Amnesty Journal August/September 2014: "Kein Land in Sicht"

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www.amnesty.de/JournaL

das magazin fÜr die menschenrechte

4,80 euro

amnesty JournaL kein Land in sicht in syrien sind miLLionen menschen auf der fLucht, europa schottet sich ab

russLand die zivilgesellschaft steht unter druck

erzwungene geständnisse in nigeria sind folter und willkür weit verbreitet

»die schutzbefohLenen« elfriede Jelineks flüchtlingsdrama auf der bühne

08/09

2014 august/ september


die amnesty JournaL app – Jetzt auch fÜr android! Mobil und multimedial, mit ausführlichen Bildstrecken und Videos, Podcasts und Online-Aktionen für alle Tablets. Die Amnesty Journal App ist kostenlos. Sie finden sie im App Store und ab sofort auch bei Google Play unter »Amnesty Mag«.

Zeichnung: Mareike Engelke

Weitere Informationen: www.amnesty.de/app


Anton Landgraf ist Redakteur des Amnesty Journals

Foto: Mark Bollhorst / Amnesty

editoriaL

die schönste zeit des Jahres … … führt viele Urlauber in die sonnigen Regionen Europas. Doch dort, wo man sich eigentlich unbeschwert erholen möchte, spielen sich Dramen ab: Vor der griechischen, spanischen oder italienischen Küste riskieren Flüchtlinge ihr Leben, um nach Europa zu gelangen. Kriege, Verfolgung und Armut führen dazu, dass ihre Zahl weiter zunimmt – und damit auch die Zahl derer, für die diese Reise tödlich endet. Hunderte sterben jährlich bei dem Versuch, nach Europa zu gelangen, Unzählige werden gewaltsam zurückgedrängt. Wem die Einreise gelingt, der leidet anschließend unter den häufig menschenunwürdigen Bedingungen in den Ankunftsländern, wie eine Reportage in dieser Ausgabe beschreibt (siehe Seite 26). Und selbst wer es bis nach Deutschland schafft, muss hier oft gegen Vorurteile kämpfen, wie der Beitrag über die Auseinandersetzungen um das Flüchtlingsheim in Berlin-Hellersdorf deutlich macht (siehe Seite 31). Dort hat sich aber auch eine Initiative gebildet, die sich aktiv für die Flüchtlinge einsetzt. Sie können ebenfalls dazu beitragen, den Umgang mit Flüchtlingen zu verändern. Am 26. September startet Amnesty International eine öffentliche Aktion, um einen besseren Schutz für Flüchtlinge zu fordern und um der Opfer an den EU-Außengrenzen zu gedenken. Seien Sie mit dabei: Falten Sie aus dem beigelegten Papier ein Boot und senden Sie es uns zu. Und unterstützen Sie unsere Petition an Bundeskanzlerin Angela Merkel und die EU-Regierungschefs online auf: www.amnesty.de/sos-europa. Beteiligen können Sie sich auch an unserer Kampagne »Stop Folter«, die weiter auf Hochtouren läuft (siehe Seite 42 bis 46). Insbesondere fordert Amnesty International in diesem Zusammenhang die Regierungen weltweit auf, endlich konkrete Schutzmechanismen durchzusetzen, die Folter und Misshandlungen verhindern (www.amnesty.de/safeguards). Nicht zuletzt ein Hinweis in eigener Sache: Die Reportage »Am Ende des Regenbogens« von Johannes Voswinkel (Amnesty Journal 10-11/2013) über Homophobie in Russland wurde für den Felix-Rexhausen-Preis für engagierten Journalismus nominiert. Wir freuen uns sehr über diese Anerkennung und gratulieren dem Autor. Den Text können Sie sich übrigens in der Amnesty Journal-App vorlesen lassen (www.amnesty.de/app).

editoriaL

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inhaLt

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Titelfoto: Ein afghanischer Immigrant schaut in Istanbul auf das Marmarameer. Foto: Daniel Etter / The New York Times / Redux / laif

thema 19 S.O.S. Europa Von Franziska Vilmar

20 Flucht aus Syrien Im August vergangenen Jahres ließ sich der Journalist Carsten Stormer in die belagerte syrische Stadt Zabadani einschmuggeln. Nur mit Hilfe von Fluchthelfern konnte er die Stadt wieder verlassen. Für wenige Tage erlebte er, was für Tausende Syrer Alltag ist: Flucht, Vertreibung, Belagerung.

rubriken 06 Weltkarte 07 Erfolge

24 Auf Kosten der Menschen Während Europa enorme Summen ausgibt, um den Kontinent abzuschotten, spielen sich an den Grenzen menschliche Tragödien ab. Von Franziska Vilmar

10 Panorama

25 Millionen Syrer auf der Flucht

12 Nachrichten

26 Der lange Weg

13 Protokoll: Ensaf Haidar 15 Kolumne: Andreas Behn 59 Rezensionen: Bücher 60 Rezensionen: Film & Musik 62 Briefe gegen das Vergessen 64 Aktiv für Amnesty 65 Selmin Çalışkan über Heilung

Tausende syrische Flüchtlinge versuchen, über die Türkei in die EU zu gelangen. Die meisten scheitern, denn Europa mauert. Von Nicole Graaf

31 Hellersdorf ist überall In Berlin-Hellersdorf kämpften Anwohner so aggressiv wie nirgends sonst gegen eine geplante Flüchtlingsunterkunft. Von Ramin M. Nowzad

34 In der Schwebe Vor zwei Jahren flüchtete Rouzbehan aus dem Iran nach Deutschland. Vor kurzem wurde er als Flüchtling anerkannt. Die lange Zeit der Ungewissheit hat sein Leben verändert. Von Nora Lassahn

Fotos oben: Raphaël Fournier | Mark Bollhorst | Sasha Mordovets / Getty Images | Christian Kleiner / Theater der Welt

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berichte

kuLtur

38 Wer widerspricht, ist ein Agent

52 Prominente Fürbitte

Im Zuge der Ukraine-Krise hat sich die Lage der zivilgesellschaftlichen Organisationen in Russland entscheidend verschlechtert. Von Peter Franck

42 Schlagstöcke und Macheten In Nigeria ist Folter durch Sicherheitskräfte weit verbreitet. Besonders grausam wird sie im Kampf gegen die islamistische Gruppe Boko Haram angewendet. Von Christian Hanussek

44 Geraubter Traum Der Nigerianer Moses Akatugba wurde in der Haft massiv gefoltert und zu einem falschen »Geständnis« gezwungen. Von Daniel Kreuz

45 Licht im Dunkeln Mit der Kampagne »Stop Folter« fordert Amnesty Regierungen weltweit auf, endlich konkrete Schutzmechanismen durchzusetzen, die Folter und Misshandlung verhindern. Von Daniel Kreuz

46 »Alles ist hier exzellent« Monira Rahman gründete in Bangladesch eine Stiftung für Überlebende von Säureattentaten und trug zu einem Bewusstseinswandel bei. Von Bernhard Hertlein

48 »Wir brauchen Schutz« Ein Gespräch mit Alexandre Anderson de Souza, Präsident der brasilianischen Organisation AHOMAR mit Sitz in Magé im Bundesstaat Rio de Janeiro.

inhaLt

Mit dem Theaterstück »Die Schutzbefohlenen« geben Autorin Elfriede Jelinek und Regisseur Nicolas Stemann den Flüchtlingen in der Festung Europa eine Stimme. Von Georg Kasch

54 »Mich stößt dieser Zynismus ab« Bonga Kuenda ist der bekannteste Sänger Angolas. Mit seinem legendären Album »Angola 72« wurde er zur Stimme der Unabhängigkeitsbewegung seines Landes.

56 Theater gegen die Straflosigkeit Mit Stücken über die Situation an der Grenze zu den USA hat das mexikanische Theater »Telón de Arena« national und international auf sich aufmerksam gemacht. Von Knut Henkel

58 Indiens große Widersprüche Zwei Indien-Korrespondenten analysieren in einer Streitschrift Politik und Alltag des Subkontinents. Von Maik Söhler

61 Die Schwester Niasony kam als Kind aus dem Kongo nach Deutschland – ohne den geliebten Bruder, der schon zu alt war, um einreisen zu dürfen. Diese Erfahrungen verarbeitet die Sängerin auf ihrem neuen Album »Afroplastique«. Von Daniel Bax

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itaLien Erst wurden sie von Polizisten ohne Vorwarnung vertrieben, dann walzten Bulldozer ihre Zelte und Hütten nieder: In einem Vorort von Rom ließen die Behörden am 9. Juli eine Roma-Siedlung zwangsräumen und machten damit zahlreiche Familien obdachlos. Mehr als die Hälfte der rund 40 Vertriebenen sind Kleinkinder und Säuglinge. Amnesty International nannte die Räumung eine »eklatante Verletzung internationaler Menschenrechtsnormen«. Den zwangsgeräumten Roma wurden von den Behörden keine brauchbaren alternativen Unterkünfte angeboten. Allein den Frauen und Kindern wurde vorgeschlagen, in eine Notunterkunft umzuziehen – doch wie Amnesty in Erfahrung brachte, ist diese bereits vollständig belegt.

irak Im Irak wurden die Leichen von Angehörigen religiöser Minderheiten aufgefunden, die zuvor gefesselt und misshandelt worden waren. Amnesty International wirft der islamistischen ISIS-Miliz im Irak massenhafte Tötungen und Entführungen von Andersgläubigen vor. Die Menschen im Irak sind in einer »Spirale sektiererischer Gewalt von allen Seiten« gefangen, heißt es in dem Amnesty-Bericht. Hunderttausende Menschen sind vor der Gewalt der Terrormiliz und Luftschlägen der irakischen Regierung geflohen. Nach Recherchen von Amnesty haben alle Seiten in dem Konflikt Kriegsverbrechen begangen und massiv gegen die Menschenrechte verstoßen.

china Polizisten haben in Hongkong 511 Menschen festgenommen, die bei einem Massenprotest mehr Demokratie gefordert hatten. Es war die größte Demonstration seit mehr als einem Jahrzehnt: Zehntausende gingen am 1. Juli in der ehemaligen britischen Kolonie auf die Straße, um gegen die Bevormundung durch die kommunistische Führung in Peking zu demonstrieren. Hongkong wird autonom regiert, anders als im Rest der Volksrepublik herrscht Rede- und Versammlungsfreiheit. Amnesty forderte die unverzügliche Freilassung der Inhaftierten. »Die Proteste waren friedlich und legal«, sagte Mabel Au, Direktorin des Amnesty-Büros in Hongkong. »Der Polizeieinsatz war unnötig – und er schafft einen beunruhigenden Präzedenzfall.«

Ausgewählte Ereignisse vom 10. Juni bis 10. Juli 2014

peru Deutschland und Peru haben Mitte Juli ein Abkommen geschlossen, das eine engere Zusammenarbeit in den Bereichen Rohstoffgewinnung, Industrie und Technologie vorsieht. Amnesty fordert, dass die Bundesregierung die ILO-Konvention 169 über die Rechte der indigenen Völker ratifiziert. Durch den Abbau von Gold, Silber und Kupfer werden in Peru zahlreiche Menschenrechte verletzt. Der indigenen Bevölkerung wird für den Rohstoffabbau Land weggenommen. Sicherheitskräfte gehen brutal gegen Aktivisten vor, die sich gegen Bergbauprojekte engagieren. Die Bundesregierung hat eine Mitverantwortung, dass deutsche Wirtschaftsbeziehungen mit Peru nicht zu solchen Menschenrechtsverletzungen beitragen.

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myanmar Zehn Jahre Haft für einen Zeitungsartikel: Weil sie »Staatsgeheimnisse« verraten haben sollen, hat ein Gericht in Myanmar fünf Journalisten zu einem Jahrzehnt Gefängnis mit schwerer Zwangsarbeit verurteilt. Die Reporter hatten berichtet, dass das Militär in der Stadt Pauk eine geheime Chemiewaffenfabrik betreibe. Die Anlage sei von Mitgliedern der früheren Militärjunta und chinesischen Technikern errichtet worden und stehe unter der Kontrolle des ehemaligen Militärdiktators Than Shwe, der das Land bis 2011 regierte. Amnesty International betrachtet die fünf verurteilten Journalisten als gewaltlose politische Gefangene und fordert ihre sofortige und bedingungslose Freilassung.

maLaysia Nur Muslime dürfen in Malaysia ihren Gott »Allah« nennen. Dies hat das Oberste Gericht des Landes Ende Juni bestätigt. Für die malaysischen Christen ist das Urteil ein Affront, denn auch sie benutzten das Wort seit Jahrhunderten. Bereits im Jahr 2008 hatte die Regierung des südostasiatischen Staats NichtMuslimen untersagt, ihren Gott mit »Allah« anzubeten. Es folgte ein jahrelanger Rechtsstreit, der nun vor dem Obersten Gerichtshof sein Ende fand. Amnesty International protestierte gegen das Urteil: »Das Verbot verletzt das Recht auf Meinungsfreiheit«, sagte Amnestys Malaysia-Expertin Hazel Galang-Folli. »Es ist verstörend, dass Nicht-Muslime strafrechtlich verfolgt werden können, nur weil sie ein bestimmtes Wort in den Mund nehmen.«

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Foto: Amnesty

erfoLge

Kämpfen seit über zwei Jahrzehnten für ihre Rechte. Sawhoyamaxa in Paraguay.

indigene gemeinde erhäLt ihr Land zurÜck Der paraguayische Präsident hat im Juni ein Gesetz in Kraft gesetzt, mit dem der indigenen Gemeinschaft der Sawhoyamaxa 14.404 Hektar des traditionell von ihr besiedelten Landes zurückgegeben werden. Im Gegenzug erhalten die Landbesitzer eine Entschädigung. Dies ist ein großer Erfolg für die Gemeinschaft, die seit mehr als zwei Jahrzehnten um ihr Gebiet kämpft. Das Gesetz war bereits von der Abgeordnetenkammer und dem Senat verabschiedet worden. Mit dem Erlass des Gesetzes hat der Präsident ein deutliches Zeichen gesetzt, dass der Staat Paraguay bereit ist, die Rechte der indigenen Völker zu respektieren und zu schützen.

paraguay

richtige entscheidung aus faLschen grÜnden

Am 3. Juli sprach das Gericht der sambischen Stadt Kapiri Mposhi James Mwape und Philip Mubiana frei, die wegen einer sexuellen Beziehung »entgegen der natürlichen Ordnung« unter Anklage standen. Nach Auffassung des Gerichts konnten keine Beweise gegen die beiden Männer erbracht werden. James Mwape und Philip Mubiana saßen mehr als ein Jahr in Untersuchungshaft. Nach Paragraph 155 des sambischen Strafgesetzbuches begeht jede Person, die Geschlechtsverkehr »entgegen der natürlichen Ordnung« hat, eine Straftat, die mit einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren bis zu lebenslanger Haft geahndet wird. Sowohl James Mwape als auch Philip Mubiana wiesen die Anklagen zurück. Amnesty betrachtete beide Männer als gewaltlose politische Gefangene, die lediglich aufgrund ihrer tatsächlichen oder

sambia

erfoLge

Die Sawhoyamaxa leben seit mehr als zwei Jahrzehnten unter schwierigen Bedingungen auf einem schmalen Streifen direkt an der Landstraße. Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte hat bereits in drei Fällen Urteile gefällt, denen zufolge Paraguay die Rechte der indigenen Völker hinsichtlich ihres angestammten Landes verletzt hat. Damit ist Paraguay der einzige Staat auf dem amerikanischen Kontinent, gegen den der Gerichtshof drei solche Urteile verhängt hat. Bereits 2006 hatte das Gericht die paraguayische Regierung angewiesen, der indigenen Gemeinschaft ihr angestammtes Gebiet zurückzugeben.

vermeintlichen sexuellen Orientierung festgenommen wurden. Neben der Veröffentlichung von Eilaktionen arbeitete Amnesty International mit sambischen Aktivistinnen und Aktivisten vor Ort zusammen, um die Gefangenen zu unterstützen und den Prozess zu beobachten. Amnesty setzte sich außerdem dafür ein, dass die sambischen Behörden die Anklage gegen die beiden Männer fallen lassen. Die Freilassung der Männer ist die richtige Entscheidung, jedoch erfolgte diese aus den falschen Gründen. Die sambischen Behörden müssen ihre Pflicht erfüllen, alle Menschenrechte zu respektieren und zu schützen und die Verfolgung von Personen aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen sexuellen Orientierung oder ihrer Geschlechtsidentität zu beenden.

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Foto: AFP / Getty Images

In der Todeszelle brachte sie ihr Kind zur Welt. Die Sudanesin Meriam Yehya Ibrahim ist dank weltweiter Proteste wieder in Freiheit.

aLbtraum in ketten Meriam Yehya Ibrahim war hochschwanger, als sie im Sudan wegen Abkehr vom islamischen Glauben zum Tode verurteilt wurde. Durch internationalen Druck, der unter anderem von Amnesty mit mehr als einer Million Appelle aufgebaut wurde, konnte die Hinrichtung verhindert werden. Von Daniel Kreuz Entsetzen. Empörung. Fassungslosigkeit. So reagierten wohl die meisten Menschen, als sie das erste Mal von Meriam Yehya Ibrahim erfuhren, an deren Schicksal weltweit Millionen Menschen Anteil nahmen. Denn was die 27-jährige Sudanesin durchmachen musste, klang wie eine Geschichte aus dem finstersten Mittelalter: Am 15. Mai wurde die hochschwangere Christin von einem Gericht in der Hauptstadt Khartum wegen außerehelichen Geschlechtsverkehrs zu hundert Peitschenhieben und wegen Abkehr vom islamischen Glauben zum Tod durch Erhängen verurteilt. Bei der Bekanntgabe des Urteils war die Ärztin im achten Monat schwanger. Ihr erster Sohn, gerade einmal 20 Monate alt, wurde mit ihr inhaftiert. Im Gefängnis musste sie ununterbrochen Fußketten tragen. Das Verfahren gegen sie hatte bereits im August 2013 begonnen, nachdem ein Familienangehöriger ihre Heirat mit einem Christen bei den Behörden gemeldet hatte. Derartige Eheschließungen werden nicht anerkannt, denn nach dem im Sudan geltenden islamischen Recht darf eine Muslimin keinen andersgläubigen Mann heiraten. Meriam Ibrahim wurde daraufhin wegen außerehelichen Geschlechtsverkehrs angeklagt. Nach sudanesischem Recht gilt die Tochter eines muslimischen Mannes als Muslimin. Im Februar 2014 versicherte Meriam Ibrahim jedoch, dass sie Christin und keine Muslimin sei.

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Sie sei als orthodoxe Christin aufgewachsen, nach der Religion ihrer Mutter, weil ihr muslimischer Vater in ihrer Kindheit nicht anwesend gewesen sei. Daraufhin fügte die Staatsanwaltschaft die Anklage »Abkehr vom Glauben« hinzu, worauf die Todesstrafe steht. Nachdem Meriam Ibrahim sich geweigert hatte, ihrem Glauben abzuschwören, verhängte das Gericht in Khartum am 15. Mai das Todesurteil gegen sie. Am 27. Mai musste sie mit Ketten an den Füßen auf der Krankenstation des Frauengefängnisses von Omdurman ihr zweites Kind zur Welt bringen. Währenddessen hatte Amnesty International damit begonnen, sich für Meriam Ibrahim einzusetzen. Innerhalb weniger Tage beteiligten sich weltweit mehr als eine Million Menschen an der Kampagne und schickten EMails, Briefe und Faxe an die sudanesischen Behörden. In vielen Ländern machte der Fall Schlagzeilen, auch andere Organisationen wurden aktiv. Dieser internationale Druck verhinderte die Hinrichtung und führte dazu, dass Meriam Ibrahim mit ihren beiden Kindern am 23. Juni freigelassen wurde, nachdem ein Berufungsgericht das Urteil aufgehoben hatte. Am darauffolgenden Tag wollte Meriam Ibrahim in die USA ausreisen, zusammen mit ihren Kindern und ihrem Ehemann, der auch die US-amerikanische Staatsbürgerschaft besitzt. Doch etwa 40 Angehörige des Geheimdienstes NISS fingen sie ab und warfen ihr vor, gefälschte Papiere verwendet zu haben. Die Familie fand Schutz in der Botschaft der USA, deren Regierung sich bei Redaktionsschluss um die sichere Ausreise bemühte. »Einerseits will ich ausreisen, aber ein Teil von mir will bleiben«, sagte Meriam Ibrahim in einem Interview. »Aber meine aktuelle Lage zwingt mich dazu, das Land zu verlassen. Jeden Tag tauchen neue Probleme auf.«

amnesty JournaL | 08-09/2014


einsatz mit erfoLg Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen mit Appellschreiben an den »Urgent Actions«, den »Briefen gegen das Vergessen« und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz drohende Menschenrechtsverletzungen verhindert und Menschen in Not hilft, zeigen diese Beispiele.

JournaList aus der haft entLassen

ägypten Der Journalist Abdallah Elshamy, der beim arabischen Sender »Al Jazeera« arbeitet, ist am 17. Juni aus der Haft entlassen worden. Er war zehn Monate lang ohne Anklage inhaftiert. Der Staatsanwalt hatte die Freilassung des Journalisten aus gesundheitlichen Gründen angeordnet. Elshamys gesundheitlicher Zustand hatte sich nach einem Hungerstreik stark verschlechtert. Aus demselben Grund ordnete der Staatsanwalt auch die Entlassung von 23 weiteren Gefangenen an. Nach seiner Freilassung sah Abdallah Elshamy seine Familie wieder, die vor der Polizeiwache 1 in Nasr City auf ihn wartete. Er sagte Reportern, dass er all denen dankbar sei, die sich für seine Haftentlassung eingesetzt hatten. Der Journalist war im August 2013 bei der Räumung von Protestcamps der Anhänger des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi festgenommen worden.

internationaLer druck wirkt

freispruch fÜr oppositionsfÜhrer

bahrain Khalil al-Marzouq, ein führendes bahrainisches Oppositionsmitglied, ist vom Vorwurf der Anstiftung zur Gewalt freigesprochen worden. Die Staatsanwaltschaft gab an, das Urteil und die Gründe für den Freispruch prüfen und möglicherweise Rechtsmittel einlegen zu wollen. Gegen Khalil al-Marzouq wurde am 17. September 2013 Anklage erhoben. Der Vorwurf der Anstiftung zur Gewalt stand in Verbindung mit einer regierungskritischen Rede, die er auf einer Kundgebung am 6. September gehalten hatte. Während der Veranstaltung kam ein maskierter Mann auf ihn zu und gab ihm eine weiße Fahne, die Khalil al-Marzouq kurz hochhielt und dann zur Seite legte. Die weiße Fahne wird als Symbol der Bewegung 14. Februar angesehen, eines Netzwerks von Jugendgruppen, das im März 2014 zu einer terroristischen Organisation erklärt wurde. Khalil al-Marzouq hat die Vorwürfe stets bestritten.

todesurteiL aufgehoben

Der chinesische Oberste Volksgerichtshof hat am 23. Juni ein Wiederaufnahmeverfahren im Fall von Li Yan angeordnet. Sie war zum Tode verurteilt worden, weil sie ihren Ehemann nach mona-

china

telanger häuslicher Gewalt getötet hatte. Der Fall von Li Yan hatte starke nationale und internationale Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Frauenrechtlerinnen und Anwälte in China sowie internationale NGOs hatten eine Umwandlung des Todesurteils gefordert. Li Yan hatte ihren Ehemann Tan Yong Ende 2010 erschlagen. Er hatte sie seit ihrer Hochzeit Anfang 2009 körperlich und seelisch schwer misshandelt. Er schlug sie regelmäßig, drückte Zigaretten auf ihrem Gesicht aus und sperrte sie stundenlang bei eisiger Kälte leichtbekleidet auf dem Balkon der gemeinsamen Wohnung aus. In einem Fall schnitt er ihr einen Finger ab. Die Frau wandte sich mehrere Male an die Behörden. Es wurden jedoch keine Ermittlungen eingeleitet und sie erhielt keinen polizeilichen Schutz.

entLassung nach amnestie

syrien Yara Faris ist am 13. Juni aus der Haft entlassen worden. Grundlage dafür war eine Amnestie des syrischen Präsidenten vom 9. Juni. Sie war im vergangenen Dezember von Angehörigen des syrischen Staatssicherheitsdienstes festgenommen und im ’Adra-Gefängnis festgehalten worden, um vor das Antiterrorgericht gestellt zu werden. Laut einer Kontaktperson von Amnesty International vor Ort erreichte Yara Faris ihr Zuhause in Sahnaya, einem Vorort von Damaskus, am Tag ihrer Freilassung. Sie ist eine der wenigen politischen Gefangenen, von denen bislang bekannt ist, dass sie von der Amnestie profitiert haben. Die Kontaktperson dankte allen Menschen, die sich für Yara Faris eingesetzt haben. Alle ihr nahestehenden Personen wüssten diesen Einsatz sehr zu schätzen.

Fotos: RFE / RL, Amnesty

beLarus Der belarussische Menschenrechtsaktivist und Vorsitzende des Menschenrechtszentrums »Viasna« in Minsk, Ales Bialiatski, wurde am 21. Juni 2014 freigelassen. Er wurde im Rahmen einer Amnestie entlassen, nachdem er bereits drei Jahre seiner vierjährigen Gefängnisstrafe abgesessen hatte. Beim emotionalen Wiedersehen mit seiner Familie am

Bahnhof von Minsk sagte er: »Die Entlassung kam völlig unerwartet. Ich war gerade dabei, meiner Gefängnisarbeit nachzugehen, da setzten sie mich in einen Zug nach Minsk. Ich bin überzeugt, dass meine Freilassung vor meinem Haftende durch nationalen und internationalen Druck bewirkt wurde.« Amnesty hatte sich in mehreren Kampagnen für die Freilassung von Ales Bialiatski eingesetzt.

»Völlig unerwartet.« Der Belarusse Ales Bialiatski ist wieder frei.

erfoLge

Darf wieder hoffen. Ein Gericht hat Li Yans Hinrichtung vorerst gestoppt.

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panorama

Foto: George Esiri / EPA / pa

nigeria: sheLL muss entschädigung zahLen

Ein britisches Gericht hat den niederländischen Ölkonzern Shell für eine der größten Umweltkatastrophen in der Geschichte Nigerias verantwortlich gemacht. Im Jahr 2008 war aus einer Pipeline des Konzerns Öl in das Nigerdelta ausgeströmt. Tausende Fischer verloren ihre Lebensgrundlage. Shell hatte stets darauf beharrt, für die Umweltverschmutzung nicht verantwortlich zu sein, da Öldiebe das Leck verursacht hätten. Das Gericht sah hingegen den Konzern in der Pflicht, seine Pipelines vor Sabotageakten zu schützen. Amnesty nannte das Urteil einen »Meilenstein«, da es den »Weg ebnet, Shell für die verheerende Ölverschmutzung im Nigerdelta zur Rechenschaft zu ziehen«. Die Menschenrechtsorganisation fordert Shell seit Jahren dazu auf, die Fischer des Nigerdeltas finanziell zu entschädigen.

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tÜrkei: gewaLttätige poLizisten kommen ohne strafe davon

Ein Jahr nach dem Beginn der Gezi-Proteste in Istanbul zieht Amnesty eine bittere Bilanz: Während gewalttätige Polizisten ohne Strafe davonkommen, landen friedliche Demonstranten auf der Anklagebank. Dies zeigt ein neuer Bericht, den Amnesty-Generalsekretär Salil Shetty im Juni in der türkischen Hauptstadt vorstellte. Mehr als 5.500 Menschen stehen derzeit in der Türkei vor Gericht, weil sie Protestkundgebungen organisiert oder an ihnen teilgenommen haben sollen. Dagegen wurden bisher lediglich neun Polizisten angeklagt, obwohl die Polizei routinemäßig mit unverhältnismäßiger Gewalt gegen Demonstranten vorging. Tausende wurden verletzt, mindestens vier Menschen kamen durch Polizeigewalt ums Leben. Foto: Daniel Etter / Redux / laif

panorama

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die zeit nach mursi Ein Jahr nach dem Sturz von Präsident Mursi ist die Menschenrechtslage in Ägypten katastrophal. Amnesty dokumentierte in den vergangenen zwölf Monaten einen massiven Anstieg willkürlicher Festnahmen, Inhaftierungen sowie erschütternder Vorfälle von Folter und Tod in Polizeigewahrsam. Nach Angaben von »WikiThawra«, einer vom Ägyptischen Zentrum für wirtschaftliche und soziale Rechte geleiteten Initiative, kamen im vergangenen Jahr 80 Menschen in der Haft ums Leben. 40.000 Menschen wurden zwischen Juli 2013 und Mitte Mai 2014 inhaftiert oder angeklagt. Berichte über Folter und Verschwindenlassen in Haftanstalten der Polizei und des Militärs sind weit verbreitet. »Ägyptens berüchtigter Geheimdienst, der inzwischen ›Nationaler Sicherheitsdienst‹ heißt, ist personell sehr gut ausgestattet und wendet dieselben Folterund Misshandlungsmethoden an, die in den dunkelsten Stunden der Mubarak-Ära üblich waren«, sagte Amnestys NahostExpertin Hassiba Hadj Sahraoui.

nachrichten

dÜsterer geburtstag

Gerade drei Jahre ist es her, dass der Südsudan gegründet wurde. Der jüngste Staat der Welt erlebt seither düstere Zeiten. Im vergangenen Dezember eskalierte ein politischer Streit zwischen Anhängern des Präsidenten Salva Kiir, die hauptsächlich der Ethnie der Dinka angehören, und den Anhängern des ehemaligen Vize-Präsidenten Riek Machar, der von Angehörigen der Nuer und verbündeten Milizen unterstützt wird. Der Konflikt hat mittlerweile eine deutliche ethnische Dimension angenommen: Bei-

sÜdsudan

Foto: Amr Abdallah Dalsh / Reuters

ägypten

Blutige Bilanz. Ägyptische Sicherheitskräfte bei einer regierungskritischen Demonstration in Kairo.

de Seiten greifen gezielt Mitglieder der jeweils anderen ethnischen Gruppe an. Ein aktueller Amnesty-Bericht dokumentiert Aussagen von Überlebenden der Massaker, von Opfern sexueller Gewalt und von Zeugen des Konflikts, der mehr als eine Million Menschen zur Flucht gezwungen und den neuen Staat an den Rand einer humanitären Katastrophe geführt hat. Zivilisten werden systematisch nicht nur in Städten, Dörfern und Häusern angegriffen, sondern auch in Kirchen, Moscheen, Krankenhäusern und

sogar UNO-Stützpunkten, in denen sie Zuflucht suchten. »Den Kräften auf beiden Seiten sind die grundlegendsten Prinzipien internationaler Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts völlig gleichgültig. Diejenigen, die auf beiden Seiten des Konflikts für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich sind, müssen zur Rechenschaft gezogen werden«, sagte Michelle Kagari, die stellvertretende Regionaldirektorin für Ostafrika bei Amnesty International.

Foto: International Criminal Court / NYT / Redux / laif

kongoLesischer warLord in den haag verurteiLt

Zwölf Jahre Haft. Rebellenführer Katanga vor Gericht in Den Haag.

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dr kongo Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag hat Ende Mai den kongolesischen Rebellenführer Germain Katanga wegen Beihilfe zu Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt. Der heute 35-Jährige soll vor elf Jahren an dem Überfall auf das Dorf Bogoro im Osten der Demokratischen Republik Kongo beteiligt gewesen sein. Mehr als 200 Menschen, darunter viele Kinder, wurden damals von Rebellen mit Macheten niedergemetzelt. Das Strafgericht sprach Katanga jedoch von dem Vorwurf frei, Kindersoldaten rekrutiert und Mädchen als Sexsklavinnen missbraucht zu haben.

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»Freiheit für Raif!« Auf der ganzen Welt solidarisieren sich Menschen, wie hier in Kanada, mit dem inhaftierten saudi-arabischen Aktivisten Raif Badawi.

protokoLL ensaf haidar

Seit zwei Jahren befindet sich Raif Badawi im Gefängnis. Sein Vergehen: Er soll ein Online-Forum zum öffentlichen Meinungsaustausch gegründet und den Islam beleidigt haben. Deshalb verbüßt er nun eine zehnjährige Haftstrafe, zu der er neben 1.000 Peitschenhieben und einer hohen Geldstrafe verurteilt wurde. Badawi ist verheiratet und hat drei Kinder. Seine Ehefrau Ensaf Haidar setzt sich beharrlich für seine Freilassung ein. Sie hat an Amnesty geschrieben, wie sie die Zeit seit seiner Festnahme erlebte. Im Folgenden dokumentieren wir ihren Brief. »Ich halte noch immer an der Illusion fest … zwei Jahre sind vergangen und ich verspüre immer noch eine ungeheure Leere und stelle mir eine Reihe quälender Fragen. Wann wird er zurück sein und in welchem Zustand? Was ziehe ich an und wie werde ich reagieren? Soll ich ihn umarmen, ihn küssen oder soll ich weinen? Wenn ich aufwache, erleide ich als Erstes die Qual, die Fragen unserer Kinder beantworten zu müssen. Sie fragen zum Beispiel: »Mama, gehen wir morgen ohne Papa, wenn wir aus Beirut nach Kanada fliegen? Werde ich Angst vor dem Fliegen haben? Papa hat mir immer geholfen, meine Angst zu überwinden.« Letztendlich gab ich der zunehmenden Beharrlichkeit meiner drei Engel nach, die nicht aufhörten, mich mit Fragen über den Grund für die lange und seltsame Abwesenheit ihres Vaters zu löchern. Ohne es zu wollen, sagte ich ihnen, dass er wegen eines Problems mit der saudischen Regierung nicht ins Ausland reisen dürfe. Das führte bloß zu noch mehr Fragen und ich wünschte mir schließlich, ich hätte gar nicht erst geantwortet. Vor kurzem wurde ich frühmorgens von einem Anruf geweckt. Es war einer von Raifs Freunden, der am 7. Mai 2014

nachrichten

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protokoLL

Foto: Amnesty

»was zähLt ist, dass er wiederkommt« Raifs Gerichtsverfahren in Riad beigewohnt hatte. Ohne weitere Umschweife sagte er – mit heiserer, trauriger Stimme – dass sie Raifs ursprüngliches Strafmaß von sieben Jahren und 600 Peitschenhieben erhöht hatten. Ich legte auf. Angst und Anspannung überwältigten mich und ich brach in Tränen aus. Ich nahm mich zusammen und erinnerte mich, dass Raif mir versprochen hatte, zurückzukehren – ich weiß nicht wann, aber er hat mir versprochen, er würde zurückkehren! Bei jeder Gelegenheit wiederhole ich die gleiche Botschaft an die saudische Regierung. Sie wissen ganz genau, dass Raif kein Straftäter ist, sondern ein gewaltloser politischer Gefangener. Die Behörden müssen die internationalen Abkommen einhalten, die die freie Meinungsäußerung garantieren. Ich frage mich, ob sie meinen Worten jemals Beachtung schenken werden. Bis unser geliebter Ehemann und Vater zurückkehrt, möchte ich, dass meine Kinder versuchen, so normal wie möglich zu leben. Daher flohen wir aus Saudi-Arabien und erreichten vor kurzem Kanada, nach einer Reise über Kairo und Beirut. Ich bin voller Dankbarkeit gegenüber all denjenigen, die Raif und mich unterstützen. Insbesondere Amnesty International – eine der bedeutendsten Menschenrechtsbewegungen weltweit, die in all ihren Sektionen so große Anstrengungen unternommen hat. Ich danke den Aktivisten und Unterstützern von Amnesty und ich danke Raif, der mir beibrachte, durchzuhalten, beharrlich zu sein und den Kampf für seine Rückkehr fortzusetzen. Er wird wahrscheinlich nicht bald zurückkehren können, doch ich werde ihn eines Tages wiederhaben, denn das hat er mir versprochen und deshalb besteht daran kein Zweifel. Was zählt ist, dass er wiederkommt und das Leben mit Freude, Liebe und Tatendrang erfüllt. Dann wird die Illusion zur Realität.«

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schikanen im studium

Studentischen Aktivisten wird an iranischen Universitäten das Leben schwer gemacht. Dasselbe gilt für kritische Dozierende, aber auch für Frauen und religiöse Minderheiten. Universitäre Curricula werden zudem zur Verhinderung »westlicher« Einflüsse islamisiert. Ein neuer Bericht von Amnesty belegt, wie im Iran Studierende und Akademiker wegen ihrer friedlichen Aktivitäten, ihrer Ansichten oder ihres Glaubens verfolgt, schikaniert und am Studieren oder Unterrichten gehindert wurden. Er zeigt weiter, wie Frauen und religiöse Minderheiten im höheren Bildungssystem systematisch diskriminiert werden. »Iranische Universitäten galten lange Zeit als Brutstätte von Dissidenz«, erläutert Hassiba Hadj Sahraoui, stellvertretende Leiterin des Nahost- und Nordafrika-Programms von Amnesty. »Entsprechend hart griffen die iranischen Behörden durch – mit einer Politik der Nulltoleranz gegen jegliche als abweichend wahrgenommene Stimme unter Studierenden oder Dozierenden. Es reichte

schon, sich kritisch zu äußern oder oppositionelle Politiker zu unterstützen, um umgehend entlassen, verhaftet, gefoltert oder eingesperrt zu werden.« Selbst die Geheimdienste wurden eingeschaltet, um Disziplinarverfahren an Hochschulen zu überprüfen. Für Gedanken- und Meinungsfreiheit blieb an den iranischen Universitäten nicht mehr viel Platz. Insbesondere nach der Wahl von Mahmud Ahmadinedschad im Jahr 2005 wurden akademische Curricula zunehmend »islamisiert«. Es wurden Maßnahmen eingeführt, um die Zahl der Frauen an Universitäten zu reduzieren – im Jahr 2002 waren mehr als die Hälfte der Studierenden an höheren Bildungseinrichtungen weiblich. Unter dem neuen Präsidenten Hassan Rohani wurden zwar einige dieser Maßnahmen gelockert. Doch die akademische Freiheit ist weiter stark eingeschränkt. Wiederkehrende »Islamisierungswellen« halten viele Frauen vom Studium ab, und auch religiöse Minderheiten wie die Baha’i werden am Studieren gehindert.

Foto: Newsha Tavakolian / Polaris / laif

iran

Kein Ort für Meinungsfreiheit. Hörsaal der Tarbiat Modares-Universität in Teheran.

mord an menschenrechtsaktivistin

Salwa Bugaighis hatte sich am Aufstand gegen Muammar al-Gaddafi beteiligt und nach dem Ende seiner Regierung versucht, die zivilgesellschaftlichen Kräfte in Libyen zu stärken. Aufgrund ihres Eintretens für Frauenrechte wurde sie zuletzt von fundamentalistischen Gruppen angefeindet. Am 25. Juni ermordeten unbekannte Täter sie in ihrer Wohnung, ihr Mann wurde vermutlich verschleppt.

Libyen

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»Der skrupellose Mord an Bugaighis raubt der libyschen Gesellschaft eine ihrer mutigsten und meistgeschätzten Persönlichkeiten«, sagte Hassiba Hadj Sahraoui, stellvertretende Leiterin des Nahost- und Nordafrika-Programms von Amnesty. Amnesty verlangt von den libyschen Behörden, den Mord an Bugaighis »vollständig, unabhängig und unvoreingenommen« aufzuklären. Die Täter müssen zur Verantwortung gezogen werden.

schutz fÜr die ziviLbevöLkerung israeL/paLästinensische autonomiegebiete Die israelische Armee

und die bewaffneten palästinensischen Gruppen im Gazastreifen, darunter der militärische Flügel der Hamas, müssen für den unbedingten Schutz der Zivilbevölkerung sorgen. »Alle Seiten des Konflikts sind auf der Grundlage des humanitären Völkerrechts dazu verpflichtet, das Leben von Zivilpersonen zu schützen, die von den Kampfhandlungen betroffen sind«, erklärte Philip Luther, Leiter des Nahost- und Nordafrika-Programms von Amnesty International. Wahllose Luftschläge der israelischen Armee auf dicht besiedelte Gebiete oder direkte Angriffe auf Wohnhäuser führten unvermeidlich zum Tod von Zivilpersonen und stellten damit einen Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht dar. »Aber auch der wahllose Abschuss von Raketen durch bewaffnete palästinensische Gruppen in Gaza ist ein Kriegsverbrechen, das Menschen auf beiden Seiten der Grenze in Lebensgefahr bringt«, sagte Luther. Alle wahllosen Raketenangriffe durch diese Gruppen müssten sofort eingestellt werden. Die Zivilbevölkerung in Israel und im Gazastreifen habe schon viel zu viel Leid, Blutvergießen und Tod erlitten, ohne dass jemand dafür zur Verantwortung gezogen wurde. Beide Konfliktparteien hätten in den bewaffneten Konflikten unzählige Male gegen Menschenrechtsabkommen und das humanitäre Völkerrecht verstoßen.

Seit einiger Zeit nehmen die Drohungen islamistischer Milizen gegen Journalistinnen und Menschenrechtsaktivistinnen zu, es kommt immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen. »Wenn es den Behörden nicht gelingt, den Mord an Bugaighis aufzuklären, etablieren sie eine Kultur der Straflosigkeit und Gesetzlosigkeit. Sie fördern damit künftige Morde und Angriffe gegen Aktivisten und Aktivistinnen«, erklärte Hassiba Hadj Sahraoui.

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Zeichnung: Oliver Grajewski

koLumne: andreas behn

weder aufstand noch trauma

Die Fußball-WM hat Brasilien verändert. Kein radikaler Umbruch, auch keine direkte Auswirkung des Sports auf die Politik. Doch das angebliche Land des Fußballs ist nicht mehr dasselbe wie vorher. Die Proteste des vergangenen Jahres, aber auch die Tatsache, dass die schmachvolle Niederlage gegen Deutschland kein neues Trauma ausgelöst hat, deuten auf gesellschaftliche Veränderungen hin, die zwar schwer einzuschätzen, aber durchweg positiv sind. Dass die erwartete Fortsetzung der Proteste während der WM nicht stattfand, ändert nichts an ihrer Sprengkraft für die politische Landschaft im größten Land Lateinamerikas. Aus zahlreichen Gründen gingen die Menschen nicht mehr auf die Straße: Angst vor der angedrohten Polizeigewalt, Unlust auf Randale des Schwarzen Blocks, Gastfreundschaft und Spaß am Fußball. Doch die Kritik an unnützen Milliardeninvestitionen, am Buckeln vor der FIFA-Arroganz und an den sozialen Missständen war dennoch präsent. Es kam einfach keine richtige Begeisterung auf, irgendetwas stimmte an dieser WM, an der Inszenierung von Brot und Spielen nicht. Auch wenn plötzlich alle schrieben, es sei doch ein umjubeltes Fußballfest geworden, stimmt dies nur insofern, als dass die Fans aus aller Welt die Party schmissen und dass packender Fußball geboten wurde. Die Brasilianer aber waren keine Protagonisten, nicht auf dem Spielfeld und auch sonst nicht. Die Proteste waren vieles, nur kein sozialer Aufstand. Sie wurden von der Mittelschicht getragen, die nach Jahren des wirtschaftlichen Aufschwungs und erfolgreicher Sozialpolitik einforderte, was die Regierung bisher nicht erreicht hat: Dass das Land zusammenwächst, dass das viele Geld für bessere öffentliche Dienstleistungen verwendet wird, anstatt dass es in den Taschen korrupter Politiker verschwindet. Die vielzitierte Meinung der Straße lässt sich auch nicht in ein Links-Rechts-Schema einordnen, dafür war das Spektrum der Forderungen zu vielfältig. Beeindruckend auch, dass alle Versuche der Parteipolitik, die Proteste und die WM für sich zu vereinnahmen, scheiterten. Zuerst versuchte die Rechte, die Protestwelle einseitig gegen die Regierung und Präsidentin Dilma Rousseff zu wenden. Danach malten Presse und Opposition ein Scheitern der WM aufgrund organisatorischer Mängel und »Unfähigkeit« der Regierung an die Wand. Doch ab dem Anpfiff konnte Rousseff zurecht damit protzen, dass alles bestens lief. Sogar die unflätigen Buhrufe im Stadion gegen sie fielen eher auf das Publikum zurück: Den ausschließlich weißen Oberschichtlern wurde zu Recht vorgeworfen, dass sie keine echten Fans seien und die Mannschaft im Stich gelassen hätten. Bei der dramatischen Niederlage gegen Deutschland im Halbfinale war das Trauma von 1950 plötzlich wieder in den Köpfen, das einen Minderwertigkeitskomplex verursacht hat, der die Kultur bis heute prägt. Doch schon vor dem Ende des Spiels quollen die sozialen Netzwerke über vor grandiosem Humor und genüsslicher Selbstironie. Traurig und peinlich, ja! Aber wieder war zu spüren, dass diese WM nicht die WM der Brasilianer war, dass die FIFA und die Regierung ihnen den Spaß an dem Fußball-Fest schon lange vorher genommen hatten, dass sie von dieser WM von vornherein ausgeschlossen waren – also auch von der bitteren Schmach. Es ist unwahrscheinlich, dass nach der WM die Proteste plötzlich wieder aufflammen. Im Oktober stehen Wahlen an, die Politik wird pragmatischer. Insbesondere die traditionellen sozialen Bewegungen und die Gewerkschaften, die noch vor der WM mit Streiks und Demonstrationen der Regierung zahlreiche Zugeständnisse abrangen, setzen jetzt trotz aller Kritik auf den Schulterschluss mit der Arbeiterpartei von Rousseff, um einen Sieg der Rechten zu verhindern. Doch die Politiker sind gewarnt. Es hat eine Politisierung stattgefunden, die jederzeit wieder in druckvolle Unmutsäußerungen umschlagen kann. Andreas Behn ist Auslandskorrespondent und lebt in Rio de Janeiro.

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Thema: Flucht

Sie hoffen auf eine bessere Zukunft und riskieren dafür ihr Leben. Immer mehr Menschen versuchen, aus Kriegsgebieten wie Syrien zu entfliehen. Doch selbst wenn die gefährliche Reise nach Europa gelingt, warten dort oft neue Probleme: Rassistische Vorurteile und bürokratische Torturen.

Zerstörte Häuser, Autowracks, Schutt. Aleppo, kurz nach einem Luftangriff. 7. Juli 2014 Foto: Zein Al-Rifai / AFP / Getty Images

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Millionen Syrer fliehen aus ihrem Land. Flüchtlingscamp Zaatari in Jordanien.

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Foto: Warrick Page / Redux / laif

S.O.S. Europa

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»Wir, das heißt Deutschland und auch Europa, tun viel – aber nicht so viel, wie es uns selbst manchmal scheint«, sagte Bundespräsident Joachim Gauck beim 14. Berliner Symposium zum Flüchtlingsschutz Ende Juni 2014. Bei einem Treffen der Innenminister aller EUMitgliedsstaaten, das kurz darauf stattfand, wurde diese kritische und zugleich auffordernde Einschätzung nicht geteilt. Stattdessen proklamierte der deutsche Innenminister De Maizière »eine Asylpolitik, die schon ansetzt, bevor Menschen die gefährliche Überfahrt wagen, in Herkunftsländern wie Eritrea oder in Transitländern wie Libyen.« Wie gefährlich eine solche Politik ist, stellt Amnesty International in seinem aktuellen Bericht »The human cost of fortress Europe« dar (siehe Seite 24). Auch dem dringenden Wunsch Italiens, die gesamte EU solle sich an der Operation »Mare Nostrum« im Mittelmeer beteiligen, da das Land nicht länger auf eigene Kosten und ohne jegliche Unterstützung Bootsflüchtlinge aus Seenot retten will, wurde eine Absage erteilt. Amnesty fordert eine Kehrtwende der europäischen Abschottungspolitik. Damit Migranten und Flüchtlinge nicht länger vor den Toren Europas sterben oder rechtlos in Transitländern in der Falle sitzen, hat die Organisation die Kampagne »S.O.S. Europe« gestartet. Um den entscheidenden Druck aufzubauen, brauchen wir für unsere aktuelle Petition an Bundeskanzlerin Merkel (www.amnesty.de/sos-europa) jede Unterschrift – auch Ihre! Franziska Vilmar ist Expertin für Asylpolitik der deutschen Amnesty-Sektion.

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Flucht aus Syrien

Im August vergangenen Jahres ließ sich der Journalist Carsten Stormer in die belagerte syrische Stadt Zabadani einschmuggeln. Nur mit Hilfe von Fluchthelfern konnte er die Stadt wieder verlassen. Für wenige Tage erlebte er, was für Tausende Syrer Alltag ist: Flucht, Vertreibung, Belagerung.

Angst, die alles durchdringt. Bewohner suchen Schutz, nachdem ihr Dorf von der syrischen Artillerie beschossen wurde.

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Foto: Carsten Stormer

pätestens, als ich bäuchlings im Uferschlamm lag, war mir klar, dass ich ziemlich tief in der Scheiße steckte. »Pst«, machte der Anführer der syrischen Rebellengruppe und legte seinen Finger auf die Lippen. »Was ist los?«, flüsterte ich. Mich rechtzeitig zu informieren, war nicht unbedingt die Stärke meiner Begleiter. Meistens erfuhr ich Dinge erst, nachdem sie geschehen waren. Der Vollmond warf ein silbernes Licht auf die Aprikosenhaine und den Tümpel, in dem wir lagen. »Hinterhalt«, wisperte der Mann mit der Handgranate und zeigte in die Dunkelheit. Ich konnte nichts erkennen. Eine Falle? Schon beim Gedanken daran wurde mir übel, kroch die Angst hoch und meine Zähne schlugen so heftig aufeinander, dass ich fürchtete, das Geklapper könnte uns verraten. Im Unterholz raschelte es. Keine hundert Meter vor uns schälten sich Gestalten aus der Nacht. Drei, vier, sieben Personen zählte ich. Sie kamen auf uns zu, ganz langsam. Die Rebellen legten ihre Kalaschnikows an, zielten, bereit zu schießen. Ich hielt die Luft an, spürte meinen Herzschlag in den Ohren, fühlte mich elend, klein, verletzlich und vor allem hilflos. Was zum Teufel machte ich hier? Nach ein paar Metern drehten die syrischen Soldaten ab und ich hörte nur noch ihre Schritte. Dann waren sie fort. Um sicherzugehen, blieben wir noch eine gefühlte Ewigkeit unbeweglich liegen. Dann sondierte ein Späher die Lage. Nach einer weiteren halben Stunde kehrte er zurück. Die Luft sei rein. Erleichterung, Männer kicherten und verscheuchten mit Witzen die Anspannung. »Na, Journalist, Angst gehabt?« Ja verdammt, sehr witzig. Drei Monate hatte ich diese Reise geplant, vorbereitet, mit Aktivisten der syrischen Untergrundbewegung geskypt, Routen gecheckt, verhandelt, Übersetzer gesucht. Ich wollte in die Stadt Zabadani (siehe Amnesty Journal 10-11/2013). Der ehemalige Luftkurort, dreißig Kilometer von Damaskus entfernt, war seit mehr als zwei Jahren eingekesselt von der syrischen Armee. Zabadani war die erste syrische Stadt, die »befreit« wurde. Das war im Januar 2012. Aber frei ist hier niemand. Denn seitdem ist Zabadani eingekesselt. Auf den Bergen rings um die Stadt stehen Panzer und Artilleriestellungen der Armee, die unaufhörlich die Stadt beschießen; siebzig, achtzig Granaten täglich. Zabadani ist zu achtzig Prozent verwüstet und die wenigen verbliebenen Bewohner suchen Zuflucht in den Kellern und Erdgeschossen. Meine Reise begann in der libanesischen Hauptstadt Beirut. Von dort fuhren mich syrische Aktivisten mit dem Auto an die Grenze, wo mich eine Gruppe Schmuggler erwartete. Ab da hieß es: Laufen. Eine andere Möglichkeit, nach Zabadani zu kommen als zu Fuß, gab es nicht. Stunde um Stunde wanderten wir durch Obstplantagen, entlang stillgelegter Gleise, robbten an einem Checkpoint der Armee vorbei, so nahe, dass ich Soldaten lachen hörte. Wir sprinteten über eine Landstraße, wir hetzten bergauf,

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»Na, Journalist, Angst gehabt?« Ja verdammt, sehr witzig. 21


Zabadani

bergab. Zwischendurch verlor unser Führer die Orientierung. An einem zerstörten Haus auf einem Gipfel musste ich mich vor Erschöpfung übergeben. In der Ferne hörte ich das dumpfe Knallen von Panzergranaten. »Zabadani!«, sagte einer der Schmuggler und deutete mit dem Finger nach Süden, wo die Explosionen den Nachthimmel wie zuckende Blitze erleuchteten. Um fünf Uhr morgens erreichten wir endlich die eingekesselte Stadt. Am Stadtrand warteten Rebellen auf Motorrädern. Der Morgen graute. Im Licht des anbrechenden Tages fuhren wir durch eine Ruinenlandschaft. Links und rechts zerstörte Häuser, Panzerwracks, Schuttberge. Zwei Wochen lebte ich mit den Eingeschlossenen in der Stadt. Ich berichtete über einen Arzt, der Verwundete nur zu Hause behandeln kann, weil sein Krankenhaus bombardiert wird. Ich begleitete drei junge Menschen, die eine Zeitung gegründet hatten, in der sie sowohl das Regime als auch die Rebellen kritisierten und sich damit auf beiden Seiten unbeliebt machten. Oft konnte ich das Haus meines Gastgebers nicht verlassen, weil der Beschuss aus den Bergen so heftig war und Granaten in unmittelbarer Nähe einschlugen. Und ich merkte nicht, dass die syrische Armee in diesen Tagen damit begonnen hatte, den Belagerungsring um die Stadt immer enger zu ziehen. Hisbollah-Kämpfer und irakische Milizen verstärkten die syrischen Soldaten in den Bergen rings um Zabadani. Sie schnitten die Versorgungswege und Fluchtrouten der Rebellen ab. Bald würde es unmöglich sein, in die Stadt zu gelangen – oder aus ihr herauszukommen.

»human rights camp« in buLgarien Viele kleine Botschaften erzeugen Druck und können Veränderung bewirken. Diese Überzeugung bestimmte den Auftakt des dritten »Human Rights Camps«, das dieses Mal vom 12. bis 19. Juli in der Nähe der bulgarischen Hauptstadt Sofia stattfand. »Multiply! – Kommuniziert, macht Tweets, macht Posts«, forderten die Veranstalter die 80 Teilnehmer aus 30 Ländern immer wieder auf. Mit dem Camp will Amnesty International auf die katastrophale Situation von Flüchtlingen an den EU-Außengrenzen aufmerksam machen. In den vergangenen Jahren trafen sich die Amnesty-Aktivistinnen und Aktivisten auf der griechischen Insel Lesbos und auf Lampedusa in Italien. Weitere Informationen unter: blog.amnesty.de.

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Erst als es schon fast zu spät war, bemerkte ich meinen Fehler. Höchste Zeit, Zabadani zu verlassen. Doch kaum jemand wollte das Wagnis eingehen, den Belagerungsring zu durchbrechen. In der dritten Nacht hielt ein Pritschenwagen. »Schnell, schnell«, rief mein Gastgeber. »Steig ein, niemand darf dich sehen.« Auf der Ladefläche des Pritschenwagens kauerten bereits fünf Rebellen mit Kalaschnikows – die Eskorte, die uns auf der Flucht begleiten würde. Hinzu kamen zwei Schmuggler, die uns über Schleichwege über die Berge in den Libanon bringen sollten, und fünf schweigsame junge Männer. Es waren Flüchtlinge, die zu ihren Familien in den Lagern des Libanon wollten. Ihre Namen würde ich nie erfahren, sie wollten anonym bleiben. Je weniger wir voneinander wussten, desto sicherer. Zwei sprachen ein bisschen Englisch. Einer von ihnen war Student der Geschichte in Damaskus. Der andere führte in der Stadt Yabroud den Lebensmittelladen seiner Eltern weiter, die schon zu Beginn des Krieges geflohen waren. Als es nichts mehr zu verkaufen gab und die Granaten der Armee immer näher kamen, beschloss er, Syrien zu verlassen. Beide hatten nur ein Ziel: Die libanesischen Flüchtlingslager. Raus aus Syrien. Sicherheit. Was danach kommen würde, wussten sie nicht. Wir fuhren auf einem Feldweg durch die Nacht, teilten uns unterwegs Zigaretten. Schließlich erreichten wir den Fuß eines Berges. Uns verband der Wunsch, Syrien zu verlassen und die nächsten Tage zu überleben. Die Risiken dieser Flucht waren unkalkulierbar. Wir mussten Dutzende Checkpoints umgehen, um die Belagerung zu durchbrechen. Erst zwei Tage zuvor war eine Gruppe von Flüchtlingen in einen Hinterhalt der Armee geraten; drei Menschen wurden erschossen, der Rest gefangen genommen. Nur mit viel Überzeugungsarbeit und Geld ließen sich die Schmuggler überreden. An das, was in den nächsten zwei Tagen geschah, erinnere ich mich nur noch verschwommen. Nur eines weiß ich bis heute: Ich hatte Angst. Eine Angst so durchdringend, dass sie mich lähmte und alles andere überlagerte. Begleitet von einem brennenden Gedanken: Überleben. Meine Aufgabe als Journalist hatte ich längst aufgegeben. Ich hatte keine Ahnung, wie lange unsere Flucht dauern würde. Ich wusste nur, dass ich am Ende dieser Reise entweder tot, verwundet, gefangen oder in Sicherheit sein würde. Das war alles, an was ich denken konnte. In dieser Zeit erlebte ich am eigenen Leib, was die Hunderttausende Syrer durchgemacht haben und noch immer durchmachen, die das Risiko auf sich nehmen, aus ihrer Heimat zu fliehen. In der ersten Nacht liefen wir neun Stunden. Immer in eine Richtung: bergauf. Kurz hinter Zabadani verließen wir die Feldwege und kletterten steile Berghänge empor. Einmal erfasste uns ein Suchscheinwerfer und wir mussten uns hinter einem Felsen verstecken. Ein Schuss zerriss die Stille und eine Kugel schlug links von uns in einen Felsen. Mein Herz klopfte so stark, dass ich Schwierigkeiten hatte, Luft zu bekommen. Einer der Flüchtlinge vergrub sein Gesicht in den Händen und weinte. Andere beteten. Unsere Eskorte schwärmte aus, die Gewehre im Anschlag. Die Angst hatte nicht nur meinen Geist ergriffen, sondern auch meinen Körper. Ich konnte mich kaum bewegen, hatte jede Kraft verloren. Ich hielt unsere Gruppe auf und brachte sie damit in Gefahr. Ich schämte mich dieser Schwäche, ich fühlte mich hilflos wie ein kleines Kind, das seine Mutter verloren hat. »Du schaffst das«, sagte der Student aus Damaskus und zog mich hoch. »Halte Dich an mir fest!« Während er mich an seinem Gürtel den Hang hochzog, schob von hinten der Lebensmittelhändler. Ein anderer schleppte meinen Rucksack. Ein

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Schmuggler trug meine Kameraausrüstung. So kamen wir voran. Auf dem Gipfel eines Berges ruhten wir uns aus, teilten Kekse und ließen die Wasserflasche kreisen. Der Student klopfte mir auf die Schulter und lächelte. Ein kalter Wind pfiff. Nach einer Weile schälte sich eine Gestalt aus der Dunkelheit und wir wurden einem anderen Schmuggler übergeben. Auch unsere Eskorte verabschiedete sich und kehrte nach Zabadani zurück. »Yalla! Yalla!«, zischte mir der unbekannte Schmuggler ins Ohr, der sein Gesicht hinter einer Maske versteckte. »Vorwärts!« Es war eine wolkenverhangene Nacht und wir taumelten in absoluter Dunkelheit die Berghänge hinunter, fielen hin, schlugen uns Arme und Knie auf. Pausen erlaubte uns unser Führer nicht. Kurz vor der Morgendämmerung erreichten wir eine Kleinstadt. »Siehst du die Lichter dort drüben«, fragte mich der Student. »Das ist der Libanon, dort müssen wir hin.« So nah und doch so weit entfernt. Wir versteckten uns in einer Obstplantage, bis eine Gruppe Männer mit Motorrädern auftauchte. Wir sprangen auf und sie brachten uns in ein Schutzhaus syrischer Aktivisten am Stadtrand. Auch hier erfuhr ich nur das, was ich unbedingt wissen musste. Dass wir uns tagsüber in diesem Haus verstecken mussten, da die Stadt von der syrischen Armee gehalten wurde. Dass es im Augenblick zu gefährlich sei, die Grenze zu überqueren, weil dort libanesische Hisbollah-Einheiten patrouillierten. Man gab uns zu essen und als ich erschöpft auf einer Matratze einschlief, hörte ich von irgendwoher Schüsse. Ich bewunderte dieses syrische Netzwerk aus Untergrundaktivisten, Schmugglern und Rebellen, die sehr hohe Risiken eingingen, um ihre Landsleute in die Flüchtlingslager im Libanon, in der Türkei, in Jordanien oder im Irak zu geleiten. Ohne diese geheimen Gruppen könnten Flüchtlinge, vor allem junge Männer, die sich dem bewaffneten Aufstand nicht angeschlossen haben, Syrien nicht verlassen, da sie als potenzielle Rebellen oder Aktivisten gelten und sofort vom Regime festgenommen oder getötet werden würden. Auf denselben Routen, auf denen Waffen, Lebensmittel, Munition und Benzin nach Syrien geschmuggelt werden, gelangen verletzte Kämpfer und Flüchtlinge hinaus. Und manchmal auch verängstigte Journalisten. Den ganzen nächsten Tag verbrachten wir im Wohnzimmer einer siebenköpfigen Familie. Die Frau kochte für uns. Der Vater kundschaftete auf seinem Motorrad die Gegend aus oder sprach über Funkgerät mit Rebelleneinheiten, die mögliche Fluchtwege überwachten. An der Haustüre hatten sich zwei bewaffnete Rebellen postiert, für den Fall, dass man uns in der Nacht zuvor gesehen hatte. Um 23 Uhr kam die Bestätigung, dass der Weg wohl einigermaßen sicher sei. Es gebe weder neue Checkpoints noch nennenswerte Bewegungen der syrischen Armee. Wir brachen auf. Es war der gefährlichste Teil der Flucht. Wir mussten unentdeckt aus der Stadt kommen, Checkpoints meiden und Patrouillen aus dem Weg gehen. Hier gab es keine Felsbrocken, hinter denen wir uns verstecken konnten. Ich fühlte mich leer und folgte blindlings meinem Vordermann. Ich verstand weder, was gesprochen wurde, noch wusste ich, was uns erwartete. Der Student der Geschichte ging hinter mir und flüsterte unentwegt: »Allah Akbar.« Gott ist groß. Er schubste mich sachte nach vorne. Wir drückten uns an Hauswänden entlang und robbten über ein Gemüsefeld, bis wir aus der Stadt heraus waren. Auf einem freien Feld hetzte eine Meute Hunde hinter uns her. Sie bellten so laut, dass ich mir sicher war, dass sie uns verraten würden. Wir legten uns auf den Acker und spielten toter Mann, die Hun-

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menschen vor grenzen Die europaweite Kampagne »S.O.S. Europe – people before borders« macht deutlich, dass zuerst Menschen und dann Grenzen geschützt werden müssen. An die Bundesregierung stellt Amnesty vier Forderungen, die mit unserer aktuellen Petition unterstützt werden können: a die Seenotrettungsmaßnahmen im Mittelmeer durch die Beteiligung aller EU-Mitgliedsstaaten zu verstärken, a mehr sichere und legale Zugangswege nach Europa zu schaffen, damit Flüchtlinge und Migranten nicht auf gefährliche Routen gezwungen werden, a sicherzustellen, dass alle Schutzsuchenden an Europas Grenzen Zugang zu einem Asylverfahren erhalten, a bei der Einwanderungskontrolle nicht mit Transitstaaten zu kooperieren, die Menschen bereits an der Ausreise nach Europa hindern und eine fragwürdige Menschenrechtsbilanz haben.

de beschnupperten uns eine gefühlte Ewigkeit, dann trotteten sie davon. Ich erlebte alles schnell und langsam zugleich. Immer wieder musste unsere Gruppe anhalten. Die Fluchthelfer lauschten in die Nacht. Jedes Geräusch war bedrohlich. So ging es voran, Meter um Meter. Die Grenze zum Libanon war nur wenige Kilometer entfernt. Um fünf Uhr morgens krochen wir endlich irgendwo in der Nähe der historischen Stadt Baalbek unter einem Grenzzaun hindurch. In Sicherheit, endlich. Zumindest fast. Ein Mercedes wartete und brachte uns zu einer syrischen Flüchtlingsfamilie, 18 Frauen, Männer und Kinder, die in Zelten auf dem Dach eines Wohnhauses lebten. Erst hier fielen wir uns in die Arme. Die Anspannung der vergangenen Tage löste sich. Ich sank zitternd und erschöpft zu Boden. Der Student brach in Tränen aus. Der Lebensmittelhändler wurde von seinem Bruder abgeholt. Die Fluchthelfer gingen zurück nach Syrien. Noch am selben Morgen brach ich auf nach Beirut. Unsere Wege trennten sich. Was aus meinen Begleitern geworden ist, weiß ich nicht. Im Januar dieses Jahres starb mein Gastgeber und Beschützer aus Zabadani, ohne den ich nicht aus der Stadt gekommen wäre, durch Granatsplitter. Im April dieses Jahres nahm die syrische Armee Zabadani ein. Für einige wenige Tage habe ich erfahren, was es bedeutet, in einer belagerten Stadt zu leben und habe das Schicksal syrischer Flüchtlinge geteilt – Angst, Ungewissheit, Wut, Hilflosigkeit. Eine Erfahrung, die mich geprägt und traumatisiert hat. Für viele Syrer ist dies seit mehr als drei Jahren Alltag. Der Autor ist Auslandskorrespondent und lebt in Manila.

»Yalla! Yalla!«, zischte mir der Schmuggler ins Ohr. »Vorwärts!« 23


Auf Kosten der Menschen Während Europa enorme Summen ausgibt, um den Kontinent abzuschotten, spielen sich an den Grenzen menschliche Tragödien ab. Von Franziska Vilmar

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er nach Europa fliehen will, scheitert meistens bereits auf dem Weg dorthin. Welche fatalen Folgen es für Migranten und Schutzsuchende hat, dass die Außengrenzen der EU immer hermetischer abgeriegelt werden, lässt sich im neuen Amnesty-Bericht »The human cost of fortress Europe« nachlesen, der im Juli veröffentlicht wurde. Von den knapp vier Milliarden Euro, die die EUKommission in den Jahren 2007 bis 2013 unter anderem aus dem Fonds »Solidarität und Steuerung der Migrationsströme« (Solid) zur Verfügung stellte, wurden nur 700 Millionen Euro dafür verwendet, um Asylverfahren zu unterstützen, Aufnahmebedingungen zu verbessern und Resettlement-Programme für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge auszubauen. Fast die Hälfte des Etats diente dazu, die Außengrenzen zu verstärken. So investierte z.B. Spanien in dem genannten Zeitraum aus dem Solid-Fonds knapp 290 Millionen Euro in die Grenzsicherung, gab aber nur etwa 9,3 Millionen Euro für Flüchtlinge aus. Menschenrechtliche Aspekte spielen bislang bei der Finanzierung des Grenzschutzes keine Rolle. Die EU-Kommission hat keine wirksame Überprüfung geschweige denn Sanktionsmechanismen im Fall von Missbrauch vorgesehen. An den EUAußengrenzen ist deutlich sichtbar, worauf die Europäische Union drängt: So entstand an der griechisch-türkischen Grenze 2012 ein mehr als zehn Kilometer langer Zaun. Seither geht die griechische Küstenwache routinemäßig mit lebensgefährlichen »Push-Back«-Operationen gegen Bootsflüchtlinge vor, bei denen die Boote gewaltsam zurückgeführt werden. Die griechische Regierung negiert diese Menschenrechtsverletzungen weitgehend, und die EU-Kommission schreitet ebenfalls nicht wirksam dagegen ein. Auch die Europäische Grenzschutzagentur Frontex ist mit ihrer »Operation Poseidon« weiterhin aktiv. Dabei könnte und müsste sie ihren Einsatz zumindest aussetzen – Amnesty International und Pro Asyl werfen der Behörde massive Menschenrechtsverletzungen in der Region vor. Es fehlt zudem an klaren Vorgaben, unter welchen Voraussetzungen und mit welchem Ziel Frontex tätig werden muss, wenn über Menschenrechtsverletzungen berichtet wird. An der Grenze zwischen Bulgarien und der Türkei ist seit Frühjahr 2014 zudem das neue Grenzüberwachungssystem Eurosur im Einsatz. Mit Hilfe kostspieliger Technologie (u.a. durch den Einsatz von Drohnen) soll die EU-Außengrenze noch stärker abgeriegelt werden. Bulgarische Grenzoffiziere haben Amnesty berichtet, dass Eurosur nicht nur dabei helfen soll, Migranten und Migrantinnen beim irregulären Grenzübertritt zu identifizieren. Vielmehr soll die neue Technik Menschen bereits daran hindern, die bulgarische Grenze überhaupt zu erreichen. Die Überwachungskameras sind so aufgestellt, dass sie jedes bewegliche Objekt im Umkreis von 15 Kilometern jenseits der Grenze Richtung Türkei registrieren können. Als im vergangenen Herbst immer mehr syrische Flüchtlinge in Bulgarien ankamen, reagierte das überforderte Land prompt. Mehr als 1.500 zusätzliche Polizisten sind seither an der

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Grenze zur Türkei eingesetzt, der Bau eines 30 Kilometer langen Zauns hat begonnen. Die Grenzübertritte nach Bulgarien gingen von etwa 1.700 Fällen pro Monat auf hundert zurück. Die größte Hürde für Migranten und Flüchtlinge, um in die »Festung Europa« zu gelangen, bilden daher die Transitländer. Mit Hilfe bilateraler Abkommen sollen sich Staaten wie Libyen, Marokko, die Türkei oder die Ukraine in Pufferzonen verwandeln. Libyen hat sich gegenüber Italien verpflichtet, Menschen bereits an der Ausreise nach Europa zu hindern. Im Gegenzug finanzieren die EU oder einzelne Mitgliedsstaaten die notwendige Überwachungstechnologie in den Transitländern, bilden deren Grenzschützer aus oder investieren in den Bau oder Erhalt von Gefängnissen, z.B. in der Türkei oder in der Ukraine. Im Rückübernahmeabkommen zwischen der EU und der Türkei verpflichtet sich die Regierung in Ankara sogar dazu, ihrerseits Abkommen mit jenen Staaten zu schließen, aus denen die meisten Flüchtlinge oder Migranten in die Türkei kommen. Deutlicher lässt sich kaum beschreiben, wie unerreichbar Europa werden soll. Wer in einem Transitland festsitzt, ist zudem mit zahlreichen Problemen konfrontiert: Es fehlt an einem ordentlichen Asylverfahren, oft erhalten die Betroffenen keinen dauerhaften rechtlichen Status. Sie sind von Obdachlosigkeit bedroht und arbeiten häufig in ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen. Es drohen ihnen Haft und Misshandlung, in Libyen sogar Folter. Die menschlichen Kosten der europäischen Festung sind immens. Die illegalen Zurückweisungen von Migranten und Flüchtlingen durch Griechenland und Bulgarien in die Türkei stellen nicht nur klare Verstöße gegen das völkerrechtliche Verbot kollektiver Ausweisung dar. Sie gehen zusätzlich mit Misshandlungen und Erniedrigungen einher. Opfer von »PushBack«-Operationen haben Amnesty International berichtet, wie sie von EU-Grenzschützern bestohlen und geschlagen worden sind. Anschließend wurden sie in oft lebensbedrohlichen Situationen allein zurückgelassen. Doch die Verzweiflung der Menschen ist zu groß. Als im Februar 2014 einige Migranten, Flüchtlinge und Asylsuchende versuchten, von Marokko aus schwimmend in die spanische Exklave Ceuta zu gelangen, beschoss die spanische Guardia Civil sie mit Gummigeschossen. 14 Menschen verloren dabei ihr Leben. Dass aufgrund der Abschottung der südöstlichen Landesgrenzen immer mehr Flüchtlinge, insbesondere aus Syrien, versuchen, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen, ist naheliegend. Im Oktober 2013 kam es vor der Küste Lampedusas zu zwei katastrophalen Vorfällen, bei denen mehr als 400 Flüchtlinge starben. Seither hat die italienische Marine im Rahmen der Operation »Mare Nostrum« mehr als 74.000 Menschen gerettet. Italien kann diesen Einsatz, der pro Monat bis zu neun Millionen Euro kostet, selbstverständlich nicht allein tragen. Finanzielle oder andere nachhaltige Unterstützung seitens der EU-Mitgliedsstaaten sind jedoch bis heute ausgeblieben. Die Autorin ist Expertin für Asylpolitik der deutschen Amnesty-Sektion.

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Millionen Syrer auf der Flucht eu, schweiz, norwegen: 96.000

Libanon: 1.131.000

Quelle: UNHCR, Stand Juli 2014

syrien: etwa 6,5 miLLionen binnenfLÜchtLinge

tÜrkei: 809.000

irak: 217.000

ägypten: 138.000 Jordanien: 607.000 fLucht vor gewaLt und verfoLgung Begründet wird die Abschottung durch Politiker und Medien zumeist damit, dass Europa bereits einen hohen Anteil an Flüchtlingen und Migranten zu verkraften habe. Häufig wird auch argumentiert, dass es sich bei der großen Mehrheit der Migranten, die Europa erreichen, um sogenannte »Wirtschaftsflüchtlinge« handele. Beide Argumente entsprechen nicht den Fakten: Die meisten Flüchtlinge weltweit verlassen ihre Herkunftsregion nicht, nur ein kleiner Bruchteil erreicht die EU. Das höchste Flüchtlingsaufkommen hatten 2013 Länder wie Pakistan, Iran, Libanon, Jordanien,

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die Türkei, Kenia, der Tschad, Äthiopien, China und die USA. Seit Beginn der Syrienkrise im Frühjahr 2011 haben mehr als 2,9 Millionen Syrer ihr Land verlassen. Nur 96.000 von ihnen erreichten bis Ende April 2014 Europa, um dort Schutz zu suchen. 48 Prozent aller Ankömmlinge und 63 Prozent aller, die auf dem Seeweg eintrafen, stammten aus Syrien, Eritrea, Afghanistan oder Somalia. Die Mehrzahl der Menschen aus diesen Ländern ist auf der Flucht vor Gewalt oder Verfolgung und benötigt internationalen Schutz.

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Der lange Weg Tausende syrische Flüchtlinge versuchen, über die Türkei in die EU zu gelangen. Die meisten scheitern, denn Europa mauert. Und nur wer Geld hat, kann überhaupt an die Reise denken. Von Nicole Graaf (Text) und Raphaël Fournier (Fotos)

»Vielleicht klappt es beim nächsten Mal.« Flüchtlingsgruppe, kurz vor der griechischen Grenze.

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ie Flucht nach Europa lässt sich wählen wie eine Reise aus dem Urlaubskatalog. »Ein Flug nach Deutschland mit gefälschtem Pass kostet 8.000 bis 9.500 Euro, nur nach Bulgarien über die Grenze 450 Euro, bis zum Flüchtlingscamp dort 1.200 Euro, bis Sofia 2.500, nach Griechenland 3.000 Euro.« Der 22-jährige Haidar* kennt die Preise der Schleuser in der Türkei aus dem Kopf. Mit seinem besten Freund Hamid* dreht er in Istanbul nach Feierabend eine Runde um den Block. Die beiden Syrer sind wie so viele ihrer Landsleute vor dem Krieg geflohen. Sie arbeiten in einer Reiseagentur im Viertel Aksaray: »Die dreckigste Gegend der Stadt«, sagt Haidar. Er spart für den falschen Pass, das ist die teuerste, aber auch die sicherste Option, meint er. »Die Bulgaren haben zu viele Syrer, die sind selbst arm. Sie schicken die Flüchtlinge wieder zurück in die Türkei, genau wie die Griechen.« Haidar will nach Deutschland oder Frankreich. Er lächelt, als würde er von einer längst geplanten Traumreise erzählen. Sein blaues T-Shirt zeigt den Eiffelturm und die Aufschrift »Paris«. Mit seinen gegelten kinnlangen Haaren und dem hageren Gesicht könnte man ihn für verschlagen halten, würde er nicht so viel lachen. Sein Humor ist sein einziger Halt – neben seinem besten Freund Hamid. Der 23-Jährige ist aus dem Militärdienst desertiert. Seine Einheit glaubt, er sei von Rebellen getötet worden. »Wenn die erfahren, dass ich noch lebe, bringen sie mich um.« Assad habe seine Schergen überall, auch im Ausland, sagt er. Haidar studierte ursprünglich an der Universität von Aleppo. Ein paar hundert Meter hinter seinem Haus verlief die Front zwischen Regierungssoldaten und Rebellen in der schwer umkämpften Stadt und schnitt ihm den Weg zur Uni ab.

Neun Quadratmeter für vier Personen Ihr nächtlicher Spaziergang führt die beiden Männer an einem vierspurigen Boulevard mit Reiseagenturen, Büros für Geldtransfer, Handyshops und Kiosken entlang. Viele der Passanten sind Afrikaner, Araber, Pakistaner oder aus dem Kaukasus. Unter einer Brücke verkaufen fliegende Händler gefälschte Uhren und Markenkleidung. In den Seitenstraßen leuchten die Namensschilder schummriger Hotels. »Um diese Uhrzeit sieht man hier nur Bettler, Kriminelle und Prostituierte.« Haidars Blick schweift zu einer stark geschminkten Türkin in Pink, die mit einem Mann in Trainingsanzug in einer Kebab-Kaschemme zu Abend isst. An der Straßenecke haben sich zwei afrikanische Drogendealer mit dunklen Jacken und Baseballkappen postiert und warten auf Kundschaft. »Ich muss hier weg, bevor ich genauso werde«, sagt Haidar. Die beiden Freunde teilen sich ein Zimmer mit zwei anderen Syrern, neun Quadratmeter für vier Personen, mit Überwachungskameras an der Decke. »Wenn wir nicht da sind, ruft der Chef an und fragt, was wir machen«, erzählt Haidar. Fremden gegenüber nennen sie ihn ihren Türkischlehrer, sie arbeiten schwarz. Vor dem Eingang eines sechsstöckigen, heruntergekommenen Hauses sprechen sie arabisch aussehende Touristen und Geschäftsleute an, um ihnen Ausflüge zu verkaufen, jeden Tag von morgens um neun bis nachts um zehn oder elf. »Das kann er nur mit uns machen, weil wir Syrer sind und keine andere Wahl haben«, sagt Haidar über seinen Chef. Syrer erhalten in der Türkei wegen des Krieges zwar temporären Schutz, aber keine Arbeitserlaubnis. Die beiden verdienen knapp 250 Euro im Monat, etwa die Hälfte davon schickt Haidar seiner Familie. Sie lebt in einem kurdischen Dorf nahe der türkischen Grenze. Es blieb bisher von

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Kämpfen weitestgehend verschont, aber es gibt keine Jobs, die Familie ernährt sich von einem kleinen Garten. »Letzten Monat habe ich kein Geld geschickt, da habe ich mir ein Handy gekauft.« Haidar setzt ein jungenhaftes Grinsen auf und wedelt mit einem billigen Smartphone. Facebook ist seine Nabelschnur zu Familie und Freunden, die der Krieg über die Nachbarländer Syriens verstreut hat. Einige wenige haben es nach Europa geschafft, nach Stockholm, Den Haag und Berlin. Sie erzählen von Sprachkursen und der Chance auf ein neues Leben. »Ich will eine Zukunft, ich will mein Studium beenden«, sagt Haidar. Noch zwei Jahre wird es dauern, bis er genug Geld für den falschen Pass gespart hat, schätzt er. Nur mit dem Job in der Reiseagentur kommt er nicht weiter; ein Schleuser hatte ihm 450 Euro Prämie für die Vermittlung »Reisewilliger«, wie er sie nennt, versprochen. Doch die Gruppe musste noch vor der Grenze umkehren und er ging leer aus. »Vielleicht klappt es beim nächsten Mal«, lacht er. »Alle Syrer hier wollen weiter nach Europa. In der Türkei zu überleben, ist zu hart.«

»Möge Gott ihnen helfen« Den meisten bleibt nichts anderes übrig. Nur wer Geld für die Reise hat, kann an Europa überhaupt denken. In der Türkei sind offiziell knapp 800.000 syrische Flüchtlinge registriert – etwa zehn Mal so viele wie die gesamte EU bisher aufgenommen hat. Und die Dunkelziffer dürfte sehr viel höher liegen, denn aus Unwissen oder Angst vor Abschiebung lassen sich viele nicht registrieren. Nur etwa 200.000 Syrer sind in UNO-Camps entlang der türkisch-syrischen Grenze untergekommen. Die meisten anderen versuchen, sich in den großen Städten durchzuschlagen. In Istanbul trifft man sie überall: Sie betteln auf Plätzen, Fußgängerbrücken und vor U-Bahneingängen. Im Ausgehviertel Beyoğlu streunen Kinder an den Bars vorbei und verkaufen Wasser an Nachtschwärmer. Jugendliche, die ihre Habseligkeiten in Plastiktüten mit sich tragen, verbringen die Nächte auf Pappkartons vor den Eingängen der Modeläden auf der Einkaufsmeile Istiklal. Die Neuankömmlinge stranden in öffentlichen Parks. Dort, wo Touristenbusse die Altstadt anfahren, hat eine Großfamilie mit kleinen Kindern ihr Lager aufgeschlagen. An offenen Feuern wärmt sie sich. Wenn es regnet, schläft sie in Etappen unter einem Dach aus Plastikplanen, bis der Parkwächter sie wegscheucht. »Sie vergraulen die Touristen«, sagt er. »Unsere Regierung nimmt sie alle auf, aber dann kümmert sich niemand um sie.« Im angrenzenden Altstadtviertel Fatih vermieten Hausbesitzer Zimmer in halb verfallenen Altbauten für umgerechnet 35 bis 135 Euro – pro Tag. Sie nutzen die Notlage der Flüchtlinge aus, die niemanden kennen, keine Sicherheiten vorzuweisen haben und deshalb keine reguläre Wohnung finden. Türkische Anwohner beschweren sich über Diebstähle, Dreck und sinkende Löhne in Restaurants und Fabriken, weil die Syrer jede Bezahlung akzeptieren.

»Alle Syrer wollen nach Europa. In der Türkei zu überleben, ist zu hart.« 27


Sie vergraulen die Touristen. In einem Immigrantenviertel in Istanbul.

»Inschallah, möge Gott ihnen helfen«, sagt der Imam einer kleinen Moschee, ein kleiner, beleibter Mann mit kurzem, weißem Bart. »Hoffentlich können sie bald zurückkehren. Möge die EU ihnen doch helfen, Inschallah. Wo sollen sie denn hin?«

Warten, bis der Krieg vorbei ist An eine baldige Rückkehr ist nicht zu denken. In Syrien kämpfen so viele verschiedene Gruppen gegeneinander, dass der Konflikt unlösbar scheint. Selbst die bislang vergleichsweise ruhigen Kurdengebiete im Norden des Landes sind nicht mehr sicher, seit die radikalislamischen ISIS-Rebellen dort stärker werden. Der 27-jährige Muhammed* musste erleben, was das bedeutet. Die Islamisten entführten seinen Bruder, er hat seit drei Monaten nichts von ihm gehört. Seine Familie drängte ihn und den Jüngsten zur Flucht, bevor ihnen Ähnliches widerfahren würde. Die Mutter will Syrien nicht verlassen, bevor sie ihren Sohn nicht gefunden hat. Zwei weitere Brüder sind bei ihr geblieben, erzählt Muhammed. Die Sorge um seine Mutter steht ihm ins Gesicht geschrieben. Seine Hände verraten, dass er kräftig gewesen sein muss, doch nun schlackert sein schwarzes Hemd um seinen hageren Körper. Mit seinem jüngsten Bruder, seiner Frau und zwei kleinen Töchtern ist er in Cizre gestrandet, im Kurdengebiet der Türkei. Die Grenze zu Syrien und dem Irak liegt nur ein paar Kilometer entfernt. Viele syrische Kurden fliehen in diese Region. Allein in seinem Viertel lebten an die 300 Familien, sagt Muhammed. Die Flüchtlingslager seien voll. Außerdem seien dort hauptsächlich Araber untergebracht. Kurden und andere ethnische Gruppen haben häufig Schwierigkeiten, nachzuweisen, dass sie tatsächlich aus Syrien stammen. Die Familie hat das Erdgeschoss eines Mehrfamilienhauses gemietet, zwei dunkle, fast leere Zimmer. Auf einem dünnen Teppich über dem Betonboden werden nachts Decken als Schlaflager ausgebreitet. Tagsüber sitzt die Familie draußen im Hof. Gleich hinter der Mauer fließt ein offener Abwasserkanal vorbei,

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»Wo sollen sie denn hin?« Straßenlager in Istanbul.

der im Sommer nach Müll und modrigem Wasser stinkt. Muhammeds Frau, eine schüchterne 18-Jährige, wiegt in einer Ecke der kahlen Veranda unablässig ihr Baby im Arm. Wenn ihr Mann und ihr Schwager bei der Arbeit sind, lädt eine Nachbarin sie manchmal zum Tee ein. Neben einem Kerosinkocher lehnt ein Sack Kartoffeln und ein Kanister billiges Speiseöl. Die Männer bringen nur etwa jeden zweiten Tag Geld nach Hause. Sie arbeiten auf dem Bau für 14 Euro am Tag. »In Syrien war ich Baggerführer. Ich konnte mir die besten Arbeitsstellen aussuchen«, sagt Muhammed. Sein Bruder studierte Architektur. Muhammeds rechtes Auge ist blau und rot unterlaufen, sein Gesicht geschwollen. Am Tag zuvor ist er bei der Arbeit gestürzt. Bis sein Auge verheilt ist, muss er zu Hause bleiben. »Wir arbeiten ohne Versicherung. Wenn etwas passiert, hilft uns niemand.« Die Familie will in Cizre blei-

Gefährliche Überquerung. Die Gruppe verbirgt sich vor einer türkischen Patrouille.

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Warten, bis der Krieg vorbei ist. Flüchtlingswohnung in Cizre, nahe der syrischen Grenze.

ben, bis der Krieg vorbei ist, selbst wenn es Jahre dauert, sagt Muhammed. »Wir können nur abwarten, was jeder Tag bringt.«

Am Grenzfluss Die EU hat Ende 2013 die türkische Regierung dazu gebracht, ein Rücknahmeabkommen zu unterzeichnen, damit sie Flüchtlinge dorthin abschieben kann. Sie machte dies zur Vorbedingung für eine visafreie Einreise in die EU, die sich die Türken seit Jahren erhoffen. Kritiker nennen das Erpressung. Die Türkei hat sich in dem Abkommen auch verpflichtet, ihre Nordwestgrenze zu Bulgarien und Griechenland besser zu sichern. Nur wenige Kilometer von den beiden EU-Staaten entfernt liegt Edirne, eine gemütliche Stadt mit griechisch anmutender Architektur. Ohne die prächtigen, alten Moscheen im Stadtzentrum könnte man sich bereits im Nachbarland wähnen. In der

Lobby eines kleinen Hotels sitzen zwei Dutzend Männer und eine sechzehnköpfige Großfamilie auf ausladenden Ledersofas. Ihre Kinder rennen vor der Rezeption auf und ab. Bis auf einen Iraker und zwei Algerier kommen alle hier aus Syrien. Auf einem großen Flachbildschirm läuft »Al Jazeera« auf Arabisch. Wenn Bilder von Kämpfen und Toten in Syrien gezeigt werden, geht ein Raunen durch den Raum. Fast alle haben Bilder wie die, die über den Fernsehschirm flimmern, mit eigenen Augen gesehen. Sie sehen Europa als ihren einzigen Ausweg an. Die meisten haben bereits einen gescheiterten Versuch hinter sich, nach Griechenland oder Bulgarien zu gelangen, wie der 27-jährige Informatiker Ammar aus Damaskus. Er trägt hellgraue Jeans, ist sauber rasiert, die Haare modisch kurz. Er würde auch in Berlin oder Paris nicht weiter auffallen. Er ist geflohen, als er zum Militärdienst in der syrischen Armee eingezogen werden sollte.

Vorbereitungen, um den Grenzfluss zu überqueren. Ein Flüchtling trocknet nach einem erfolglosen Versuch in Edirne seine Kleidung.

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Edirne

Istanbul

Cizre

Zur Strafe wurde sein Bruder von Regierungssoldaten mitgenommen und gefoltert. Inzwischen ist auch er geflohen. Ammar möchte zu seinem ältesten Bruder, der seit mehr als zehn Jahren in Barcelona lebt. Lange vor dem Krieg hat er ihn einmal besucht, zwei Wochen mit Touristenvisum. Es war so einfach damals. Vor ein paar Tagen hat er versucht, den Grenzfluss Evros zwischen der Türkei und Griechenland zu überqueren, gemeinsam mit sechs weiteren Syrern, eine bunt gemischte Gruppe: Vier Sunniten, zwei Christen, einer davon Araber, die anderen Kurden. »Das ist egal, hier sind wir alle einfach Syrer«, sagt Hosin. Der große durchtrainierte 37-Jährige mit kurzem Haarschnitt und Lederstiefeln ist ihr Anführer und Stratege. Die Art, wie er redet und sich bewegt, lässt ahnen, dass er Soldat war. Er lässt sich nie aus der Ruhe bringen, spricht nüchtern, selbst wenn er von schrecklichen Erlebnissen berichtet. Hosin hat 15 Jahre als Leutnant in der syrischen Armee gedient, zuletzt für den syrischen Botschafter im Libanon. »Rebellen der Al-NusraFront haben meine gesamte Familie ermordet – wegen mir«, sagt er. Als er kurz darauf nach Syrien zurückbeordert wurde, um gegen die Rebellen zu kämpfen, ist er desertiert und geflohen. Der Krieg schien ihm sinnlos. »Ich kann nirgendwo hin«, sagt er. Im Libanon würde ihn die Hisbollah umbringen, die auf der Seite Assads steht. In Syrien würde ihn die Kriegspartei töten, die ihn als erstes zu fassen bekommt.

»Niemand weiß, wer ihr seid« Für ihren ersten Fluchtversuch wählten die Männer die Route nach Griechenland. Doch nachdem sie den Grenzfluss überquert hatten, verliefen sie sich im Wald. Im Glauben, sie würden temporären Aufenthalt bekommen, meldeten sie sich auf einer Polizeistation im nächsten Dorf. Nach EU-Recht müssen die Behörden der Mitgliedsstaaten bei jedem Flüchtling den Anspruch auf Asyl prüfen – und zwar einzeln. Solange dürfen sie nicht abgeschoben werden. »Aber in der Nacht kamen plötzlich andere Polizisten«, sagt Ammar. »Sie haben uns in einen Bus gesetzt und uns zurück zum Fluss gefahren.« Er erzählt von maskierten Männern, die ihn angeschrien und geschlagen hätten. Sie mussten in ein Boot steigen und kurz vor einer Insel auf türkischer Seite ins Wasser springen. Ob sie schwimmen konnten, war den »Maskenmännern« egal. Hosin zeigt seinen verwaschenen Reisepass und sein altes Nokia-Handy. Unter dem Display haben sich Wassertröpfchen gesammelt. »Einige von denen haben Englisch mit deutschem Akzent gesprochen. Und auf ihrer Jacke stand ›Polizei‹«, sagt er. »Sie haben gedroht, wenn wir es noch einmal versuchten, würden sie uns erschießen, unsere Pässe

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vernichten und uns ins Wasser werfen. Niemand weiß, wer ihr seid, haben sie gesagt.« Hosin und Ammar sind überzeugt, dass die maskierten Männer Deutsche waren. Nachprüfen lässt sich das nicht. Doch auch andere Syrer in dem Hotel erzählen von sogenannten »Push-Back«-Aktionen, an denen nicht nur Griechen oder Bulgaren, sondern auch Grenzschützer aus anderen EULändern beteiligt gewesen seien. Die Großfamilie, drei Brüder mit ihren Frauen und insgesamt zehn Kindern, sind bei ihrem Fluchtversuch nach Bulgarien ebenfalls gefasst und zurückgeschickt worden – mitten in der Nacht mussten sie mehrere Stunden durch den Wald laufen. Sie haben einen Zweijährigen mit Herzfehler und Blutgerinnseln im Kopf dabei. Seine Mutter zeigt Krankenhauspapiere aus Istanbul mit Röntgenbildern. »Er braucht dringend eine Operation, aber die Polizisten haben uns nicht geglaubt«, sagt sie. In der Türkei erhalten registrierte Flüchtlinge zwar eine kostenlose medizinische Behandlung, aber die Ärzte hätten sie bisher nur mit Pillen und Sirup abgespeist, weil eine Operation zu teuer sei. Der Junge kann weder laufen noch sprechen und weint permanent. »Ich musste ihm unterwegs Schlafmittel geben, damit sein Weinen uns nicht verrät«, erzählt die Mutter, eine kleine, sanfte Frau mit Pferdeschwanz. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder Pro Asyl kritisieren die teilweise rabiaten »Push-Back«-Aktionen seit Langem. Immer wieder sterben Menschen bei dem Versuch, die EU zu erreichen. Nicht nur die gefährlichen Fahrten über das Mittelmeer fordern Menschenleben, auch aus dem Grenzfluss Evros wurden bereits ertrunkene Flüchtlinge gefischt. Nachdem Griechenland seine Landgrenze mit einem sechs Meter hohen Zaun gesichert hat, wählen immer mehr Flüchtlinge den Weg über den Fluss. Auch Bulgarien hat die Kontrollen verschärft und einen Zaun errichtet. Seitdem verzeichnen die Registrierungsstellen dort zehn Mal weniger Antragsteller als zuvor. »Wir sind doch Menschen«, sagt die Mutter des kranken Jungen mit ratloser Miene. Auf die türkische Armee lassen die meisten Flüchtlinge indes nichts kommen. Soldaten hätten sie nach dem gescheiterten Versuch von der Insel im Fluss gerettet, erzählt Ammar. Sie hätten sie in Decken gepackt, ihnen Wasser und etwas zu essen gegeben. Nach zwei Nächten im Auffanglager durften sie gehen. »Sie haben uns wie Brüder behandelt«, sagt er. Über der Heizung in seinem Zimmer hängen Socken und TShirts zum Trocknen. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit wollen die Männer einen erneuten Versuch wagen: per Taxi bis zum letzten Dorf vor der Grenze und dann zu Fuß durch die Felder bis zum Fluss. Sie haben Kinderschwimmringe gekauft, an denen sie sich in der starken Strömung festhalten und ihre Sachen in Plastiktüten trocken ans andere Ufer bringen wollen. Mithilfe eines Smartphones und Google Earth haben sie sich eine Route überlegt, die sie von der Grenze ins Landesinnere führen soll. Hosin zeigt auf eine Stadt rund 40 Kilometer vom Fluss entfernt. »Wenn wir es bis dorthin schaffen, können sie uns nicht so leicht wieder zurückschicken«, sagt er. Die Autorin ist Auslandskorrespondentin. Die mit *gekennzeichneten Namen wurden zum Schutz der Personen geändert. Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app

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Grauer Betonklotz. Das Asylbewerberheim in der Carola-Neher-Straße ist längst zum Symbol geworden. Doch Symbol wofür?

Hellersdorf ist überall Gegen Ausländer haben die meisten Deutschen nichts, wohl aber etwas gegen ein Asylbewerberheim in ihrer Nähe. In Berlin-Hellersdorf kämpften Anwohner so aggressiv wie nirgends sonst gegen eine geplante Flüchtlingsunterkunft. Doch junge Menschen aus dem Kiez wollten dagegen ein Zeichen setzen. Von Ramin M. Nowzad (Text) und Mark Bollhorst (Fotos)

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er sind wir Deutschen eigentlich? Wie viel Mitmenschlichkeit können und wollen wir uns leisten? Die Asyldebatte hat große Fragen aufgeworfen. Beantwortet werden sie derzeit an den unscheinbarsten Orten. Hellersdorf, eine triste Plattenbausiedlung aus DDR-Zeiten. Hier, am Ostrand von Berlin, endet die Welt-

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stadt und beginnt die Provinz. Das Gebäude in der Carola-Neher-Straße 65 ist ein grauer Betonklotz, der so hoch und hässlich in den Himmel ragt wie die anderen Klötze hier im Kiez. Luisa Seydel kennt den Betonklotz gut. Es ist erst ein paar Jahre her, dass die junge Frau in dem vierstöckigen Gebäudekomplex die Schulbank drückte. Nachdem sie Abitur gemacht hatte, stand

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Als die ersten Flüchtlinge kamen, wurden sie von Nachbarn mit Hitlergruß empfangen. der Plattenbau fünf Jahre leer. Dann sollten hier Asylbewerber einziehen – und der Irrsinn begann. Das ehemalige Max-Reinhardt-Gymnasium ist seither zu einem Symbol geworden. Zu einem Symbol für Ressentiments, Rassismus und rechtsradikale Randale. Der Bezirk Marzahn-Hellersdorf hatte im vergangenen Jahr beschlossen, in dem verwaisten Schulgebäude eine Notunterkunft für rund 400 Asylbewerber einzurichten. Doch Neo-Nazis demonstrierten gegen das Heim – und viele Anwohner auch. Als die ersten Flüchtlinge im vergangenen Sommer schließlich kamen, wurden sie von Nachbarn mit Hitlergruß und »Ausländer raus!«-Rufen empfangen. Die Neuankömmlinge waren aus ihrer Heimat geflüchtet, um in Deutschland Schutz zu suchen. Nun mussten sie von Polizisten vor den Deutschen geschützt werden. Es waren Szenen, die an Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen erinnerten. »Pogromstimmung in Hellersdorf« titelten die Zeitungen im ganzen Land. »Wir wollten das so nicht stehen lassen«, sagt Luisa Seydel heute. »Schließlich kannten wir so viele Menschen, die mit den Flüchtlingen solidarisch waren, doch deren Stimmen nicht gehört wurden.« Die 22-Jährige ist lebhaft, freundlich und redegewandt. Ihre Haare – lang, rot und lockig – hat die Studentin keck über die linke Schulter geworfen. Wenn sie lacht, wirkt sie noch jünger, als sie ist. Und Luisa lacht häufig. Sie lacht, wenn sie von den Preisen erzählt, die ihre Bürgerinitiative bereits gewonnen hat. Und sie lacht, wenn sie von den Morddrohungen berichtet, die Neo-Nazis im Internet gegen sie ausgestoßen haben. »Hellersdorf hilft« – so heißt die Bürgerinitiative, die Luisa gemeinsam mit anderen Aktivisten ins Leben gerufen hat. Rund 20 Personen zählen zum festen Kern. Fast alle sind in dem Bezirk aufgewachsen, doch nicht alle wollen mit ihrem Gesicht und ihrem Namen in die Öffentlichkeit treten. Und das hat seine Gründe. In der Silvesternacht verübten Unbekannte einen Bölleranschlag auf das Jugendzentrum, in dem sich die Gruppe trifft. Scheiben gingen zu Bruch. Ein paar Wochen später wurde das Auto einer Unterstützerin abgefackelt. Stephan Jung will sich von solchen Einschüchterungsversuchen nicht Bange machen lassen. Der 29-jährige Musiker trägt einen akkurat gestutzten Vollbart, hinter dem sich zarte Gesichtszüge verstecken. Luisa lernte er auf Facebook kennen. Dort vernetzten sie sich im vergangenen Jahr mit anderen jungen Leuten, nachdem in Hellersdorf ausländerfeindliche Flyer in den Briefkästen von Anwohnern gelandet waren. Um der Hetze etwas entgegenzusetzen, stellten sie die Facebook-Seite »Hellersdorf hilft Asylbewerbern« online. Nach nur einem Tag hatte die Webseite mehr als 1.000 Unterstützer. »Auf der Seite haben wir die Menschen über die Flüchtlinge und das Asylrecht aufgeklärt und Vorurteile mit Fakten widerlegt«, sagt Stephan Jung.

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Nicht nur in Hellersdorf ist solche Aufklärungsarbeit dringend nötig. Zwar sind die Deutschen immer weniger ausländerfeindlich, Asylbewerber sind jedoch verhasster denn je. Zu diesem Ergebnis kamen jüngst Forscher der Universität Leipzig. Ihrer Studie zufolge äußerten sich 73,5 Prozent der Westdeutschen und 84,7 Prozent der Ostdeutschen abwertend gegenüber Asylsuchenden. Die neue deutsche Willkommenskultur scheint zu lauten: »Fremde sind gern gesehen. Aber bitte keine, die uns auf der Tasche liegen!« Dabei wächst die Zahl der Asylbewerber in Deutschland drastisch: 109.580 Asylerstanträge waren es laut Bundesinnenministerium im vergangenen Jahr – rund 70 Prozent mehr als im Vorjahr. In diesem Jahr werden 175.000 neue Flüchtlinge erwartet, so viele wie seit zwanzig Jahren nicht mehr. Auch Berlin muss nun deutlich mehr Schutzsuchende aufnehmen. Aber die Stadt hat ein Problem, die Neuankömmlinge unterzubringen. Nicht etwa, weil es nicht genügend leerstehende Gebäude gäbe. Sondern weil in der Stadt niemand Asylbewerber in seiner Nachbarschaft haben möchte. Berlin gilt als weltoffene Metropole, aber nicht alle Ausländer sind in der Hauptstadt gleich willkommen. Ob in den Plattenbaubezirken des Ostens oder in bessergestellten Stadtteilen des Westens: Fast überall, wo ein Flüchtlingsheim eröffnet werden soll, regt sich Widerstand. In Berlin-Reinickendorf, einem gediegenen Westbezirk, haben Anwohner im vergangenen Jahr per Anwalt durchgesetzt, dass Flüchtlingskinder einen öffentlich zugänglichen Spielplatz nicht mehr betreten dürfen. In anderen Stadtteilen sammeln Bewohner Unterschriften, um Asylbewerber aus ihrem Kiez fernzuhalten. Doch nirgends in Berlin wurde der Kampf gegen ein Flüchtlingsheim bisher so aggressiv geführt wie in Hellersdorf. Die Gegend ist das, was Politiker und Sozialarbeiter gern als »sozialen Brennpunkt« bezeichnen. In dem Bezirk wachsen fast siebzig Prozent der Kleinkinder in Hartz-IV-Familien auf, der Anteil an Sonderschülern ist doppelt so hoch wie im Rest der Stadt. Ausländerfeindliche Parolen fallen hier auf besonders fruchtbaren Boden. Rund um das Flüchtlingsheim holte die NPD bei der vergangenen Bundestagswahl 10,2 Prozent, ihr bestes Ergebnis in Berlin. Hellersdorf ist ein Lehrstück dafür, wie es rechtsextremen Scharfmachern gelingen kann, die Ängste von Anwohnern geschickt zu instrumentalisieren. Als im vergangenen Jahr bekannt wurde, dass der Bezirk eine Flüchtlingsunterkunft eröffnen will, begann die braune Propagandaoffensive: Auf Facebook hetzte eine anonym agierende »Bürgerinitiative« gegen das geplante Heim. Bald tauchten Flugblätter auf, in denen die Hellersdorfer davor gewarnt wurden, dass die Asylbewerber »Müll, Drogenhandel, Zwangsprostitution und schwere Gewaltdelikte« in den Stadtteil bringen würden. Das Bezirksamt suchte den Dialog und lud die aufgebrachten Bewohner zu einer Bürgerversammlung. »Nazis aus ganz Berlin und Brandenburg reisten zu der Versammlung an. Sie gaben sich als Anwohner aus – und die Hellersdorfer sind schön darauf reingefallen«, erzählt Luisa Seydel. »Wer denkt an die Sicherheit unserer Kinder?«, brüllte eine junge Frau ins Mikrofon und erntete tosenden Applaus. »Wer schützt mich, wenn ich im Dunklen zur Arbeit gehe?«, schrie eine andere. Die Veranstaltung endete im Tumult.

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»Viele Anwohner haben realisiert, dass sich ihre Vorurteile nicht bewahrheitet haben.« Luisa Seydel, Franziska Schröder und Stephan Jung.

Als die ersten Flüchtlinge schließlich im August 2013 das Heim bezogen, herrschte wochenlang Ausnahmezustand in Hellersdorf. »Das Regionalfernsehen berichtete jeden Abend live vom Heim«, erinnert sich Luisa Seydel. »Das hat natürlich immer mehr Schaulustige und Neo-Nazis angezogen.« Alle großen Fernsehsender schickten ihre Kamerateams, ein halbes Dutzend Übertragungswagen belagerte die Unterkunft. Zeitungsreporter klingelten bei Nachbarn Sturm, um sich ausländerfeindliche Parolen in die Notizblöcke diktieren zu lassen. Während sich vor dem Heim rechte und linke Demonstranten gegenseitig beschimpften, blickten immer wieder Flüchtlinge ungläubig aus dem Fenster. Die meisten Heimbewohner sprachen kaum ein Wort Deutsch. Für sie war kaum auszumachen, was da unten passierte. »Die Flüchtlinge konnten ja gar nicht auseinanderhalten, wer vor dem Heim gegen sie hetzte und wer sie willkommen hieß. Wir haben ihnen daher Willkommensbriefe geschrieben, die wir in sieben Sprachen übersetzen ließen, zum Beispiel ins Persische, Serbokroatische und Paschtu«, erzählt Stephan Jung. »Wir wollten den Flüchtlingen erklären, wie es zu der bedrohlichen Situation vor dem Heim überhaupt kommen konnte. Und wir wollten ihnen versichern, dass es viele Menschen gibt, die sie unterstützen.« Später sammelten die Aktivisten Sachspenden für das Flüchtlingsheim: Bücher, Bettwäsche, Geschirr, Spielzeug – mehr als 200 Umzugskartons kamen zusammen. »Sogar Fahrräder, Kinderwagen und Fernsehgeräte wurden gespendet«, sagt Stephan Jung. Rund 250 Anwohner bildeten schließlich eine

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Menschenkette, um die Kartons zur Flüchtlingsunterkunft zu transportieren. In einem der Kartons befanden sich auch Unterschriften von 22.859 Menschen, die sich in einer Online-Petition mit den Flüchtlingen solidarisch erklärt hatten. Für ihr Engagement wurden Luisa, Stephan und ihre Mitstreiter bereits mit mehreren Preisen für Zivilcourage und Toleranz ausgezeichnet. Mit den Preisgeldern, 6.000 Euro sind es inzwischen, wird die Gruppe demnächst eine Begegnungsstätte in der Nähe des Heims eröffnen. Anwohner und Flüchtlinge sollen dort ins Gespräch kommen können. »Im Kiez hat bereits jetzt ein Umdenken stattgefunden«, stellt Stephan Jung fest. »Viele Anwohner haben realisiert, dass sich ihre Ängste und Vorurteile nicht bewahrheitet haben.« Hellersdorf – das ist zu einem Symbol geworden. Zu einem Symbol für Ängste, Vorurteile und rassistische Abwehrreflexe. Zu einem Symbol dafür, dass Menschen gegenüber Notleidenden die Faust ballen, statt ihnen die Hand zu reichen. Doch Hellersdorf steht inzwischen auch für etwas anderes: Es ist Symbol dafür, dass die Solidarität mit Schutzsuchenden letztlich doch stärker sein kann als die Furcht vor ihnen. Wer wir Deutschen sind, entscheidet sich an Orten wie Hellersdorf. Und Hellersdorf ist überall. Der Autor ist Volontär des Amnesty Journals. Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app

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In der Schwebe Vor zwei Jahren flüchtete Rouzbehan aus dem Iran nach Deutschland. Vor kurzem wurde er als Flüchtling anerkannt. Die lange Zeit der Ungewissheit hat sein Leben verändert. Von Nora Lassahn (Text) und Sarah Eick (Foto)

»Mein Fall ist doch klar.« Rouzbehan.

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ouzbehan wirbelt seine Zigarettenpackung – Marke »Schneefall« – im Kreis, um zu zeigen, wie die Vororte seiner Heimatstadt Teheran wuchsen, seine drei bunten Freundschaftsbänder rutschen am Arm auf und ab. Vom Schah von Persien kommt er auf die Weiße und die Grüne Revolution zu sprechen und darauf, warum Politik immer Teil seines Lebens war: »Sie ist im Wasser, das du trinkst, im Reis, den du isst.« Er zitiert Reden des iranischen Oppositionspolitikers Mussawi, nennt genaue Daten und formuliert politische Theorien. Der 27-Jährige spricht mit der ruhigen Begeisterung dessen, der weiß, dass er 4.000 Kilometer vom Geschehen entfernt ist und in seiner neuen Heimat nur eine Sache im Überfluss besitzt: Zeit. Als der Informatikstudent 2009 vom angeblichen Wahlsieg Ahmadinedschads und den Vorwürfen des Wahlbetrugs hörte, traf ihn das wie eine »körperliche Zerstörung«. Zu diesem Zeitpunkt war der Kommunist bereits zweimal auf Demonstrationen festgenommen worden, im Alter von 18 und 19 Jahren. Ungeachtet dessen ging er gemeinsam mit Hunderttausenden auf die Straße. Bis er 2011 wieder inhaftiert wurde. Da er nach seiner Entlassung fürchtete, erneut und länger ins Gefängnis zu müssen, entschloss er sich schweren Herzens, Teheran den Rücken zu kehren. Ein Schlepper besorgte ihm einen falschen Pass, er flog zunächst nach Istanbul und dann nach München. Er hatte einen engen Freund, der als Flüchtling in Berlin lebte. In Berlin angekommen, meldete er sich bei den Behörden und erfuhr, dass er hier nicht bleiben könne. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge schickte ihn nach Sachsen. Für die Anhörung, in der sich entscheiden würde, ob er als politischer Flüchtling anerkannt würde, nahm er sich keinen Anwalt. »Mein Fall ist doch klar«, dachte er. »Man muss mich nur googeln. Ich bin Kommunist.« Doch der Richter hatte ganz andere Fragen. Sind Ihre Eltern Muslime?, fragte er. Wie sei es möglich, dass ein Muslim auf einmal atheistisch wird? Und: »Was halten Sie vom Dschihad?« Zu Rouzbehans politischem Engagement hatte er nur eine einzige Frage. Seine vollständigen Unterlagen wollte er auch nicht sehen. Die Berliner Asylgruppe von Amnesty International schickte sie später ungefragt hinterher. Warum ein erfolgreicher junger Mann sein bisheriges Leben aufgibt, um nach drei Gefängnisaufenthalten in der sächsischen Provinz zu landen, ist keine Frage, die er sich stellt. Wenn er über Politik spricht, benutzt er Worte wie »Liebe«, »Pflicht« und »Schande«. Die ersten Tage der Grünen Bewegung beschreibt er als die »schönsten Tage meines Lebens«. Seine unerreichten politischen Ziele sind wie eine unerreichbare Geliebte. Eigentlich müssen Flüchtlinge während der ersten Zeit ihres Verfahrens im Heim wohnen. Wenn sie ein bestimmtes Gebiet verlassen, droht ihnen eine Geld- oder sogar Freiheitsstrafe. Auch Arbeit ist in dieser Zeit verboten. »Hier würde ich sterben«, dachte sich Rouzbehan und zog heimlich nach Berlin. Er lebte von Erspartem, schrieb Computerprogramme und besserte seine Kasse als semiprofessioneller Pokerspieler auf. In Zeiten der Not schickte ihm sein Vater ein wenig Geld. »Die ersten sechs Monate waren eine persönliche Katastrophe für mich«, sagt er. »Wenn Zeit zu einer unendlichen Quelle wird, ist das in den ersten Wochen hart.« Während dieser Zeit ging auch die Beziehung zu seiner Freundin im Iran in die Brüche. Einmal im Monat musste er ins Heim zurück, um Formulare zu unterzeichnen. »Das Traurige war, zurück ins Lager zu gehen und zu sehen, was dort mit den Leuten passierte.« Man verschwende einfach Zeit, mache jeden Tag das Gleiche. »Das hat diese Leute total kaputt gemacht. Sie warten ja nicht nur, sie

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»Verglichen mit anderen Leuten hatte ich sehr viel Glück.« hängen in der Schwebe. Und können nicht beeinflussen, was mit ihnen geschehen wird.« Permanent erschien die Polizei, schob Bewohner ab oder suchte nach Drogen. Einmal ging Rouzbehan mit seinem iranischen Zimmermitbewohner in einen Supermarkt, um Bier zu kaufen. Vor dem Ausgang sprach sie ein älterer Mann an. Sie konnten kaum Deutsch und er kaum Englisch. Aber sie verstanden, dass er gegen Alkohol war. »Essen und Sport« waren seine Alternativen. Zum Abschied umarmte er die beiden. »Du wirst es nicht glauben«, sagte Rouzbehans Freund, »aber dies ist das erste Gespräch, das ich in eineinhalb Jahren mit einem Einheimischen geführt habe.« Rouzbehan wartete auf das Ergebnis seiner Anhörung. Nachher erfuhr er, dass der zuständige Sachbearbeiter acht Monate lang krank war. Niemand vertrat ihn, niemand sagte Bescheid. Schließlich kontaktierte er die Amnesty-Asylgruppe in Berlin und nahm sich einen Anwalt. Im März 2014 kam der Sachbearbeiter zurück und versprach, den Fall noch im selben Monat zu bearbeiten. Im Mai 2014 erhielt Rouzbehan dann die Anerkennung – fast zwei Jahre, nachdem er in Deutschland angekommen war. Rouzbehan könnte jetzt legal arbeiten, in seinen alten Job zurückkehren oder etwas Neues anfangen. Vor ein paar Jahren programmierte er noch zehn Stunden am Tag. Heute kommt das für ihn nicht mehr infrage. Er habe das Gefühl, 90 Prozent seiner Fähigkeiten verloren zu haben, gesteht er. Er sei für alles zu langsam. Trotzdem betont er: »Verglichen mit anderen Leuten hatte ich sehr viel Glück.« Er kennt die Geschichten von anderen, deren Flucht tragisch verlaufen ist. Zum Beispiel die Geschichte eines Bekannten, dessen Schlepper 50 Flüchtlinge der Strömung eines türkischen Grenzflusses überließ. »Schwimmt zum anderen Ufer«, befahl er. Als sie am anderen Ufer ankamen, waren sie nur noch 30. Oder die Geschichte einer Familie aus Kamerun, die zehn Jahre lang in Deutschland lebte und hier zwei Kinder bekam. Eines Nachts kam überraschend die Polizei, und sie wurden abgeschoben. Am Ende des Interviews nimmt Rouzbehan die vorletzte Zigarette aus der neu angefangenen Packung. Er hat sie nicht nur selbst geraucht, sondern auch am Nebentisch und an einen Bettler verteilt. Auf der Schachtel ist ein Mann abgebildet, eine Kette fesselt ihn an eine riesige Zigarette. Als Symbol für Abhängigkeit, eingeschränkte Bewegungsfreiheit. Diese Zigaretten sind aus dem Iran, dieselbe Marke hat ihn schon während seiner Gefängnisaufenthalte begleitet und begleitet ihn immer noch. Als nach drei Stunden das Gespräch endet, lässt er die Schachtel auf dem Tisch liegen. Die Autorin ist Mitglied der Asyl-Gruppe Berlin der deutschen Amnesty-Sektion. Mitarbeit: Anieke Becker. Weitere Informationen unter www.amnesty-asylgruppe-berlin.de

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Berichte

38 Russland: Behörden gehen gegen NGOs vor 42 Nigeria: Folter durch Sicherheitskräfte 44 Nigeria: Der Fall von Moses Akatugba 45 »Stop Folter«-Kampagne: Licht im Dunkel 46 Bangladesch: Hilfe für Säureopfer 48 Interiew: Alexandre Anderson de Souza

An regierungskritischen Demonstrationen teilzunehmen wird in Russland immer riskanter. Polizisten nehmen einen Aktivisten fest, der gegen das Bolotnaya-Verfahren protestiert. Moskau, 21. Februar 2014. Foto: Sasha Mordovets / Getty Images

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»Ausländische Agenten.« Grafito am Büro der Bürgerrechtsorganisation »Memorial« in Moskau.

Wer widerspricht, ist ein Agent Im Zuge der Ukraine-Krise hat sich die Lage der zivilgesellschaftlichen Organisationen in Russland entscheidend verschlechtert. Sie stehen unter hohem Druck oder müssen schließen. Währenddessen agitieren regierungsnahe Medien gegen den angeblichen »westlichen Einfluss«. Von Peter Franck »Für den Erfolg unserer Menschenrechtsarbeit in Russland ist es eine Schlüsselfrage, ob diejenigen erfolgreich sein werden, die derzeit auf dem Maidan oder anderswo in der Ukraine für Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte eintreten.« So oder ähnlich ist es derzeit aus der russischen Bürger-

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und Menschenrechtsbewegung zu hören. Nur unzureichend bemerkt von der hiesigen Öffentlichkeit wirken die Ereignisse in der Ukraine auf die Menschenrechtslage in Russland zurück. Andererseits gilt aber auch: Je instabiler die Lage in der Ukraine bleibt, desto leichter ist es für die russische Führung, der eigenen Bevölkerung vor Augen zu führen, dass eine Orientierung »nach Westen« zu Chaos und Unsicherheit führen kann. Insbesondere staatlich beeinflusste Medien arbeiten in Russland derzeit erfolgreich daran, einen Konsens in der Bevölkerung zu erzeugen. Demnach komme es jetzt darauf an, das eigene Land und seine Werte gegen westliche Einflüsse zu verteidigen. Die Beteiligung rechtsgerichteter Gruppen an den Protes-

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Foto: Misha Japaridze / AP / pa

ten in der Ukraine wird genutzt, die gesamte Erhebung als eine faschistische Bewegung zu denunzieren. Der Kampf dagegen wird in den Kontext des »großen vaterländischen Krieges« gestellt, wie der Zweite Weltkrieg in Russland genannt wird. Dass die Kandidaten der rechten Parteien bei den Präsidentschaftswahlen Stimmenanteile von insgesamt unter zwei Prozent erhielten, spielt dabei keine Rolle. Rund 20 Jahre nach Inkrafttreten der russischen Verfassung sprechen alle Anzeichen dafür, dass es jetzt nicht mehr nur um zeitweise Behinderungen auf dem grundsätzlich verfolgten Weg der Russischen Föderation zur Verwirklichung der Grundprinzipien der eigenen Verfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention geht. Dieser Weg soll offenbar grundsätzlich verlassen werden. Unter den Vorzeichen der Ukraine-Krise hat sich die Lage (siehe Amnesty Journal 10-11/2013) nochmals und zwar entscheidend verschlechtert. Dabei geht es »der Macht« um die lückenlose Kontrolle des öffentlichen Raums. Immer schärfere Gesetze machen die Teilnahme an regierungskritischen Demonstrationen zu einem auch in strafrechtlicher Hinsicht erheblichen Risiko. Anfang Juni 2014 hat Amnesty International in dem Bericht »A right – not a crime« sowohl die striktere Handhabung des Demonstrationsrechts als auch seine Verschärfungen dokumentiert. In den vergangenen Wochen galt die Aufmerksamkeit der Behörden aber vor allem den Nichtregierungsorganisationen. Sie werden nicht nur durch andauernde behördliche Überprüfungen schikaniert. Das bereits im November 2012 in Kraft getretene sogenannte »Agentengesetz« wird jetzt konsequent umgesetzt. Demnach müssen sich NGOs, die ausländische Unterstützungsgelder erhalten und »politisch tätig« sind, beim Justizministerium als Organisationen registrieren, »die die Funktion eines ausländischen Agenten erfüllen« (vgl. Amnesty Journal 4-5/2013). Worin eine solche Tätigkeit bestehen kann, ist trotz eines inzwischen ergangenen Verfassungsgerichtsentscheids weitgehend unbestimmt und lässt behördlicher Willkür Raum. Die große Überprüfungswelle im Jahr 2013 hat zunehmend Konsequenzen auch für diejenigen Organisationen, die Amnesty International seit Jahrzehnten kennt und mit denen wir zu-

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russLand

sammenarbeiten. Dabei können an dieser Stelle nur Beispiele genannt werden: Dem »Antidiskriminierungszentrum von Memorial in St. Petersburg« wurden Berichte an das Anti-Folter-Komitee der Vereinten Nationen zum Verhängnis, in denen sich die Organisation kritisch mit der Behandlung von Minderheiten durch das Innenministerium auseinandersetzte. Ein Gericht in St. Petersburg verpflichtete die Organisation am 8. April 2014 in zweiter Instanz dazu, sich als »ausländischer Agent« zu registrieren. Die Organisation verweigert das und löst sich auf. Am 23. Mai 2014 entschied ein Gericht in Moskau, dass auch das »Menschenrechtszentrum von Memorial« die »Funktion eines ausländischen Agenten« erfülle. Für das Zentrum hatte unter anderem auch die 2009 ermordete Natalja Estemirowa gearbeitet. Seine detaillierten Informationen über die Menschenrechtslage im Nordkaukasus waren für Amnesty International in den vergangenen 20 Jahren unverzichtbar. Die vor mehr als 20 Jahren gegründete NGO »Frauen des Don« aus Nowotscherkask, Südrussland, ist in der Region, aber auch international wegen ihrer Arbeit gegen häusliche Gewalt gegen Frauen, für die Rechte von Rekruten und Rentnern überaus angesehen. Sie hat zur Reform der Polizei gearbeitet und Tausende von Menschen in Menschenrechtsfragen beraten. All das bewahrte die NGO nicht davor, in das Fadenkreuz der Ermittler zu geraten. Und auch hier folgten die Gerichte: Am 14. Mai 2014 entschied das Stadtgericht von Nowotscherkask, dass sich auch diese Organisation als »ausländischer Agent« registrieren müsse. Inzwischen hat das Justizministerium jüngst erlassene Vorschriften genutzt und die Organisation mit vier anderen Organisationen selbst in das »Agenten-Register« eingetragen. Die langjährige Leiterin der NGO, Walentina Tscherewatenko, sieht sich darüber hinaus fragwürdigen strafrechtlichen Vorwürfen ausgesetzt, sie habe bei einem Beratungsgespräch im Gefängnis zu einem Gefängnisaufstand angestiftet. Trotz widersprüchlicher Zeugenaussagen nimmt das Verfahren seinen Lauf. Ende Juni wurden weitere Gerichtsentscheidungen bekannt, die ebenfalls Partnerorganisationen von Amnesty International betreffen: Zwischen dem 24. und 27. Juni 2014 entschied ein Moskauer Gericht, dass auch die insbesondere gegen Folter auf Polizeistationen arbeitende Organisation »Public Verdict«, eine weitere der Wahlbeobachtungsorganisationen von »Golos« und die NGO »Lawyers for Constitutional Rights (JURIX)« die Funktion eines ausländischen Agenten erfüllen und in das »Agentenregister« einzutragen sind.

Es geht der »Macht« um die lückenlose Kontrolle des öffentlichen Raums. 39


der russische Fernsehsender »NTW« am Abend des 7. Juni 2014 in der Sendung »Die fünfte Kolonne« mit Perm 36. Das Museum, das neben anderen auch eng mit der Gedenkstätte und dem Museum Auschwitz-Birkenau zusammenarbeitet, würde – so der Vorwurf – »Nazikollaborateure« verherrlichen, die dort unter Stalin zu Recht eingesessen hätten. Inzwischen ist die langjährige Leiterin entlassen und die NGO zur Herausgabe des ihr zu Zeiten von Glasnost und Perestroika vertraglich unbefristet überlassenen Lagergeländes aufgefordert worden. Das alles stellt auch die Arbeit von Amnesty International vor große Herausforderungen, denn die Rahmenbedingungen für unsere Arbeit verschlechtern sich weiter. Gemeinsam mit unseren russischen Freundinnen und Freunden sind wir der Überzeugung, dass es derzeit vor allem darum gehen muss, unabhängige Informationsalternativen auszubauen, die der medial verbreiteten Propaganda etwas entgegensetzen. Menschenrechtlichen Gesichtspunkte müssen in der öffentlichen Debatte viel mehr Berücksichtigung finden als das derzeit der Fall ist. Der gerade veröffentlichte Bericht von Amnesty International zur Lage der Demonstrationsfreiheit in Russland, zu dem russische NGOs maßgeblich beigetragen haben, ist dafür ein Beispiel. Weiter muss deutlich werden, dass Russland nicht nur »Präsident Putin« ist. Wer sich dort unabhängig für Menschenrechte einsetzt, arbeitet in einer kleinen Minderheit, die aber nicht so verschwindend ist, wie es die russischen Medien glauben machen wollen. Den dort arbeitenden Menschenrechtlern gilt es, auch international eine Stimme zu geben. Dies ist nicht die Zeit, zu resignieren! Der Autor ist Sprecher der Russland-Kogruppe der deutschen AmnestySektion.

Foto: Denis Bochkarev / Karen Veldkamp / Amnesty

Die russischen Menschenrechtsorganisationen lehnen es weiter ab, sich als »Agenten« registrieren zu lassen. Eher lösen sie sich auf und versuchen, ihre Arbeit in anderen Organisationsformen fortzusetzen. In einer Erklärung vom 30. Mai 2014 heißt es: »Der Makel eines ›ausländischen Agenten‹ in der derzeitigen gesellschaftlichen Atmosphäre der Xenophobie und des Hasses gegenüber dem ›Westen‹ unterminiert die Idee einer Bürgerkontrolle, da sie sämtliche öffentlichen Aktionen von Nichtregierungsorganisationen sinnlos macht.« Organisationen, die als »ausländische Agenten« diffamiert worden sind, waren immer wieder von Schmierereien und Übergriffen Unbekannter auf ihre Büroräume betroffen. Auch profilierte Menschenrechtler, die Beratungsgremien des russischen Präsidenten angehören, sind vor Übergriffen nicht sicher. Am 1. Juli erlitt Andrei Yurov an den Augen Verbrennungen ersten Grades, als er in Woronesch unter den Worten, »Nimm das!« mit einer antiseptischen Flüssigkeit attackiert wurde. Yurov hatte sich an einem Monitoring der Menschenrechtssituation auf der Krim beteiligt und die Ukraine-Politik des Kreml öffentlich kritisiert. Unter Druck geraten ist auch das »Haus der Menschenrechte« in Woronesch. Im Zentrum der Stadt wurde ein Banner mit Bildern von dort arbeitenden Aktivistinnen und Aktivisten aufgehängt, auf dem es heißt: »Die fünfte Kolonne in Woronesch. Das sind Verräter, Abschaum und einfach Freaks. Merkt euch ihre Gesichter!« Besonders schmerzlich ist die Lage des Gulag-Museums »Perm 36« (vgl. Amnesty Journal 6-7/2010 und 10-11/2013). Nach zweimaliger Absage des auf dem Museumsgelände stattfindenden Sommer-Menschenrechtsfestivals »Pilorama« ist das Museum jetzt selbst zum Ziel geworden: Schon seit längerem versucht der Staat, Einfluss auf die dort bislang von unabhängigen NGOs vermittelten Inhalte zu gewinnen. Nun befasste sich auch

»In Russland kann man seine Meinung nur in der eigenen Küche sagen.« Amnesty-Aktivistin in Moskau, Solidaritätsaktion in Amsterdam.

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AN DEN HAAREN GEPACKT DEN KOPF UNTER WASSER KEINE LUFT NUR WASSER ANGST ZU ATMEN NUR WASSER ANGST ZU ERSTICKEN NUR WASSER ANGST ZU STERBEN WASSER WASSER WASSER BIS DU WAS DAGEGEN TUST. AUF AMNESTY.DE/STOPFOLTER


In Nigeria ist Folter durch Sicherheitskräfte weit verbreitet. Besonders grausam wird sie im Kampf gegen die islamistische Gruppe Boko Haram angewendet. Aber auch willkürlich festgenommene Dorfbewohner können ihr zum Opfer fallen. Von Christian Hanussek Suleiman Ali war 15 Jahre alt, als er im Norden Nigerias festgenommen und in ein Lager gebracht wurde, das unter dem Namen »Guantánamo« bekannt ist. In dem Lager in Damaturu im Bundesstaat Yobe wurde er seinen Angaben zufolge mit Gewehrkolben, Schlagstöcken und Macheten geschlagen, mit geschmolzenem Plastik und kaltem Wasser übergossen. Er musste über zerbrochene Flaschen laufen und wurde gezwungen, außergerichtlichen Hinrichtungen anderer Gefangener beizuwohnen. Suleiman Ali war unter dem Verdacht festgenommen worden, Mitglied der islamistischen Gruppe Boko Haram zu sein. Zusammen mit 31 weiteren Gefangenen wurde er nach einigen Wochen wieder freigelassen. Er benötigte eine medizinische Notversorgung und war traumatisiert, doch überlebte er die Haft. 30 der freigelassenen Häftlinge erlagen innerhalb einer Woche den Folgen der Folterungen. Folter durch Sicherheitskräfte ist in Nigeria weit verbreitet. Dabei kommt ein großes Arsenal an Grausamkeiten zum Einsatz: darunter das Übergießen mit heißem oder kaltem Wasser,

»Menschen werden festgenommen und gezwungen, unter Folter erzielte Geständnisse zu unterschreiben.« 42

Schläge, Schusswunden, sexuelle Gewalt, Nahrungsentzug, extreme Fesselungen, das Aufhängen an den Füßen, das Ziehen von Zähnen, Fuß- und Fingernägeln. Meist versäumen es die nigerianischen Sicherheitskräfte, bei der Verfolgung von Straftaten gründlich zu ermitteln und Beweise zu sichern, sodass gegen Verdächtige keine Anklage erhoben werden kann. Stattdessen werden Menschen willkürlich festgenommen und gezwungen, unter Folter erzielte Geständnisse zu unterschreiben, auf deren Grundlage dann Gerichtsurteile gefällt werden. Nach Artikel 28 des nigerianischen Beweismittelgesetzes dürfen Informationen, die unter Zwang erpresst wurden, vor Gericht nicht zugelassen werden: »Ein Geständnis, das von einer angeklagten Person abgegeben wird, ist in einem Strafprozess bedeutungslos, wenn das Gericht zu der Einschätzung kommt, dass das Geständnis durch einen Anreiz, eine Drohung oder ein Versprechen zustande gekommen ist.« Dennoch sind solche Geständnisse häufig das einzige Beweismittel, das dem Gericht vorgelegt wird. In Nigeria werden Übergriffe, Folter und außergerichtliche Tötungen durch Sicherheitskräfte meist nicht strafrechtlich verfolgt und es ist schwierig, gegen die Täter Anklage zu erheben. Sie können sich der Strafverfolgung leicht entziehen, indem sie sich an eine andere Dienststelle versetzen lassen. Aufgrund dieser Straflosigkeit entsteht ein rechtsfreier Raum und die Opfer sind den Sicherheitskräften zumeist wehrlos ausgeliefert. Zwar untersagt die nigerianische Verfassung Folter und unmenschliche Behandlung, im nigerianischen Strafgesetzbuch ist Folter jedoch nicht explizit verboten. Seit 2012 liegt dem Parlament ein Gesetzentwurf vor, der Folter unter Strafe stellt, doch wurde dieser bislang noch nicht einmal debattiert. Besonders im Kampf gegen die islamistische Gruppe Boko Haram im Norden Nigerias eskalieren die Gewalt und die exzessive Anwendung von Folter. Boko Haram, was so viel bedeutet wie »westliche Bildung ist Sünde«, ist eine islamistische Sekte, die Mohammed Yusuf im nordöstlichen Bundesstaat Borno gegründet hat. Sie vertritt eine extreme Auslegung des Korans, bekämpft den nigerianischen Staat und den im Norden Nigerias etablierten und mit dem politischen System verwobenen Islam. Ab 2003 militarisierte sich die Gruppe, rekrutierte Mitglie-

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Foto: Quentin Leboucher / AFP / Getty Images

Schlagstöcke und Macheten


Keine Auskünfte. Spezialeinheit der nigerianischen Armee während einer Operation gegen Boko Haram, Juni 2013.

der und liefert sich seitdem Gefechte mit den nigerianischen Sicherheitskräften. Zur Eskalation der Gewalt führte die Tötung von mehr als 800 mutmaßlichen Boko Haram-Kämpfern im Juli 2009, die von den nigerianischen Sicherheitskräften zum Teil auf offener Straße hingerichtet wurden. Auch Mohammed Yusuf wurde gefangen genommen und in der Haft getötet. Unter ihrem neuen Führer Abubakar Shekau wurden die Angriffe häufiger und brutaler. Mit dem Bombenanschlag auf den UNO-Stützpunkt in der nigerianischen Hauptstadt Abuja 2011, bei dem 23 Menschen getötet wurden, begann Boko Haram seinen Aktionsradius über den Nordosten Nigerias hinaus auszuweiten. Die Islamisten greifen vor allem Polizeistationen und Sicherheitskräfte an und ermorden christliche und muslimische Geistliche, die sich ihnen entgegenstellen. Zunehmend werden auch Zivilisten Opfer von Anschlägen. Märkte, Busstationen, christliche Kirchen, Schulen, Zeitungsredaktionen oder Bars werden überfallen. In jüngster Zeit werden auch immer mehr Dörfer in Brand gesteckt und deren Bewohner ermordet oder entführt. In der Nacht vom 14. auf den 15. April 2014 überfiel Boko Haram eine Mädchenschule mit Internat in Chibok im Bundesstaat Borno und entführte mehr als 240 Schülerinnen. Seit Ende 2010 setzt die nigerianische Regierung Spezialeinheiten im Kampf gegen Boko Haram ein, die spezielle Lager für Tausende Gefangene eingerichtet haben. Darunter befinden sich neben den mutmaßlichen Kämpfern von Boko Haram auch deren Frauen und Kinder sowie willkürlich festgenommene Dorfbewohner, die selbst von Boko Haram überfallen wurden. Oft werden diese von den Sicherheitskräften misshandelt, ver-

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nigeria

gewaltigt und gefoltert, um Informationen zu erpressen. Anstatt sie vor Boko Haram zu schützen, werden sie so zu zweifachen Opfern der Gewalt. Amnesty ist kein einziger Fall unter den vom Militär Inhaftierten bekannt, der eines konkreten Verbrechens beschuldigt und einem Gericht überstellt wurde, wie es die nigerianische Verfassung verlangt. Die Sicherheitskräfte geben keinerlei Auskünfte darüber, wer in den Speziallagern inhaftiert ist. Die Gefangenen haben keine medizinische Versorgung und keinen Kontakt zu ihren Familien oder Anwälten. Menschenrechtsbeobachter, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz und selbst die Nationale Menschenrechtsorganisation Nigerias, die im Auftrag des Staates Haftzentren kontrollieren soll, erhalten keinen Zugang zu diesen Lagern. Aufgrund der Informationen, die Amnesty und andere Organisationen gesammelt haben, muss davon ausgegangen werden, dass in den Lagern extreme Formen von Folter und außergerichtliche Hinrichtungen an der Tagesordnung sind. In den Lagern Giwa Military Barracks in Maiduguri im Bundesstaat Borno und Sector Alpha (bekannt als »Guantánamo«) sowie Presidential Lodge (bekannt als »Guardroom«) in Damaturu im Bundesstaat Yobe sterben viele Häftlinge an Unterernährung, Ersticken oder den Folgen von Folter. Ehemalige Gefangene berichten, dass dort beinahe täglich Menschen ihren schweren Verletzungen erliegen, die ihnen durch Folter zugefügt und nicht medizinisch versorgt wurden. Der Autor ist Mitglied der Nigeria-Kogruppe der deutschen AmnestySektion.

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Geraubter Traum Moses Akatugba war ein ganz normaler Teenager. Und wie jeder Teenager hatte der Nigerianer einen Traum, wie sein Leben später einmal aussehen sollte: Er wollte Medizin studieren und Arzt werden – so, wie es sich auch sein Vater für ihn gewünscht hatte. Doch mit gerade einmal 16 Jahren wurde nicht nur sein Traum zerstört, sondern auch sein gesamtes Leben. Akatugba erwartete die Ergebnisse seiner schulischen Abschlussprüfungen, als er am 27. November 2005 in seiner Heimatstadt Epkan auf offener Straße von Soldaten festgenommen wurde. Sie beschuldigten ihn, einige Handys und eine geringe Menge Bargeld gestohlen zu haben. Nach Akatugbas Aussage schossen ihm die Soldaten während der Festnahme in die Hand und schlugen ihm auf den Kopf. Anschließend brachten sie ihn in eine nahe gelegene Armeekaserne. Seine Mutter erfuhr nur durch eine Straßenverkäuferin, die zufällig Zeugin der Festnahme war, dass ihr Sohn festgenommen worden war. In der Kaserne verhörten ihn die Soldaten und forderten ihn auf, eine Leiche zu identifizieren. Das konnte der Teenager aber nicht, da er den Toten noch nie zuvor gesehen hatte. Als er den Soldaten dies sagte, schlugen sie erneut auf ihn ein und brachten ihn schließlich zur Polizeistation von Epkan, wo Akatugbas Martyrium weiterging. Mehrere Monate verbrachte er in Polizeihaft. Nach seinen Angaben malträtierten ihn Polizeibeamte mit Macheten und Schlagstöcken. Einem Menschenrechtsverteidiger erzählte Moses Akatugba, dass man ihn stundenlang mit gefesselten Armen in Verhörzimmern aufgehängt habe und Polizisten mit Zangen seine Fuß- und Fingernägel herausgerissen hätten. Moses Akatugba hatte bis dahin die Vorwürfe gegen ihn stets bestritten. Doch als er die Folter nicht mehr länger ertragen konnte, unterschrieb er zwei falsche, von der Polizei vorformulierte »Geständnisse«. »Die Schmerzen während der Folter waren unerträglich. Ich glaubte nicht daran, dass ich überleben werde. Noch nie zuvor habe ich so etwas Grausames erlitten«, sagte Akatugba später. Im März 2006 wurde er nach Erwachsenenstrafrecht wegen bewaffneten Raubüberfalls angeklagt. Sieben Jahre musste er

»Ich glaubte nicht daran, dass ich überleben werde. Noch nie habe ich so etwas Grausames erlitten.« 44

Foto: Amnesty

Der Nigerianer Moses Akatugba wurde im November 2005 als 16-Jähriger festgenommen und sieben Jahre später zum Tode verurteilt – und das nur, weil er angeblich Handys und Headsets gestohlen hat. In der Haft wurde er massiv gefoltert und zu einem falschen »Geständnis« gezwungen. Von Daniel Kreuz

Gerichtsverhandlung als Farce. Moses Akatugba.

auf sein Urteil warten, das völlig unverhältnismäßig war: Im November 2013 wurde er zum Tode durch den Strang verurteilt – für ein Verbrechen, dass er stets abgestritten hatte. Und selbst wenn Moses Akatugba die Tat begangen hätte, hätte er nach internationalem Recht niemals zum Tode verurteilt werden dürfen, da er zum Zeitpunkt der Tat noch keine 18 Jahre alt war. Das Gerichtsverfahren war aber ohnehin eine Farce: Moses Akatugba hatte keine Möglichkeit, seine Sicht der Dinge darzulegen oder ein Alibi vorzubringen. Nach Angaben seines Anwalts genügte für den Schuldspruch eine völlig widersprüchliche Aussage des vermeintlichen Diebstahlopfers sowie das von der Polizei formulierte Geständnis mit der unter Folter erpressten Unterschrift von Moses Akatugba. Sein Anwalt wollte das Gerichtsverfahren auch dafür nutzen, um den Foltervorwürfen nachzugehen. Doch kein einziger Polizist oder Soldat ist jemals beim Prozess erschienen. Moses Akatugba ist inzwischen 25 Jahre alt. Die meisten seiner Freunde nahmen nach ihrem Schulabschluss wie geplant ein Studium auf. Moses Akatugba sitzt hingegen seit mittlerweile acht Jahren im Gefängnis. Er hatte nie die Chance, sich seinen Traum zu erfüllen und Arzt zu werden oder eine eigene Familie zu gründen. Stattdessen sieht er als Häftling seine Angehörigen nur zweimal im Monat und muss befürchten, hingerichtet zu werden. Seine Peiniger hingegen haben nichts zu befürchten: Bis heute wurden keine Ermittlungen aufgenommen, um die Foltervorwürfe aufzuklären und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Der Autor ist Journalist.

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Foto: Kathrin Harms / laif

Indiens große Widersprüche

Diskriminiert. Mädchen in Indien.

Hunger, Misshandlung von Mädchen und Frauen, Witwenverbrennung, Unmenschlichkeit: Zwei IndienKorrespondenten analysieren in einer Streitschrift Politik und Alltag des Subkontinents. Von Maik Söhler

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mmer wieder beschleicht uns (…) das Gefühl, dass selbst gestandene Journalisten, Politiker und Experten Indien mit Samthandschuhen anfassen, weil ihnen das demokratische Indien am Ende doch sympathischer ist als ein islamischer Gottesstaat, das kommunistische China oder eine afrikanische Diktatur. Das aber ist falsche Rücksichtnahme und wird den Tatsachen nicht gerecht.« Es sind deutliche Worte, die die Journalisten Georg Blume (»Die Zeit«) und Christoph Hein (»FAZ«) am Ende ihres Buches »Indiens verdrängte Wahrheit« wählen. Blume hat lange in Indien gelebt, Hein berichtet aus Singapur und bereist den Subkontinent noch immer regelmäßig. Die Autoren schildern einen Abgrund aus »menschenverachtenden Zuständen«, die vom Staat und den Eliten des Landes toleriert werden und von denen viele der Mächtigen profitieren. In einigen indischen Bundesstaaten müssen Mädchen systematisch Hunger leiden, weil Familien ihre Söhne bevorzugen. Witwen werden von Nachbarn mit Benzin übergossen und verbrannt, weil alleinstehende Frauen in der Gesellschaft nichts zählen. Frauen werden in allen Teilen Indiens häufig angegriffen und vergewaltigt. Die Autoren sprechen vom »Genderzid in einem Ausmaß, wie ihn die Menschheit bisher noch nicht erlebt hat«.

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Ein Drittel aller Inder muss mit weniger als 1,25 Dollar pro Tag auskommen. Die medizinische Versorgung ist vor allem auf dem Land katastrophal. Die Suizidrate unter Kleinbauern ist hoch und wer das Elend verlässt, um in einer Boom-Stadt wie Bangalore sein Auskommen zu finden, landet nicht selten in einem Tagelöhnerjob, bei dem giftige Chemikalien und Dämpfe zum Alltag gehören. 40 Millionen Kinder sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten an Mangelernährung und Krankheiten gestorben, die in anderen Teilen der Welt längst als überwunden gelten. »Indiens verdrängte Wahrheit« ist ein Buch, dem man die Wut seiner Autoren anmerkt und auch anmerken soll. Es ist als Streitschrift angelegt und richtet sich direkt an deutsche Politiker und Unternehmer, die mit Indien in diplomatischem oder wirtschaftlichem Kontakt stehen. Für eine Streitschrift wiederum sind die Aussagen gut belegt mit Zahlen, Statistiken und Expertenaussagen, die das Ausmaß des Elends verdeutlichen. Dabei wird auch die Schwäche des Werkes klar: Insbesondere im zweiten Teil, der sich mit der ökonomischen Situation Indiens befasst, scheinen die Autoren die möglichen Folgen ihrer Forderungen nach mehr wirtschaftlicher Liberalisierung und Öffnung zum Weltmarkt hin aus dem Blick zu verlieren. Denn mehr ökonomische Liberalisierung könnte zu noch mehr Armut führen – eine Garantie, dass dies nicht der Fall sein wird, kann derzeit jedenfalls niemand geben. Georg Blume/Christoph Hein: Indiens verdrängte Wahrheit. Streitschrift gegen ein unmenschliches System. Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2014. 200 Seiten, 17 Euro.

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Abseits in Mosambik

Zerrüttet in Fukushima

Alles beginnt wie ein düsteres Zukunftsszenario und selbst in seinen hellsten Momenten fehlen Mia Coutos Roman »Jesusalem« utopische Momente. Der Protagonist des Romans, Silvestre Vitalício, zieht sich mit seinem Freund Zacariah Kalash und seinen beiden Söhnen in ein verlassenes Jagdcamp zurück, das Hunderte Kilometer abseits der Zivilisation liegt. Für die Kinder besteht der Alltag aus Verzicht, Unterwerfung und vor allem aus der Abwesenheit anderer Menschen. Denn der Vater behauptet, außerhalb des Camps gebe es kein menschliches Leben mehr. Mia Couto, Biologie-Professor in Maputo und Autor zahlreicher Romane und Erzählungen, gelingt es, das Leben der Kinder in der Isolation tiefgründig zu schildern. Als die Isolation im Camp endet, zeigt sich, dass die Situation weitgehend dem Tod der Mutter im mosambikanischen Bürgerkrieg geschuldet war. »Der Mensch ist sterblich und liebt das Leben, aber noch lieber lässt er andere nicht leben«, sagt der ehemalige Soldat Zacariah. »Die Kugeln vergessen wir, den Krieg nicht.« Silvestre Vitalício wird das neue Leben in einer Stadt nicht verkraften, auch alle anderen Romanfiguren haben fortan schwere Wege zu beschreiten. 16 Jahre Bürgerkrieg haben in dem südostafrikanischen Land nicht nur Häuser und Landschaften verwüstet, sondern auch die Biografien und die menschlichen Beziehungen. Genau davon erzählt »Jesusalem«.

Distanz zur Atomruine, Nähe zu den geschädigten Menschen – das ist das durchaus überzeugende Prinzip, mit dem die österreichische Journalistin Judith Brandner ihre jüngst erschienene Porträtsammlung »Zuhause in Fukushima« zusammengestellt hat. Die Japanologin hat mit Menschen gesprochen, deren Leben nach dem 11. März 2011 ein anderes ist als zuvor. Da ist die Biobäuerin Sachiko Sato, deren Lebenswerk zerstört wurde, der Diplomat Ryohei Suzuki, der seine diplomatische Karriere aufgibt, um in der Provinz Fukushima im Krankenhaus zu arbeiten, und die NGO-Gründerin Yuko Nishiyama, die Hunderte Kilometer von der Atomruine entfernt von vorn anfängt. Jenseits der Porträts steigt die Autorin auch in politische Debatten ein. Im Kapitel »Die Umweltaktivistin Aileen Mioko Smith« geht Brandner der These nach, der GAU zeige die typische Reaktion des japanischen Staates auf industrielle Gefährdungen von Mensch und Umwelt. Denn Fukushima zeige zahlreiche Parallelen zur Quecksilbervergiftung von Minamata, wo Mitte der fünfziger Jahre eine Chemiefirma hochgiftiges Quecksilber in einem See entsorgte. 3.000 Menschen starben, 10.000 wurden geschädigt. Brandner kommt den Porträtierten nahe, teils auch zu nahe. Dennoch ist ein Buch entstanden, das der abstrakten Katastrophe aus Naturgewalten und industriellem Versagen eine menschliche Dimension gibt.

Mia Couto: Jesusalem. Aus dem Portugiesischen von Karin

Judith Brandner: Zuhause in Fukushima. Das Leben

von Schweder-Schreiner. Verlag Das Wunderhorn, Heidel-

danach. Mit Fotos von Katsuhiro Ichikawa. Kremayr &

berg 2014. 216 Seiten, 24,80 Euro.

Scheriau, Wien 2014. 160 Seiten, 22 Euro.

Unwahrscheinlich im Libanon

Die Grausamkeit im Bild

Am 14. Februar 2005 sprengten Unbekannte im Zentrum von Beirut eine Autokolonne des damaligen libanesischen Premierministers Rafik Hariri in die Luft. Die Folgen des Attentats wirken sich bis heute auf das fragile Machtgefüge des Landes aus. Sei es, dass politische Entscheidungen kaum ohne die schiitische Hisbollah-Miliz getroffen werden können, sei es, dass der Nachbarstaat Syrien die Geschicke des Libanon mitbestimmt, sei es, dass Israel seine Interessen auch jenseits seiner nördlichen Landesgrenzen wahrnimmt. Genug Stoff also für Politologen und Historiker, aber auch für einen Politthriller. Den hat Alfred Hackensberger, der seit Jahren für deutschsprachige Medien aus arabischen Ländern berichtet und auch im Libanon gelebt hat, mit »Letzte Tage in Beirut« nun vorgelegt. Bei ihm ist es ein undurchschaubares Komplott aus geheimdienstlichen Mächten und organisierter Wirtschaftskriminalität, das zur Ermordung Hariris führt. Flott erzählt und detailreich ausgeschmückt entwickelt Hackensberger einen fiktiven Plot rund um den deutschen Journalisten Klaus Steinbacher, dessen Frau beim Anschlag ihr Leben verliert und der sich deswegen auf die Suche nach der Wahrheit macht. »Letzte Tage in Beirut« will Klarheit schaffen, steht am Ende aber nur vor einem Mysterium voller Widersprüche. Ein Sachbuch wäre besser gewesen.

Es ist eine Gewalttat sondergleichen, die vornehmlich Frauen und Mädchen trifft: das Säureattentat. Weithin und lebenslang sichtbar soll sein, dass hier ein Mensch gegen die vermeintlichen Regeln verstoßen hat – wenn eine Frau zum Beispiel nicht heiraten will oder nicht gehorcht oder die Mitgift zu niedrig ist. Es war ein Haushaltsunfall, behaupten lapidar die Täter, die oft genug in der eigenen Familie zu finden sind. Das Opfer muss für den Rest seines Lebens mit entstelltem Körper leben, mit dauerhaftem Schmerz; viele leben in völliger Zurückgezogenheit. »Un/Sichtbar« ist ein Fotoband, der den Opfern in ihrem Leid die Würde zurückgeben will. Die Fotografin Ann-Christine Woehrl und die Autorin Laura SalmReifferscheidt haben betroffene Frauen überall auf der Welt aufgesucht, nach ihrem Schicksal gefragt und sie für die Kamera inszeniert. Die Porträts sind Gesamtkunstwerke – Schmerz und Mut kommen in ihnen gleichermaßen zum Ausdruck. »Heute ist mein persönlicher Unabhängigkeitstag«, sagte eine junge Inderin über die Fotosession. »Von jetzt an will ich mich nicht mehr verstecken.« Derzeit sind die Bilder auch in einer Ausstellung in München zu sehen. Ann-Christine Woehrl, Laura Salm-Reifferscheidt: Un/Sichtbar – In/Visible, Lammerhuber, Wien 2014, 212 Seiten, 49,90 Euro. Un/Sichtbar – In/Visible. Ausstellung. Bis 11. Januar 2015.

Alfred Hackensberger: Letzte Tage in Beirut. Edition

Staatliches Museum für Völkerkunde München, Maxi-

Nautilus, Hamburg 2014. 160 Seiten, 12,90 Euro.

milianstraße 42, München. Di–So 9.30–17.30 Uhr

Bücher: Maik Söhler, Jürgen Kiontke kuLtur

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Fluchtort Meer

Frieden für Mali

Mit der Nussschale durch Wellen, Müll, Stürme: In dem französischen Extremfilm »Turning Tide« bleibt Sportsegler Yann auf der Einhand-Regatta »Vendée Globe« rund um die Welt wenig erspart. Schon auf Teneriffa hat er das Kielschwert geschrottet und muss flicken. Die Natur stellt Kapitän und Schiff vor schwierige Aufgaben. »Um die Welt segeln – was soll das?« Derjenige, der hier fragt, hat andere Lebensinteressen. Der 16-jährige Mano ist als blinder Passagier mit an Bord. Er will nach Frankreich, zum Arzt. In seiner Familie haben die Männer eine gefährliche Sichelzellenanämie. Angehalten wird nicht: Mano muss bis zum Schluss an Bord bleiben. Der Flüchtling weckt in Yann bald väterliche Gefühle. Die Wahl dieses Szenarios ist gut: Denn Yanns Schiff ist ein technisches Wunderwerk mit Schlagseite: Jedes seiner Manöver wird per Überwachungstechnik genauestens in der Zentrale protokolliert. Er kann dem Jungen nicht einmal ein Pflaster unbemerkt aufkleben. Das Segelboot als FreiheitsTool? Yann muss sich wirklich die Frage nach dem Sinn seines Unternehmens stellen lassen. Die Reise der beiden wartet mit unglaublichen Bildern auf: Man zieht an Eisbergen vorbei und sieht die Buckelwale springen. Das Meer als Sehnsuchtsort – des saturierten Europäers wie des jungen Flüchtlings: Diese Geschichte segelt immer wieder haarscharf, aber gekonnt am Kitsch vorbei. Politische Brisanz gepaart mit hoch durchkonstruiertem Schicksal: Solche Filme gibt’s nur aus Frankreich!

Er hat schon immer unterschiedliche Stilrichtungen in seine Musik integriert, in diversen Sprachen gesungen und sich nicht auf eine bestimmte ethnische Tradition festlegen lassen: Der Gitarrist, Sänger und Songwriter Habib Koité aus Bamako ist ein Kosmopolit, der stets den Kontakt zu den verschiedenen Volksgruppen in seinem Land gesucht und speziell mit Tuareg-Musikern aus dem Norden Malis zusammengearbeitet hat. Doch der Bürgerkrieg in Mali hat gezeigt, wie fragil die Einheit seines Landes ist. Sein neues Album »Soo« ist deshalb eine Hommage an sein Heimatland und dessen gefährdeten Zusammenhalt geworden. Der Song »Drapeau« ist ein patriotischer Appell auch an das Ausland, Mali dabei zu helfen, zu neuem Frieden zu finden. Meist aber singt Habib Koité in seinen elegischen, akustischen Balladen über das, was die unterschiedlichen Gemeinschaften Malis verbindet: die nachbarschaftliche Solidarität, die über alle ethnischen Grenzen hinweg reicht (»Deme«), das gemeinsame Fußballspiel der Jugendlichen eines Viertels (»Balon Tan«), und das Glück, ein Zuhause zu haben, wohin man zurückkehren kann (der Titelsong »Soo«). Hinzu kommt auch ein Stück, in dem er eindringlich vor den Gefahren der Genitalbeschneidung bei Säuglingen warnt (»Khafole«). Nur das beschwingte Stück über Tequila-Trinken mit Freunden in Los Angeles, dessen Drive an seinen größten Hit »Cigarette A Bana« erinnert, fällt aus dem melancholischen Rahmen.

»Zwischen den Wellen«. F 2013. Regie: Christophe Offen-

Habib Koité: Soo (Contre-Jour)

stein, Darsteller: Francois Cluzet, Damy Seghir. Kinostart: 18. September 2014

Politischer Afrobeat Proteste unserer Tage Einen Überblick über die Hotspots der zivilgesellschaftlichen Proteste der vergangenen Jahre gibt der Film »Everyday Rebellion«. Lose verknüpft er die Occupy-Aktivitäten in New York mit denen von Femen in der Ukraine und dem TahrirPlatz in Kairo. »Das einzige System, das wir tolerieren, ist das Sound-System«, steht an der Wand. Der gemeinsame Ton: Die Demonstrationen sind gewaltlos – zumindest seitens der Demonstranten. Viele kleine Beispiele kreativen Protesthumors kommen so zutage: »Wenn wir mit zehn Leuten die Stadt taggen«, sagt ein Aktivist, »dann sieht das am nächsten Morgen aus, als seien wir eine Massenbewegung«. Der Verzicht auf Randale erklärt sich schnell, wenn man die – wenigen – gewaltfreien Oppositionellen in Syrien befragt: »Die Armee hat 300.000 Soldaten. Das wäre, als steige man mit Mike Tyson in den Ring. Die Typen fressen deine Ohren. Wir suchen nach Protestformen, die funktionieren.« Jeden Tag Rebellion – und genauso viel Repression, das galt auch für die grüne Bewegung im Iran. Harte Bilder werden hier präsentiert, der Zuschauer erfährt von den rüden Methoden der Sicherheitskräfte, von Prügel, Folter und Mord. Die Regiebrüder Riahi lassen Aktivisten der widerständigen Öffentlichkeit zu Wort kommen. Hochinteressante Rundreise zu den Protesten unserer Tage.

Die Erbfolgefrage ist geklärt: Als Nigerias Afrobeat-Erfinder Fela Kuti 1997 an den Folgen von Aids starb, erbte sein jüngster Sohn vom Vater dessen Band Egypt 80. Da war Seun Kuti gerade mal 14 Jahre alt und brauchte seine Zeit, um in die Schuhe des Übervaters hineinzuwachsen. Das ist ihm nun gelungen. Auf seinem dritten Album zeigt der 31-jährige Saxofonist, dass er sein Handwerk gelernt hat – und dass der Afrobeat nichts an Dringlichkeit verloren hat. Ganz wie der Vater, der gegen korrupte afrikanische Politiker, den Zynismus westlicher Mächte und die Gier internationaler Banken und Großkonzerne zu Felde zog, übersetzt der Sohn im Song »IMF« das Kürzel für den Internationalen Währungsfonds kurzerhand mit »International Mother Fucker«. Die Rap-Parts von Dead-Prez-Frontmann M1 fügen sich perfekt in die hektischen Bläsersalven und High-Speed-Percussion ein, und auch sonst hat Seun Kuti das bewährte Afrobeat-Rezept aus Jazz, Soul, Funk und westafrikanischer Polyrhythmik sachte modernisiert. Zeitgemäß setzt er sich für Frauenrechte oder die Occupy-Bewegung in Nigeria ein. »A long way to the beginning« ist energisch und virtuos und verdichtet das pure Adrenalin der Live-Shows in ein kompaktes Albumformat. 17 Jahre nach Felas Tod ist der Afrobeat so lebendig wie nie. »Fela lebt« hat Sohn Seun Kuti sich auf den Rücken tätowiert. Das darf man wörtlich nehmen.

»Everyday Rebellion«. CH/A/D 2013. Regie: Arash & Arman

Seun Kuti: A long way to the beginning (Knitting

T. Riahi, Kinostart: 11. September 2014

Factory Records)

Film: Jürgen Kiontke | Musik: Daniel Bax 60

amnesty JournaL | 08-09/2014


Die Schwester

A

ls die Sängerin Niasony dreizehn Jahre alt war, kam sie nach Deutschland. Ihre Mutter, die fünf Jahre zuvor zu ihrem neuen Mann in eine Kleinstadt am Rande des Ruhrgebiets gezogen war, hatte sie zu sich geholt. »Alles war grau, es gab keine Menschen auf der Straße und ich hatte keine Freunde«, erinnert sich die Sängerin. »Ich wollte nur zurück zu meiner Großmutter.« Doch sie blieb, lernte Deutsch, machte die Mittlere Reife, jobbte als Model, Tänzerin und Sängerin, und jetzt hat die 39-Jährige, die heute bei Düsseldorf lebt, ihr erstes Album veröffentlicht, es heißt »Afroplastique.« Der Titel soll an die Armut erinnern, der sie entkommen ist. Ihr Bruder hatte weniger Glück, denn er war bereits 18, als er nach Deutschland kam, und damit zu alt, um nachziehen zu dürfen. »Meine Mutter hat zu lange gezögert und wurde falsch beraten«, ärgert sich Niasony. Um zu bleiben, beantragte er Asyl, doch am Ende wurde er abgeschoben, seit 2007 lebt er wieder im Kongo. In Deutschland kam er nicht zurecht, landete sogar im Gefängnis. Niasony sieht ihn als Opfer der Umstände, denn ihr Bruder sei hilflos gewesen. »So einen Rassismus habe ich noch nicht erlebt«, sagt Niasony: »Er wurde behandelt wie ein Fußball, den man herumkickt.« Sie illustriert das mit einer Anekdote: Einmal habe sie ihm ein Auto geschenkt. Doch kaum war sie zu Hause, musste sie zurück, um ihn aus der Polizeihaft zu holen: Nachbarn hatten die Polizei gerufen, weil sie glaubten, das könne nicht mit rechten Dingen zugehen. Die Beamten hätten ihren Bruder bei der Festnahme mit der Pistole bedroht und geschlagen, empört sich Niasony. Die schockierende Erfahrung motivierte sie, sich bei Amnesty in Düsseldorf zu melden. Sie wollte wissen, wie das deutsche Asylsystem funktioniert, und bald schon betreute sie Flüchtlinge, die gerade erst nach Deutschland gekommen waren, und begleitete sie durch den Behördendschungel. »Viele können sich gar nicht vorstellen, was sie in Deutschland erwartet und wie schwer es ist, hier Fuß zu fassen«, hat sie gemerkt. Manche landeten in irgendwelchen Dörfern, weit ab von jeder Großstadt und ohne Kontakt zu anderen Landsleuten. Zwei Stücke auf ihrem Album hat Niasony ihrem Bruder gewidmet. Schon als Kind hatte sie im Kongo in einer Ballettgruppe getanzt und die Musik half ihr immer wieder über Tiefpunkte in ihrem Leben hinweg. In Deutschland fing sie irgendwann an, zur Gitarre Songs über ihre Erlebnisse zu schreiben. Mit Musikern aus der rheinischen Reggae-Szene hat sie nun ihr autobiografisch geprägtes Album produziert, dessen eleganter PopSound an die Sängerin Angelique Kidjo aus Benin denken lässt. Hier und da blitzen Soukous-Elemente aus dem Kongo auf (»Ezanani«), von ihrer Single »Ponanini« gibt es auch einen gediegenen Elektronik-Remix. Die Lieder handeln von Kindern, die als Waisen aufwachsen, vom Hunger in Afrika und von der Ausbeutung des Kontinents. Niasony singt auf Lingala, der Amtssprache des Kongo, weil sie will, dass ihre Botschaften auch dort gehört werden. Die Songs teilen eine melancholische Grundstimmung und sind trotzdem tanzbar, getreu ihrem Motto: »Es ist besser, im Regen zu tanzen als auf die Sonne zu warten.«

Melancholische Botschaften. Niasony.

Niasony: Afroplastique (Membran / Sony)

Foto: Markus Roosen

Niasony kam als Kind aus dem Kongo nach Deutschland – ohne den geliebten Bruder, der schon zu alt war, um einreisen zu dürfen. Diese Erfahrungen verarbeitet die Sängerin auf ihrem neuen Album »Afroplastique«. Von Daniel Bax

kuLtur

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Vor dreißig Jahren hat sich amnesty internationaL als eine der ersten Organisationen für ein weltweites Verbot von Folter eingesetzt – mit Erfolg: Am 10. Dezember 1984 verabschiedete die UNO-Generalversammlung die Antifolterkonvention. Heute sind Folter und Misshandlungen weltweit verboten. Und dennoch werden weiterhin Menschen gefoltert. amnesty internationaL veröffentlicht an dieser Stelle drei Einzelschicksale. Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt wird und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Schreiben Sie bitte im Interesse der Betroffenen höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Adressen des Landes. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Schreiben erhalten, schicken Sie bitte eine digitale Kopie an: info@amnesty.de

amnesty internationaL Zinnowitzer Straße 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 Fax: 030 - 42 02 48 - 488 E-Mail: info@amnesty.de www.amnesty.de Spendenkonto Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE 233 702050 0000 8090100 BIC: BFSWDE33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00)

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briefe gegen das vergessen

mexiko bÁrbara itaLia mÉndez Bárbara Italia Méndez, die ehrenamtlich für eine Kinderhilfsorganisation arbeitete, machte sich am Abend des 3. Mai 2006 von Mexiko-Stadt auf den Weg nach San Salvador Atenco im Bundesstaat México, nachdem sie gehört hatte, dass dort bei Zusammenstößen zwischen Protestierenden und der Polizei ein Kind getötet worden war. Am Morgen des 4. Mai wurde sie in dem Haus, in dem sie übernachtet hatte, von der mexikanischen Bundespolizei ohne Begründung festgenommen. Die Polizisten zogen sie an den Haaren und schlugen auf sie ein. Bárbara Italia Méndez erlitt Kopfverletzungen und zahlreiche Prellungen. Anschließend musste sie in ein Fahrzeug einsteigen und sich auf mehrere weitere Festgenommene legen. Während der Fahrt zum Gefängnis schlugen Polizisten weiter auf sie ein und vergewaltigten sie, wobei einige Polizisten ihre Kollegen anfeuerten. Am 5. Mai wurde Bárbara Italia Méndez der Staatsanwaltschaft vorgeführt. Sie weigerte sich, eine Aussage zu machen, da sie keinen Rechtsbeistand hatte. Stattdessen wollte sie Anzeige wegen der Vergewaltigung und Misshandlung erstatten, die jedoch nicht aufgenommen wurde. Auch die medizinischen Untersuchungen waren unzureichend. Die Täter sind bis heute nicht vor Gericht gestellt worden. Derzeit beschäftigt sich die Interamerikanische Menschenrechtskommission mit dem Fall von Bárbara Italia Méndez und weiteren Frauen, die im Mai 2006 in San Salvador Atenco von Polizisten vergewaltigt und misshandelt wurden. Die Menschenrechtskommission wird in Kürze einen Bericht mit Empfehlungen an die mexikanische Regierung veröffentlichen. Wenn die Regierung den Empfehlungen nicht nachkommt, wird der Fall an den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte weitergeleitet. Weil der Bericht noch nicht vorliegt, sollen die mexikanischen Behörden derzeit nicht direkt angeschrieben werden. Bitte schreiben Sie kurze Botschaften der Unterstützung an Bárbara Italia Méndez. Vorschläge auf Spanisch und Deutsch: Querida Bárbara: Le apoyamos en su lucha digna por la justicia. Esperamos que pronto las autoridades reconozcan su responsabilidad por los hechos y que pronto se haga justicia. Abrazos de solidaridad y apoyo! Liebe Barbara, wir/ich unterstütze/n Ihren Kampf für Gerechtigkeit. Wir/ich hoffe/n, dass die Behörden endlich ihre Verantwortung übernehmen und dafür sorgen, dass die Verantwortlichen für das, was Ihnen angetan wurde, vor Gericht gestellt werden. Mit solidarischen Grüßen Die Menschenrechtsorganisation wird Ihren Brief an Bárbara Italia Méndez weiterleiten: Bárbara Italia Méndez c/o: Centro de Derechos Humanos Miguel Agustín Pro Juárez Serapio Rendón no.57/B Col. San Rafael, C.P. 06470 México D.F., MEXIKO (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,75 €)

amnesty JournaL | 08-09/2014


Azam Farmonov, Mitglied der unabhängigen Menschenrechtsorganisation »Human Rights Society of Uzbekistan«, verbüßt eine neunjährige Haftstrafe in einem abgelegenen Hochsicherheitsgefangenenlager im Nordwesten von Usbekistan. Amnesty International betrachtet ihn als gewaltlosen politischen Gefangenen. Azam Farmonov wurde am 29. April 2006 in seiner Heimatstadt Gulistan im Osten des Landes festgenommen. In Untersuchungshaft hatte er mindestens eine Woche lang keinen Kontakt zur Außenwelt. Später erzählte er seiner Familie, dass Polizeibeamte ihm eine Gasmaske übergezogen und die Luftzufuhr abgedreht hätten. Er gab an, mit Knüppeln auf die Beine und die Fußsohlen geschlagen worden zu sein, um ihn zu einem »Geständnis« zu zwingen. Trotz der Folterungen hat er nie ein Geständnis unterzeichnet und stets seine Unschuld beteuert. Vor seiner Festnahme hatte Azam Farmonov sich für die Rechte lokaler Bauern und Bäuerinnen eingesetzt, die einigen Vertretern der für Landwirtschaft zuständigen Behörden Erpressung, Korruption und mangelnden Schutz der Interessen der Bauern vorgeworfen hatten. Am 16. Mai 2006 wurde Azam Farmonov selbst wegen Erpressung angeklagt. Seine Familie weigerte sich jedoch, den staatlich gestellten Rechtsbeistand zu akzeptieren, nachdem sie erfuhr, dass der Anwalt die schriftliche Anzeige, in der Azam Farmonov die Folterungen beschrieben hatte, zerrissen hatte. Azam Farmonov wurde am 15. Juni 2006 zu neun Jahren Gefängnis verurteilt. Das Urteil basierte hauptsächlich auf Aussagen, die Bauern unter Zwang gemacht hatten. Azam Farmonov hatte während des Gerichtsverfahrens keinen Rechtsbeistand. Er erstattete bei der Generalstaatsanwaltschaft Anzeige wegen der Folterungen und auch seine Familie hat zahlreiche Beschwerden bei den zuständigen Behörden eingereicht. Dennoch sind bis zum heutigen Tag keine Untersuchungen der Foltervorwürfe eingeleitet worden. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den usbekischen Präsidenten und fordern Sie ihn auf, Azam Farmonov unverzüglich und bedingungslos freizulassen. Bitten Sie ihn außerdem, sofort eine umfassende Untersuchung der von Azam Farmonov erhobenen Foltervorwürfe einzuleiten. Schreiben Sie in gutem Usbekisch, Russisch, Englisch oder auf Deutsch an: Präsident Islam Karimov Rezidentsia prezidenta, ul. Uzbekistanskaia 43 Tashkent 700163, USBEKISTAN (Anrede: Dear President / Sehr geehrter Herr Präsident) Fax: 009 98 - 71 - 139 53 25 E-Mail: presidents_office@press-service.uz (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,75 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Usbekistan S. E. Herrn Durbek Amanov Perleberger Straße 62, 10559 Berlin Fax: 030 - 39 40 98 62 E-Mail: botschaft@uzbekistan.de

briefe gegen das vergessen

Foto: privat

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usbekistan azam farmonov

nigeria moses akatugba Der 16-jährige Moses Akatugba wurde am 27. November 2005 auf offener Straße in seiner Heimatstadt Epkan von Soldaten festgenommen, weil er einige Handys und Headsets gestohlen haben soll. Man brachte ihn in eine nahegelegene Kaserne, wo er Erniedrigungen und Misshandlungen ausgesetzt war. Die Soldaten forderten ihn auf, eine Leiche zu identifizieren, was er allerdings nicht konnte, da er den toten Mann noch nie gesehen hatte. Daraufhin schlugen die Soldaten den Jungen und brachten ihn schließlich zur Polizeistation von Epkan. Dort ging Moses Akatugbas Martyrium weiter. Seinen Angaben zufolge wurde er von Polizeibeamten mit Macheten und Schlagstöcken malträtiert. Er wurde stundenlang mit gefesselten Armen aufgehängt und Polizisten rissen ihm mit Zangen Fuß- und Fingernägel heraus. Nach drei Monaten in Polizeigewahrsam unterschrieb der Jugendliche zwei Geständnisse. Im Gerichtsverfahren gegen Moses Akatugba sollte es nach dem Willen seines Anwalts auch um die Foltervorwürfe gegen Soldaten und Polizisten gehen. Sie wurden jedoch bis heute nicht untersucht. Der Prozess endete mit einem Schuldspruch gegen Moses Akatugba auf Grundlage einer völlig widersprüchlichen Aussage des vermeintlichen Diebstahlopfers und eines unter Folter erpressten »Geständnisses« von Moses Akatugba. Er wurde im November 2013 zum Tode verurteilt, obwohl er zum Zeitpunkt der Tat noch keine 18 Jahre alt war. Dies ist nach internationalem Recht verboten. Moses Akatugba sitzt nun in der Todeszelle und darf kaum Kontakt zu seiner Familie haben. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den zuständigen Gouverneur und fordern Sie ihn auf, das Todesurteil gegen Moses Akatugba umzuwandeln und sofort eine unabhängige Untersuchung der von Moses Akatugba vorgebrachten Foltervorwürfe einzuleiten. Schreiben Sie in gutem Englisch oder auf Deutsch an: Dr. Emmanuel Uduaghan Governor of Delta State Office of the Governor Government House Asaba Delta State NIGERIA (Anrede: Your Excellency / Exzellenz) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,75 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Bundesrepublik Nigeria S. E. Herrn Abdu Usman Abubakar Neue Jakobstraße 4, 10179 Berlin Fax: 030 - 21 23 01 64 E-Mail: info@nigeriaembassygermany.org

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Reden und handeln. Amnesty-Aktion während der Jahresversammlung in Münster.

in wichtiger mission Drei Tage lang wurde beraten, gestritten und abgestimmt: Auf der Jahresversammlung von Amnesty International in Münster diskutierten Mitglieder aus ganz Deutschland darüber, welchen Weg die Menschenrechtsorganisation künftig einschlagen soll. Dabei stand das »Recht auf Privatsphäre« ganz oben auf der Agenda. Von Ramin M. Nowzad Die Welt zu retten, kann ziemlich frustrierend sein. Besonders, wenn das Pfingstwochenende begonnen hat und die Sonne wie Scheinwerferlicht vom Himmel knallt. In der westfälischen Universitätsstadt Münster gäbe es bei solch einem Wetter viele Orte, an denen sich das Leben genießen ließe. Die schnöden Konferenzräume der Mehrzweckhalle »Münsterland« gehören eher nicht dazu. Wer sich hier ein sonniges Wochenende um die Ohren schlägt, muss den Verstand verloren haben. Oder er hat eine wichtige Mission – wie die rund 500 Amnesty-Mitglieder, die am 6. Juni aus allen Himmelsrichtungen nach Westfalen angereist waren, um über die Zukunft der deutschen Sektion von Amnesty International zu entscheiden. »Jahresversammlung« – so heißt die Veranstaltung, die jedes Jahr zu Pfingsten an wechselnden Orten in Deutschland stattfindet. Drei Tage lang wird beraten, gestritten und abgestimmt, welchen Weg die Menschenrechtsorganisation künftig einschlagen soll. In diesem Jahr trafen sich die Delegierten in Münster. Und wie es der Zufall wollte, jährte sich während des Treffens ein Ereignis, das Amnesty vor immense Herausforderungen stellt. Vor genau einem Jahr war ein junger IT-Experte mit einem Schlag weltberühmt geworden: Edward Snowden hatte die Welt im Juni 2013 mit seinen Enthüllungen in einen Schockzustand versetzt. Seither wissen wir, dass die NSA und

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andere westliche Geheimdienste Festplatten ausspähen, Telefonate belauschen und SMS mitlesen. Weltweit. Selbst das Handy der Bundeskanzlerin ist nicht sicher. Das »Recht auf Privatsphäre« ist seither in aller Munde. Und es bewegte auch die Delegierten in Münster: Mit großer Mehrheit beschlossen sie, dass sich die deutsche Amnesty-Sektion in dieser Debatte künftig deutlicher zu Wort melden soll. Doch auch die Bundesregierung sahen die Delegierten in der Pflicht: Diese müsse sicherstellen, dass ausländische Datenschnüffler strafrechtlich verfolgt werden. Außerdem müsse sie die Rolle deutscher Geheimdienste in der Abhöraffäre klären. Ein weiteres Thema, das die Amnesty-Mitglieder umtrieb, war der Schutz von Flüchtlingen. Weltweit sind derzeit mehr als 50 Millionen Menschen auf der Flucht. In Münster gedachten die Delegierten der Flüchtlinge, die beim Versuch, Europas Außengrenzen zu überwinden, ums Leben gekommen sind. Europas Staats- und Regierungschefs riefen sie dazu auf, in der Flüchtlingspolitik einen Richtungswechsel einzuleiten. »Der Schutz von Menschen und nicht von Grenzen muss im Mittelpunkt stehen«, sagte Vorstandssprecher Oliver Hendrich zum Abschluss der Jahresversammlung. Auch zwei Posten des ehrenamtlichen Vorstandes wurden in Münster neu besetzt: Die 35-jährige Berlinerin Susanne Baldin wird im Vorstand künftig für Länderarbeit zuständig sein. Zur stellvertretenden Vorstandssprecherin wählten die Delegierten Nadja Wenger. Die Studentin aus Erlangen ist das jüngste Mitglied des siebenköpfigen Vorstandes. Die 25-Jährige sieht darin eine besondere Chance: »Ich freue mich darauf, die Anliegen junger Amnesty-Mitglieder in den Vorstand zu tragen«, sagte sie nach ihrer Wahl.

amnesty JournaL | 08-09/2014


Zum neunten Mal lobt Amnesty International gemeinsam mit 18 weiteren Organisationen den Deutschen Menschenrechts-Filmpreis aus. Die Auszeichnung prämiert herausragende Film- und Fernsehproduktionen, denen es gelingt, das Thema Menschenrechte überzeugend darzustellen. Zugleich möchte der Preis das besondere Engagement der Filmemacher für Menschenrechtsthemen ins Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit rücken. Einreichungen sind in fünf Kategorien möglich. Bewerbungsschluss ist der 2. September 2014. Die aktuelle Ausschreibung richtet sich an Produktionen, die zwischen 2012 und 2014 fertiggestellt wurden und die auf Deutsch oder mit deutschen Untertiteln vorliegen. Der Deutsche Menschenrechts-Filmpreis wird seit 1998 alle zwei Jahre vergeben und ist mit jeweils 2.500 Euro pro Kategorie dotiert. Anmeldeformulare und weitere Informationen unter http://menschenrechts-filmpreis.de

aktiv fÜr amnesty

Durch ganz unterschiedliche Veranstaltungen geben Amnesty-Mitglieder den Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme. Diese Aktionen vor Ort sind ein unentbehrlicher Teil der Arbeit von Amnesty International. Mehr Informationen darüber finden Sie auf http://blog.amnesty.de und www.amnesty.de/kalender

impressum Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, Tel.: 030 - 42 02 48 - 0, E-Mail: info@amnesty.de, Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion Amnesty Journal, Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, E-Mail: journal@amnesty.de (für Nachrichten an die Redaktion) Redaktion: Bernd Ackehurst, Markus N. Beeko, Anton Landgraf (V.i.S.d.P.), Ramin M. Nowzad, Larissa Probst Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit Albrecht, Daniel Bax, Andreas Behn, Selmin Çalışkan, Peter Franck, Francis Gay, Nicole Graaf, Ensaf Haidar, Christian Hanussek, Knut Henkel, Bernhard Hertlein, Georg Kasch, Berit Kasten, Jürgen Kiontke, Daniel Kreuz, Nora Lassahn, Ramin M. Nowzad, Wera Reusch, Uta von Schrenk, Maik Söhler, Carsten Stormer, Franziska Vilmar Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck: hofmann infocom GmbH, Nürnberg Vertrieb: Carnivora Verlagsservice, Berlin Bankverbindung: Amnesty International, Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE 233 702050 0000 8090100, BIC: BFSWDE33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00) Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und erscheint sechs Mal im Jahr. Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Nichtmitglieder können das Amnesty Journal für 30 Euro pro Jahr abonnieren. Für unverlangt eingesandte Artikel oder Fotos übernimmt die Redaktion keine Verantwortung. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder. Die Urheberrechte für Artikel und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, für die Verbreitung im Internet oder für Vervielfältigungen auf CD-Rom.

ISSN: 2199-4587

aktiv fÜr amnesty

seLmin ÇaLişkan Über

heiLung

Foto: Amnesty

deutscher menschenrechts-fiLmpreis

Auf meinem Lebensweg habe ich immer wieder Menschen getroffen, die mir erzählten, wie sie gefoltert wurden. Ich fragte mich, wie man mit Gewalterlebnissen dieser Art fertig werden kann. Inzwischen weiß ich, dass dies individuell sehr verschieden ist. Und dass es stark von der psycho-sozialen Unterstützung abhängt, ob ein Mensch wieder ins Leben findet. Die meisten können nicht darüber sprechen. Aus Scham und aus Angst vor der Konsequenz, den sozialen Status in der Gemeinschaft zu verlieren oder aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen des Folterers. Zum Sprechen braucht es vor allem eins: einen geschützten Raum. Ich habe eine Gruppe von kriegsvergewaltigten Frauen im Kosovo in ihrem Dorf besucht. Damals arbeitete ich für »Medica Mondiale« und habe mich tagtäglich mit Vergewaltigung als Kriegswaffe und als eine Form der Folter beschäftigt. Eine der Frauen war vor dem Krieg Anwältin. Bei ihr fanden Gespräche der Frauengruppe mit einer Psychologin in einem besonderen Raum statt. Es begann ein kollektiver Heilungsprozess. Die Anwältin wurde Imkerin und gab Bienenvölker an die Nachbarinnen weiter, damit sich diese auch eine Lebensgrundlage aufbauen konnten. Denn die Männer waren tot oder galten als vermisst. Die Frauen standen vor dem Nichts. Ein weiterer Schritt zur Heilung war der Kampf um gesellschaftliche und juristische Anerkennung. Eine der Kosovarinnen schöpfte Kraft aus der Gruppe und sagte vor dem Internationalen Strafgerichtshof aus. Aber selbst, als die psychologische Begleitung längst beendet war, blieb das Haus der Anwältin wichtig. Frauen kommen zu ihr und setzen sich in den Raum. Für das Gespräch über das Unaussprechliche. Das Schweigen zu brechen, darum geht es in unserer Kampagne »Stop Folter«: Das aussprechen, was andere verschweigen wollen. Stimme sein für diejenigen, die nicht sprechen können oder nicht gehört werden. Ein Stück Heilung. Ich muss dabei an die Imkerin im Kosovo denken. Ihr Haus war zu einem Raum geworden, in dem das Schweigen gebrochen wird. Selmin Çalışkan ist Generalsekretärin der deutschen Amnesty-Sektion.

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Konzept: Michael Brauchli, Foto: Judith Affolter



MENSCHENRECHTE KENNEN KEINE GRENZEN Immer mehr Menschen sterben auf ihrer Flucht nach Europa. Viele werden gewaltsam zurückgedrängt.

Foto: © REUTERS, Juan Medina

Jetzt aktiv werden für eine andere Flüchtlingspolitik: amnesty.de/sos-europa


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