitet. Begründet wurde dies mit zwei Artikeln, die über den anonymen Twitter-Account »Tanrı (cc)« (auf Deutsch »Gott«) verbreitet wurden. »Religiöse Identität ist die Grundlage dieser Regierung. Äußerungen, die das kritisieren, sind deshalb ein Problem«, sagt Özçer. Die Diskussion um »Charlie Hebdo« sei weniger eine Frage der Religionsfreiheit, als vielmehr der Meinungsfreiheit. »Man kann seine Meinung frei äußern und trotzdem religiöse Werte respektieren«, meint Sevgi Akarçeşme. Die Journalistin arbeitet für die auflagenstärkste türkische Tageszeitung »Zaman«, die der Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen nahesteht. »Persönlich lehne ich Karikaturen des Propheten Mohammed ab. Ich kann aber nicht verlangen, dass andere meine religiösen Werte teilen.« Dass ein Staat seine Version von Religion den Menschen auferlege, halte sie für falsch. Die »Beleidigung religiöser Gefühle« ist einer von vielen Artikeln im türkischen Strafgesetzbuch, mit denen die freie Meinungsäußerung bestraft werden kann. Dazu gehören die »Beleidigung der türkischen Nation« sowie mehrere Artikel der Antiterrorgesetzgebung. Der Straftatbestand »Propaganda für eine Terrororganisation« kann mit bis zu fünf Jahren Haft geahndet werden. In der Vergangenheit traf dies vor allem Journalisten kurdischer Zeitungen und Nachrichtenagenturen. 2014 hat sich die Situation für Journalisten weiter verschärft. Die türkischen Journalistenvereinigungen TGC und TGS teilten im Dezember mit, zwar sei die Zahl der inhaftierten Journalisten zurückgegangen, der Druck sei jedoch gestiegen: Mehr als 500 Journalisten seien entlassen worden, mehr als 80 Journalisten gaben ihren Beruf auf. Dem unabhängigen NachrichtenNetzwerk BIA zufolge wurden allein von Oktober bis Dezember 2014 43 Journalisten festgenommen, 22 Journalisten waren Ende des Jahres in Haft. Hinzu kommen zahlreiche Ermittlungen wegen »Beleidigung«, die nicht selten vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan angestrengt werden. Vor allem Twitter steht im Fokus der türkischen Regierung. 2014 war der Dienst vorübergehend zensiert. Zwischen Juli und Dezember 2014 forderten türkische Behörden das Unternehmen nach eigenen Angaben auf, 477 Nutzerprofile zu entfernen. Die Türkei hatte damit mehr Anfragen als die restlichen Länder zusammen. »Repressionen gegen Journalisten sind keine Ausnahme, sondern die Regel. Sobald man nicht die Position der Regierung vertritt, geht man ein Risiko ein«, erklärt Sevgi Akarçeşme. Journalisten der »Zaman«-Gruppe stehen seit knapp zwei Jahren besonders unter Druck. Seit im Dezember 2013 Korruptionsermittlungen gegen die türkische Regierung eingeleitet wurden, herrscht zwischen der Gülen-Bewegung und Erdoğans AKPPartei ein offener Machtkampf. Repressionen richteten sich in den vergangenen Monaten deshalb vor allem gegen Medien, die über die Korruptionsvorwürfe berichteten. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die Auseinandersetzung am 14. Dezember 2014, als 27 Journalisten und Mitarbeiter der »Zaman«-Gruppe verhaftet wurden, darunter der Chefredakteur der Zeitung, Ekrem Dumanlı. Gegen Sevgi Akarçeşme und die Redaktionsleitung der englischen Ausgabe »Today’s Zaman« wird ebenfalls ermittelt. Akarçeşme wird vorgeworfen, den Premierminister auf Twitter beleidigt zu haben. Der Inhalt ihres Tweets: Ahmet Davutoğlu würde als ein Premierminister in die Geschichte eingehen, der die Pressefreiheit in der Türkei abgeschafft habe. Der Autor ist Journalist und lebt zurzeit in Istanbul.
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Treibgut des Krieges Der »Islamische Staat« mordet und brandschatzt. Tausende Menschen im Irak und in Syrien sind bereits Opfer der Dschihadisten geworden. Auch der Syrer Hamid, der sich als Medienaktivist versteht, geriet in die Fänge der Fanatiker – und entkam. Von Carsten Stormer (Text und Fotos)
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ie Hoffnung, dass der ganze Scheiß irgendwann einmal ein Ende findet, hat Hamid fast aufgegeben. Er steht in einer Seitenstraße von Aleppos Kurdenviertel Sheikh Maqsood, legt den Kopf in den Nacken, blinzelt in die Sonne und lauscht dem Grollen, das allmählich lauter wird. Wie ein Gewitter, das in der Ferne aufzieht. Kurz darauf entdeckt er das Kampfflugzeug am Himmel. Seit den frühen Morgenstunden bombardiert die syrische Luftwaffe Aleppo. Hamid sucht Deckung, kniet sich hinter ein rostiges Auto und zeigt auf einen silbernen Punkt am Himmel, der sich nähert, anschließend wieder entfernt, eine scharfe Linkskurve fliegt, wendet und im Sturzflug die Stadt ansteuert wie ein Raubvogel seine Beute. Dann klinkt die Maschine ihre Raketen aus und der Pilot zieht das Flugzeug wieder nach oben. Die Prozedur wiederholt sich zwei Mal, begleitet vom Knattern der Flugabwehrgeschütze der Rebellen. Während Hamid den Angriff von Assads Truppen auf der Straße verfolgt, tritt seine Frau Amira auf den Balkon ihrer gemeinsamen Wohnung im fünften Stock und blickt besorgt nach unten. »Hamid, wo gehen die Bomben runter? Greifen sie unser Viertel an?«, fragt sie und streicht über ihren Bauch. Amira ist
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im achten Monat schwanger und ein Lächeln zieht über Hamids Gesicht, als er seine Frau erblickt. »Nicht weit von hier, Habibi, mach dir keine Sorgen. Aber geh zurück ins Haus. Ich bin zum Abendessen zurück.« Dann steigt er in den Toyota, legt seine Videokamera auf die Rückbank und fährt los. Hamid ist 27 Jahre alt, ein kleiner, dünner Mann mit Vollbart und müden Augen. An seinem Beispiel lassen sich viele Charakteristika des Krieges in Syrien zeigen, der nun schon vier Jahre dauert. Es ist sicherer, seinen Nachnamen nicht zu nennen und auch keine Fotos von ihm zu drucken. Hamid ist frei, aber der US-Journalist Steven Sotloff, mit dem er vor einem Jahr entführt worden war, ist tot. Anfang September 2014 wurde bekannt, dass der 31 Jahre alte Reporter, der unter anderem für das Magazin »Time« schrieb, ermordet wurde. Angehörige der Terrorgruppe »Islamischer Staat« verbreiteten ein Video, auf dem Sotloffs Enthauptung zu sehen ist. Vor dem Krieg hat Hamid Betriebswirtschaft studiert. Wie viele seiner Landsleute hoffte er, die 40 Jahre währende Diktatur abzuschütteln. Er demonstrierte, kämpfte später aufseiten der Rebellen in einer kurdischen Einheit gegen die syrische Regierungsarmee.
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Wo gehen die Bomben runter? Helfer bergen Tote und Verletzte aus den Trümmern. Rauchpilz über Aleppo.
Aus Enttäuschung über die zerstrittene Opposition und aus Liebe zu seiner Frau legte er nach einigen Monaten die Kalaschnikow beiseite. Heute nennt er sich Medienaktivist. Auf Facebook und Twitter postet Hamid Bilder und Berichte des Krieges; dazwischen Selfies, Koransuren und Karikaturen, die Assad oder die Anhänger des »Islamischen Staats« verspotten. Er hoffe noch immer, sagt er, dass die Welt durch seine Arbeit in den sozialen Netzwerken Syrien nicht vergisst. Manchmal führt er ausländische Journalisten durch seine Stadt und an die Front, verdient sich als Mädchen für alles ein paar Dollar. Ein Verzweifelter, der versucht, aus seiner Situation das Beste zu machen. Treibgut des Krieges.
»Wir wurden verraten« Am Morgen des 4. August 2013 steigt Steven Sotloff an der syrisch-türkischen Grenze zu Hamid ins Auto. Er will aus Aleppo berichten, Hamid soll ihn als Fahrer und Übersetzer unterstützen. Ein gefährlicher Job. Fast täglich entführen Islamisten ausländische Journalisten. Aber Hamid braucht das Geld. Die Lebensmittelpreise haben sich verfünffacht, bezahlte Arbeit gibt es kaum noch in Aleppo. Hamid hat sorgfältig geplant, tagelang die Zugangsstraßen nach Aleppo beobachtet, geschaut, ob Banditen oder Islamisten Checkpoints errichtet haben. Er dachte, er hätte alles im Griff. Als er den US-Journalisten am vereinbarten Treffpunkt abholt, warten im Wagen zum Schutz auch drei Bewaffnete. Aber gegen die Islamisten haben sie keine Chance. An einer Straßensperre im syrischen Marea, etwa 40 Kilometer nördlich von Aleppo, en-
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det die Fahrt. Mehrere Bewaffnete stoppen den klapprigen Toyota, ziehen die Männer aus dem Wagen, stülpen ihnen Stoffmasken über den Kopf und treiben sie mit Gewehrkolben in ein wartendes Fahrzeug. »Wir wurden verraten, die Islamisten wussten, wann und wo wir uns treffen, welchen Weg wir nehmen«, sagt Hamid. Seine Entführer sperren ihn in die Zelle eines Kellergewölbes. Er weiß nicht, wo er ist. Mehrmals täglich verhören ihn maskierte Männer, keine Syrer, sondern Tunesier und Marokkaner. Sie wollen wissen, warum Hamid mit einem Ungläubigen zusammenarbeitet. Der »Ungläubige«, das ist Steven Sotloff. Hamid hat Glück. Nach 15 Tagen lassen ihn die Entführer gehen. Einfach so. Was aus Steven Sotloff wird, erfährt er nicht. Der junge Muslim hört Gerüchte, dass sein Auftraggeber am Leben sei, irgendwo festgehalten in einem Gefängnis des »Islamischen Staats«, vielleicht in Aleppo, vielleicht in Rakka. Ein Jahr später, Anfang September 2014, kommt die Nachricht von Sotloffs Tod.
Fassbomben und Gotteskrieger Im August 2014 weiß Hamid noch nichts vom Schicksal Sotloffs. Er steuert den Toyota durch die Ruinenlandschaft. Aus der einstigen Wirtschaftsmetropole ist eine Geisterstadt geworden, in der es seit Wochen weder Strom noch fließend Wasser gibt. Kaum ein Tag vergeht, ohne dass die syrische Luftwaffe Fassbomben über der Stadt abwirft: mit Sprengstoff und Eisenschrot gefüllte Ölfässer, die aus Hubschraubern abgeworfen werden. Sie treffen meist Schulen, Krankenhäuser, Wohnhäuser oder Märkte.
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»Das sind Mörder und Geistesgestörte, die ihre Welt einteilen in ›halal‹ und ›haram‹.« Schon im Februar 2014 forderte der UNO-Sicherheitsrat in einer Resolution ein Ende der Luftanschläge auf zivile Gebiete und verurteilte ausdrücklich die Verwendung von Fassbomben. »Human Rights Watch« hat mit Satellitenaufnahmen belegt, dass allein zwischen Dezember 2013 und Februar 2014 mindestens 340 Plätze in Aleppo von Fassbomben getroffen wurden. Die in Großbritannien ansässige Organisation »Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte« zählte in sechs Monaten 1.963 Tote durch Fassbomben – darunter 283 Frauen und 567 Kinder. Hamid steuert seinen Wagen durch die zerstörte Stadt, vorbei an der Ruine, die einmal ein Krankenhaus war. Der Chefarzt musste fliehen, weil er es wagte, die schwarze Flagge des »Islamischen Staats« mit dem muslimischen Glaubensbekenntnis vom Eingang des Hospitals abzuhängen. Seitdem bekam er Morddrohungen. Die Fanatiker des »Islamischen Staats« nutzen das Chaos im Land, um all jene zu vernichten, die sich ihnen widersetzen.
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Zwar konnte eine Allianz der syrischen Rebellen die Gotteskrieger aus Aleppo vertreiben, aber mittlerweile sind die Terroristen wieder auf dem Vormarsch, erobern Kleinstädte und Dörfer im Umland Aleppos. »Ich bin Muslim«, sagt Hamid im Auto. In den Augen des IS aber sei er ein kufar, ein Ungläubiger, da er deren Weltanschauung nicht teile. »Das sind Mörder und Geistesgestörte, die ihre Welt einteilen in halal und haram.« Gut und Böse, erlaubt und verboten, ohne Zwischentöne. Wer gegen ihre Regeln verstößt, der stirbt. Hunderte Syrer sind der IS-Ideologie schon zum Opfer gefallen. »In Aleppo haben sie einen 15-Jährigen vor den Augen seiner Mutter erschossen, weil er den Propheten beleidigt haben soll«, knurrt Hamid. »Blasphemie.« In Rakka, der Hauptstadt des IS, kreuzigen und enthaupten sie regelmäßig Menschen, die ihnen im Weg stehen: Akademiker, Journalisten, moderate Rebellen, Schiiten, Kurden, Andersgläubige. Die Islamisten präsentieren die Bilder der Gekreuzigten und Geköpften in den sozialen Netzwerken. Seine Heimat verlassen, in die Türkei fliehen, das will Hamid dennoch nicht. »Wie könnte ich mein Land im Stich lassen? Ich käme mir vor wie ein Verräter«, sagt er, zündet sich eine Zigarette an und zieht den Rauch tief in seine Lunge. Die Autofahrt führt an zerschossenen Autos vorbei und an zertrümmerten Häusern, aus denen zerfetzter Stahl ragt. Auf dem Armaturenbrett liegt eine ungeladene Pistole. »Zur Ab-
Chaos im Land. Zerstörte Häuser in Aleppo. Der Pathologe Abu Jaffer (rechts oben). Ein Junge nach einem Bombenangriff.
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schreckung«, sagt Hamid und schnippt die Kippe aus dem offenen Fenster. Immer wieder muss er den Wagen anhalten, aussteigen und Deckung in Ruinen suchen, weil Hubschrauber Fassbomben abwerfen oder ein Kampfjet Raketen abfeuert. Die wenigen Menschen, die sich noch auf die Straße wagen, verstecken sich in Hauseingängen und beobachten die Helikopter über ihnen. »Bald fällt die erste Bombe«, sagt Hamid und wartet angespannt.
Eine Frage der Zeit Ein alter Lebensmittelhändler winkt Hamid und ein paar andere Menschen in seinen Laden. Dort sei es sicherer, meint er, verschwindet in einem Hinterzimmer und kommt Minuten später mit frisch gekochtem schwarzem Tee und einer Argileh zurück, der syrischen Wasserpfeife. »Syrische Gastfreundschaft«, sagt Hamid und lächelt. »Der können auch Assads Bomben nichts anhaben.« Während die Männer auf die Einschläge warten, nippen sie am gesüßten Tee, nuckeln an der Pfeife und reißen Witze über Präsident Baschar al-Assad. Als zwei Fassbomben einige Straßenzüge weiter explodieren, verabschieden sich die Männer. Auch Hamid will weiter. Nur wenige Hundert Meter von seinem Wagen entfernt steigt ein Rauchpilz in den wolkenlosen Himmel. Der Tod ist ein Teil von Hamids Leben geworden. Hamid geriet ins Visier von Scharfschützen, die auf ihn feuerten; in seiner
Nähe explodierten Bomben und Granaten. Er sah Freunde sterben. Aber Hamid sieht auch, wie die Menschen in Aleppo in der Not zusammenrücken. Nach 40 Minuten Fahrt parkt er seinen Wagen vor dem Mietshaus eines Bekannten. Der betreibt im Keller eine Art Untergrundküche, in der er und drei Helfer für Hunderte mittellose Menschen an den Frontabschnitten Essen kochen und kostenlos verteilen. Sie reden über die schwierige Versorgungslage. Dass der Freund fünf Tage lang kein Essen verteilen konnte, weil sein Viertel täglich bombardiert wurde. Hamid fährt weiter, trifft den Pathologen Abu Jaffer, der seit zwei Jahren in einem ausgebombten Schulgebäude namenlose Tote fotografiert, in dem verzweifelten Versuch, den Toten ihre Würde zurückzugeben. Kein Tag vergeht, ohne dass namenlose Tote in die Schule gebracht werden. Der Arzt protokolliert das Geschlecht, wann und wo sie gestorben sind. Die Bilder der Menschen pinnt er an die Wand eines Klassenzimmers – Hunderte Fotos von verstümmelten Leichen. An diesem Morgen kommt ein weiteres namenloses Porträt dazu. Dann rollt er den halb verwesten Körper eines Mannes in einen grauen Leichensack und zieht den Reißverschluss zu. Im August vergangenen Jahres sieht Hamid im Internet, wie der US-amerikanische Journalist James Foley vor laufender Kamera enthauptet wird. Am Ende der Inszenierung zieht ein Terrorist eine weitere Geisel vor die Kamera und droht, diese ebenfalls zu ermorden. Es ist Steven Sotloff. Jener Mann, der zusammen mit Hamid entführt wurde. Zwei Wochen später wird auch er umgebracht. »Das sind Verbrecher, das ist nicht unsere Auffassung des Islam«, sagt Hamid. Was bleibt, sind seine Schuldgefühle. Auf Facebook bittet er Steven Sotloffs Mutter um Verzeihung, dass er nicht besser auf ihren Sohn aufpassen konnte. Zwischen all dem Schrecken und der Angst gibt es in Aleppo die kleinen Momente des Glücks. Ebenfalls im August wird Hamids Sohn geboren. Er nennt ihn Bakr, nach dem Schwiegervater des Propheten Mohammed. Zur gleichen Zeit zieht die syrische Armee ihren Belagerungsring um Aleppo immer enger, nimmt das Industrieviertel Sheikh Najar ein, schneidet Versorgungswege der Rebellen ab. »Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Stadt eingekesselt ist. Uns droht das gleiche Schicksal wie den Menschen in Homs«, schreibt ein verzweifelter Hamid. Währenddessen nimmt der IS im Umland Aleppos ein Dorf nach dem anderen ein und rückt immer näher auf die Stadt zu. Damit zerschellt auch Hamids Starrsinn, in seiner Heimatstadt auszuharren. »Ich trage jetzt für meinen Sohn Verantwortung. Es geht nicht mehr allein um mich«, schreibt er Ende vergangenen Jahres. »Ich haue ab.« Egal wohin. Der Autor ist Auslandskorrespondent und lebt in Manila. Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app
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THEMEN
Die muslimische Minderheit der Rohingya in Myanmar. Fischer im Fl端chtlingscamp Dar Paing.
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Alles verloren. Muslimische Flüchtlinge im Bundesstaat Rakhine.
Buddhisten haben ihre Häuser abgebrannt. Nun leben sie abgeschottet in Flüchtlingslagern unter menschenunwürdigen Bedingungen. In Myanmar werden die muslimischen Rohingya seit Jahren systematisch unterdrückt. Das Meer ist ihr einziger Ausweg. Von Martin Franke (Text und Fotos) Das Boot steht schon bereit. Mehrere Wochen haben die drei Männer daran gearbeitet, jetzt bringen sie mit Sorgfalt die letzten Bretter an. Wann sie genau aufs Meer fahren werden, wissen sie noch nicht. Sie sind Fischer von Beruf, wie viele es hier einmal waren. Doch zum Fischen wollen sie dieses Mal nicht aufbrechen – sie suchen stattdessen einen Weg aus dem Flüchtlingscamp, in dem sie seit Juni 2012 leben müssen. Muslimische Rohingya in Myanmars nordwestlichem Bundesstaat Rakhine sind zu Gefangenen im eigenen Land geworden, Menschenrechtsverletzungen sind an der Tagesordnung und ein willkürliches Katzund Mausspiel von Polizei und Armee verbreitet Angst unter den Menschen. Nach Angaben der UNO sind die Rohingya eine der am schlimmsten verfolgten Minderheiten weltweit. »Was machst Du hier, Bengale? Das hier ist nicht dein Land, geh’ dahin zurück, wo du herkommst. Hier ist unser Land!«, riefen buddhistische Polizisten. Es war Freitagnacht, erinnert sich der 30-jährige Mohammed Noorbe, als die ersten Häuser im Bumay Village nahe Sittwe brannten. In den Tagen des Juni 2012 kam es zu mehreren gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Buddhisten und Muslimen – Mohammed verließ wie viele der etwa 10.000 Einwohner das Stadtviertel Narzi. Seinen jüngeren Bruder verlor er aus den Augen, als er sich zu den Feldern außer-
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halb von Sittwe aufmachte, um dort Schutz zu suchen, wo heute die Flüchtlingslager stehen. Er fand den 25-Jährigen später tot. Polizisten sollen seinem Bruder auf der Straße die Kehle durchgeschnitten haben, erzählt er. Sie hätten ihn wie ein Tier abgeschlachtet, Kinder und Frauen mussten zusehen, niemand konnte etwas tun. Lokale Medien hatten berichtet, muslimische Männer hätten eine buddhistische Frau vergewaltigt und getötet. Daraufhin rächte sich eine buddhistische Gruppe mit dem Mord an zehn Muslimen. Mehr als 280 Menschen wurden bei den Unruhen zwischen Juni und Oktober 2012 getötet, mehr als 140.000 wurden obdachlos.
Vergessene Minderheit Mohammed versteht auch knapp drei Jahre später noch nicht, wie es dazu kommen konnte: »Wir sind hier geboren, wir lebten hier, wir gingen hier zur Schule. Es gab vorher nie Probleme.« Er hatte früher auch buddhistische Freunde, doch der Kontakt ist in jenen Tagen abgebrochen. Im Zentrum von Sittwe besaß er bis Mitte 2012 ein Geschäft. Sein Haus in Narzi, gegenüber der Universität, wurde bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Nachwachsendes Grün hat spätestens jetzt die letzten Spuren des ehemaligen Stadtteils komplett verwischt. Mohammed ist
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Mangelernährung und Krankheiten. Sanitäre Anlage im Flüchtlingscamp Dar Paing.
nichts geblieben. Im Flüchtlingslager hat er nun einen kleinen Teeladen, mit dem er seine Frau und seine beiden Kinder irgendwie durchbringt. Würde er zurück in die Stadt fahren, würde er umgebracht – dessen ist er sich sicher. Die myanmarischen Behörden betrachten die Rohingya als illegale Einwanderer aus Bangladesch, die mit den britischen Kolonialherren im 19. Jahrhundert ins Land gekommen sein sollen. Daher akzeptiert die Regierung in der Hauptstadt Naypyidaw sie nicht als eine der insgesamt 135 offiziell anerkannten ethnischen Gruppierungen – sie weigert sich sogar, sie Rohingya zu nennen: »Wir sehen, dass es in unserem Land islamische Bengalis gibt, und wir sehen, dass es Spannungen und Herausforderungen gibt, insbesondere Gewalt zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen«, erklärte Regierungssprecher Ye Htut in einem Interview mit der »Washington Post«. »Aber ich möchte klar und deutlich machen, dass die Regierung und die Menschen von Myanmar das Wort Rohingya nicht akzeptieren.« Die Rohingya leben mindestens seit dem 15. Jahrhundert in dem Gebiet des heutigen Myanmar, ihre Zahl ist jedoch während der britischen Kolonialzeit von 1824 und 1948 stark gestiegen – sie wurden als Feldarbeiter aus Bangladesch angeworben. Schätzungen zufolge stellen Rohingya ein Drittel der 3,3 Millionen Einwohner der Provinz Rakhine. In Bangladesch leben weitere 200.000 staatenlose Rohingya. Eine junge Mutter bricht in Tränen aus. Ihr Neugeborenes liegt in einem zwei Quadratmeter großen Zelt und schreit. Vor zwei Wochen hat sie ihren Ehemann verloren. Er hat Blut ge-
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spuckt, schildert sie. Es regnet durch die Zeltdecke, der Boden und die Planen sind feucht. Wie sie jetzt ihre zwei Kinder ernähren soll, fragt sie die Frauen um sich herum. Sie bettelt im Camp um Hilfe, doch die Solidarität stößt an Grenzen. Eine schwangere Frau erwidert: »Wir können Armut nicht mit Armut bekämpfen, wir sind selber arm.« In den Lagern für die Binnenvertriebenen fehlt es an grundlegenden Dingen. Die Menschen haben nicht nur ihre Häuser verloren, sondern auch ihre Berufe. Ein festes Einkommen haben nur wenige.
Mangelernährung und Krankheiten Kinder laufen nackt herum, spielen und waschen sich im Abwasser. Manche tragen Bänder um ihre dünnen Fußgelenke – sie leiden an Mangelernährung, ihre Bäuche sind aufgebläht, ihre Haut spannt sich über den Knochen. Es gibt zwei Krankenhäuser, in denen muslimische Ärzte aus Rangun arbeiten, sowie mehrere Apotheken, die ein notdürftiges Krankenzimmer ein-
»Wir können Armut nicht mit Armut bekämpfen, wir sind selber arm.« 37
gerichtet haben. Die zwei Ärzte und der Assistenzarzt im Krankenhaus des Flüchtlingslagers Dar Paing sind überfordert, und die Patienten klagen: »Diese Männer sind zu jung, haben kaum Erfahrung und arbeiten ständig am Limit. Außerdem nehmen sie viel zu viel Geld für Behandlungen und Arzneimittel.« Im Krankenhausalltag müssen die Ärzte oftmals improvisieren. Zwar gibt es Unterstützung durch die muslimische Gemeinde von Rangun, doch gibt es nicht genug Medizin, nicht alles kommt durch die Checkpoints. Der Assistenzarzt erklärt, dass es an Tabletten für Tuberkulose- und Diabeteskranke mangelt. Strom bekommen sie von einem Solarpanel, für Operationen werfen sie einen kleinen Generator an. Nachts schlafen die drei Ärzte in den Krankenbetten. Mouna Derouich besucht seit November 2012 regelmäßig die Flüchtlingscamps. Die französische Aktivistin sammelt Spenden für Hilfsprojekte. Die Lage habe sich extrem verschlechtert, sagt Derouich, nachdem es im Januar 2014 erneut zu einem Massaker in Maungdaw kam – einer Stadt an der Grenze zu Bangladesch mit mehrheitlich staatenlosen Rohingya. Dabei wurden nach offiziellen Angaben 40 Menschen getötet und Dutzende verletzt. Die Organisation »Ärzte ohne Grenzen« behandelte damals 20 Rohingya, woraufhin die Regierung in Naypyidaw entschied, der Organisation die Arbeitserlaubnis zu entziehen. »Man will, dass Ausländer nicht hierher kommen«, stellt Derouich fest. »Zuerst attackieren sie die Rohingya, stecken sie in ein Lager und gehen dann auch noch gegen ausländische Hilfsorganisationen vor. Die Menschen hier sterben, Tag für Tag.«
Spione im Flüchtlingslager Die Unruhen brachen just aus, als sich das ehemalige Birma, das 1989 von den Generälen in Myanmar umbenannt wurde, nach jahrzehntelanger Militärdiktatur wieder der Welt öffnete. Im März 2011 trat eine zivile Regierung mit dem Vorhaben an, das Land zu demokratisieren. Bei einem Deutschlandbesuch Anfang
September 2014 traf der myanmarische Präsident Thein Sein auch Bundeskanzlerin Angela Merkel, die ihn darauf hinwies, dass für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes eine friedliche Entwicklung notwendig sei und diese erfordere auch »Toleranz gegenüber den Minderheiten«. Thein Sein sah das anders: »Wenn wir wirtschaftlichen Erfolg haben, dann ist es mit der Demokratisierung einfacher.« Die Investitionen ausländischer Firmen und die Touristenzahlen in Myanmar steigen, doch die ethnischen und religiösen Konflikte des Landes sind ungelöst und bedrohen den Reformkurs. Sie sind das Erbe der Herrschaft des Militärs, das den ethnischen Minderheiten nicht traute. Der frühere UNO-Sonderbeauftragte für Myanmar, Tomás Ojea Quintana, sagte in einem Interview, der Bundesstaat Rakhine befinde sich in einer tiefen Krise. »Was hier passiert, gleicht dem, was während der Militärregierung geschehen ist.« Gemeint sind damit schwere Menschenrechtsverletzungen und ein allgegenwärtiger Sicherheitsapparat. Mohammed erzählt von einem muslimischen Mitbewohner, der durch einen Kopfschuss getötet wurde, als er gegen 21 Uhr aus einem Internetcafé kam, wo er mit seinem Vater in Malaysia telefoniert hatte. Der Täter soll ein Polizist in Zivil gewesen sein. Drei Rohingya wurden daraufhin festgenommen und wurden seitdem nicht mehr gesehen, berichtet Mohammed. Es sind systematische Methoden, mit denen Sicherheitskräfte Angst in den Camps verbreiten: Polizisten schießen nachts in die Luft, überprüfen Personen, kommen in ihre Hütten, nehmen sie fest. Doch das »Schlimmste«, erzählt ein junger Mann, der sich James nennt, seien die Spione. Rohingya, die vom Militär als Spione angeworben und mit Pistolen bewaffnet werden, um ihre eigenen Leute umzubringen. »Es sind vor allem muslimische Führer, die für die Lagerverwaltung arbeiten. Wenn Du ein Spion bist, kannst Du viel Geld verdienen.« Die Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi hat ihre
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Sittwe Naypyidaw
Rangun
»Wir sind hier geboren, wir leben hier.« Mohammed Noorbe.
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»Wenn sie uns nicht mehr dulden, werden wir gehen müssen. Zur Not mit dem Boot.« Stimme bislang nicht für die muslimische Minderheit erhoben, obwohl die staatenlosen Rohingya während Aung San Suu Kyis Hausarrests zu Zeiten der Militärjunta auf die Straße gingen und für ihre Freilassung demonstrierten. Ende 2015 sollen Parlamentswahlen in Myanmar stattfinden. Die Rohingya erwarten jedoch nicht viel von der Oppositionspolitikerin. Sie respektieren die Lady, doch sind sie auch enttäuscht von ihr. »Sie wird nicht gewählt werden«, sagt Mohammed. Und damit liegt er vielleicht richtig, Artikel 59 der Verfassung von Myanmar verbietet Suu Kyi Präsidentin zu werden, weil sie zwei Söhne mit britischer Staatsbürgerschaft hat. Vieles spricht dafür, dass staatliche Institutionen in die Unruhen im Sommer 2012 involviert waren. Augenzeugen zufolge waren während jener Zeit merkwürdig viele »Fremde« an Gewalttaten beteiligt. Die ultranationalistische »Rakhine Nationalities Development Party« soll Anti-Rohingya-Seminare abgehalten und die Ausschreitungen in den Monaten vorher organisiert haben. Andere erklären, man habe Aung San Suu Kyi, die wenige Tage nach Beginn der Unruhen ihre erste Reise nach Europa antrat, um ihre Rede für den Friedensnobelpreis nachzuholen, eine Falle gestellt: Sollte die beliebte Oppositionspolitikerin die Taten der Buddhisten in dem mehrheitlich buddhistischen Land verurteilen? In den Flüchtlingslagern sind diese Fragen von geringer Bedeutung. Auch ist nicht bekannt, dass Aung San Suu Kyis Partei »Nationale Liga für Demokratie« (NLD) einen Gesetzentwurf zur Staatsbürgerschaft in der Schublade hat, der den rechtlichen Status der Rohingya verbessern soll, wie es aus internen Kreisen der NLD heißt. Dafür müsste die Partei jedoch die Wahlen gewinnen, um ihn erfolgreich ins Parlament einbringen zu können. Der Bundesstaat Rakhine ist die zweitärmste Region des Landes. In Sittwe wurde nun mit indischen Geldern ein Tiefhafen gebaut, weiter südlich im Golf von Bengalen beginnen eine Ölund eine Gaspipeline, die Chinas abgelegene Südprovinz Yunnan mittlerweile mit Energie versorgen. Die wirtschaftlichen Interessen sind riesig, es geht um viel Geld. In der Vergangenheit gab es heftigen Protest gegen die 1.240 Kilometer langen Pipelines nach China. Doch die Auseinandersetzungen zwischen Buddhisten und Muslimen drängten diese Probleme in den Hintergrund. Die Stimmung in Sittwe ist angespannt, die Menschen sind misstrauisch gegenüber Ausländern. Ein Restaurantbesitzer sagt: »Ich hoffe, Du bist keiner dieser Schnüffler. Die mögen wir hier nicht, denn die erzählen noch mehr Lügen als die Bengalis.«
kann, wird ihm der Weg freigemacht. Die Marine überwacht die Küste und kooperiert mit den Menschenhändlern. Eine Flucht über Land ist unmöglich, da die kilometerweiten Camps durch das Meer auf der einen Seite und durch Checkpoints auf der anderen Seite abgeriegelt sind. »Sie kontrollieren uns wie Tiere, wie in einem Gefängnis. Und ob das Boot überhaupt in Malaysia ankommt, ist ebenfalls ungewiss. Von zehn Booten schaffen es drei bis vier.« Diejenigen, die die Reise mit dem Boot wählen, kommen oftmals in Thailand an – auch wenn sie selbst glauben, in Malaysia gelandet zu sein – und werden von den thailändischen Behörden aufs Meer zurückgeschickt oder an Menschenhändler weiterverkauft, wie ein Bericht von »Human Rights Watch« dokumentiert. Und was wartet auf sie in Malaysia? Ein vom Staat geduldetes Leben in der Illegalität, Baustellenjobs ohne Krankenversicherung, ohne sicheres Einkommen. Im muslimischen Malaysia, das die UNO-Flüchtlingskonventionen nicht unterschrieben hat, lebten laut UNHCR im Dezember 2013 mehr als 95.000 Flüchtlinge aus Myanmar. Im Stillen hofft Mohammed, es könne alles wieder so wie früher werden. Dass die Rohingya zurückkehren und ihre Häuser wieder aufbauen können. Doch dann müssten sie auch zurück in die Gesellschaft. »Für uns gibt es keine Gerechtigkeit in dieser Welt«, sagt Mohammed. Er hätte gern einen roten Ausweis, so wie die Buddhisten. Jedoch glaubt er, dass die Situation sich in den nächsten Jahren eher noch weiter verschlechtern wird: »Wir sind hoffnungslos, weil wir unsere Zukunft nicht selbst verbessern können. Das Land verlassen will ich nicht. Aber wenn sie uns irgendwann nicht mehr dulden, werde ich mit meiner Familie gehen müssen. Zur Not mit dem Boot. Allah wird entscheiden.«
Fluchtziel Malaysia
Der Autor ist freier Journalist.
Die einzige Möglichkeit, die Mohammed hat, um das Lagerleben zu vermeiden, ist die Flucht nach Malaysia. Wenn er die rund 2.000 US-Dollar für einen sogenannten »Broker« aufbringen
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Eine der ärmsten Regionen des Landes. Fischer flicken ihre Netze.
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Fotos: Jas n, Mark Seton, Judith Doyle, amateur photography by michel, TheGiantVermin, Janice Waltzer, Susy Morris, dan-morris, SuperFantastic, YW Lim, Kevin Dooley, Amnesty, Shahrokh Dabiri, Gary Minniss, Dimitris Kalogeropoylos, Neil Howard, Kayla Heineman, Steve Garfield (alle CC BY-NC-ND 2.0)
Digitale Spuren im Netz. Die Nutzer zahlen mit ihren Daten.
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Gefangen im Netz Die digitale Massenüberwachung verletzt die Privatsphäre und gefährdet die Meinungsfreiheit. Im digitalen Zeitalter wird Amnesty künftig verstärkt darauf achten, dass die Menschenrechte online wie offline den gleichen Schutz genießen. Von Steffen Härting, Marco Kühnel und Sebastian Schweda Saeed Al-Shehabi, Moosa Abd-Ali Ali und Jaafar Al Hasabi setzten sich in ihrem Heimatland Bahrain für mehr Demokratie ein. Nachdem sie dort bedroht wurden und Repressionen ausgesetzt waren, fanden die Aktivisten Asyl in Großbritannien. Nach Angaben der Nichtregierungsorganisation »Bahrain Watch« kontrollierte der bahrainische Staat aber weiterhin mit Hilfe der Spionagesoftware »FinFisher« ihre Computer – und damit auch ihre Privatsphäre. Von ähnlichen Ausspähversuchen berichteten auch äthiopische Flüchtlinge in Großbritannien und den USA. In Pakistan, Jemen oder Somalia nutzen die USA Standortdaten von Mobilfunkgeräten aus Überwachungsdatenbanken der US-amerikanischen und britischen Geheimdienste NSA und GCHQ, um Drohnenangriffe gegen Zielpersonen mit vermeintlich terroristischen Absichten zu fliegen. Bereits 2013 kritisierte Amnesty in einem Bericht über Drohnenangriffe in Pakistan, dass diesen Angriffen wegen der Ungenauigkeit der Daten immer wieder auch völlig Unschuldige zum Opfer fallen. Es ist unbestritten, dass digitale Technologien erhebliche Chancen für den Schutz der Menschenrechte eröffnet haben. Ereignisse wie der »Arabische Frühling« hätten ohne soziale Netzwerke so nicht stattgefunden. Whistleblower wie Chelsea Manning oder Edward Snowden hätten nicht diese gigantischen Informationsmengen enthüllen können. Ihr Beispiel zeigt aber zugleich, dass diese Technologien Regierungen auch dabei helfen, Menschenrechtsverletzungen zu begehen. Die Digitalisierung wird oft als neue industrielle Revolution bezeichnet. Denn sie betrifft nicht nur den heimischen Computer oder dient der Vereinfachung der Verwaltung, sondern bestimmt zunehmend wesentliche Teile unseres Lebens. Bis vor einigen Jahrzehnten füllten Computer ganze Räume von Unternehmen oder Forschungsinstituten. Mit der technischen Entwicklung wurden sie jedoch kleiner und finden sich heutzutage in immer mehr Alltagsgegenständen wie Uhren, Mobiltelefonen, Unterhaltungselektronik, Haushaltsgeräten, Fahrzeugen und sogar Kleidung. Viele dieser Geräte sind mit dem Internet verbunden, etwa um die heimische Zentralheizung fernzusteuern, aber immer mehr auch, um Nutzungsdaten zentral zu sammeln und zu verarbeiten. Die Geräte werden so zu Sensoren, die unbemerkt Daten über das Verhalten ihrer Besitzer sammeln. Auch soziale Netzwerke und E-Mail-Anbieter beobachten ihre Kunden und erstellen Konsumentenprofile, um zielgerichtete Werbung anzuzeigen. Der Nutzer mag den Eindruck gewinnen, er erhalte im Internet angebotene Dienste kostenlos. In Wirklichkeit zahlt er jedoch mit seinen Daten. Sie stellen für die Dienstanbieter eine Art Zwischenwährung dar: Je mehr ein Werbetreibender über den Adressaten weiß, desto zielgerichteter kann er den Nutzer ansprechen und desto mehr wird er bereit sein, für das Schalten einer Werbefläche zu bezahlen. In einer
DIGITALE RECHTE
kürzlich veröffentlichen Studie wurde die Treffergenauigkeit eines Algorithmus untersucht, der anhand von Facebook-»Likes«, d.h. von positiven Bewertungen von Produkten, die Persönlichkeit der Nutzer einschätzen sollte. Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass bei den untersuchten Nutzern die Einschätzung, die der Algorithmus traf, im Durchschnitt nach zehn »Likes« bereits zutreffender war als die eines Kollegen, nach 300 »Likes« entsprach sie der Einschätzung des Lebenspartners. Doch auch wer keinen Computer nutzt, hinterlässt »digitale Spuren«: im Finanzamt, beim Telefonanbieter, bei der Post, bei Banken, bei Supermärkten und in anderen Geschäften, in Videoüberwachungen oder auch im Facebook-Konto von Freunden. Diese Informationsschnipsel werden ebenfalls zu Profilen verarbeitet: Politische Gesinnung, sexuelle Präferenzen, Lebensstil, sozialer Umgang, Bildungsgrad, Vernetzung und potenzielle Straffälligkeit des Individuums werden so vermeintlich berechenbar. Die statistische Natur der Algorithmen ist dabei nicht die einzige Fehlerquelle. So wurde kürzlich ein Niederländer bei der Einreise in die USA stundenlang befragt und bekam später noch einmal Polizeibesuch, weil er sein Visum angeblich von einer jordanischen Internetadresse aus beantragt und gleichzeitig angegeben hatte, niemals in arabischen Ländern gewesen zu sein. Dann stellte sich heraus: Die Datenbank der US-Behörde war veraltet und die vormals jordanische Adresse war inzwischen einem niederländischen Netz zugewiesen worden. Die Enthüllungen von Edward Snowden belegen, was noch vor einigen Jahren als Verschwörungstheorie abgetan worden wäre: dass eine umfassende Speicherung und Auswertung von Kommunikationsdaten auch durch den Staat bereits seit Jahren praktiziert wird – unter Ausnutzung und oft auch mit Hilfe großer Internetfirmen. Werden persönliche Daten aber ohne konkreten Zweck »auf Vorrat« erfasst und verknüpft, stellt das einen schweren Eingriff in das Recht auf Privatsphäre dar, das unter anderem von Artikel 12 der Allgemeinen Erklärung der Men-
MASSENÜBERWACHUNG UND MENSCHENRECHTE Anlasslose Massenüberwachung ist immer ein unverhältnismäßiger Eingriff in die Privatsphäre. Ihre möglichen Folgen sind Zensur und Selbstzensur, eine Gefährdung der Meinungs- und Informationsfreiheit. Außerdem hält sie Menschen von der Teilnahme an friedlichen Versammlungen ab und verletzt so das Recht auf Versammlungsfreiheit. Einschränkungen des Internetzugangs und Verschlüsselungsverbote stehen im Widerspruch zum Recht auf Bildung und Teilhabe am wissenschaftlichen Fortschritt. Daher wird Amnesty sich in den kommenden Jahren mit den folgenden Themen beschäftigen: Kommunikationsüberwachung, insbesondere Massenüberwachung, die Verdatung der Gesellschaft (»Big Data«, »Profiling«), Verschlüsselung und Anonymität, »Internet Governance« sowie Internetzugang und Netzneutralität.
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Fotos: Sean MacEntee, Corey Seeman, emdot, Pimkie, Selbe, Amnesty, julochka, João Paulo Corrêa de Carvalho (alle CC BY-NC-ND 2.0)
schenrechte garantiert wird. Eine Einschränkung des Rechts auf Privatsphäre muss auf gesetzlicher Grundlage erfolgen und darf auch nicht willkürlich sein. Schon allein wegen ihrer Anlasslosigkeit ist Massenüberwachung daher inakzeptabel. Darüber hinaus wirkt sie einschüchternd auf eine Gesellschaft und schränkt andere Rechte wie z.B. das auf freie Meinungsäußerung ein. Nach einer Umfrage des Schriftstellerverbands »PEN America« vermeidet ein Drittel der befragten Schriftsteller seit den Snowden-Enthüllungen bewusst bestimmte Themen in der elektronischen Kommunikation oder erwägt dies ernsthaft. Einschüchternd wirkt dabei nicht nur die Überwachung selbst, sondern auch ihr rechtlich diffuser Charakter: Die Kriterien für die Auswahl verdächtiger Kommunikation sind oft nicht bekannt und eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit nicht vorgesehen. Der ungerechtfertigte Eingriff in die Privatsphäre durch staatliche Überwachung erfolgt nach drei Mustern: Das erste ist die gezielte Überwachung von Personen mit digitalen Mitteln, wie im Fall der bahrainischen Aktivisten. Umfassender ist die Überwachung einer großen Anzahl von nicht persönlich identifizierten Menschen, wie zum Beispiel im Fall der Ukraine: Während der Maidan-Proteste im Jahr 2014 erhielten Handys, die in der Nähe der Kundgebungen geortet wurden, eine SMS, in der es hieß: »Sehr geehrter Empfänger, Sie wurden als Teilnehmer einer Massenunruhe registriert.« Deutlicher kann man den Ein-
»Sehr geehrter Empfänger, Sie wurden als Teilnehmer einer Massenunruhe registriert.« 42
300 »Likes« reichen für ein Persönlichkeitsprofil. Einträge bei Facebook.
schüchterungscharakter von Überwachung nicht machen. Die Snowden-Enthüllungen haben eine noch weitergehende Dimension gezeigt: die massenhafte Überwachung eines erheblichen Teils der weltweiten Kommunikation ohne konkreten Anlass. Sich gegen einen so totalen Eingriff in ein Menschenrecht zu wehren, ist für den Einzelnen nahezu unmöglich. Aber auch Staaten kommen hier in einer global vernetzten Welt an ihre Grenzen. Die Verteidigung der Menschenrechte – und insbesondere des Rechts auf Privatsphäre – im digitalen Zeitalter ist daher auch eine Aufgabe der Vereinten Nationen: Der UNO-Menschenrechtsrat stellte in einer Resolution vom 5. Juli 2012 fest, dass »die gleichen Rechte, die Menschen offline haben, auch online geschützt werden müssen« und äußerte damit nicht nur eine banale Wahrheit, sondern wies auch auf eine weit klaffende Lücke im weltweiten Menschenrechtsschutz hin, die sich im Zuge der Digitalisierung ergeben hat. In zahlreichen Dokumenten haben sich seitdem unterschiedliche UNO-Menschenrechtsorgane wie der Menschenrechtsrat, der Hochkommissar für Menschenrechte, der Sonderberichterstatter für Meinungsfreiheit und der Sonderberichterstatter für Menschenrechte im Kampf gegen Terrorismus mit den menschenrechtlichen Folgen der Massenüberwachung auseinandergesetzt. Auch Amnesty hat die Arbeit zu diesem Thema zu einer zentralen Aufgabe erklärt und fordert, alle bestehenden Programme zur anlasslosen Massenüberwachung unverzüglich zu beenden. Die Regierungen müssen sicherstellen, dass Überwachungsmaßnahmen internationale Menschenrechtsstandards einhalten. Das bedeutet auch, dass Überwachung nur zielgerichtet und auf der Grundlage ausreichender Anhaltspunkte für Rechtsverstöße erfolgen darf. Amnesty wird sich künftig verstärkt dafür einsetzen, dass die Menschenrechte im digitalen Zeitalter online wie offline den gleichen Schutz genießen. Die Autoren sind Mitglieder der Themengruppe »Menschenrechte im digitalen Zeitalter« der deutschen Amnesty-Sektion.
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Eine Chance für die Freiheit Die Annäherung zwischen den USA und Kuba weckt Hoffnungen auf eine Verbesserung der Menschenrechtslage in dem Karibikstaat. Doch nach wie vor werden dort Oppositionelle drangsaliert und überwacht. Von Gaby Stein
Dissidenten und Menschenrechtsaktivisten, wie z.B. die Gruppe »Damas de Blanco« (Damen in Weiß) werden nach wie vor telefonisch bedroht oder körperlich angegriffen. Außerdem werden ihre Häuser bei sogenannten »Demonstrationen der Ablehnung« umzingelt, die von der Regierung koordiniert und von Staatsbediensteten unterstützt werden. Sie dienen dazu, politische Gegner zu drangsalieren und sie davon abzuhalten, an Aktivitäten teilzunehmen. Auch unabhängige Journalisten werden und wurden eingeschüchtert. So erhielt der Leiter der unabhängigen Nachrichtenagentur »Hablemos Press«, Roberto de Jesús Guerra Pérez, im vergangenen Jahr Telefondrohungen und wurde in Havanna auf der Straße von einem Unbekannten tätlich angegriffen. Er trug eine gebrochene Nase und zahlreiche Blutergüsse davon. Vier Männer auf zwei Motorrädern des Typs, der häufig von Angehörigen der kubanischen Staatssicherheit verwendet wird, beobachteten den Vorfall. Er hörte, wie einer der Männer »ok, das reicht« sagte, bevor sie wieder wegfuhren. Obwohl sein Angreifer ihn einige Tage später wieder bedrohte, griff die Polizei nicht ein. Solange die kubanische Regierung nicht die erforderlichen sozialen und politischen Reformen durchführt und alle Einschränkungen der Rechte auf Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit aufhebt, wird sich die Menschenrechtssituation nicht entscheidend verbessern. Unabhängigen Medien und Journalisten muss es möglich sein, frei und ohne Furcht vor Repressalien und willkürlicher Verfolgung zu arbeiten. Die Ratifizierung des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte und des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie die Abschaffung der Todesstrafe wären weitere notwendige Schritte, um den Weg in eine neue Ära der Menschenrechte zu ebnen.
DIGITALE RECHTE
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KUBA
Foto: Enrique De La Osa / Reuters
Den 17. Dezember 2014 werden die Einwohner von Havanna so schnell nicht vergessen. Mit Jubel auf den Straßen und Tränen in den Augen feierten sie nach mehr als 50 Jahren Eiszeit zwischen den beiden Ländern die Ankündigung von US-Präsident Barack Obama und Präsident Raúl Castro, Gespräche aufzunehmen. Die EU und Kuba hatten sich bereits im Frühjahr 2014 nach mehreren Jahren Gesprächspause darauf geeinigt, wieder Verhandlungen zu führen. Nun hoffen die Kubanerinnen und Kubaner auf mehr Freiheit und ein Ende der US-Sanktionen. Einiges deutet darauf hin, dass diese Hoffnungen nicht vergebens sind. Anfang Januar 2015 wurden Dutzende von politischen Gefangenen freigelassen, darunter auch die fünf von Amnesty International betreuten gewaltlosen politischen Gefangenen Iván Fernández Depestre, Emilio Planas Robert, die Zwillinge Vianco und Django Vargas Martín und ihr Bruder Alexeis Vargas Martín. Die Freilassung der drei Brüder Vargas Martín war allerdings an Bedingungen geknüpft: Sie müssen in regelmäßigen Abständen bei den Behörden erscheinen und dürfen ihre Heimatprovinz nicht verlassen. Damit besteht nach vielen Jahren wieder eine Chance für Menschenrechte und Freiheit in dem Inselstaat, eine Entwicklung, die durch eine Aufhebung des US-Embargos noch weiter unterstützt werden könnte. Doch zeigt sich nach wie vor auch das andere Gesicht des Landes. Einigen der gerade Entlassenen wurde angedroht, dass sie erneut inhaftiert werden könnten, sollten sie sich künftig nicht konform verhalten. Nur zwei Wochen nach der historischen Wiederannäherung wurden mehrere kubanische Regierungsgegner in Kurzzeithaft genommen oder unter Hausarrest gestellt. Sie wollten an einer Aktion auf Die Autorin ist Sprecherin der Kuba-Ländergruppe der deutschen dem zentralen Revolutionsplatz teilnehmen, zu der die PerforAmnesty-Sektion. mancekünstlerin Tania Bruguera aufgerufen hatte. Dort sollten sie auf einer Tribüne ihre Wünsche für die Zukunft des Landes äußern. In kubanischen Staatsmedien war die von Bruguera geplante Aktion als »politische Provokation« bezeichnet worden. Außerdem wurde Pressemeldungen zufolge die Bloggerin Yoani Sánchez von Zivilpolizisten daran gehindert, ihre Wohnung zu verlassen. Sie hatte im vergangenen Jahr die Internet-Zeitung »14 y medio« gegründet, die zwei- bis dreimal wöchentlich erscheint und unter anderem über politische Themen berichtet. Die erste Ausgabe wurde jedoch schon nach wenigen Minuten gehackt: Wer von Kuba aus die Internetseite von »14 y medio« aufrief, wurde automatisch auf eine Seite umgeleitet, auf der sich Anhänger der Regierung in Schimpftiraden auf Sánchez ergingen. »Was verboten ist, macht bekanntlich erst recht scharf«, twitterte Yoani Sánchez umgehend. Kunstaktion als »politische Provokation«. Performancekünstlerin Tania Bruguera.
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Falsches Raster Beklemmend. Eine Personenkontrolle in Hamburg.
Kontrollieren Polizisten Personen etwa wegen ihrer Hautfarbe, handelt es sich um ein unzulässiges Vorgehen, das »Racial Profiling« genannt wird. Von Anja Feth Gehen deutsche Polizisten und Polizistinnen bei ihrer Arbeit rassistisch vor? Ja, sagen antirassistische Initiativen wie die »Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt« oder die »Initiative Schwarze Menschen in Deutschland«. Keinesfalls, heißt es von Seiten der Polizei oder der Politik. Auch Amnesty International beteiligt sich an der Debatte über das sogenannte »Racial Profiling«. Der Begriff bezeichnet rassistische Diskriminierung im Rahmen der Polizeiarbeit. Wohl am häufigsten kommt es zu »Racial Profiling«, wenn Personen im öffentlichen Raum wegen ihrer Hautfarbe kontrolliert werden. Aber auch im Zusammenhang mit der terroristischen Mordserie des NSU tauchte das Phänomen auf: Polizei und Staatsanwaltschaften hatten die mutmaßlichen Täterinnen und Täter kategorisch im Familienund Bekanntenkreis der Opfer vermutet bzw. die Taten kriminellen Netzwerken aus Osteuropa und der Türkei zugeordnet. Entsprechend einseitig fielen die jahrelangen Ermittlungen aus. Wenn bei der Ausübung polizeilicher Kontroll-, Überwachungs- und Ermittlungsmaßnahmen an die vermeintliche »Rasse«, »Hautfarbe«, »ethnische Herkunft«, Sprache, Religion oder Nationalität von Personen angeknüpft wird, ohne dass es dafür einen konkreten, objektiven Rechtfertigungsgrund gibt,
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spricht die »Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz« von »Racial Profiling«. Das Phänomen kann bei Durchsuchungen, Razzien oder bei der Auswertung elektronischer Daten auftreten, besonders häufig ist es jedoch bei Fahrzeug- und Personenkontrollen. Eine solche Personenkontrolle brachte ein Betroffener 2012 bis vor das Oberverwaltungsgericht Koblenz. In der Verhandlung versuchte ein Bundespolizist zu erklären, warum er in einem Regionalzug ausgerechnet einen dunkelhäutigen Fahrgast angesprochen hatte. Dafür konnte er keinen konkreten Verdacht angeben. Im Gegenteil: Der Polizist berief sich unter anderem auf »ein nicht beschreibbares Gefühl«, das er manchmal habe. Auch wenn der Polizist, anders als noch in der ersten Instanz, nicht mehr mit der »Hautfarbe« des Mannes argumentierte: Das Gericht zeigte sich überzeugt, dass eben jene den Ausschlag für die Kontrolle gegeben hatte und stellte einen Verstoß gegen Artikel 3 des Grundgesetzes (Diskriminierungsverbot) fest. Ähnliche Klagen sind derzeit auch in Köln, München und Stuttgart anhängig. Statistiken zu »Racial Profiling« in Deutschland gibt es nicht. Unklar ist, wie häufig rassistische Diskriminierung bei der täglichen Polizeiarbeit vorkommt. Entsprechende Hinweise gibt es viele. Jeder Vorfall ist ein ernst zu nehmender Verstoß gegen die Menschenwürde. Die Antirassismuskonvention der Vereinten Nationen und die Europäische Menschenrechtskonvention ver-
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Foto: Maria Feck / laif
»Das Rassismus-Problem muss auf institutioneller Ebene anerkannt werden. Von ›Racial Profiling‹ Betroffene sollten – nach Befinden und Möglichkeiten – rechtlichen Rat einholen und juristisch gegen die Praxis vorgehen.« Tahir Della, Vorstand der »Initiative Schwarze Menschen in Deutschland« bieten rassistische Diskriminierung. Und auch das Grundgesetz ist in dieser Frage eindeutig. Strukturell begünstigt werden diskriminierende Kontrollen allerdings durch besondere Befugnisse der Polizei, Personen »verdachtsunabhängig« zu befragen. Entsprechende Normen sind in den meisten Landespolizeigesetzen, aber auch im Bundespolizeigesetz verankert. Besonders intensiv diskutiert wurde zuletzt der erste Absatz aus Paragraf 22 im Bundespolizeigesetz. Danach darf die Bundespolizei »jede Person« anhalten und befragen, die sich an Bahnhöfen, Flughäfen sowie in Zügen aufhält, die erfahrungsgemäß zur unerlaubten Einreise genutzt werden. Das Deutsche Institut für Menschenrechte stellt dazu fest, dass diese Norm nur auf den ersten Blick diskriminierungsfrei sei. Da sie auf die Kontrolle von »Nicht-Deutschen« ziele, richte sie sich faktisch gegen jene, die gängigen Stereotypen zufolge »nicht-deutsch« aussehen. Das Phänomen »Racial Profiling« ernst zu nehmen, heißt nicht, der Polizei plumpen Rassismus zu unterstellen. Den mag es hier und da auch geben. »Racial Profiling« basiert hingegen meist auf unbewussten rassistischen Stereotypen und Vorurteilen. Die sind in der deutschen Gesellschaft nachweislich fest verankert und folglich auch bei Polizistinnen und Polizisten vorhanden. Zudem gilt: Damit eine rassistische Diskriminierung vorliegt, ist es unerheblich, welche Handlungsabsicht besteht. Ausschlaggebend ist allein die Wirkung: die ungleiche Behandlung von Menschen entsprechend rassistischer Kriterien. Diejenigen, die diskriminiert werden, verzichten häufig darauf, sich bei den Behörden zu beschweren oder gar rechtliche Schritte einzuleiten. Das geschieht nicht aus Gleichgültigkeit, sondern weil sie den finanziellen und zeitlichen Aufwand ebenso scheuen wie eine weitere psychische Belastung. Zumal ihre Erfolgsaussichten gering sind. Der Polizei eine rassistische Diskriminierung nachzuweisen, ist in der Regel schwer. Auch haben es die Verwaltungsgerichte bislang vermieden, entsprechende Vorwürfe explizit zu erörtern. Die Autorin ist Mitglied der Themengruppe »Polizei & Menschenrechte« der deutschen Amnesty-Sektion.
RACIAL PROFILING
SPRACHE UND RASSISMUS Wie ist es möglich, rassismussensibel über Rassismus zu sprechen? Menschen, die rassistische Diskriminierung erfahren, schlagen verschiedene Bezeichnungen vor, um sichtbar zu machen, dass Kategorien wie »Rasse« oder »Hautfarbe« nicht auf biologischen Gegebenheiten, sondern vielmehr auf sozialen Zuschreibungen beruhen. In vielen Texten über Rassismus wird das Adjektiv schwarz groß geschrieben – als Selbstbezeichnung für Schwarze Menschen; das Adjektiv weiß wird kursiv gesetzt – um auf die von weißen Menschen oft nicht wahrgenommenen sozialen und politischen Vorteile hinzuweisen. Der Anglizismus »People« oder »Person of Color« drückt die gemeinsame rassistische Diskriminierungserfahrung aus und kann wegen der negativen Konnotation von »farbig« nicht ins Deutsche übersetzt werden.
ZIELE FÜR DIE POLITISCHE AGENDA In einem Positionspapier fordert Amnesty International die Bundes- und Landesregierungen auf: a öffentlich anzuerkennen, dass »Racial Profiling« in Deutschland existiert und klarzustellen, dass Diskriminierungen dieser Art niemals gerechtfertigt sind. a quantitative und qualitative Daten zum Ausmaß von »Racial Profiling« erheben und auswerten zu lassen. a Paragraf 22 Absatz 1a des Bundespolizeigesetzes zu streichen und ähnliche Bestimmungen auf der Länderebene grund- und menschenrechtlich zu prüfen. Sie sind gegebenenfalls aufzuheben. a unabhängige Beschwerdestellen für Fälle schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei einzurichten. Diese müssen leicht zugänglich sein, zum Beispiel über ein Internetformular. a die interkulturelle Aus- und Fortbildung von Polizisten zu verbessern. Zusätzlich sind verpflichtende Antirassismus-Trainings einzuführen.
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KULTUR
Ausgezeichnet. Die Amnesty-Filmpreis-Jury mit dem diesj채hrigen Gewinner: Markus Beeko von Amnesty, die Schauspielerin Sibel Kekilli, Preistr채ger Michael
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Extrem scharf geschossene Bilder Der Film »Tell Spring Not to Come This Year« hat bei der diesjährigen Berlinale den Amnesty-Preis gewonnen. Der Dokumentarfilm über Afghanistans Armee setzte sich gegen starke Konkurrenten durch. Von Jürgen Kiontke
McEvoy und Regisseur Marcus Vetter.
BERLINALE
Foto: Henning Schacht / Amnesty
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Foto: Michael McEvoy, Saeed Taji Farouky
Allein. Afghanischer Soldat in dem Dokumentarfilm »Tell Spring Not to Come This Year«.
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ch glaube an Gott – weil ich ihn fürchte!« Der junge afghanische Soldat macht sich über seine Arbeit keine Illusionen: Ein 24-Stunden-Einsatz werde das hier, haben seine Vorgesetzten gesagt. Eine Texteinblendung korrigiert: Es werden 45 Tage. Wie sich die afghanische Armee bei der Sicherung ihres Landes schlägt, ist Thema des Dokumentarfilms »Tell Spring Not to Come This Year« (GB 2015). Und die Amnesty-Jury, bestehend aus dem Regisseur Marcus Vetter, der Schauspielerin Sibel Kekilli und dem Leiter der Abteilung Kommunikation und Kampagnen von Amnesty International, Markus Beeko, hat diesen Film für preiswürdig befunden. Die Regisseure Saeed Taji Farouky und Michael McEvoy begleiteten die Soldaten bei Übungen und Einsätzen in der Provinz Helmand. Jetzt, wo die internationalen Truppen abgezogen sind, kämpfen sie gegen die Taliban. Dazwischen schildern die Männer ihre Vorstellungen von Gegenwart und Zukunft, die Arbeitslosigkeit hat sie in die Armee getrieben. Die Kamera ist dabei, wenn sich die Soldaten in den Unterkünften langweilen, aber auch in den Gefechten. Und zwar so nah dran, dass man sich wundert, wie die Filmemacher ihre Arbeit überlebt haben. Den Soldaten gelingt das nicht immer. Der Film enthält sehr explizite Szenen – Menschen werden vor laufender Kamera angeschossen. Auch sonst gilt: Der Alltag ist irrwitzig. So durchforsten die Einsatzkräfte riesige Opiumplantagen auf der Suche nach Aktivisten, die jede Nacht auf die Kaserne schießen – als wäre es ein Jungenstreich. Was werden sie hier ausrichten? Das gefährliche Leben bringt durchaus realistische Einschätzungen hervor. »Wir haben keine Angst, sondern unseren Sold nicht bekommen«, sagen sie. Und das seit neun Monaten. Der Frühling soll nicht kommen, heißt es im Film. Denn sonst überdecken die Blumen, allen voran die Mohnblumen für die Opiumproduktion, das Leid. Spätestens dieser Kommentar macht das Werk wohl zu einem dezidierten Antikriegsfilm.
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So beeindruckend er ist – es bleibt ein Film über eine Armee. Die 16 Filme, die für den Amnesty-Filmpreis auf der Berlinale nominiert waren, boten da durchaus Alternativen. »Mina Walking« zum Beispiel ist ebenfalls ein Film über Afghanistan, aber aus der Perspektive eines zwölfjährigen Mädchens erzählt. Mina pflegt zunächst den dementen Großvater, kämpft mit dem ansässigen Drogendealer, der die Abhängigkeit ihres Vaters ausnutzt. Später dann will der sie an einen Bekannten verhökern. Mina kauft sich eine Burka und heuert in einer Bettelkompanie an. Ein bedrückendes und dennoch hoffnungsvolles Porträt. Auch »Iraqi Odyssey« (CH/IRQ/ARE 2014) war ein starker Beitrag: Regisseur Samir erzählt die vergangenen siebzig Jahre irakischer Politik als Familienporträt. Und »Ode to My Father« (KOR 2014) von JK Youn leistet mit demselben Ansatz, aber als Spielfilm, Ähnliches, indem er die unbekannte Geschichte koreanischer Arbeiter und Krankenschwestern in deutschen Kohlegruben und Hospitälern schildert. Im Wettbewerb dominierte der Film »Taxi« von Jafar Panahi, der auch den Goldenen Bären gewann. Es ist bereits der dritte Film des iranischen Regisseurs, der auf das Urteil des Berufungsgerichts wartet, nachdem er zu sechs Jahren Haft und 20 Jahren Berufsverbot verurteilt wurde. Das Land verlassen durfte er nicht, seinem Film gelang dies. Er gibt Panahis augenblickliche Situation wieder: Weil er als Regisseur nicht arbeiten darf, fährt er Taxi in Teheran – das Filmemachen erledigt er quasi nebenbei. Die Kamera ist vorne im Wagen fixiert und filmt die Fahrgäste. So entsteht ein wunderbares Werk über den iranischen Alltag und das Kino, spätestens wenn die zehnjährige Nichte des Regisseurs ins Auto steigt: Denn sie dreht gerade im Unterricht einen Film und kann nun kompetent über die Gesetze der iranischen Regie referieren … Die Amnesty-Jury hat »Tell Spring Not to Come This Year« vorgezogen. Sie war der Ansicht, dass der dokumentarische Blick intensiver war – von Regisseuren, die im Gefecht stehen.
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»Der hat uns geflasht!« Jury-Mitglied Marcus Vetter musste nicht lange überlegen, welcher Berlinale-Film den Amnesty-Preis bekommt. Für Dokumentarfilme wie »Tell Spring Not to Come This Year« wünscht er sich millionenschwere Förderungen. Die Amnesty-Jury hat sich dieses Jahr entschieden, ihren Filmpreis einem Kriegsfilm zu geben … »Tell Spring Not to Come This Year« zeigt, wie sinnlos dieser Krieg ist – und was von dem jahrelangen militärischen Engagement des Westens in Afghanistan übrig geblieben ist. Die jungen Männer in der afghanischen Armee werden alleingelassen und versuchen, irgendwie ihr Land zu verteidigen, es in eine irgendwie geartete Demokratie zu führen. Und das haben wir ihnen auch abgenommen. Dies ist für uns ein mutiger Dokumentarfilm, für den die Filmemacher sehr viel riskiert haben, um einen Einblick in eine Welt zu bekommen, den man sonst nicht hat. Und das auf einem unglaublich hohen Niveau. Uns hat er einfach geflasht!
tarfilmer arbeiten ja oft jahrelang für ihre Sache. Leider finden diese Filme oft ihr Publikum nicht. Ist denn der Kinofilm noch das zeitgemäße Format für schwierige Themen? Ja, absolut! Dieses 90- oder 100-Minuten-Format ist genau richtig. Man muss nur dafür arbeiten. Ich würde mir wünschen, dass es Hedgefonds gäbe für Dokumentarfilme, dass man denen Millionenetats zur Verfügung stellen würde – sodass sie in die Kinos kommen und dann auch wahrgenommen werden. Denn sie haben es verdient. Der Kinodokumentarfilm ist heute auf einem Niveau angekommen, das nichts mehr mit TV-Dokus zu tun hat. Man müsste nur wegkommen vom Arthouse-Kino und hinein in den Mainstream. Sonst schauen diese Filme immer nur die Leute, die sowieso schon überzeugt sind, dass sich was ändern muss. Haben Sie eigentlich einen Lieblingsschauspieler oder -schauspielerin? Ja. Sibel Kekilli. Ich fand sie in »Gegen die Wand« großartig und mein Lieblingsfilm ist »Die Fremde«.
Foto: Henning Schacht / Amnesty
Fragen: Jürgen Kiontke
Tun die Afghanen nicht, was im Krieg immer getan wird? Schießen und beschossen werden? Ja, vordergründig schon. Aber das ist ein Dokumentarfilm, der im wahrsten Sinne des Wortes ein Antikriegsfilm ist, weil er zeigt, wie verrückt die Situation ist. Dieses Land ist schlicht zerstört. Und diese jungen Menschen versuchen nun, es wieder aufzubauen, sodass es für ihre Familien und in der Zukunft lebenswert ist. Ich glaube, dass dies genauso ein Amnesty-Thema ist wie die Meinungsfreiheit in Jafar Panahis »Taxi«, der mir auch gut gefallen hat. Aber für mich als Dokumentarfilmer fiel da die Entscheidung eben leicht. Diese Leute haben sehr viel gewagt und es ist auch nicht einfach, sich in solch eine Armee »embedden« zu lassen.
INTERVIEW MARCUS VETTER Marcus Vetter, 47, ist ein vielfach ausgezeichneter Dokumentarfilmregisseur aus Tübingen. Bekannte Werke sind »Cinema Jenin« (2012) und »The Court« (2013). Sein aktueller Film »The Forecaster« startet im April 2015 in den deutschen Kinos.
Hat »Tell Spring …« eine Chance, ins Kino zu kommen? Das hoffe ich. Von den vielen Filmen, die ich gesehen habe, hat er es am meisten verdient. Für mich ist das ein Kinofilm, den auch »Normalmenschen« ohne große Hintergründe zu sehen bekommen müssen. Dokumen-
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Foto: Michael McEvoy, Saeed Taji Farouky
Hat sich die Jury von politischen oder ästhetischen Kriterien leiten lassen? Weder noch, sondern einfach davon, ob es ein guter Film ist. Wir haben hingeschaut: Welche Filme berühren uns? Das Berlinale-Programm bot ja oft auch nüchternes, intellektuelles Kino.
Ein wenig Licht im Dunkel. Filmstill aus »Tell Spring Not to Come This Year«.
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Das Porträt eines Landes Das Istanbuler Fotokollektiv »Nar Photos« sucht Geschichten jenseits des Mainstreams, stellt Menschen und deren Alltag in den Vordergrund. Um unabhängig zu bleiben, arbeiten die Fotografen ehrenamtlich. Von Ralf Rebmann
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stanbul lädt zum Flanieren ein. Vor allem im Viertel Tophane, dessen verwinkelte Gassen mit ihren Antiquitätenhändlern sich bergab Richtung Bosporus schlängeln. Ein Platz in einem der kleineren oder größeren Teegärten ist immer frei. Krieg und Vertreibung scheinen hier weit entfernt. Adnan Onur Acar rollt die erste Zigarette und bestellt dann lieber Kaffee statt Tee. »Wir warten auf Fotos von der Grenze«, sagt der 30-Jährige. Zwei Kollegen seien vor Ort. »Die Fotos müssen gesichtet werden, bevor wir sie zu den Agenturen schicken können.« Adnan ist Fotograf und Teil des Istanbuler Kollektivs »Nar Photos«, einem Zusammenschluss von Fotografinnen und Fotografen aus der Türkei. Die Grenze, von der er spricht, ist 1.200 Kilometer von Istanbul entfernt. Sie trennt die Türkei von Syrien, die türkische Kleinstadt Suruç vom syrischen Ain al-Arab, auch Kobane genannt. Mitte September 2014 versuchten Einheiten des sogenannten Islamischen Staats, die Stadt einzunehmen. Zehntausende Menschen, mehrheitlich Kurden, fürchteten ein Massaker und flüchteten in Panik über die Grenze in die Türkei. Die Fotos, die Adnan und seine Kollegen später sichteten, zeugen von der Fassungslosigkeit der Flüchtlinge, als sie schließlich türkisches Staatsgebiet erreichen, von der Wut türkischer Kurden, die mit bloßen Händen einen Stacheldrahtzaun niederreißen, weil das Militär sie nicht nach Kobane lässt, um dort zu kämpfen. Und sie zeigen Panzer in der südostanatolischen Stadt Diyarbakır, in der seit mehr als zehn Jahren wieder eine Ausgangssperre verhängt wurde. In jenen Tagen bestimmten die Kämpfe um Kobane die Arbeit des Kollektivs. »Nar Photos« wurde 2003 gegründet. Heute sind achtzehn Fotografinnen und Fotografen für das Kollektiv in der Türkei unterwegs, teilweise in Kooperation mit weiteren Fotoagenturen wie der deutsch-österreichischen Agentur »Laif« oder »Redux Pictures« aus den USA. »Nicht jeder kann immer überall sein, deshalb teilen wir Aufgaben und die Verantwortung«, erklärt Adnan. Tagesaktuelle Bilder, wie die aus Kobane, sind nur ein Teil der Arbeit. »Wir wollen mit unseren Fotos dokumentieren, den Alltag und das Gewöhnliche zeigen.« Dafür brauche man Zeit, für die Menschen, ihre Probleme und Sorgen, sagt der Fotograf. Das Archiv der Agentur umfasst mittlerweile mehr als hundert
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Geschichten und Biografien – das Porträt eines Landes in Nahaufnahme. Da sind die Froschfänger aus Diyarbakır, die nachts durch die Nebenarme des Tigris waten, um ihren Fang später an die Fischfabriken in der Region zu verkaufen. Oder die chinesischen Minenarbeiter in Zonguldak an der türkischen Schwarzmeerküste, die schon seit mehr als zwanzig Jahren ihren Lebensunterhalt unter Tage verdienen. Da sind die ehemaligen Bahnbeschäftigten im armenischen Akhuryan, die seit 1993 darauf hoffen, dass dort wieder Züge rollen dürfen, nachdem die Türkei damals die Grenze zu Armenien schloss. Und da sind die letzten Überlebenden des Massakers in Dersim, bei dem 1937 und 1938 Tausende kurdische Aleviten vom türkischen Militär getötet wurden. Beim Betrachten der Fotos streift man durch die traditionellen Basare Anatoliens, reist von Antakya über Erzurum nach Gaziantep, von Kahramanmaraş über Mardin nach Şanlıurfa. Man beobachtet Familien in der Region um Rize, die in tiefgrünen Teefeldern die erste Ernte einholen. Man nimmt an traditionellen Stierkämpfen im nordtürkischen Artvin teil oder an einer Zeremonie der griechisch-orthodoxen Gemeinschaft in Istanbul. Man bewundert den Mut der »Friedensmütter«, die seit 1999 im Gedenken an ihre Kinder ein Ende des blutigen türkisch-kurdischen Konflikts fordern, und blickt betroffen in die Augen syrischer Kinder, die in türkischen Großstädten um ihr Überleben kämpfen. »Wir sind Gedächtnisarbeiter«, sagt Adnan. Für ihn und seine Kollegen bedeute das Fotografieren mehr, als nur auf den Auslöser zu drücken. Er spricht von der Verantwortung zu dokumentieren, von westlichen Perspektiven auf östliche Regionen und einer eigenen fotografischen Sprache, die sich entwickeln müsse. Bevor Adnan im Jahr 2013 festes Mitglied bei »Nar Photos« wurde, hatte er das Kollektiv jahrelang unterstützt. Dass sich das Büro in Istanbul befindet, ist kein Zufall. »Istanbul hat sich in den vergangenen zehn Jahren sehr verändert – allerdings nicht zugunsten der Bevölkerung, sondern zugunsten des Profits.« Für »Nar Photos« ist der urbane Raum eines der wichtigsten Themen. »Wir dokumentieren diese Entwicklung und stellen sie in Frage.« Adnan meint die zahlreichen Bauvorhaben, Shoppingcenter, Luxusappartements und Hotelanlagen, die von der neoliberalen Stadtpolitik Istanbuls vorangetrieben werden. Er meint die Gentrifizierung von Stadtteilen ohne politische Lobby, die unter dem Deckmantel des »Denkmalschutzes« und der »Erdbebenprävention« luxussaniert oder dem Erdboden gleichgemacht werden. Und natürlich meint er den Gezi-Park. Bei den Protesten gegen die Bebauung des Parks im Sommer 2013 waren die Fotografen des Kollektivs mittendrin. Sie waren vor Ort, als das ikonen-
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Foto: Ralf Rebmann
Dokumentar eines Landes und seiner Menschen. Der »Nar«-Fotograf Adnan Onur Acar.
hafte Bild von Ceyda Sungur entstand (»die Frau in Rot«) oder das des Künstlers Erdem Gündüz auf dem Taksim-Platz (»standing man«), der mit seinem stillen Protest Hunderte weitere Personen inspirierte. Amnesty International nutzte die Fotos, um die Gewalt türkischer Polizeikräfte zu dokumentieren. Das Museum Istanbul Modern widmete »Nar Photos« 2014 eine fünfmonatige Retrospektive mit dem Titel »Yolda« (»Auf dem Weg«). Die 75 Fotos der Ausstellung sind das Resultat elfjähriger Arbeit, eines Blickes für soziale Themen und nicht zuletzt freiwilligen Engagements. »Wir verdienen mit den Fotos kaum Geld, damit lassen sich höchstens die Kosten für das Büro decken«, sagt Adnan. Es ist
»NAR PHOTOS«
der Preis, den die Mitglieder des Kollektivs dafür bezahlen, dass sie unabhängig bleiben können und ihre Arbeiten ausschließlich Medien anbieten, denen sie vertrauen. »An türkische Zeitungen verkaufen wir sie nicht, weil wir nicht wissen, was sie damit machen.« Ihren Lebensunterhalt verdienen die Fotografinnen und Fotografen deshalb anderswo, sie geben Workshops, arbeiten bei Magazinen oder NGOs. An ihrem Ziel halten sie fest. »Wir wollen ein eigenes Archiv über die Menschen in unserem Land aufbauen«, sagt Adnan, »ein Archiv, das nicht unter staatlicher Kontrolle steht«. Der Autor ist freier Journalist und lebt in Berlin und Istanbul.
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Wortwechsel
Flucht auf der Bühne. Szene aus »Asyl-Dialoge«.
Das Theaterstück »Asyl-Dialoge« der »Bühne für Menschenrechte« inszeniert die schwierige Situation von Flüchtlingen und ihren Unterstützern vor dem Hintergrund einer rigiden europäischen Asylpolitik. Von Andreas Koob
A
nna will helfen und ist unter Zugzwang. Sie muss Rajana, die mit ihrer Familie aus Tschetschenien nach Deutschland geflohen ist, ins Krankenhaus bringen, denn vielleicht rettet sie das. »Was muss ich sagen, damit eine Person mindestens eine Nacht im Krankenhaus bleibt?«, fragt Anna einen befreundeten Arzt. »Blut im Stuhl und Bauchschmerzen«, sagt er. Sie will mit allen Mitteln die Abschiebung verhindern, ob sie trickst oder nicht, daran verschwendet sie keinen Gedanken. Anna und Rajana stehen im Mittelpunkt einer von insgesamt drei Geschichten, die das Stück »Asyl-Dialoge« erzählt. Die durchgängig als Dialog inszenierten Szenen ermöglichen dem Betrachter tiefe Einblicke in die Gefühlslage der verschiedenen Charaktere. Und schnell wird klar: Nicht nur die Flüchtlinge haben es hier mit Grenzen zu tun, sondern auch ihre Unterstützer. Der Dialog ist das Thema des Theaterstücks und zugleich die Form, die Regisseur Michael Ruf gewählt hat: Die Schauspieler sprechen teils frei, teils lesen sie vom Blatt, wie an diesem Abend. Erst wirken sie wie ein Ensemble von Souffleuren – doch würde das ihrer Leistung nicht gerecht. Denn sie machen die Sequenzen trotz eines völlig reduzierten Settings erfahrbar. Auch
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ohne Bühnenbild, Requisiten, Kostüme oder Videoprojektion hat der Zuschauer das Geschehen vor Augen: Das Leben in der Heimat, auf der Flucht und im Hier und Jetzt, samt der drohenden Abschiebung in das EU-Land, in das sie als erstes eingereist sind. Denn so sieht es die sogenannte Dublin-Richtlinie vor. Wie all das die Beziehungskonstellationen zerrüttet, damit wird der Zuschauer unweigerlich konfrontiert. Die drei nacheinander erzählten Dialoge bilden einen starken Kontrast zueinander: Neben der sehr persönlichen Geschichte von Rajana und Anna gibt es eine weitere, die in Osnabrück spielt, wo Aktivisten mit Blockaden bereits 28 Abschiebungen verhindert haben. In einer dritten Geschichte fällt die Annäherung besonders schwer: Der Flüchtling kritisiert leere Menschenrechtsversprechen und muss nach erlittener Folter mit sich ringen, bis er Freundschaft und Unterstützung annehmen will. Eine Frau, die ihn unterstützen will, wird durch die Begegnung mit ihrer eigenen Biografie konfrontiert: Als Kind flüchtete sie selbst, später war sie Übersetzerin beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Dies macht die jetzige Anwältin zu einer Art Whistleblowerin für behördlichen Rassismus: Ihre Rolle ist die vielschichtigste in diesem Stück. »Asyl-Dialoge« besteht aus Wortfetzen, Gedankenspielen, direkten Gesprächen. Der gesamte Wortlaut stammt aus Interviews, die die Theatermacher mit sechs realen Personen führten und zu einer Collage arrangierten. Die pointierte, aber wortgetreue Wiedergabe irritiert, ermöglicht aber zugleich eine ungewöhnlich intensive Teilhabe am einzelnen Schicksal. Es ist das zweite Stück der »Bühne für Menschenrechte«, die mit ihrem ebenfalls dokumentarischen Theaterstück »Asyl-
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Foto: Schokofeh Kamiz
Monologe« bereits mehr als 260 Mal überall in Deutschland auftrat. Ähnliches ist nun für die »Dialoge« geplant, die im Januar im Heimathafen Neukölln Premiere feierten. Dank der reduzierten Inszenierung kann an nahezu jedem Ort gespielt werden, ob in einem Theater oder in einer Turnhalle. Die Rollen werden von verschiedenen, professionellen Schauspielern übernommen, die an verschiedenen Orten in ganz Deutschland leben. Dem Ensemble gehören viele nicht-weiße Schauspieler an, was zur Glaubwürdigkeit und Wirkung des Stücks beiträgt. »Ihr möget nie wissen, was ein Krieg ist«, sagt Rajana, deren Erinnerung von Traumata überlagert scheint. Sie kann sich kaum an den Alltag in Tschetschenien vor dem Krieg erinnern. Ihr Mann erinnert sich hingegen an Wochenendausflüge und Feiertage, die sie in der Natur verbrachten. Von Normalität berichten alle Protagonisten. Sie werden nicht auf ihr Leid reduziert. Die Misshandlung und Folter im bulgarischen Asylgefängnis, rechtsextreme Übergriffe in Griechenland oder die menschenverachtende Gleichgültigkeit deutscher Behörden – all das bekommt Raum, aber ohne die Biografie der Flüchtlinge auf Gewalt und Leid zu verdichten. Voyeurismus wird nicht bedient. Die Regie-Entscheidung, die Unterstützer ebenso wie die Flüchtlinge zu Wort kommen zu lassen, ist gelungen. Es ist spannend zu betrachten, was die Begegnung bei ihnen auslöst: Sie lernen die Flüchtlinge unvoreingenommen kennen, handeln entschlossen und einfühlsam und sind doch immer wieder mit der eigenen Unzulänglichkeit konfrontiert: »Einmal ist ein Flugzeug über uns geflogen. Rajanas Tochter fing an zu heulen und sich zu ducken. Da habe ich gedacht, was weiß ich eigentlich alles nicht?«, sagt Anna, die Rajana und ihrer Familie doch eigent-
»ASYL-DIALOGE«
lich so nah sein will. Zugleich aber steht sie selbst neben sich: »Ich hatte in meinem Kopf überhaupt nicht realisiert, dass Flüchtlinge, für die wir eine Willkommenskultur aufbauen, dass die abgeschoben werden!« Die sonst nicht naiv anmutende Anna wirkt unbedarft, als sie zum ersten Mal persönlich mit der deutschen Asylpolitik zu tun hat. Im Anschluss an jede Aufführung gibt es Gespräche mit Aktivisten. Es ist unübersehbar, wie dringlich das Thema ist. Seit die »Bühne für Menschenrechte« ihre Arbeit begann, ist viel passiert: Mit den wochenlangen, von der NPD unterstützten Protesten gegen ein Asylbewerberheim in Berlin-Hellersdorf und den »Pegida«-Demonstrationen offenbarte sich erneut das Ausmaß an feindseliger, rassistischer Ablehnung, das die Mitte der deutschen Gesellschaft hegt. Tabus fielen: An zahllosen Orten sind Asyl-Unterkünfte am massiven Protest gescheitert oder gar vor ihrer Eröffnung abgebrannt. All das will Regisseur Ruf in den »Asyl-Dialogen« bewusst nicht verhandeln: »Ich will die wenige Zeit nutzen, um eine eigene Agenda, einen eigenen Diskurs anzustoßen und dabei auch nicht auf die irrsinnigen Pegida-Argumente antworten müssen.« Das gelingt. Die ausgewählten Geschichten geben einen vielschichtigen und inspirierenden Einblick, der einen anderen Horizont aufzeigt. Höchst authentisch spiegelt das Stück die aktuellen Schicksale und Fallstricke deutscher und europäischer Asylpolitik wider und verleiht etwa der Dublin-Verordnung ihr wahnwitziges Antlitz, das sich auf dem Papier oder in Statistiken nur erahnen lässt. Der Autor ist Volontär des Amnesty Journals.
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EXZELLENT AUFGEMACHT
Im Rahmen des »International Creative Media Award« (icma) erhielt das Amnesty Journal in den übergreifenden Kategorien »Titelseite« und »Cover/Coverstory« jeweils einen »Award of Excellence«. Die zehnköpfige Jury lobte »das vorbildliche Konzept und Design« der Ausgaben Januar und April 2014. Insgesamt konkurrieren beim icma 364 Publikationen aus 17 Ländern. Der seit 2010 existierende Wettbewerb zählt inzwischen in Europa zu den größten im Bereich »corporate publishing«. Er zielt auf den Austausch der Branche ab und fokussiert innovative Trends. Das Magazin war auch zuvor mehrfach prämiert worden.
Unter dem Motto »Flüchtlinge schützen, Rassismus stoppen« waren auch Amnesty-Mitglieder bei den Protesten gegen den Kölner »Pegida«-Ableger »Kögida« im Januar aktiv. Besonders sichtbar waren die zahllosen gelben Luftballons mit der Aufschrift »Ich fliege wohin ich will«. Insgesamt 6.000 Leute gingen auf die Straße, um gegen den Aufmarsch der 150 »Kögida«-Anhänger zu demonstrieren. Der Protest der Kölner Zivilgesellschaft war erfolgreich: Nach dem 21. Januar meldete »Kögida« keine weiteren Veranstaltungen mehr an. Bis zu 5.000 rechte Hooligans hatten vergangenen Oktober in Köln randaliert, seitdem riefen zahlreiche Gegeninitiativen mehrfach zu Aktionen auf. Auch in Dresden sind Amnesty-Mitglieder gegen »Pegida« aktiv. Zuletzt waren sie mit vor Ort, als Rechtsextreme – im Anschluss an eine »Pegida«Demonstration – versuchten, eine Flüchtlingskundgebung vor der Oper anzugreifen.
Durch ganz unterschiedliche Veranstaltungen geben Amnesty-Mitglieder den Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme. Diese Aktionen vor Ort sind ein unentbehrlicher Teil der Arbeit von Amnesty International. Mehr Informationen darüber finden Sie auf http://blog.amnesty.de und www.amnesty.de/kalender
»OPEN TO SYRIA«
Mit Selbstporträts in sozialen Netzwerken fordern Menschen aus der ganzen Welt die Politik auf, mehr Verantwortung für syrische Flüchtlinge zu übernehmen: Bisher verteilen sich 3,8 Millionen Flüchtlinge auf nur fünf Länder – Türkei, Libanon, Ägypten, Jordanien und Irak – während andernorts nahezu keine oder nur wenige Flüchtlinge aufgenommen werden. Auch die Flüchtlinge selbst halten Aufforderungen wie »Open your eyes« in die Kamera: Unter dem Twitter-Hashtag #OpenToSyria sind die Selfies zu finden.
Fotos: Amnesty
Foto: Amnesty
GEGEN PEGIDA UND CO.
AKTIV FÜR AMNESTY
IMPRESSUM Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 E-Mail: info@amnesty.de Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion Amnesty Journal, Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, E-Mail: journal@amnesty.de (für Nachrichten an die Redaktion) Adressänderungen bitte an: info@amnesty.de Redaktion: Markus N. Beeko, Andreas Koob, Anton Landgraf (V.i.S.d.P.), Larissa Probst, Katrin Schwarz
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Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit Albrecht, Daniel Bax, Nadia Boehlen, Selmin Çalışkan, Anja Feth, Martin Franke, Steffen Härting, Bernhard Hertlein, Jürgen Kiontke, Marco Kühnel, Sergej Nikitin, Ralf Rebmann, Wera Reusch, Uta von Schrenk, Sebastian Schweda, Maik Söhler, Regina Spöttl, Gaby Stein, Carsten Stormer, Benjamin Titze, Wolf-Dieter Vogel, Marlene Zöhrer Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck: hofmann infocom GmbH, Nürnberg Vertrieb: Carnivora Verlagsservice, Berlin
Bankverbindung: Amnesty International, Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE 233 702050 0000 8090100, BIC: BFSWDE33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00) Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und erscheint sechs Mal im Jahr. Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Nichtmitglieder können das Amnesty Journal für 30 Euro pro Jahr abonnieren. Für unverlangt eingesandte Artikel oder Fotos übernimmt die Redaktion keine Verantwortung. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder. Die Urheberrechte für Artikel
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ISSN: 2199-4587
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KEINE FIKTION. LEIDER. Der Amnesty Report ist die fundierte Analyse der weltweiten Lage der Menschenrechte: Kurze Regionalkapitel, detaillierte Berichte 체ber 160 L채nder. Wer die Welt ver채ndern will, muss sie kennen.
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