Amnesty Journal: Ausgabe Januar 2016

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DAS MAGAZIN FÜR DIE MENSCHENRECHTE

4,80 EURO

AMNESTY JOURNAL

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2016 DEZEMBER/ JANUAR

WAS UNS MUT MACHT

BUENAVENTURA Eine Stadt in Kolumbien trotzt der Mafia

SIEGEN OHNE ZU GEWINNEN Der juristische Kampf für die Menschenrechte

SCHREIB FÜR FREIHEIT! Sonderbeilage zum Briefmarathon


INHALT

TITEL: ALLES WIRD GUT 16 Die Welt retten – warum eigentlich? Amnesty hat fünf Mutige gefragt, was sie antreibt. 18 »Wir brauchen Vorbilder« Alle können Zivilcourage lernen, sagt die Psychologin Veronika Brandstätter. 20 »Das Problem kann gelöst werden!« Gauri van Gulik war für Amnesty an Brennpunkten der Flüchtlingsrouten. Sie glaubt: Die Krise kann bewältigt werden. 22 Dranbleiben Rund um die Uhr ist ein Alarmtelefon für Flüchtlinge in Seenot erreichbar. 24 Helfen statt hassen Eine Flüchtlingsinitiative wird zum Aushängeschild für ein anderes Ungarn. 28 »Da geht immer was« Warum legt sich Anwalt Wolfgang Kaleck mit Gegnern an, gegen die er eigentlich nur verlieren kann? 30 »Die Bewegung braucht ein Gesicht« Die lesbische Aktivistin Kasha Nabagesera kämpft in Uganda für Toleranz. 32 Am Ende der Gewalt Ihr Sohn war 15, als er erschossen wurde. Clementina Chéry wollte Vergeltung, bevor sie sich eines Besseren besann. 34 Herr Pinker rechnet mit Frieden Schwer zu glauben: Die Menschen werden immer netter, sagt der Evolutionspsychologe Steven Pinker.

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THEMEN

KULTUR

40 Stadt der verschwundenen Frauen In Mexiko-Stadt werden immer mehr Frauen ermordet. Bewohner verarmter Stadtteile wehren sich gegen die Gewalt und setzen die Politik unter Druck.

58 Kopiermaschine der Gewalt Warum flüchten Menschen nach Europa? Drei Bücher über den Zerfall Syriens und des Iraks sowie zum Terror des IS.

46 Insel der Sicherheit Im südkolumbianischen Buenaventura beherrschten Banden das alltägliche Leben – bis die Anwohner sie vertrieben. 49 König KiK In Pakistan starben 2012 bei einem Brand in einer Textilfabrik Hunderte Menschen. Angehörige der Opfer und Überlebende wollen den Textildiscounter KiK zur Rechenschaft ziehen. 52 Kein sicherer Ort Viele geflüchtete Frauen haben im Heimatland oder auf der Flucht sexuelle Gewalt erlebt und finden auch in Deutschland häufig keinen Schutz. 54 »Die Situation erträglich machen« Wie kann man die vielen traumatisierten Flüchtlinge unterstützen? Andreas Heinz von der Berliner Charité über Hilfe zur Selbsthilfe.

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62 Nähe zum Geschehen Yulia Serdyukovas Dokumentation »Kiew brennt« zeigt, wie unmittelbar, wie die Maidan-Demonstrationen friedlich begannen und in Straßenschlachten mündeten. 64 Der Fortschritt ist eine Schnecke Wolfgang Kaleck erzählt in seinem Buch »Mit Recht gegen die Macht« von seinem Kampf als Menschenrechtsanwalt. 66 Von neuen und alten Leben »Dheepan« handelt von Flüchtlingen aus Sri Lanka. Der Gewinner der Festspiele in Cannes kommt nun in die Kinos. 68 Zwei Völker in einem Land Mit dem Roman »Utopia« zeichnet Ahmed Khaled Towfik ein bedrückendes Bild Ägyptens im Jahr 2023. 71 Sängerin der Seelenlandschaft Das neue Album von Lila Downs beschwört die Zerrissenheit Mexikos zwischen Sinnlichkeit und Gewalt.

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HEILE, HEILE GÄNSCHEN … … es ist bald wieder gut? Dass die Welt ein Jammertal ist, lernen wir bereits als Kinder. Aber derzeit erscheint die Lage schon besonders schlecht. Terror in Europa, die arabische Kultur versinkt in Blut und Tränen, Millionen Menschen auf der Flucht. Sogar der Papst spricht vom »Dritten Weltkrieg«.

Titelillustration: Gabriel Holzner / www.gabedesigns.com

RUBRIKEN 04 Weltkarte 05 Good News: Umweltschützer Witischko soll freikommen 06 Panorama 08 Porträt: Jaqar Khoen Mullah Ahmed 09 Nachrichten 11 Kolumne: Maximilian Popp 12 Einsatz mit Erfolg 13 Selmin Çalışkan über lebenslange Traumata 69 Rezensionen: Bücher 70 Rezensionen: Film & Musik 72 Briefe gegen das Vergessen 74 Aktiv für Amnesty 75 Impressum

Amnesty behauptet immer: »Der Einsatz für die Menschenrechte lohnt sich.« Um ehrlich zu sein, wir zweifeln manchmal selbst, ob das stimmt. Wer handeln will, braucht Zuversicht. Aber wie können wir guter Dinge bleiben, wenn die Dinge immer schlimmer werden? In diesem Heft stellen wir Menschen vor, die das hinbekommen. Menschen wie Clementina Chéry. Ihr Sohn wurde 1993 erschossen. Chéry schwor Rache! Heute versucht sie, mit christlicher Nächstenliebe den Kreislauf der Gewalt zu brechen (S. 32). Was gibt Menschen Zuversicht? Clementina Chéry zählt auf den Glauben, Steven Pinker glaubt an die Zahlen. Der Harvard-Psychologe will mit Statistiken beweisen: Die Welt wird immer friedlicher, wir merken es nur nicht (S. 34). Gute Nachrichten findet man im Amnesty Journal nicht allzu häufig. Diesmal haben wir nach Geschichten gesucht, die Mut machen können. Denn soviel steht wohl fest: Wir werden »unsere« Werte künftig noch offensiver verteidigen müssen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – und dazu zählt auch Solidarität mit den Verfolgten dieser Welt. Unsere Amnesty-Kolleginnnen in Bern und Wien haben uns dabei unterstützt, diese Ausgabe zusammenzustellen. Zum ersten Mal haben die deutschsprachigen Amnesty-Sektionen ein gemeinsames Heft produziert. Uns fiel auf, dass wir alle das Bedürfnis teilen, mehr Erfolgsgeschichten zu erzählen. Wie die vom 26. Juni 2015: Das Weiße Haus erstrahlte in Regenbogenfarben. Das Oberste Gericht der USA hat die Ehe für Schwule und Lesben im ganzen Land legalisiert. Vor ein paar Jahrzehnten galten Homosexuelle als pervers, heute finden wir es pervers, Homosexuelle auszugrenzen. Manchmal reibt man sich die Augen, was Einsatz bewirken kann. Helfen Sie uns, weitere Erfolge zu erzielen! Zum Beispiel beim Briefmarathon. Wie das funktioniert, erfahren Sie in unserer Beilage. Noch eine Erfolgsmeldung in eigener Sache: Das Amnesty Journal hat wieder einen Preis gewonnen. Für die vergangene Ausgabe haben wir beim »International Creative Media Award« in der Kategorie Visualisierung den »Award of Excellence« erhalten. Wir freuen uns mit unserem Layouter Heiko von Schrenk!

Fotos Seite 2: Szabolcs Barakonyi | Frédéric Noy / Cosmos / Agentur Focus Rodrigo Jardón | Hermann Bredehorst / Polaris / laif | Weltkino Foto Editorial: Sarah Eick

INHALT

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EDITORIAL

Ramin M. Nowzad ist Redakteur des Amnesty Journals.

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WELTKARTE

SCHWEIZ Das Thema klingt wie aus einem Science-Fiction-Film, ist aber sehr real. Anlässlich einer Konferenz über die UNO-Konvention über konventionelle Waffen, die Mitte November in Genf stattfand, warnte Amnesty International vor »Killer Robotern«. Der Einsatz dieser Systeme sei sehr bald möglich. Einmal aktiviert, könnten sie ohne menschliche Kontrolle Ziele auswählen, angreifen und töten. Amnesty fordert deshalb das Verbot solcher Waffen. !

DEUTSCHLAND Das Unternehmen Heckler & Koch hat offenbar Tausende Sturmgewehre des Typs G36 illegal nach Mexiko geliefert. Mehrere Mitarbeiter der Firma sind deshalb nun von der Staatsanwaltschaft Stuttgart angeklagt worden. Den Beschuldigten wird vorgeworfen, gegen das Kriegswaffenkontroll- und Außenwirtschaftsgesetz verstoßen zu haben. Die Angeklagten sollen gewusst haben, dass die Waffen in mexikanische Bundesstaaten geliefert wurden, für die keine Exportgenehmigung vorlag. "

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BURUNDI Fünf Menschenrechtsorganisationen, darunter Amnesty International, haben in einem gemeinsamen Appell ein Ende der politisch motivierten Gewalt in Burundi gefordert. Das Land stehe am Abgrund, die UNO müsse gezielte Sanktionen verhängen und die internationale Präsenz in dem Land gemeinsam mit der Afrikanischen Union verstärken, bevor es zu spät sei. In den vergangenen Wochen hat sich die Rhetorik der burundischen Regierung gegenüber ihren Gegnern verschärft. Die Übergriffe mehren sich, sodass die Sorge wächst, es könnte in Burundi zu einem Völkermord kommen wie in Ruanda 1994.

BANGLADESCH In Bangladesch wurde erneut ein Herausgeber religionskritischer Bücher ermordet. Faisal Arefin Deepan wurde Ende Oktober von Islamisten in seinem Büro überfallen und mit einer Machete getötet. Nur wenige Stunden zuvor waren in der Hauptstadt Dhaka zwei andere kritische Autoren und ein Herausgeber bei einer weiteren Attacke schwer verletzt worden. Die beiden Herausgeber hatten in der Vergangenheit Texte des prominenten Schriftstellers Avijit Roy veröffentlicht, der im Februar auf dem Gelände der Universität in Dhaka ebenfalls mit einer Machete umgebracht worden war.

AUSTRALIEN Ein Ende Oktober veröffentlichter Amnesty-Bericht beweist, dass im Mai 2015 australische Beamte Schmugglergruppen bezahlten, damit diese ein Boot mit 65 Asylsuchenden statt nach Neuseeland in einen indonesischen Hafen steuerten. Der Bericht bezieht sich auf Aussagen von betroffenen Asylsuchenden, von Schleppern und von indonesischen Polizisten, die große Geldbeträge sichergestellt haben. Die Vorfälle geschahen im Rahmen der Operation »souveräne Grenzen«, die von der Armee seit 2013 durchgeführt wird und zum Ziel hat, illegale Einwanderung nach Australien zu verhindern.

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GOOD NEWS

Foto: Linn Silseth / Amnesty

CHINA China greift nach Angaben von Amnesty bei Verhören von Verdächtigen immer noch in beträchtlichem Ausmaß auf Foltermethoden zurück – trotz Zusagen, das Justizsystem zu reformieren. In einem Bericht mit dem Titel »Kein Ende in Sicht« analysiert Amnesty 590 Fälle, in denen chinesische Beamte der Folter beschuldigt werden. Demnach wurden Verdächtige mitunter geschlagen, man fixierte ihre Hände und Füße für lange Zeit, entzog ihnen Schlaf oder verweigerte ihnen Nahrung, Wasser und Medikamente. +

Solidarität weltweit. Protest in Norwegen.

UMWELTSCHÜTZER WITISCHKO SOLL FREIKOMMEN

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Ausgewählte Ereignisse vom 29. Oktober bis 12. November 2015

WELTKARTE

RUSSLAND Der Umweltschützer Jewgeni Witischko (auch Yevgeniy Vitishko) soll freigelassen werden, nachdem er die Hälfte seiner Gefängnisstrafe verbüßt hat. Dies hat ein russisches Gericht Anfang November entschieden. Die angekündigte Freilassung ist eine hoffnungsvolle Nachricht für ihn und seine Familie. Seine Inhaftierung auf Grundlage konstruierter Vorwürfe ist jedoch zugleich ein Beispiel für die beunruhigenden Taktiken der russischen Behörden, Kritikerinnen und Kritiker zum Schweigen zu bringen. Als Umweltaktivist der NGO »Ökologische Wacht im Nordkaukasus« hatte er im Kontext der Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi gegen die verheerenden Umweltschäden protestiert, die der Aufbau der Infrastruktur verursacht hatte. Er war wenige Tage vor der Eröffnung der Spiele inhaftiert worden. Die Vorwürfe gegen ihn waren absurd und dienten nach Ansicht von Sergei Nikitin von Amnesty Russland nur dazu, ihn während der Olympischen Spiele aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit zu entfernen. Witischko musste im Februar 2014 zunächst eine 15-tägige Haft wegen »geringfügigen Rowdytums« verbüßen, weil er an einer Bushaltestelle geflucht haben soll. Unmittelbar danach trat er eine dreijährige Haftstrafe wegen Beschädigung eines Zaunes an, wobei es sich dabei um eine rechtswidrig in einem Waldschutzgebiet errichtete Einzäunung handelte. Witischko erhielt während seiner Haft mehrere Tadel von den russischen Behörden, um seine Chancen auf eine Freilassung auf Bewährung zu verringern. Zu den ihm zur Last gelegten »Verstößen« zählten unter anderem, dass er einem anderen Gefangenen, dem kalt war, ein Kleidungsstück überlassen hatte; dass er zu einer nicht genehmigten Zeit auf seinem Bett gesessen hatte und sogar, dass er »Nachlässigkeit beim Jäten des Tomatenbeets« als Teil seiner Zwangsarbeit an den Tag gelegt hatte. »Witischko hätte überhaupt nicht inhaftiert werden dürfen«, sagte Nikitin. »Die Tatsache, dass er 20 Monate in einer Strafkolonie verbringen musste, ist die Folge eines Unrechtsurteils. Der nächste Schritt, um dieser Justizposse ein Ende zu setzen, ist, alle Anklagepunkte gegen ihn fallen zu lassen.«

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Foto: Mussa Qawasma / Reuters

FRANKREICH UND LIBANON: WELTWEITE TRAUER

Nach den jüngsten Anschlägen der Terrormiliz »Islamischer Staat« in Paris und Beirut zeigten Menschen auf der ganzen Welt Solidarität mit den Opfern. Wie hier vor der Geburtskirche in Bethlehem zündeten sie Kerzen an und hielten Schweigeminuten ab. In einem schiitischen Viertel im Süden Beiruts töteten die Attentäter am 12. November mindestens 43 Menschen und verletzten mindestens 200 schwer. Am Folgetag attackierten Terroristen mehrere Orte in Paris. Infolge der Anschläge starben mindestens 130 Menschen, 350 weitere Personen wurden verletzt – einige lebensgefährlich. In beiden Städten richteten sich die Taten ausschließlich gegen die Zivilbevölkerung.

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PANORAMA

INDIEN: NGOS UNTER DRUCK

Die Umweltschutzorganisation Greenpeace darf in Indien wieder arbeiten. Anfang November hatten die indischen Behörden im südlichen Bundesstaat Tamil Nadu, wo Greenpeace registriert ist, den Aktivisten die Zulassung entzogen und ihnen Betrug sowie Buchfälschung vorgeworfen. Ein Gericht in Chennai, der Hauptstadt des Bundesstaates, hat diesen Beschluss nun ausgesetzt. Greenpeace hatte die Anschuldigungen zuvor als »völlig lächerlich« bezeichnet und vermutet, dass die Behörden politische Gründe für ihr Vorgehen hatten. »Andere zivilgesellschaftliche Gruppen werden derzeit auch angegriffen«, erklärte Vinuta Gopal, InterimsGeschäftsführerin von Greenpeace Indien. »Es geht nicht nur um uns, das ist eine gezielte Attacke auf die Demokratie und das Recht auf abweichende Meinungen.« Rund 9.000 NGOs haben 2015 bereits in Indien ihre Zulassung verloren. Die Behörden gehen härter gegen NGOs vor, seitdem der indische Geheimdienst einen Bericht veröffentlicht hat, der NGOs wie Greenpeace vorwirft, das Wirtschaftswachstum des Landes zu gefährden. Foto: Gurinder Osan / AP / pa

PANORAMA

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Foto: Henning Schacht / Amnesty

PORTRÄT JAQAR KHOEN MULLAH AHMED

FLUCHT ODER TODESSTRAFE Weil er sich politisch engagierte, nahm das syrische Regime Jaqar Khoen Mullah Ahmed fest und inhaftierte ihn monatelang. Amnesty International und andere Organisationen setzten sich für ihn ein. Im Juni 2014 konnte er schließlich nach Berlin flüchten. Dort versucht er nun, sich ein neues Leben aufzubauen. Jaqar Khoen Mullah Ahmed kann sich gut an das Zentralgefängnis von Aleppo erinnern. An die überfüllten Gefängniszellen, die brutalen Sicherheitskräfte, den Hunger, an Durchfallerkrankungen und Tuberkulose. »600 Tage. Oder ein Jahr, sieben Monate und zehn Tage«, sagt er, ohne lange nachzudenken. Es ist die Dauer seiner Haft. Jaqar Khoen Mullah Ahmed, der der kurdischen Minderheit in Syrien angehört, ist politischer Aktivist. Er setzt sich schon lange für die Rechte der Kurden in Syrien ein. Auch an den Protesten gegen den syrischen Machthaber Assad beteiligte er sich. Mit seinem Mobiltelefon dokumentierte er die Demonstrationen und gab ausländischen Medien Interviews. Irgendwann geriet er ins Visier des Geheimdienstes.

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»Bereits im Dezember 2011 hat die Polizei nach mir gesucht«, erinnert er sich. Drei Monate lang konnte er sich verstecken, bis der syrische Geheimdienst ihn im März 2012 fand. Vor einem Militärgericht musste er sich anschließend wegen »Anstiftung zur Gewalt« verantworten. Es drohte ihm die Todesstrafe. Die Folgemonate verbrachte er in einer engen Zelle des Zentralgefängnisses von Aleppo. Erst sehr viel später erfuhr er: Amnesty International startete nach seiner Verschleppung durch den Geheimdienst eine Eilaktion, um seine Freilassung zu erreichen. Die Haftbedingungen des Gefängnisses beschreibt er als menschenverachtend: Bis zu 30 Personen hätten dort in einer 25 Quadratmeter großen Zelle ausharren müssen. Nach drei Monaten seien einige der Gefangenen in den Hungerstreik getreten, Dutzende an Viruserkrankungen gestorben. »Zwei Monate lang haben sie uns täglich nur eine Handvoll Mehl gegeben«, sagt er. Mithilfe von Stoffresten hätten sie ein Feuer entzündet, um Brot oder eine Suppe zubereiten zu können. »In diesen Monaten ist viel passiert. Ich kann gar nicht alles erzählen.« Für Jaqar Khoen Mullah Ahmed ging es glimpflich aus. Seine Angehörigen konnten eine Kaution zahlen, sodass er am 13. Oktober 2013 freikam. Die Anklage wurde jedoch aufrechterhalten. »Danach hatte ich zwei Möglichkeiten: Entweder ich warte auf meine Verurteilung oder ich fliehe.« Er entschied sich für die Flucht und reiste in die Türkei. In Istanbul erhielt er Unterstützung von der Initiative »Adopt a Revolution«, die ihm dabei half, ein Visum zu beantragen. Bei der deutschen Botschaft in Ankara hatte er Erfolg und konnte so mit dem Flugzeug nach Deutschland einreisen. Heute lebt der 31-Jährige in Berlin. Er hat Asyl erhalten, eine Wohnung gefunden und besucht einen Deutschkurs. »Ich habe Glück gehabt«, sagt Jaqar Khoen Mullah Ahmed. Er weiß, wie schwierig es für viele Geflüchtete aus Syrien ist, in Deutschland anzukommen. »Flüchtlinge bezahlen viel Geld, um nach Europa zu fliehen. Sie riskieren ihr Leben auf dem Mittelmeer oder in der Ägäis.« Zusammen mit Amnesty International hat er sich deshalb im September bei einer öffentlichen Aktion vor dem Bundesinnenministerium in Berlin für eine menschenwürdige Flüchtlingspolitik stark gemacht. Er möchte sein Maschinenbau-Studium weiterführen und versucht daher, so schnell wie möglich Deutsch zu lernen. Er ist zuversichtlich: »Mathematik war für mich das schwierigste Fach in Syrien und ich habe es bestanden. Dann klappt es mit Deutsch auch.« Ralf Rebmann

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»Sie brachten uns zur Grenze. Sie sagten: ›Lauft‹ und zeigten Richtung Türkei. Wir liefen. Als wir uns umdrehten, zeigten sie uns ihre Waffen – ich hatte solche Angst. Nach drei Jahren Krieg aus Syrien fliehen, um in Bulgarien zu sterben?« 22-JÄHRIGER SYRER ÜBER EINEN »PUSH-BACK«, BEI DEM SICHERHEITSKRÄFTE IHN AUS BULGARIEN IN DIE TÜRKEI ZURÜCKDRÄNGTEN.

FLÜCHTLINGE IN LEBENSGEFAHR Zurückgedrängt, ertrunken, misshandelt – die Abschottungspolitik der Europäischen Union hat eine Reihe von gravierenden Menschenrechtsverletzungen an den Außengrenzen zur Folge, wie Amnesty International in dem neuen Bericht »Fear and Fences: Europe’s Approach to Keeping Refugees at Bay« ausführlich dokumentiert. Mindestens neun von zehn Flüchtlingen kamen bis zum Sommer 2015 über den lebensgefährlichen Seeweg in die EU. 3.440 Personen ertranken oder werden vermisst – allein bis Oktober. Zeitgleich fließt noch mehr Geld in die Grenzsicherung. Gerade dort, wo Zäune stehen, kommt es zu chaotischen Zuständen – und Menschenrechte, wie der Zugang zu Asylverfahren, verlieren faktisch ihre Geltung. Das gilt für die spanische, ungarische und griechische EU-Außengrenze. Als äußerst problematisch erweist sich zudem die Kooperation mit Ländern wie der Türkei oder Marokko. Im September wurden etwa Schutzsuchende von der türkischen Küstenwache festgenommen, ohne Zugang zu einem Rechtsanwalt inhaftiert und gezwungen, nach Syrien und in den Irak auszureisen. Trotz solch eindeutiger Verstöße gegen internationales Recht strebt die EU mit der Türkei gegenwärtig einen gemeinsamen Aktionsplan gegen »irreguläre Migration« an. Die Ergebnisse der Recherche belegen erneut, dass es unumgänglich ist, sichere und legale Zugangswege in die EU zu schaffen.

647.581

MENSCHEN ERREICHTEN LAUT UNHCR BIS ZUM 8. NOVEMBER 2015 DIE GRIECHISCHEN INSELN, ALLEIN IM OKTOBER 2015 KAMEN 210.824 AN.

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SYRISCHE FLÜCHTLINGE BEFINDEN SICH IN DER TÜRKEI.

VERWEIGERUNG

Die ungarische Regierung wollte, dass es ganz schnell geht. Um für Flüchtlinge die Grenze zu Serbien dichtzumachen, bestellte die Regierung im Sommer Nato-Stacheldraht in ganz Europa, so auch bei einer Neuköllner Firma. Deren Chef Talat Deger wollte den mit rasiermesserscharfen Klingen versehenen Draht aber nicht liefern: »Ich kann doch nicht einen Flüchtling, der nichts weiter hat als das, was er trägt, mit einem Kind auf dem Arm durch einen Nato-Draht laufen lassen«, sagte er der »Berliner Zeitung«. Der Auftrag hätte ihm 500.000 Euro Umsatz eingebracht.

Foto: Szabolcs Barakonyi

235 KILOMETER GESCHÄTZTE LÄNGE DER ZÄUNE UM DIE FESTUNG EUROPA INTERVIEW

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NACHRICHTEN

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Foto: Mark Esplin / Amnesty

BRUTALES GESCHÄFT MIT DEM VERSCHWINDENLASSEN

Bangen. Familie des verschleppten Oppositionellen Fa’eq al-Mir.

SACHAROW-PREIS FÜR RAIF BADAWI

SYRIEN Seit 2011 hat das syrische Regime mindestens 65.000 Menschen verschleppt und in überfüllten Kerkern verschwinden lassen. Der Verkauf von Informationen über den Verbleib der Verschwundenen ist inzwischen eine wichtige Einnahmequelle für das syrische Regime. Amnesty International hat die Auswüchse dieses grausamen Geschäfts im Bericht »Between Prison and Grave. Enforced disappearances in Syria« dokumentiert. Darin weist die Organisation nach, dass syrische Geheimdienste und Milizen systematisch Menschen verschwinden lassen und Mittelsmänner mit engen Verbindungen zum Regime den Angehörigen Informationen zum Verbleib der Verschwundenen verkaufen. Amnesty International untersucht die Praxis des Verschwindenlassens in Syrien seit 2011. Für den neuen Bericht sprach die Organisation zwischen Juni und September 2015 mit zahlreichen Angehörigen und Freunden von Verschwundenen, Freigekommenen sowie Expertinnen und Experten in der Türkei, im Libanon, in Deutschland und in Großbritannien. Demnach ließ das Regime anfänglich systematisch Demonstranten, Aktivisten, Journalisten, Ärzte und Deserteure verschwinden. Um kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen, wurden zunehmend auch Angehörige von Oppositionellen ins Visier genommen. Inzwischen geht es beim Verschwindenlassen zunehmend um persönliche Racheakte und finanzielle Motive.

Das Europäische Parlament hat dem saudi-arabischen Blogger Raif Badawi am 29. Oktober den Sacharow-Preis zuerkannt. Mit der Auszeichnung werden seit 1988 jährlich Personen geehrt, die sich in besonderer Weise für die Menschenrechte eingesetzt haben. Der Präsident des EU-Parlaments, Martin Schulz, begründete die Entscheidung damit, dass »diesem außergewöhnlichen und vorbildlichen Mann eine der grausamsten Strafen auferlegt [wurde], die in diesem Land existiert und die man nur als brutale Folter bezeichnen kann«. Schulz forderte den König von Saudi-Arabien auf, Badawi freizulassen und zu begnadigen. Er hoffe, sagte Schulz, dass Badawi am 16. Dezember in Straßburg den Sacharow-Preis persönlich entgegennehmen könne.

MEINUNGSFREIHEIT

SIEG GEGEN MINENGESELLSCHAFT

GUATEMALA Im Juli konnten die Gemeinden von San Pedro Ayampuc und San Jose del Golfo in Guatemala einen Sieg feiern: Ein Berufungsgericht hat angeordnet, dass die Arbeiten in der Mine El Tambor so lange eingestellt werden, bis die Bevölkerung zu diesem Projekt rechtmäßig konsultiert wurde. Die Einwohner und Einwohnerinnen kämpfen seit 2012 gegen die Mine, die die Lebensgrundlage der lokalen Bevölkerung bedroht.

RETTUNG VON FLÜCHTLINGEN – UND EINES DORFES

Domenico Lucano, Bürgermeister des Dorfes Riace im Süden Italiens, erhielt am 4. November in Bern den Preis der Stiftung Freiheit und Menschenrechte für seinen Umgang mit gestrandeten Mittelmeerflüchtlingen. Als er vor mehr als zehn Jahren 300 geflohene kurdische Frauen, Kinder und Männer vor seinem Dorf aus dem Meer waten sah, startete der Bürgermeister ein Projekt. Er siedelte in seinem Dorf, dessen Bevölkerung wegen der Landflucht der Jugend ständig schrumpfte, Flüchtlinge an und bot diesen und dem Dorf eine neue Perspektive. Die Flüchtlinge leben in verlassenen Häusern, die sie instandhalten, erhalten Arbeit und werden in den Dorfalltag integriert. Sie brachten – und bringen – neues Leben in einen Ort, der auszusterben drohte.

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Foto: Max Rossi / Reuters

ITALIEN

Sein Dorf hat neue Bürger. Domenico Lucano in Riace.

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KOLUMNE MAXIMILIAN POPP

War da was? Erinnert sich noch wer? An die Bilder aus dem Sommer? An die Menschen am Münchner Hauptbahnhof, die Flüchtlinge mit Blumen und Applaus willkommen hießen? An den Mann, der vor Begeisterung über die Neuankömmlinge »Freude schöner Götterfunken« anstimmte?

Zeichnung: Oliver Grajewski

Die Euphorie wirkt heute, nur wenige Monate später, weit weg. Zeitungen schreiben nun von Asylchaos, Kontrollverlust, Notstand. In der öffentlichen Wahrnehmung, oder genauer: in der veröffentlichten Wahrnehmung, hat sich die Überzeugung durchgesetzt, Deutschland sei mit dem Zuzug von Flüchtlingen überfordert, die Belastungsgrenze sei erreicht. Wer konservative Politiker reden hört, könnte glauben, das Land stünde kurz vor dem Zusammenbruch. Finanzminister Wolfgang Schäuble verglich Flüchtlinge, in bestem AfD-Sprech, gerade erst mit einer »Lawine«.

DEUTSCHER WINTER

Die Helfer in München, Hamburg und Berlin sind immer noch da. Ihr Engagement hat nicht nachgelassen, im Gegenteil: Es ist gewachsen. In Nordrhein-Westfalen haben Initiativen inzwischen Wartelisten angelegt, so groß ist der Andrang an Freiwilligen. Der Chemiekonzern Bayer stellt Mitarbeiter, die Flüchtlingen helfen wollen, bis zu acht Tage frei. Und in Passau – jener Stadt an der deutsch-österreichischen Grenze, wo jeden Tag mehrere Tausend Flüchtlinge ankommen und die in Medien gern als das »deutsche Lampedusa« bezeichnet wird, – bekräftigt Oberbürgermeister Jürgen Dupper beharrlich: »Selbstverständlich schaffen wir das.« In der Öffentlichkeit dringen diese Stimmen der Menschlichkeit, des Pragmatismus und der Vernunft jedoch kaum mehr durch. Zu laut, zu schrill sind die Apologeten des Untergangs. Die deutsche Angst hat sich durchgesetzt. Pessimisten, Rassisten, Wohlstandschauvinisten schaukeln sich gegenseitig hoch. Das allein ist bedrückend. Wirklich gefährlich ist, dass die Bundesregierung ihre Politik zunehmend nach den Hetzern richtet. In Berlin geht es längst nicht mehr darum, wie Flüchtlinge in Deutschland anständig untergebracht und versorgt werden können. Die Debatte beschränkt sich beinahe ausschließlich auf die Frage, wie der sogenannte »Flüchtlingsstrom« zu begrenzen ist, wie verhindert werden kann, dass Menschen in der Bundesrepublik Schutz suchen. Die Vorschläge, die jetzt als Reformen verklärt werden, sind mehr oder weniger dieselben, die seit den neunziger Jahren diskutiert und praktiziert werden. Sie lassen sich unter zwei Schlagworten subsumieren: Abschreckung und Abschottung. Bereits im Oktober hat sich die Koalition auf eine weitreichende Asylrechtsverschärfung geeinigt. Flüchtlinge können künftig bis zu einem halben Jahr in Erstaufnahmeeinrichtungen festgehalten werden. Die finanzielle Unterstützung, die Asylbewerbern ein Mindestmaß an Autonomie gewährt, wird zum Teil durch Sachleistungen ersetzt. Doch damit ist es längst nicht getan. Nach dem Willen von Innenminister de Maizière sollen beinahe sämtliche Lockerungen im Asylrecht, die die Bundesregierung jemals beschlossen hat, zurückgenommen werden. Asylgesuche von Syrern sollen strenger geprüft, der Familiennachzug erschwert werden. Selbst das umstrittene Dublin-Abkommen, das die Bundesregierung im September stillgelegt hatte, erfährt ein Comeback. Flüchtlinge, die über einen EU-Staat in die Bundesrepublik einreisen, können kurzerhand dorthin abgeschoben werden. Angela Merkel hat das System noch im September für gescheitert erklärt: »Das bindet derart viele Ressourcen, dass zum Schluss die bei uns ankommenden Menschen nichts mehr zu essen haben, weil jeder nur noch damit beschäftigt ist, Rückführungen zu versuchen«, sagte sie. Diese Einwände scheinen nun nicht mehr zu gelten. Auf den kurzen Sommer der Solidarität folgt gerade ein langer, deutscher Winter der Repression. Maximilian Popp, 29, arbeitet als Redakteur im Berliner Büro des Nachrichtenmagazins »Der Spiegel«.

NACHRICHTEN

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KOLUMNE

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Foto: Enrique de la Osa / Reuters

DER RESPEKTLOSE KÜNSTLER IST FREI

»El Sexto« in Freiheit. Danilo Maldonado Machado am 20. Oktober 2015, dem Tag seiner Haftentlassung.

Nach zehn Monaten Haft ohne Gerichtsverfahren wurde der kubanische Graffitikünstler Danilo Maldonado Machado freigelassen. Das Böse könne nie über das Gute siegen, Gewalt nie über Kunst und Vernunft – so drückte Danilo Maldonado Machado es in einem Brief aus, den er aus dem Gefängnis Valle Grande in Havanna schickte. Fast zehn Monate saß er dort in Haft, ohne dass Anklage gegen ihn erhoben wurde. Am 20. Oktober wurde er endlich ohne weitere Bedingungen aus der Haft entlassen. Amnesty hatte sich mit Eilaktionen für seine Freilassung eingesetzt. Inhaftiert hatte man Danilo Maldonado Machado unter dem Vorwurf der »schwerwiegenden Respektlosigkeit«. Anlass war eine Kunstaktion gewesen, die Machado, auch bekannt unter dem Künstlernamen »El Sexto«, an Weihnachten 2014 im Parque Central in Havanna durchführen wollte. Er hatte zwei Schweine mit den Namen »Fidel« beziehungsweise »Raúl« beschriftet, in Anspielung auf den früheren kubanischen Staatspräsidenten Fidel Castro und seinen Nachfolger Raúl Castro. Die beiden Ferkel wollte er im Park freilassen, wer sie eingefangen hätte, hätte sie behalten dürfen. Doch zu dieser Performance kam es nicht. Machado war mit dem Taxi auf dem

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Weg zum Park, als er angehalten, festgenommen und ins Gefängnis gebracht wurde. Zwei Monate schlief er auf dem Boden, weil kein Bett vorhanden war. Ähnliche Zustände hatte er schon einmal erlebt, bereits im Juli 2014 war er wegen regimekritischer Aktivitäten festgenommen worden. Nach vier Tagen wurde er damals wieder auf freien Fuß gesetzt. Seine zweite Inhaftierung sollte länger dauern. Doch auf Kuba und weit darüber hinaus bildete sich eine breite Solidaritätsbewegung. Im März 2015 boykottierten mehrere lateinamerikanische Künstler die Biennale in Havanna. Bürgerrechtlerinnen der Organisation »Damen in Weiß« zogen mit Fotos des Künstlers durch die kubanische Hauptstadt. Unter dem Hashtag #FreeElSexto lancierte ein Freund eine Twitter-Kampagne. Amnesty betrachtete den Künstler als gewaltlosen politischen Gefangenen, der nur von seinem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch gemacht hatte, und unterstützte ihn mit Appellen und Aktionen. Im April 2015 sprach US-Präsident Obama auf dem Amerika-Gipfel in Panama mit Raúl Castro über den Fall. Doch veränderte sich zunächst nichts zum Positiven, eher im Gegenteil: Weil Machado das Regime auch vom Gefängnis aus kritisierte, wurde er in eine der berüchtigten Strafzellen verlegt, die zu

klein sind, um darin aufrecht stehen zu können. Menschenrechtler sehen darin Folter. Aus Protest trat Machado am 8. September in einen Hungerstreik. Als man ihm zusagte, dass er am 15. Oktober freigelassen werden würde, beendete er den Streik. Doch die Gefängnisleitung hielt ihr Versprechen nicht, also verweigerte Machado erneut die Nahrungsaufnahme. Am 20. Oktober wurde er ohne weitere Auflagen entlassen. Machado teilte Amnesty International mit, dass er sehr glücklich sei, wieder bei seiner Mutter und Tochter zu sein. Er dankte der Organisation für den Druck, den sie auf die kubanischen Behörden ausgeübt hatte. Auf Betreiben von Amnesty hatten auch die deutschen Politikerinnen Ulla Schmidt und Claudia Roth seinen Fall angesprochen, als sie mit einem Unterausschuss des Bundestages Kuba besuchten. In Anlehnung an Machados Worte könnte man sagen: Kunst und Vernunft haben über die Gewalt gesiegt. Der Blick auf die Verhältnisse in Kuba sollte aber geschärft bleiben. Nach Angaben der Kubanischen Kommission für Menschenrechte und nationale Versöhnung soll es allein im August 2015 zu 768 Fällen von rein politisch motivierten Festnahmen gekommen sein. Stefan Wirner

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Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen mit Appellschreiben an den »Urgent Actions«, den »Briefen gegen das Vergessen« und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz drohende Menschenrechtsverletzungen verhindert und Menschen in Not hilft, zeigen diese Beispiele.

BLOGGERIN FREI

Die bekannte Bloggerin Ta Phong Tan war wegen Kritik an den Behörden und ihres Einsatzes für die Meinungsfreiheit zu zehn Jahren Haft verurteilt worden. Nun kam sie nach vier Jahren frei. Die Freilassung hatte aber einen Preis: Die Bloggerin und ehemalige Polizistin wurde des Landes verwiesen und direkt ins Exil in die USA geschickt.

VIETNAM

AL-JAZEERA-JOURNALISTEN FREI

Die beiden Al-Jazeera-Journalisten Mohamed Fahmy und Baher Mohamed wurden am 23. September 2015 freigelassen, nachdem der ägyptische Präsident al-Sisi sie begnadigt hatte. Ein Gericht in Kairo hatte sie Ende August wegen »Verbreitung falscher Nachrichten« und »Arbeiten ohne Genehmigung« zu dreijährigen Haftstrafen verurteilt. Mohamed Fahmy bedankte sich bei Amnesty International für die »grenzenlose Unterstützung« und auch Baher Mohamed sprach seinen Dank aus. ÄGYPTEN

ENTLASSUNG AUS GUANTÁNAMO

USA Der saudi-arabische Staatsbürger Shaker Aamer kann

nach 13 Jahren Haft in Guantánamo nach Großbritannien ausreisen. Aamer war einer der ersten Häftlinge in Guantánamo. Er war 2002 nach seiner Festnahme in Afghanistan dorthin gebracht worden. Er gab an, gefoltert und in Einzelhaft gehalten worden zu sein. Shaker Aamer wurde nie einer Straftat angeklagt oder vor Gericht gestellt.

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Ein Berufungsgericht in Ägypten hat entschieden, den Freispruch der Menschenrechtsverteidigerin Azza Soliman und 16 weiterer Personen, die Augenzeugen der Tötung der ägyptischen Aktivistin Shaimaa Al-Sabbagh waren, aufrechtzuerhalten. Azza Soliman bedankte sich bei Amnesty International für die Unterstützung und Solidarität, die sie »angesichts der Ungerechtigkeit und Verzweiflung« gestärkt hätten. ÄGYPTEN

MENSCHENRECHTLER IN FREIHEIT

ASERBAIDSCHAN Der Menschenrechtler Arif Yunus ist wieder in Freiheit. Wegen gesundheitlicher Probleme hat ein Gericht in Aserbaidschan am 12. November die Gefängnisstrafe ausgesetzt, bis eine Entscheidung über die Berufungsklage gefallen ist. Yunus darf allerdings die Hauptstadt Baku nicht verlassen. Der 60-Jährige war drei Monate zuvor wegen Betrugs und anderer Straftaten zu sieben Jahren Haft verurteilt worden, seine Frau Leyla erhielt acht Jahre Haft. Amnesty bezeichnet die Vorwürfe als konstruiert. Das Ehepaar setzt sich unter anderem für die Aussöhnung mit dem Nachbarland Armenien ein.

EINSATZ MIT ERFOLG

SELMIN ÇALIŞKAN ÜBER

LEBENSLANGE TRAUMATA

Foto: Amnesty

EINSATZ MIT ERFOLG

Täglich sehen wir in den Medien Flüchtlinge, die sich auf den ungewissen Weg nach Europa machen. Sie fliehen vor Krieg, Folter und Gewalt. Doch wir sehen nicht alles. Wir sehen nicht ihre körperlichen und seelischen Verletzungen, ihre Angst. Was bedeutet es, die eigene Familie im Kriegsgebiet zurücklassen zu müssen, den Drohungen und der Gewalt von Schleppern und Grenzpolizisten ausgesetzt zu sein – vor allem dann, wenn man ohne Eltern oder als Frau allein unterwegs ist? Wie fühlt es sich an, in einem überfüllten Boot auf dem Mittelmeer zu treiben? Ohne Trinkwasser, ohne Orientierung und ohne Hoffnung auf Rettung? Viele Flüchtlinge sind traumatisiert. Ihre Erinnerungen begleiten sie oft ein Leben lang. Gegenwärtig erhalten sie nur im Notfall medizinische Hilfe. Therapeutische Maßnahmen und die Behandlung chronischer Krankheiten zählen nicht dazu. Die Wartelisten bei den wenigen Psychosozialen Behandlungszentren werden jetzt dramatisch lang. Viele Einrichtungen bangen zudem um ihre Finanzierung. Ihre Situation gleicht damit der ihrer Klientinnen und Klienten: Es fehlt eine verlässliche Perspektive. Deshalb haben wir uns entschieden, diese Einrichtungen finanziell zu unterstützen, damit sie ihre Arbeit weitermachen können. Ein Hauptproblem bleibt, dass die Therapieangebote der meisten Zentren nicht von der Gesetzlichen Krankenversicherung anerkannt werden. Amnesty fordert die Bundesregierung und die Landesregierungen auf, die Hilfe für traumatisierte Flüchtlinge aufzustocken und zu verbessern und den traumatisierten Flüchtlingen die Hilfe zu gewähren, die sie benötigen. Wie traumatische Erlebnisse einen Menschen ein Leben lang verfolgen, habe ich kürzlich in einem Gespräch mit einer älteren Aktivistin erfahren: Die Fluchterlebnisse der Menschen, die nach Deutschland kommen, lösen in ihrer Generation, die selbst Flucht und Verfolgung während des Zweiten Weltkriegs durchlebt hat, eine Retraumatisierung aus. Das zeigt: Die Unterstützung von Traumatisierten muss in der Politik ganz oben auf die Agenda. Selmin Çalışkan ist Generalsekretärin der deutschen Amnesty-Sektion.

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TITEL

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Alles wird gut

Schlechte Nachrichten gab es 2015 genug. Doch das Jahr war nicht nur voller Unrecht, sondern auch reich an Menschen, die dagegen aufbegehrten. Gewöhnliche Leute, die Außergewöhnliches zustande brachten. Was motiviert Menschen, sich für andere einzusetzen? Und wie bleiben sie guter Dinge, auch wenn die Dinge schlimmer werden?

Illustration: Gabriel Holzner / www.gabedesigns.com

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Die Welt retten – warum eigentlich? Die Welt verbessert sich nicht von selbst, das ist klar. Hinter positiven Veränderungen stehen Personen, die sich einsetzen – keine »Supermen« oder »Wonderwomen«, sondern Menschen aus Fleisch und Blut. Amnesty hat fünf Mutige gefragt, was sie antreibt. Illustrationen von Susann Stefanizen

RACHID MESLI »Ich bin Anwalt – und deswegen ist es meine Pflicht, die Menschenrechte zu verteidigen. Ein Anwalt muss ein moralischer Fels in der Brandung bleiben, auch in Krisensituationen und selbst, wenn sein Leben in Gefahr ist. Nach meiner Flucht aus Algerien in die Schweiz war es für mich unvorstellbar, mich nicht mehr für andere einzusetzen; ich selbst war ja jetzt in Sicherheit. Der Kampf für die Menschenrechte ist lang und mühsam, aber wir müssen solidarisch bleiben und unseren Optimismus bewahren.« Der algerische Rechtsanwalt Rachid Mesli musste schon vor Jahren aus seiner Heimat fliehen, weil er sich für politisch Verfolgte einsetzt. Er erhielt in der Schweiz Asyl und lebt heute in Genf.

ENSAF HAIDAR »Als Ehefrau ist es natürlich meine Aufgabe, für meinen Mann zu kämpfen. Ich vermisse Raif und will ihn wieder in meinem Leben haben – und unsere drei Kinder wollen das auch. Aber ich kämpfe auch für Raif, weil ich von seiner Sache überzeugt bin. Dass uns so viele Menschen auf der ganzen Welt unterstützen, gibt meinem Mann enorme Kraft, die Strapazen der Haft durchzustehen. Und die internationale Solidarität bestärkt auch mich, weiter für seine Freiheit zu einzutreten.« Ensaf Haidar ist die Ehefrau von Raif Badawi und lebt im kanadischen Exil. Ihr Mann sitzt in einem saudi-arabischen Gefängnis, weil er im Internet Frauenrechte und Meinungsfreiheit forderte. Das Urteil: 1.000 Stockschläge und zehn Jahre Haft.

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MOHAMMAD KAZKIJ »Auf der Flucht übers Mittelmeer habe ich um mein Leben gefürchtet, doch der Gedanke an meine Familie gab mir Kraft. Meine Mutter hätte die Nachricht von meinem Tod nicht ertragen. Mein Freund Yahea ist bei der Überfahrt ertrunken. Immer wenn ich aufs Meer sehe, muss ich an ihn denken. Ich hatte Glück. Ich landete auf Malta und fand schnell einen Job. Heute wissen auf Malta alle: Ich bin der beste Elektriker der Welt.« Mohammad Kazkij ist aus Syrien geflohen. Das Boot, mit dem er im Oktober 2013 das Mittelmeer überqueren wollte, kenterte. Sein bester Freund starb, er selbst konnte gerettet werden.

CARSTEN STORMER »Warum mache ich meinen Job? An der schlechten Bezahlung liegt es sicherlich nicht. Ich will dabei sein, wie Geschichte geschrieben wird. Weshalb kämpfen die Menschen in Syrien? Was erleben die Jesiden im Nordirak? Ich will verstehen, was da vor sich geht. Mich berühren die Schicksale der Menschen zutiefst. Die Naivität, etwas mit Berichterstattung zu verändern, habe ich vor langer Zeit abgelegt. Aber Berichterstattung schafft Wissen. Wir können uns nicht mehr herausreden, von all den Grausamkeiten, die während unserer Lebenszeit geschehen, nichts gewusst zu haben.« Der Reporter Carsten Stormer lebt in Manila. Seit Jahren berichtet er aus Kriegsgebieten wie Syrien, Libyen, Afghanistan oder dem Irak.

BOBAN STOJANOVIC »Jede Form von Aktivismus ist ein wenig egoistisch – davon bin ich fest überzeugt. Ich habe ein Interesse und trage es möglichst wirksam in die Gesellschaft. In Serbien gibt es die Homophoben, die Extremisten, die Hooligans, die uns in Angst versetzen wollen. Das lasse ich nicht zu. Ich will frei leben – ohne Angst, ohne Scham, ohne Minderwertigkeitsgefühl. Beim ›Pride‹ zeigt sich, wie weit unsere Gesellschaft ist. Dieses Jahr warf uns eine Frau erstmals Blumen vom Balkon.« Boban Stojanovic tritt auch nach Übergriffen so offen auf wie kaum eine andere Person aus der serbischen Community von Lesben, Schwulen, Trans- und Intersexuellen. Seit 2009 organisiert er die jährliche Pride-Parade mit.

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»Wir brauchen Vorbilder« Wer für andere Menschen etwas riskiert, hat starke Werte und seine Ängste im Griff. Die gute Nachricht: Wir alle können lernen, Zivilcourage zu zeigen. Das sagt die Psychologin Veronika Brandstätter. Interview: Carole Scheidegger

Haben alle Menschen das Zeug zum Helden? Wenn wir Heldenhaftigkeit so verstehen, dass jeder über sich hinauswachsen kann, dann haben wir alle das Potenzial. Jeder kann lernen, seine Ängste zu überwinden und wirksam zu werden in der Welt. Wenn wir aber definieren, was überhaupt als herausragende Leistung gilt, wird es schwieriger. Was für den einen eine besondere Tat ist, bei der er über sich selbst hinauswächst, mag von anderen nicht als heldenhaft betrachtet werden, sondern als selbstverständlich. Was bringt Menschen dazu, sich unter Lebensgefahr für eine Sache einzusetzen? Leute, die sich für eine gemeinnützige Sache einsetzen, haben eine starke Orientierung an sogenannten humanen Werten. Dies hängt sehr stark von frühkindlichen Erfahrungen im engsten Umfeld ab. Es sind empathische Menschen, sie können sich in die Gefühlswelt anderer Personen hineinversetzen. Sie haben eine ausgeprägte Fähigkeit, die eigenen Gefühle zu kontrollieren und Ängste zu überwinden. Ein weiterer Aspekt ist schlicht das Wissen darum, was man tun kann. Und schließlich braucht ein

»Manchmal reicht es, der polternden Tante am Familienfest zu sagen: ›Es verletzt mich, wenn du über Ausländer herziehst.‹« 18

Mensch die Handlungskompetenz, dieses Wissen auch umzusetzen. Er muss eine Situation schnell überblicken und rasch entscheiden können. Ein Beispiel: Wir haben alle die stabile Seitenlage im Nothelferkurs kennengelernt. Aber können wir dieses Wissen auch in einer Stresssituation anwenden? Warum sind manche mutiger als andere? Wie ein Mensch sich verhält, hat zum einen mit seiner Person zu tun, zum anderen aber auch mit der Situation. Entscheidend ist, wie eindeutig eine Situation aussieht: Braucht wirklich jemand Hilfe? Wenn jemand im Zug tätlich angegriffen oder im Büro ganz übel über ihn geredet wird, ist das eindeutig. In solchen Fällen ist man eher motiviert einzugreifen. Wichtig sind Vorbilder für Engagement und Zivilcourage. Menschen fällt es einfach leichter zu handeln, wenn sie Vorbilder haben. Was verbindet einen Menschrechtsaktivisten aus Saudi-Arabien, der sein Leben riskiert, mit einem Amnesty-Mitglied, das im sicheren Mitteleuropa Unterschriften sammelt? Auf den ersten Blick sind die Bedingungen sehr unterschiedlich, doch haben sie beide die Entschlossenheit, für eine Wertorientierung oder eine politische Haltung öffentlich einzustehen. In beiden Fällen wird die Schwelle der Privatheit überschritten. Wer auf der Straße Unterschriften sammelt, exponiert sich. Das braucht eine gewisse Überwindung, denn man könnte ja für sein Tun kritisiert werden. Kann man Mut und Zivilcourage lernen? Man kann lernen, Situationen realistisch einzuschätzen, sich selbst nicht zu überfordern, zum Wohle einer anderen Person und nicht zum Schaden seiner selbst zu handeln. Mut lernen heißt, mit dem anfänglichen Hemmnis Angst umzugehen. Ich leite hier in Zürich ein Zivilcourage-Training, in dem wir verschiedene Situationen nachstellen. Es gibt aber nicht ein Rezept für alle. Man muss herausfinden, welche Ziele und Strategien zur eigenen Person passen. Im Kontext von Zivilcourage ist es einfach sehr wichtig, nicht zu schweigen. Manchmal reicht das

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Gut|mensch, der Wortart: Substantiv, maskulin Gebrauch: meist abwertend oder ironisch Ziel, der polternden Tante am Familienfest zu sagen: »Es verletzt mich, wenn du über Ausländer herziehst.« Das Ziel, die Meinung der Tante zu ändern, wäre hingegen vielleicht zu hoch gesteckt. In welchen Situationen fällt es uns besonders schwer, mutig zu sein? Wenn die Lage nicht eindeutig ist, dann orientiert man sich an anderen. Wenn zum Beispiel im Bus eine brenzlige Situation entsteht, schaut man in die Runde – und sieht nur fragende Gesichter. Das führt zum Fehlschluss, dass die Situation gar nicht bedrohlich ist. Doch selbst bei eindeutigen Situationen ist die Frage, ob ich selbst Verantwortung übernehme oder diese auf andere abwälze. Je mehr Leute bei einem mittelschweren Notfall anwesend sind, desto weniger wird geholfen. Das hat nichts mit Feigheit zu tun, sondern häufig denkt man, der andere kann besser helfen, ist kräftiger oder näher dran. Was sagen Sie zum Vorwurf, gewisse Menschen würden sich nur deswegen engagieren, weil sie die Dankbarkeit als Selbstbestätigung benötigten oder ein Helfersyndrom hätten? Jemandem zu helfen, bringt Gefühle von Stärke mit sich, man hat Einfluss auf jemanden, man erntet vielfach – aber nicht immer – Dankbarkeit. Sich stark und wirksam zu erleben, das ist eine Facette des sogenannten Machtstrebens. Dieses Wort hat in der Psychologie keinesfalls die negative Bedeutung, die es in der Umgangssprache hat. Es ist ja nichts Schlechtes daran, wenn jemand Befriedigung aus dem Helfen zieht. Doch es existiert eine Art von Hilfsleistungen, die tatsächlich eher auf den Hilfeleistenden als auf den Empfänger abzielt. Dann ist die Hilfe nicht gleichermaßen wirksam, weil sie nicht in Betracht zieht, was der andere wirklich braucht und welche Stärken er hat. Nützt es einer Gesellschaft überhaupt, wenn Menschen Zivilcourage zeigen? Wir delegieren die Verantwortung für den Erhalt unserer rechtsstaatlichen Institutionen gern an die Entscheidungsträger, an die Politiker, die Exekutive, die Polizei. Aber in Wahrheit tragen wir alle, jede Bürgerin und jeder Bürger, Verantwortung dafür, dass Gewaltfreiheit, Toleranz und Respekt bestehen bleiben. Das muss man sich vor Augen führen!

Foto: Marc Latzel

INTERVIEW VERONIKA BRANDSTÄTTER

ALLES WIRD GUT

Die Münchnerin Veronika Brandstätter ist Professorin für Allgemeine Psychologie mit dem Schwerpunkt Motivation und Emotion an der Universität Zürich. Die 52-Jährige leitet den Forschungsbereich Zivilcourage und hat ein entsprechendes Training entwickelt.

Worte sind wie Vögel, sagt ein Sprichwort. Lässt man sie einmal los, kann man sie nicht mehr einfangen. Kurt Scheel, 67, ein freundlicher Hanseat, hat in seinem Berufsleben Hundertausende Wörter zu Papier gebracht. Nur eines hob so richtig ab. Scheel schenkte der deutschen Sprache das Wort »Gutmensch«. Seine Wortschöpfung ist heute wohl präsenter denn je. Wer für Amnesty spendet, seinen schwulen Nachbarn grüßt oder sich mit Bürgerkriegsflüchtlingen solidarisch erklärt, wird von vielen als »Gutmensch« verspottet. Die Vokabel ist zum Kampfbegriff geworden, mit dem Rechte und Rechtsradikale ihre politischen Gegner immer enthemmter niederbrüllen. »Ich war in der Tat ein bisschen stolz auf meine Erfindung«, sagt Kurt Scheel heute. Scheel ist ebenso nett wie zivilisiert. Gemeinsam mit dem Literaturtheoretiker Karl-Heinz Bohrer hat er zwanzig Jahre lang den »Merkur« herausgegeben, die wohl wichtigste Intellektuellenzeitschrift Deutschlands. Im Dezember 1991, die Berliner Mauer war gefallen, im Osten brannten Asylbewerberheime, redigierte Scheel das Wort »Gutmensch« in ein Manuskript seines Kollegen Bohrer. »Der Begriff war selbstkritisch gemeint«, sagt Scheel. Als »Gutmenschen« bezeichnete er jene Linken, die ständig Moral predigen, nicht um die Welt besser zu machen, sondern um sich besser zu fühlen. Der Gutmensch tut Gutes – solange es ihn nichts kostet. Asylbewerber heißt er »Willkommen«, aber bitte nicht in seiner Nachbarschaft. »Das Wort war spöttisch, nicht diffamierend gedacht«, sagt Scheel. »In jedem moralisch hochstehenden Menschen, also auch in Ihnen und mir, steckt ein Gutmensch. Und man muss höllisch aufpassen, dass er nicht ständig das Kommando übernimmt.« Das Wort hatte Wahrheit, Wut und Witz. Und so machte es in den Neunzigern zunächst im linken Lager seinen Runde. Doch schnell wurde das Wort von Liberalen und Konservativen entdeckt und als Hau-drauf-Vokabel über die Jahre nach rechts durchgereicht: Von Henryk Broder und Matthias Matussek gelangte es zu Guido Westerwelle und Kai Dieckmann, von Thilo Sarrazin zu Pegida, der AfD und Akif Pirinçci. Heute kämpft auch die NPD gegen das »Gutmenschentum«. Die Bedeutung des Wortes hat sich in ihr Gegenteil verkehrt. »Ich benutze den Begriff seit Jahren nicht mehr, weil er allzu häufig von rechten Idioten gebraucht wird«, sagt Scheel. »Wenn man schon das Gutmenschentum nicht los wird, dann doch wenigstens das Wort!« Aber Wörter sind wie Vögel. Der Gutmensch flog besonders weit. Ramin M. Nowzad

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»Das Problem kann gelöst werden!« Die Holländerin Gauri van Gulik und ihr Team waren in den vergangenen Monaten für Amnesty International an den Brennpunkten der Flüchtlingsrouten. Sie ist überzeugt, dass die aktuelle Krise bewältigt werden kann. Von Carole Scheidegger

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nerwartet kommt es für Gauri van Gulik wirklich nicht, dass derzeit unzählige Menschen quer durch Europa auf der Flucht sind. »Was nun geschieht, war angesichts des Kriegs in Syrien absolut vorhersehbar. Amnesty International wusste, dass dies geschehen würde, und ich bin sicher, die europäischen Regierungen wussten es auch.« Dass nun Regierungen und manche Medien den Anschein erwecken, eine Art Naturkatastrophe sei über Europa hereingebrochen –»Flüchtlingsflut«, »Migrantenstrom« – will die tatkräftige Holländerin nicht unwidersprochen stehen lassen. Sie betont, dass die aktuelle Krise gelöst werden kann. »Aber es braucht dazu den politischen Willen.« Gauri van Gulik ist stellvertretende Leiterin des Europa-Programms von Amnesty International. Sie hat ihre Funktion im Januar 2014 angetreten. Langweilig wurde es ihr seither nicht und dominierend war das Thema Flüchtlinge. Anfang des Jahres beschäftigte sie sich mit einer Kampagne, die forderte, dass die EU ihre Such- und Rettungsmission im Mittelmeer ausdehnt. »Wir haben dabei einen schönen Erfolg erzielt. Aber dieses Anliegen war ja auch einfacher zu erklären. Wir konnten etwas Konkretes fordern: mehr Schiffe, die Menschen aus Seenot retten. Nun ist die Arbeit viel trockener und komplexer«, sagt sie. Amnesty International hat eine »Agenda für den Schutz von Flüchtlingen« entwickelt, die nun den Regierungen präsentiert wird. Ein wichtiger Punkt: Die EU muss sichere und legale Einreisemöglichkeiten für Flüchtlinge schaffen, um weitere Todesopfer zu verhindern. Gauri van Gulik unterstreicht, wie viel die europäischen Staaten in den vergangenen Monaten schon geleistet haben. »Mir ist klar, dass es für die Behörden eine große Herausforderung ist, die vielen Flüchtlinge unterzubringen. Aber das Pro-

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blem kann gelöst werden«, betont Gauri van Gulik. Sie und ihr Team wissen, wovon sie sprechen, denn sie waren in den vergangenen Monaten immer wieder an den Brennpunkten: in Griechenland, Ungarn, den Balkanstaaten. Sie haben dort so viele Interviews mit Flüchtlingen wie möglich geführt, um zu erfahren, wie die Bedingungen auf den Fluchtrouten sind. »Der Zugang für unsere Teams war im Allgemeinen gut. Aber die Umstände gestalten sich schwierig und nicht alle Regierungen sind wirklich erpicht darauf, uns dabeizuhaben. In Ungarn und Mazedonien zum Beispiel hatten wir Schwierigkeiten, in manche Flüchtlingslager hineinzukommen.« Was die Delegationen vor Ort ermitteln, wird gegengecheckt und – falls gesichert – in einem Bericht von Amnesty veröffentlicht. Dass sich die aktuelle Lage ständig verändert, macht van Guliks Leben nicht leichter. Anspruchsvoll ist auch der Druck, immer möglichst schnell zu sein. »Ich bin total für Geschwindigkeit und ich dränge darauf, Amnestys Arbeit vor Ort rascher zu machen. Aber noch wichtiger als schnell zu sein, ist es, stets nur gesicherte Angaben zu verwerten. Jeder einzelne Satz, den Amnesty veröffentlicht, muss stimmen.« Vor ihrer Anstellung bei Amnesty International war Gauri van Gulik bereits zehn Jahre lang in der Menschenrechtsarbeit tätig, sie hat Rechtsverletzungen auf der ganzen Welt gesehen. »Dass wir nun solche Szenen in Europa sehen, erschüttert mich sehr«, sagt die Europarechtlerin und die Stimme der ansonsten bestimmt auftretenden Frau bricht für einen Moment. Sie erzählt von Begegnungen mit Flüchtlingskindern, die immer wieder gefragt haben: »Wo sind wir? Und was passiert jetzt?« Diese fehlende Orientierung habe sie auch bei vielen Erwachsenen beobachtet, erzählt van Gulik. Weil es an Kommunikation mit den Migranten und Migrantinnen mangelt,

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Foto: Amnesty

Lobbyistin für das Gute. Van Gulik im Hafen von Augusta auf Sizilien nach der Rettung von 300 Bootsflüchtlingen durch die Küstenwache, April 2015.

entstehe ein Gefühl des Verlorenseins. Ein Problem, das behoben werden könnte. Zu schaffen macht der Holländerin auch, dass der Bürgermeister von Lesbos Anfang November verkünden musste, es gebe nun keinen Platz mehr, um all die Leichen ertrunkener Flüchtlinge zu begraben. In ihrer täglichen Arbeit erlebt sie aber auch Szenen, die ihr Mut machen. Etwa der Geschäftsmann, der erklärte: »Ich war früher immer der Typ, der auf Partys gesagt hat, es gebe zu wenig Platz für all die Flüchtlinge, man müsse die Grenzen dicht machen.« Doch als er selbst mit den Flüchtlingen in Berührung kam, sah er die Not und half tagelang bei der Essensausgabe. Zuversicht zieht van Gulik daraus, dass die Regierungen durchaus hören wollen, was Amnesty zu sagen hat – selbst wenn sie die Ratschläge nicht immer umsetzen. In den vergangenen Monaten mussten van Gulik, ihr Team und die verschiedenen Amnesty-Sektionen allerdings die Strategie ändern: War es zum Beispiel für die Suchmissionen-Kampagne ausreichend, vor allem an Brüssel zu appellieren, so ist es heute zielführender, mit jedem einzelnen europäischen Land direkt zu sprechen – was natürlich die Zahl der Gespräche multipliziert. Van Gulik betont, dass die europäischen Staaten das Gesamtbild nicht aus den Augen verlieren dürfen: »Es muss allen klar sein, wie die Dinge zusammenhängen. Es wirkt sich zum Beispiel auf die Balkanstaaten aus, wenn Spanien seine Außengrenze stärker abriegelt oder wenn Griechenland mit den Asylgesuchen völlig überfordert ist und alleingelassen wird.« Nach den fürchterlichen Anschlägen in Paris und Beirut Mitte November rief Amnesty International die Regierungen dazu auf, Kurzschlusshandlungen in der Flüchtlingspolitik zu vermeiden. »Die meisten Flüchtlinge aus dem Irak und aus Syrien, die jetzt in

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den Nachbarländern und in Europa Schutz suchen, fliehen ihrerseits vor Gewalt und Terror in ihrer Heimat«, macht van Gulik deutlich. »Es dient nicht der Sicherheit Europas, wenn Grenzen dicht gemacht und Flüchtlinge abgewiesen werden. Im Gegenteil: Die Menschen, die vor dem gleichen Horror fliehen, müssen organisiert und menschenwürdig aufgenommen werden.« Gauri van Gulik setzt auch immer wieder Zahlen in Relation: Von Januar bis Anfang September 2015 wurden 700.000 neue Asylsuchende in den EU-Staaten registriert. Eine auf den ersten Blick hohe Zahl, die sich aber doch relativiert, wenn man sich vor Augen führt, dass dies weniger als 0,2 Prozent der 500 Millionen Einwohner der EU-Länder ist. Selbst wenn in den nächsten Monaten 3,7 Millionen weitere Flüchtlinge eintreffen, wie Griechenland voraussagt, so steigt die Quote nicht über ein Prozent. »Wir sollten in der Lage sein, diese Zahl zu bewältigen«, betont van Gulik. »Das ist nicht unmöglich, wenn die Politiker auf all jene Menschen hören, die laut und deutlich sagen: ›Refugees welcome‹«. Die Autorin ist Redakteurin des Schweizer Amnesty Magazins.

»Es dient nicht Europas Sicherheit, Grenzen dichtzumachen und Flüchtlinge abzuweisen.« 21


100 Anrufe in einer Woche. Lisa während ihrer Schicht am Alarmtelefon.

Dranbleiben Rund um die Uhr können in Seenot geratene Flüchtlinge das »Alarmtelefon« der Initiative »Watch the Med« anrufen. Die Aktivistinnen und Aktivisten versuchen sicherzustellen, dass wirklich Hilfe kommt – wenn nicht, machen sie öffentlich Druck. Von Andreas Koob (Text) und Gustav Pursche (Foto)

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isa hat das Telefon am Ohr. Es ist nur ein kurzes Telefonat, dann legt sie auf und fasst zusammen: »Die 40 Flüchtlinge sind jetzt wieder sicher auf türkischem Boden«. Ihre Stimme klingt ruhig und nüchtern. Telefonate wie diese sind für sie inzwischen zur Routine geworden. Drei Mal im Monat übernimmt die Studentin eine Schicht beim Alarmtelefon der Initiative »Watch the Med«. Dann nimmt sie Anrufe entgegen von Flüchtlingen, die auf dem Mittelmeer in Seenot geraten sind, so wie jene 40 Menschen, die eben noch in einem manövrierunfähigen Boot in der Ägäis umhertrieben. Seit April 2015 klingelt das Telefon mindestens einmal täglich, meist sind es aber mehr Anrufe. Lisa und ihre Kollegin wirken sehr entspannt. In ihrer heutigen achtstündigen Schicht, die für die beiden gerade zu Ende ging, waren es vier Notfälle. Alle Anrufe kamen aus der Ägäis. Klingelt das Alarmtelefon, haben die Menschen auf den Booten zusätzlich zum eigentlichen Notruf die Nummer der Initiative gewählt. Daraufhin versuchen die Aktivistinnen und Aktivisten die Menschen zunächst zu orten und melden sich dann bei den zuständigen Küstenwachen. Damit versuchen sie, sicherzustellen, dass der Notruf ernst genommen wird und die Behörden die notwendige Hilfe veranlassen. »Es ist nach wie vor eine verrückte Situation, wenn du morgens um 7 Uhr im eigenen Zimmer sitzt und bei der griechischen Küstenwache anrufst«, sagt Lisa. Die Behörden wüssten inzwischen schon, wer am anderen Ende der Leitung ist. Lisa macht mit, weil sie nicht apathisch dasitzen will, nicht weiter tatenlos die Zahl ertrunkener Flüchtlinge rezipieren will. »Es ist ein Versuch, gegen die fatalen Folgen des europäischen Grenzregimes zu intervenieren«, sagt sie. »Und zwar ganz aktiv.« Die Initiative entstand als eine Antwort auf das Schiffsunglück am 11. Oktober 2013: 400 Menschen waren zwischen Lampedusa und Malta in Seenot geraten. Frühzeitig setzten sie ein SOS-Signal ab, ein Schiff der italienischen Marine war sogar in der Nähe, und dennoch ertranken mehr als 200 Menschen, als sich italienische und maltesische Behörden gegenseitig die Zuständigkeit zuschoben. Amnesty spricht in einem Bericht von »einem schockierenden Beispiel für die Gefahren, die mangelnde Kooperation mit sich bringt«. Damals blieb der abgesetzte Notruf zunächst folgenlos. Genau in solchen Fällen will »Watch the Med« nun »Alarm schlagen«. Am 11. Oktober 2014, zum ersten Jahrestag jenes Unglücks, startete die Initiative ihre Arbeit mit dem Anspruch »in der tödlichsten Grenzzone der Welt in Echtzeit einzugreifen«. Den Telefondienst übernehmen die Aktivistinnen und Aktivisten abwechselnd. Immer ist eine Person über die Hotline erreichbar – täglich und zu jeder Uhrzeit. Zuletzt gab es innerhalb von nur einer Woche 100 Anrufe. Aktivistinnen und Aktivisten auf beiden Seiten des Mittelmeers haben das Projekt möglich und vor allem auch bekannt gemacht. Die Nummer der Hotline kursiert auf Flyern und in sozialen Netzwerken, Initiativen verbreiten sie und nicht zuletzt wird sie von Mund zu Mund weitergegeben: Jeder Anruf beim Alarmtelefon ist das Ergebnis dieser transnationalen Vernetzung. Lisas Kollege Tresor ist einer derjenigen, der die Fäden zu-

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sammenhält. Er steht in engem Austausch mit marokkanischen Initiativen. Das Team des Alarmtelefons besteht inzwischen aus 100 Aktiven. Sie trafen sich in Berlin, Tunis und Amsterdam, um sich besser aufzustellen und ihre Arbeit weiterzuentwickeln. Tresor ist vor zwei Jahren selbst über Marokko nach Europa gekommen und lebt nun in Berlin. Er will die nächsten Flüchtlinge informieren, die die Passage über das Mittelmeer vor sich haben – so gut es eben geht. Er selbst sah viele Menschen ertrinken. Mehr will er von seiner Überfahrt nicht berichten. Im Gegensatz dazu erzählt Tresor geradeheraus von jenen Brutalitäten auf vorherigen Fluchtabschnitten, darüber, was sich zutrug, während jener Jahre, die er zwischen Kamerun und Marokko verbrachte. Vom letzten Abschnitt auf dem Wasser blieben Bilder, die er nicht mehr los wird: »Sie kommen, kommen, kommen, vor allem dann, wenn ich allein bin.« Gerade deshalb habe er das Projekt mitinitiiert, und er will all seine Energie reinstecken, bis sich die Politik grundlegend ändert: »Die Grenzen sind offen für Kaffee und Kakao, Uran, Öl, Coltan – eigentlich für jede Form von Handel und Lobbyismus – aber nicht für die Menschen.« Fast wütend greift er nach seinem Mobiltelefon, als ob er das verarbeitete Edelmetall am liebsten rausreißen würde. Für Tresor gleicht die Situation auf dem Mittelmeer einem »Krieg gegen die Flüchtlinge«. Was Lisa und ihre Kollegin in ihrer heutigen Schicht erlebten, scheint nicht weit davon entfernt. Eine Gruppe von Flüchtlingen berichtet, wie vermutlich Bedienstete der griechischen Küstenwache ihr Schlauchboot in türkische Gewässer zurückschleppten, Luftkammern zerstachen und den Motor wegnahmen. Dort blieben die 40 Menschen zunächst sich selbst überlassen, bevor die türkische Marine sie auf Initiative des Alarmtelefons rettete. Solche »push-backs« sind keine Einzelfälle. Die Initiative dokumentierte allein zwischen dem 5. und 18. Oktober 2015 sechs solcher Fälle. Auch Medien berichten von den Vorfällen und sprechen die Verantwortung wechselweise der griechischen Küstenwache oder Rechtsextremen auf Schnellbooten zu. Das Team des Alarmtelefons dokumentiert solche Vorfälle ebenso wie die Rettung der in Seenot Geratenen durch Küstenwache, Fischerinnen und Fischer oder beherzte Einzelpersonen. Jedes Boot, das ankommt, ist aus Sicht des Teams ein Erfolg. »Eine Lösung ist das Alarmtelefon nicht«, sagt Tresor. Das sieht auch Lisa so: »Unser eigentliches Ziel ist erreicht, wenn die Alarmtelefon-Hotline überflüssig wird.« Einen Slogan dafür gibt es schon: »Fähren statt Frontex«. Der Spruch klebt auch als Sticker auf Lisas Laptop. Die Idee der Fähren griff zuletzt auch der Bürgermeister der griechischen Insel Lesbos auf und forderte auch für Flüchtlinge eine reguläre Beförderung auf Personenschiffen zwischen der Türkei und Griechenland. Bis es soweit ist, werden Tresor und Lisa weiter telefonieren. Der Autor ist Volontär des Amnesty Journals.

»Unser eigentliches Ziel ist erreicht, wenn unsere Hotline überflüssig wird«, sagt Lisa. 23


Helfen statt hassen Mit einem Facebook-Aufruf fing alles an: In der südungarischen Stadt Szeged gründeten Freiwillige eine private Flüchtlingshilfe. Die Initiative wollte ein Zeichen gegen die stramm fremdenfeindliche Politik der Orbán-Regierung setzen – und wurde zu einem Aushängeschild für ein anderes, menschliches Ungarn. Von Keno Verseck (Text) und Szabolcs Barakonyi (Fotos) Ungarns Grenzen sind dicht. Der Sammelpunkt für Flüchtlinge nahe Röszke ist inzwischen verwaist.

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ber die schnurgeraden Gleise kommen immer mehr Menschen, kilometerweit ist der Treck der Flüchtlinge. Junge Männer, Familien mit Kleinkindern und Säuglingen, auch Alte, manche im Rollstuhl, manche auf Krücken. Eine Afghanin mit krummem Rücken, vielleicht Anfang sechzig, schleppt sich an der Hand ihres Schwiegersohns heran und lässt sich am Straßenrand erschöpft fallen. Polizisten haben das Gelände abgesperrt und die Menschen eingekreist. Manche Flüchtlinge kauern auf dem Boden und starren reglos vor sich hin. Andere stehen geduldig vor dem Zelt, in dem das Essen ausgegeben wird. Zwei junge Männer ziehen ihre Strümpfe aus, ihre Füße sind voller Blasen. Ein Vater hält seine fiebernde zweijährige Tochter im Arm und bittet um medizinische Hilfe. Alle halbe Stunde fährt ein Polizeibus vor und bringt Leute hierher, die irgendwo in der Gegend aufgegriffen wurden. Ein brachliegender Acker an der ungarisch-serbischen Grenze nahe des Dorfes Röszke. Hunderte von Flüchtlingen, die einen Kilometer weiter südlich auf einer Eisenbahnlinie die Grenze überquert haben, warten hier darauf, dass sie in ein Aufnahmelager gebracht werden. Die Tage in dieser zweiten Septemberwoche sind noch warm, aber die Nächte schon kühl. Manche Flüchtlinge harren hier 36 Stunden aus. Der Staat ist mit Polizei präsent, sonst mit nichts. Die einzigen, die sich um die Ankommenden kümmern, sind freiwillige Helfer. Balázs Szalai hat in einem klapprigen Kombi Dutzende Packungen mit stillem Mineralwasser hergefahren. Er steigt aus dem Wagen und blickt prüfend umher. Es ist ein desolater Anblick: Hunder-

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te Menschen auf dem Acker, müde, hungrig, ungewaschen, ringsumher Polizei, ein paar mobile Toiletten, überall Müll, Essen und Getränke gehen langsam zur Neige. Szalai zieht sein Telefon aus der Hosentasche und wählt eine Nummer: »Wir brauchen hier dringend noch Wasser! Macht einer von euch Sandwiches? Packt auch Windeln und Decken ein!« Dann ruft er seinen Freund Márk Kékesi an. »Haben die Budapester sich gemeldet, ob sie Militärzelte, Matten und Schlafsäcke schicken können? Es ist dringend.« Anschließend versucht er vom diensthabenden Kommandanten der Bereitschaftspolizei zu erfahren, wie es hier, am Sammelpunkt, weitergeht, aber der gibt vor, auch nichts Genaues zu wissen. Dann wieder Anrufe. Szalai telefoniert die Freiwilligen ab, fragt, wer Dienst machen könne. Zwischendurch rufen Journalisten an, wollen Interviews. Er wimmelt sie ab, verweist sie an seinen Freund Márk. Balázs Szalai und Márk Kékesi sind Mitbegründer der Flüchtlingsinitiative »MigSzol« in der südungarischen Stadt Szeged. Szalai, 34, arbeitet als Programmierer und hat eine kleine IT-Firma, Kékesi, 36, ist Sozialpsychologe und lehrt an der Universität Szeged. Das von ihnen ins Leben gerufene Projekt »MigSzol«, zu deutsch Migranten-Solidarität, ist eine der bemerkenswertesten Bürgerinitiativen in der postkommunistischen Ära Ungarns. Mit einem Facebook-Aufruf zu praktischer Unterstützung für Flüchtlinge in Szeged fing alles an. Szalai, Kékesi und einige ihrer Freunde veröffentlichten ihn Ende Juni. Fast umgehend meldeten sich mehr als tausend Unterstützer, die bereit waren, zu spenden, Lebensmittel, Getränke und Kleidung an Flüchtlin-

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»Es reicht!« Balázs Szalai (links) und Márk Kékesi, Mitbegründer der Flüchtlingsinitiative »MigSzol«.

ge zu verteilen oder ihnen mit Informationen zu helfen. So entstand binnen weniger Tage unbürokratisch eine großangelegte, effektive Flüchtlingshilfe. Sie wurde schnell zu einem Symbol für ein anderes, ein menschliches Ungarn. Das offizielle Ungarn macht wie kein anderes EU-Land gegen Flüchtlinge mobil. Schutzsuchende sind im Sprachgebrauch der Regierung »aggressive Belagerer« und eine »Infektionsgefahr«. Hilfe für Flüchtlinge außerhalb von Aufnahmelagern, selbst eine minimale Notversorgung, etwa mit Trinkwasser, lehnt die Regierung explizit ab. Alle Schutzsuchenden sollen spüren, dass sie nicht willkommen sind. Ungarn solle »ungarisch« bleiben, verkündet der Ministerpräsident Viktor Orbán immer wieder. Man wolle keine Vermischung mit anderen Kulturen. Im Frühjahr ließ die ungarische Regierung landesweit Großplakate mit fremdenfeindlichen, an Flüchtlinge und potenzielle Einwanderer gerichtete Botschaften in ungarischer Sprache kleben, beispielsweise: »Wenn du nach Ungarn kommst, darfst du den Ungarn nicht die Arbeit wegnehmen!« Als Anfang Juni die ersten Plakate in Szeged geklebt wurden, waren Balázs Szalai und Márk Kékesi empört. »Wir dachten: ›Es reicht! Nicht bei uns und nicht in unserem Namen!‹«, erzählen die beiden. Sie kauften weiße Farbe und Pinsel. Am 10. Juni, einem sonnigen Mittwochmorgen, zogen sie durch Szeged, übermalten die Sprüche auf den Plakaten der Regierung und schrieben darüber: »Schande!« Anschließend stellten sie Fotos der Aktion auf eine Facebook-Seite und zeigten sich bei der Poli-

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zei an. Angeklagt wurden sie bisher nicht. »Man will wohl keine Märtyrer aus uns machen«, sagen Szalai und Kékesi. Szeged liegt auf der Route vieler Flüchtlinge, die aus Richtung Serbien kommen. Die Idee einer organisierten Flüchtlingshilfe kam Szalai und vier Freunden, als die Szegeder Bahnhofsverwaltung Ende Juni nachts ihren Wartesaal für Flüchtlinge schloss – wegen angeblicher »Infektionsgefahr«. Spontan beschlossen sie, den Flüchtlingen, die vor dem Bahnhof warteten, Tee, Essen und Decken zu bringen. Am nächsten Tag veröffentlichten sie ihren Facebook-Aufruf, in dem sie für konkrete Solidarität mit Flüchtlingen warben. »Zeigen wir«, schrieben sie, »dass es auch in Ungarn Menschen gibt, die Flüchtlinge freundlich und offenherzig empfangen!« »Wir haben damit offenbar ein Gefühl vieler Menschen in der Stadt, aber auch anderswo in Ungarn getroffen«, sagt Márk Kékesi. »Ein Gefühl der Empörung über die staatliche Hasskam-

»Es ist besser, Menschen zu helfen, als seine Freizeit vor dem Fernseher zu verbringen, oder?« 25


pagne gegen Flüchtlinge und das Gefühl, dass man ihr etwas entgegensetzen muss.« Die Hilfsbereitschaft war überraschend groß – binnen weniger Tage trafen Lebensmittel- und Kleiderspenden von Hunderten Menschen am Szegeder Bahnhof ein, Dutzende Freiwillige meldeten sich. »Das war mehr, als wir erwartet hatten«, sagt Márk Kékesi. Auch der Stadtrat half. Wohl nicht zufällig, denn Szeged wird – als einzige Großstadt Ungarns – von einem Bürgermeister der Sozialistischen Partei regiert, der die »MigSzol«-Freiwilligengruppe unterstützt. Auch um den Preis eines Popularitätsverlustes – immerhin besagen Umfragen, dass eine deutliche Mehrheit der Ungarn mit der xenophoben Flüchtlingspolitik der Regierung einverstanden ist. Unter dieser Mehrheit ist auch eine nicht unerhebliche Anzahl von Wählern der Sozialistischen Partei. Dessen ungeachtet stellte der Szegeder Stadtrat ein mobiles Holzhaus zur Verfügung, das die »MigSzol«-Freiwilligen auf dem Bahnhofsplatz aufbauten und zu einem Anlaufpunkt für Flüchtlinge machten – mit Tee- und Kaffeeküche, Kühlschränken, Essenausgabe, Informationsdienst und mobilem Internetzugang. Der Stadtrat übernahm auch die Kosten für die Aufstellung von mobilen Toiletten und Waschbecken am Bahnhof, außerdem überließ er der Initiative unentgeltlich mehrere Lagerräume für Lebensmittel- und Kleiderspenden. Binnen einer Woche hatte »MigSzol« in Szeged eine private Flüchtlingshilfe organisiert, bei der am Bahnhof rund um die Uhr Freiwillige arbeiteten und mit der auch Flüchtlinge an der Grenze, unter anderem am Sammelpunkt in Röszke, versorgt werden konnten. Balázs Szalai und Márk Kékesi geraten fast ins Schwärmen, wenn sie über die große Hilfsbereitschaft erzählen. »Viele Leute haben den amtlichen Blödsinn von aggressiven und infektiösen Zuwanderern wohl doch nicht geglaubt«, sagen sie. Anfang September am Szegeder Bahnhof. Im Holzhaus schmiert Jenifer Kovács Brote und kocht nebenbei Tee und Kaf-

»Zeigen wir, dass es auch in Ungarn Menschen gibt, die Flüchtlinge freundlich und offenherzig empfangen!« 26

fee. Die 20-jährige lässt sich derzeit zur Kellnerin ausbilden und arbeitet neben der Ausbildung in einer Bar. Seit zweieinhalb Monaten kommt sie mehrmals in der Woche hierher, um zu helfen. Sie ist in einem Waisenhaus aufgewachsen, ihren Vater kennt sie nicht, ihre Mutter ist obdachlos. »Vielleicht bin ich wegen meiner eigenen Geschichte offener für die Not der Flüchtlinge als andere«, sagt sie. Dann fügt sie lachend hinzu: »Jedenfalls ist es doch besser, Menschen zu helfen, als seine Freizeit vor dem Fernseher zu verbringen, oder?« Jenifer arbeitet an diesem Tag zusammen mit Judit Somfai, einer 51-jährigen Sekretärin. Somfais Mann und ihre drei erwachsenen Kinder finden es gut, dass ihre Mutter am Holzhaus einmal pro Woche einen Nachmittag hilft. Ansonsten spricht Judit Somfai im Kollegen- und Bekanntenkreis nicht über ihre Freiwilligenarbeit. »Von vielen weiß ich, dass sie gegen Flüchtlinge sind und ich möchte keinen Streit«, sagt sie. Hat sie Freunde verloren wegen ihrer Freiwilligenarbeit? Nein, sagt Judit Somfai, sie habe vielmehr neue Freunde gefunden. »Es ist ein gutes Gefühl, hier mit Leuten zusammen zu sein, die vielleicht sehr unterschiedlich sind, die aber ein gemeinsames humanistisches Ziel vereint.« An diesem Nachmittag kommen viele freundliche Szegeder Bürger zum Holzhaus. Manche bleiben einfach nur einige Augenblicke stehen, sagen etwas Nettes, andere bringen Lebensmittel, zwei ältere Damen schleppen große Plastiksäcke voller Kinderkleidung herbei – sie haben in den Schränken ihrer Enkel aufgeräumt. Nur eine Rentnerin regt sich auf. »Es wäre besser, wenn ihr armen Ungarn helfen würdet«, ruft sie. In diesem Moment schlurft ein obdachloser Ungar zum Holzhaus und holt sich ein belegtes Brot, eine Flasche Wasser und einen Kaffee ab. »Auch die Obdachlosen sind hier regelmäßig zu Gast«, sagt Nóra Szilágyi, »wir weisen niemanden ab«. Drei Wochen später an einem regnerischen Tag im September. Balázs Szalai und Márk Kékesi gehen durch die Räume einer leerstehenden Schule im dörflichen Szegeder Vorort Szentmihály. Sie dient nun als Lager für die Berge an Spenden, die im Laufe der letzten Monate in Szeged angekommen sind, aus der Stadt, aus Ungarn, auch aus dem Ausland. Helfer haben einen Teil geordnet: Kleidung für Erwachsene und Kinder, Regensachen, Schuhe, Gummistiefel, Windeln, Lebensmittel, Decken, Zelte. Aber noch immer stehen massenweise Kartons herum, deren Inhalt sortiert werden muss. Ágnes Szöke hat alles im Blick, sie führt die Inventarlisten. Die 35-Jährige ist studierte Volkswirtschaftlerin und Programmiererin, sie hat Bezahl-Apps für Mobiltelefone entwickelt und

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»Humanistisches Ziel«. Jenifer Kovács (links) und Mitstreiterinnen.

arbeitet in einer Firma für Arbeitsvermittlung. Im Juni war sie zusammen mit Szalai und Kékesi eine der Mitbegründerinnen von »MigSzol«. Mit Stift und Zetteln läuft sie zwischen den Kartonbergen umher, ihr Mann und ihre dreijährige Tochter spielen derweil in dem Labyrinth Verstecken. Später setzt sie sich mit Szalai und Kékesi in einen kleinen Büroraum. Die drei ziehen Bilanz und besprechen, wie es weitergehen soll. Denn inzwischen kommen kaum noch Flüchtlinge nach Szeged. Seit dem 15. September hat die ungarische Regierung die Grenze zu Serbien durch den Bau eines vier Meter hohen Zaunes und einer Stacheldrahtsperre hermetisch abriegeln lassen. Zwar greift die Polizei täglich immer noch einige Flüchtlinge auf, die den Zaun zerschneiden und nach Ungarn kommen, aber sie werden sofort in Gewahrsam genommen und in Schnellverfahren verurteilt. Die meisten Flüchtlinge nehmen inzwischen den Weg über Kroatien und Westungarn, dort, an der Grenze werden sie von ungarischen Behörden umgehend an die österreichische Grenze gebracht. Es gibt nicht mehr viel zu tun für »MigSzol« in Szeged. Das Holzhaus am Bahnhof ist abgebaut, die Freiwilligen haben an

einem Samstagnachmittag Abschied gefeiert – einen vorläufigen, wie Márk Kékesi sagt. Geblieben sind vielleicht dreißig Leute von 350 Freiwilligen. Einige, wie Kékesi, bringen Lebensmittel und Kleidung zu Flüchtlingen nach Serbien, andere fahren an die ungarisch-kroatische Grenze, um dort zu helfen. Auch in Szeged tauchen verstreut immer wieder Flüchtlinge auf, die Lebensmittel, Kleidung und Informationen brauchen. Was bleibt nach drei Monaten, in denen zumindest sie, die »MigSzol«-Gründer, sich fast jeden Tag mehr um Flüchtlinge als um Familie, Arbeit und Freunde gekümmert haben? Die drei schauen sich an, überlegen. »Mich hat diese Zeit verändert, ich sehe die Welt anders als vor drei Monaten«, sagt Kékesi. »Für mich ist es inzwischen sehr wichtig, wer sich in meinem Freundes- und Bekanntenkreis wie zu den Flüchtlingen verhält, es ist wie ein Lackmustest.« Die drei diskutieren darüber, wie viele Leute sie erreicht haben, überlegen, ob sie nur eine Initiative sind oder vielleicht schon eine Bewegung. Sie sind sich nicht sicher. Dann sagen sie: »Die Regierung konnte sich in den letzten Jahren nahezu alles erlauben, weil die Gleichgültigkeit vermeintlich so groß war. Aber mit unserer Initiative haben wir gezeigt, dass vielleicht weniger Menschen gleichgültig sind, als man glauben mag. Und wir haben gezeigt, dass sich in unserem so tief zerstrittenen Ungarn die unterschiedlichsten Leute zusammenfinden können und in der Lage sind, ihre Differenzen beiseite zu lassen, wenn es darum geht, Menschen in Not zu helfen.« Der Autor ist freier Journalist. Keno Verseck lebte in den neunziger Jahren in Ungarn und verfolgt die Entwicklung des Landes seit drei Jahrzehnten. Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app

Abschiedsfest. Die Aktivistinnen und Aktivisten vor dem Holzhaus am Bahnhof von Szeged.

ALLES WIRD GUT

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Als Anwalt hat Wolfgang Kaleck gegen argentinische Generäle, deutsche Konzerne und US-Regierungen geklagt. Doch warum legt er sich mit Gegnern an, gegen die er eigentlich nur verlieren kann? Interview: Anton Landgraf

Träumen Sie manchmal davon, in einem Beruf zu arbeiten, der nichts mit Folter, Entführung oder CIA-Agenten zu tun hat? Mein Berufsweg steht für mich nicht infrage. Aber ich muss genauso wie meine Kolleginnen und Kollegen aufpassen, dass ich mir nicht zu viel zumute. Ein wichtiger Aspekt unserer Arbeit besteht darin, dass wir über diese zum Teil schrecklichen Geschichten kommunizieren müssen. Das gelingt nicht, wenn wir dabei selber wie das Leiden der Welt wirken und aussehen. Dieses Leiden spielt sich oft sehr weit entfernt ab. Es muss klar sein, dass wir, die Anwälte, privilegiert sind, auch wenn wir uns für die Unterprivilegierten einsetzen. Das heißt, wir müssen einerseits die Erzählungen jener übersetzen, die wir vertreten, die in Kolumbien, Bangladesch oder anderswo Opfer schwerer Menschenrechtsverletzungen werden. Um ihre Interessen zu vertreten, müssen wir ihnen Ressourcen, Öffentlichkeit und anderes zugänglich machen.

Aber diese Fälle haben mein ganzes Leben umgekrempelt, auch weil wir mit unserer Arbeit erfolgreich waren und die Militärs später verurteilt wurden. 15 Jahre später sind die Verfahren in Argentinien immer noch ein wichtiges Thema für mich. Das hätte ich mir damals nicht vorstellen können. Ein Motto von Ihnen lautet: Siegen ohne zu gewinnen. Manchmal muss man vorangehen, auch wenn die Aussichten schlecht sind. Bei unserer Strafanzeige gegen den damaligen US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld kamen wir nach langen Diskussionen zu der Auffassung, dass wir es versuchen sollten. Es gab viele Gründe, die gegen einen Erfolg sprachen. Aber wie bei anderen Fällen hat die Anzeige zu Entwicklungen geführt, die vorher so nicht absehbar waren. Es gab zwar kein Ermittlungsverfahren wegen Folter und den CIA-Entführungen, wie wir es beabsichtigt hatten. Aber Rumsfeld hat sich getroffen gefühlt. Er werde nicht nach Deutschland kommen, solange diese Sache nicht vom Tisch sei, hat er einmal gesagt. Da war er noch Verteidigungsminister der größten Militärmacht der Erde. Elf Jahre später fährt Rumsfeld noch immer nicht nach Deutschland, nach Spanien, Frankreich oder Italien, weil er weiß, dass jederzeit ein Verfahren gegen ihn eingeleitet werden kann. Das war zu Anfang unvorstellbar. Du startest aus einer aussichtslosen Position und erreichst etwas – nicht alles, aber etwas.

Sie klagen gegen Generäle, Konzerne und Regierungen. Ist angesichts solcher Gegner ein Scheitern nicht vorprogrammiert? Scheitern tun wir letztlich alle, die Frage ist nur, wie wir scheitern. Ich habe Jura nicht studiert, um Karriere zu machen, sondern um anderen Menschen zu helfen. Dabei hat sich mir offenbart, dass man mit diesem Beruf eine Menge unternehmen kann. Dennoch gibt es natürlich Tage, an denen ich alles schwarz sehe. Aber auf der anderen Seite habe ich meinen Weg gefunden, auf die oft bittere Realität einzuwirken. Ich setze mich mit Menschen zusammen, die Erwartungen an mich haben und denen gegenüber ich Verantwortung übernehme. Ich gehe eine menschliche, moralische und politische Verpflichtung ein.

Ihr Ziel, eine Anklage, haben Sie dennoch nicht erreicht. Das ist das Fernziel, aber auf dem Weg dahin gibt es viele kleine Etappenziele und ein paar davon haben wir durchgesetzt. Wir konnten die Mächtigen erschüttern. Durch unsere Handlungen wurden wiederum viele andere Juristen inspiriert. Mittlerweile sind an vielen Orten der Welt ähnliche Initiativen wie das »European Center for Constitutional and Human Rights« (ECCHR) ent-

Auch wenn Sie kaum Chancen haben, zu gewinnen? Man muss die Realität natürlich im Blick behalten, sie ist die Basis unseres Handelns, aber man muss auch kalkulierte Risiken eingehen. Ich will natürlich auch gewinnen, ich bin schließlich Anwalt. Die Verfahren, die wir beginnen, entwickeln oft eine eigene Dynamik. 1999 bin ich mit den Fällen junger deutsch-jüdischer Frauen und Männer betraut worden, die unter der Militärdiktatur in Argentinien ermordet wurden. Mit einem konventionellen Berufsverständnis hätte ich eine Strafanzeige gestellt und damit wäre meine Arbeit beendet gewesen.

»Du startest aus einer aussichtslosen Position und erreichst etwas – nicht alles, aber etwas.«

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Foto: Diego Ibarra Sanchez / The New York Times / Redux / laif

»Da geht immer was«


»Unternehmen verklagen.« Foto eines Pakistaners, der 2012 beim Brand in einer Textilfabrik starb. Das ECCHR vertritt die Hinterbliebenen.

Sehen Sie in Ihrer Arbeit eine Entwicklung? Es geht nicht nur um einzelne Ereignisse. Ob sich der Weg über das Völkerstrafrecht, den wir für unsere Klagen gewählt haben, als sinnvoll erweist, wird man erst in zehn oder zwanzig Jahren beurteilen können. Ebenso die Frage, ob man dieses Konzept der rechtlichen Haftung für Menschenrechtsverletzungen von staatlichen Akteuren auf Unternehmen übertragen kann. Aber es hat sich bereits vieles zum Positiven verändert. 1998, als wir mit unserer Arbeit anfingen, wurde der Internationale Strafgerichtshof gegründet und Chiles Ex-Diktator Augusto Pinochet in London verhaftet. Seitdem haben wir so etwas wie eine Globalisierung von unten geschaffen. Heute ist es möglich, dass wir wenige Wochen nach einer schweren Menschenrechtsverletzung in Bangladesch oder Pakistan gemeinsam mit »medico international« sowie pakistanischen Gewerkschaften und Anwälten tätig werden und die verantwortlichen Unternehmen verklagen. Das war damals unvorstellbar. Als wir anfingen, überwog noch das Bild des heroischen Anwalts und von Einzelkämpfern wie dem spanischen Richter Baltasar Garzón, die als »Eisbrecher« fungiert haben. Heute ist ein Netzwerk kollektiver Strukturen an diese Stelle getreten, die lokale und transnationale Ebenen verbinden. Wie würden Sie Ihr Vorgehen beschreiben? Es ist ein Versuch, ein pragmatisches Vorgehen mit Visionen zu verbinden. Es ist wichtig und richtig, Utopien zu haben, aber genauso wichtig ist es, in der Realität anzuknüpfen, um den Weg hin zu einer Utopie zu gestalten.

ALLES WIRD GUT

Finden Sie Ihre Arbeit befriedigend? Ich empfinde es als Privileg, dass ich mit meinem Beruf in der Lage bin, gemeinsam mit anderen Menschen zu kämpfen. In diesem Meer von Gewalt und Grausamkeit gibt mir meine Arbeit den Glauben an die Menschen zurück, auch wenn ich dabei immer wieder mit schrecklichen Aspekten konfrontiert bin. Ich bin immer wieder an den unmöglichsten Ort der Welt in unmöglichen Situationen Menschen begegnet, die sich wie selbstverständlich gegen Gewalt, gegen Unrecht engagieren. Und da geht immer was. Siehe zur ECCHR-Klage gegen KiK auch Seite 49. Eine Besprechung von Wolfang Kalecks Buch »Mit Recht gegen die Macht« finden Sie auf Seite 64.

Foto: Nihad Nino Pušija / ECCHR

standen, woraus sich ein Netz von Anwälten entwickelt hat. Es gab Verurteilungen, CIA-Agenten haben die Anweisung, nicht mehr nach Europa zu fahren etc. Das ist viel mehr als wir 2004 zu träumen wagten.

INTERVIEW WOLFGANG KALECK Wolfgang Kaleck ist Fachanwalt für Strafrecht. 2007 gründete er gemeinsam mit einer kleinen Gruppe internationaler Menschenrechtsanwälte das »European Center for Constitutional and Human Rights« (ECCHR), eine gemeinnützige und unabhängige Menschenrechtsorganisation mit Sitz in Berlin, deren Generalsekretär er seitdem ist. Ziel des ECCHR ist es, die Menschenrechte, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie anderen Menschenrechtsdeklarationen und nationalen Verfassungen garantiert werden, mit juristischen Mitteln zu schützen und durchzusetzen.

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»Die Bewegung braucht ein Gesicht« In Uganda ist Homosexualität verboten, Schwule und Lesben werden geächtet und müssen Gewalt fürchten. Doch es regt sich Widerstand. Die lesbische Aktivistin Kasha Nabagesera kämpft in ihrer Heimat seit Jahren für Toleranz und sexuelle Vielfalt. Nun erhält sie den »Alternativen Nobelpreis«. »Hängt sie!«, fordern ihre Gegner. Foto: Frédéric Noy / Cosmos / Agentur Focus

Von Çig˘dem Akyol

»Gott liebt uns auch. Sehr sogar.« Kasha Nabagesera.

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A

us Angst Uganda verlassen? »Das ist mir noch nie in den Sinn gekommen«, sagt Kasha Jacqueline Nabagesera. Weil jeder ihr Gesicht kennt, meidet sie öffentliche Plätze. Außerdem sind für die Uganderin Hassanrufe aufs Mobiltelefon, Priester, die sie für den Teufel halten, und Bedrohungen in sozialen Netzwerken schon Alltag. »Doch die Bewegung braucht ein Gesicht. Und das Gesicht unserer Gemeinschaft bin ich«, sagt die lesbische Menschenrechtsaktivistin, die für ihr Engagement nun den schwedischen »Right Livelihood Award« (Preis für richtige Lebensführung) erhält, den man auch »Alternativen Nobelpreis« nennt. Die zierliche, energische 35-Jährige kämpft seit Jahren für die Freiheit der sexuellen Vielfalt in ihrer Heimat. »Ich war nie gut darin, nur da zu sitzen und zuzusehen, wenn die Dinge in einer Gemeinschaft nicht gut laufen«, erzählt Nabagesera. Der Entschluss, sich für das Recht auf Liebe einzusetzen, fiel schon in jungen Jahren, deswegen gründete sie den Menschenrechtsverein »Freedom and Roam Uganda« und wagte es sogar, im nationalen Fernsehen über ihre eigene Sexualität zu sprechen. Nabagesera ist auch Chefredakteurin und Herausgeberin von »Bombastic«, dem ersten Hochglanzmagazin von Homo- und Transsexuellen in Uganda, das sich vor allem an Heterosexuelle richtet. »Wir möchten nicht provozieren, sondern eine Wissenslücke füllen«, sagt die Aktivistin in einem Café in der Hauptstadt Kampala. »Wir wollen aufklären, dass wir nicht psychisch gestört sind, wie immer behauptet wird.« Ihre schmalen Arme zieren Silikonarmbänder in den Regenbogenfarben, dem Symbol der schwul-lesbischen Community. Im Editorial des Magazins ist ein Foto von ihr abgedruckt. Die mediale Aufmerksamkeit gebe ihr auch einen gewissen Schutz. Ihre Freunde und ihre Familie wüssten schon seit langem von ihrer sexuellen Orientierung. Es sind die hasserfüllten Homophoben, vor denen sie sich verstecken muss. Ihr schulterlanges, schwarzes Haar verbirgt sie in der Öffentlichkeit meist unter einer Sportkappe. Nabagesera meidet Menschenmengen, wechselt regelmäßig ihren Aufenthaltsort. Nie, so erzählt sie, lebe sie in Wohnungen, immer nur in Häusern, »weil Fremde grundsätzlich verdächtig sind«, sagt Nabagesera in klaren, kurzen Sätzen. »Ich bin auch schon verfolgt und geschlagen worden. Ich kann es nicht mehr zählen.« Die schwedische Stiftung, die den Preis vergibt, nennt sie zu Recht eine der »mutigsten Menschenrechtsaktivistinnen in Afrika«. Mit ihrer Arbeit will sie ein Land mit 35 Millionen Einwohnern aufrütteln. Und das in einem Staat, in dem gleichgeschlechtliche Liebe mit Haft bestraft wird. Hier predigen fundamentalistische Christen und Muslime ungeniert, dass Schwule schuld am Holocaust seien. Unterstützt werden sie dabei von der Regierung, die im Jahr 2009 erwog, die Todesstrafe für Homosexuelle einzuführen. In dem ostafrikanischen Land sind gleichgeschlechtliche Beziehungen illegal. Ein Gesetz sollte Homosexualität mit Strafen bis hin zu lebenslanger Haft belegen. Nachdem es 2014 Realität wurde, zog Nabagesera dagegen vor das Verfassungsgericht – und gewann. Doch Präsident Yoweri Museveni wird nicht müde zu betonen, es seien strenge Regeln erforderlich, »um die Kultur unseres Landes zu verteidigen«. Zusätzlich angeheizt wird der Hass durch mediale Hetzkampagnen. So veröffentlichte im Herbst 2010 die Boulevardzeitung »Rolling Stone« in Uganda Fotos von hundert angeblich Homosexuellen. »Hängt sie«, forderte das Blatt auf dem Titel. Auch Nabagesera und ihr Freund, David Kato, waren auf dem Cover. 2011 wurde der Aktivist in seiner Wohnung ermordet.

ALLES WIRD GUT

Genau dieser Hetze wollte Nabagesera etwas entgegensetzen. »Die Leute können jetzt von uns die andere Seite der Geschichte hören«, sagt sie – nicht nur die hasserfüllten Töne mancher Politiker. Die Idee zu »Bombastic« entstand 2013; der Name ist angelehnt an einen Song des jamaikanischen Reggae-Musikers Shaggy. Auf Facebook suchte man nach Autoren; innerhalb kürzester Zeit seien mehr als 1.000 Geschichten eingegangen, die dann von acht Aktivisten ausgewertet wurden. Über eine Plattform für Crowdfunding konnte die Produktion des Hefts finanziert werden. Ende des vergangenen Jahres erschien das Magazin. »Unser Weihnachtsgeschenk an die Regierung«, sagt Nabagesera. Sie gestikuliert nicht, ihre Mimik ist ruhig, so, als wolle sie all die Ablehnung von sich fernhalten. Das Cover der Zeitschrift zeigt ein Männergesicht mit einer schillernden Maske und violetten Federn, darunter ein Regenbogen und der Schriftzug: »Unsere Stimmen, unsere Geschichten, unsere Leben.« Zur selben Zeit nahm der Internet-Sender »Kuchu Times Radio« den Betrieb auf. »Kuchu« bedeutet in der Lokalsprache Schwuler oder Tunte. Der Großteil des Programms besteht aus Musik. Dazu liefern Aktivisten aus ganz Subsahara-Afrika Beiträge, sagt Nabagesera, in deren Wohnzimmer der Sender stationiert ist. »Bombastic« ist ein Magazin über die Liebe, die Furcht, die Würde und das Unrecht. Homo-, Bi- und Transsexuelle berichten meist anonym von ihren Erfahrungen. In Uganda homosexuell zu sein, schreibt eine lesbische Frau, fühle sich an, »wie ständig im Todestrakt zu sitzen, weil du nicht weißt, wann du getötet wirst«. Ein schwuler Mann schildert, wie er gegen sein Begehren ankämpfte, weil er als Katholik die Isolierung der Gemeinde fürchtete. Doch alles Beten habe nichts genützt, »als 20Jähriger gab ich auf und folgte meinem Herzen«, schreibt er. In einem offenen Brief an die Kirche appellieren die Aktivisten: »Gott liebt auch uns. Sehr sogar.« Insgesamt 15.000 »Bombastic«-Exemplare wurden in weiten Teilen des Landes meist nachts ausgelegt. Eine Sicherheitsregel lautete, dass niemand in der Region seiner Familien das Magazin auslege, um deren Gefährdung zu vermeiden. Wenn Nabagesera von der Verteilung spricht, redet sie immer vom »Field« – so bezeichnen auch Kriegsberichterstatter ihre Einsatzorte. Zusätzliche zwei Millionen Mal ist »Bombastic« inzwischen aus dem Internet heruntergeladen worden. Für eine zweite Ausgabe werden momentan wieder Spenden gesammelt. 99 Prozent der Kommentare auf der Webseite des Magazins seien Hass-Mails, Männer drohen ihr mit Vergewaltigungen. Manchmal antworte sie den homophoben Schreibern sogar, »weil sie es brauchen«, sagt sie. Der ugandische Minister für Ethik und Anstand, Simon Lokodo, hat sie zu einem Gespräch gebeten – sie lehnte ab. Denn die Veröffentlichung »homosexueller Propaganda« wird mit bis zu sieben Jahren Haft bestraft. Außerdem hatte Lokodo den Machern von »Bombastic« zuvor mit einer Klage gedroht. Zum ersten Mal überhaupt vergibt die Stockholmer Stiftung einen Preis an eine Kämpferin für die Rechte von Homosexuellen. »Wir waren unglaublich beeindruckt, als wir von ihrer Arbeit erfahren haben«, sagte Ole von Uexküll, Leiter der »Right Livelihood Award Foundation«. »Wir hoffen natürlich, dass der Preis dazu beiträgt, dass sich der politische Wille mehr auf die Seite unserer Preisträger schlägt.« Die Autorin ist Auslandskorrespondentin und lebt in Istanbul.

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Foto: picture alliance / ZUMA Press

Friedensprophet mit Taschenrechner. Steven Pinker, 61.

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Herr Pinker rechnet mit Frieden Der Kanadier Steven Pinker, Evolutionspsychologe an der Universität Harvard, gilt als einer der einflussreichsten Denker der Welt. Aber ausgerechnet seine größte These können die wenigsten glauben: Die Menschen werden immer netter. Interview: Ramin M. Nowzad

Herr Pinker, wie lautet Ihre irre These nochmal genau? Gewalt ist im Laufe der Geschichte immer weiter zurückgegangen. Und zwar alle möglichen Formen der Gewalt: Kriege, Morde, Folter, Hinrichtungen, Vergewaltigungen, häusliche Gewalt. Diese Dinge gibt es natürlich noch immer. Aber wir dürften heute in der friedlichsten Epoche leben, seit unsere Spezies existiert. Wie kommt man auf so eine Idee? Es begann damit, dass ich vor ein paar Jahren auf zwei erstaunliche Dinge gestoßen bin. Zum einen erfuhr ich, dass früher in Stammeskriegen deutlich mehr Menschen starben als in den Kriegen der Moderne, selbst als in den beiden Weltkriegen. Natürlich nicht in absoluten Zahlen, aber in Relation zur Gesamtbevölkerung. Das heißt: Früher war es wahrscheinlicher, im Krieg zu sterben. Zum anderen lernte ich, dass Mordraten in Europa enorm gesunken sind. Die Wahrscheinlichkeit, ermordet zu werden, war im Mittelalter und in der frühen Neuzeit um ein Vielfaches höher als im 20. Jahrhundert. Und wir wissen natürlich auch, dass es früher barbarische Praktiken gab, die man über Jahrhunderte als ganz selbstverständlich ansah, aber irgendwann abgeschafft hat. Zum Beispiel Menschenopfer, die Sklaverei, das Verbrennen von Ketzern oder andere sadistische Hinrichtungen vor johlendem Publikum. Im Dezember 2007 veröffentlichte ich darüber einen kurzen Text in einem Internetforum. Die Überschrift lautete: »Was macht Sie optimistisch?« Die Reaktionen waren sehr überraschend.

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Wieso? Historiker, Politikwissenschaftler und Psychologen kontaktierten mich. Und ich erfuhr: Es gibt noch sehr viel mehr Beweise für den Rückgang von Gewalt! Wenn man beispielsweise berechnet, wie viele Menschen in den vergangenen Jahrzehnten durch Krieg und Völkermord umkamen, geht die statistische Kurve steil nach unten. Kriege zwischen Großmächten, Kriege zwischen reichen Ländern, Kriege in Westeuropa – das war über Jahrhunderte die Norm, nun ist es ganz verschwunden. Selbst Gewalt in der Ehe, Missbrauch von Kindern, Prügelstrafen und Hassverbrechen sind zurückgegangen. Mir wurde klar: Ich bin auf eine große Geschichte gestoßen – die eigentlich nie erzählt wird. Ich nahm mir vor, die Menschen auf diese ungewöhnlichen Fakten aufmerksam zu machen. Und da ich Psychologe bin, wollte ich herausfinden, warum wir friedlicher geworden sind, wenn sich unsere Natur nicht geändert hat. Warum fällt es so schwer, Ihnen zu glauben? Weil wir alle gewohnt sind, die Welt durch die Brille der Medien zu sehen. Das führt systematisch in die Irre. Wenn Sie die Fernsehnachrichten einschalten, erfahren Sie immer nur von Dingen, die passiert sind. Nie von Dingen, die nicht passiert sind. Sie werden keinen Reporter sagen hören: »Ich berichte live aus einer Großstadt, in der kein Bürgerkrieg herrscht.« Oder: »Ich stehe vor einer Schule, in der niemand Amok gelaufen ist.« Solange die Gewaltrate nicht auf null gesunken ist, wird es immer genügend Grausamkeiten geben, um die Abendnachrichten zu füllen. Aber es wäre ein Trugschluss, daraus statistische Trends abzuleiten.

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KRIEGSTOTE

VERGEWALTIGUNG UND SEXUELLE GEWALT

Kriegsopfer per 100.000 Einwohner.

20

2.000

15

1.500

10

1.000

5

500

0

Vergewaltigung und sexuelle Gewalt

Gewalt in der Partnerschaft

0 1945

1955

1965

1975

1985

1995

2005

2015

1994

1997

2000

2003

2006

2009

2012

Quellen: Uppsala Conflict Data Project Program, Peace Research Institute of Oslo, US Census Bureau

Und was ist mit Auschwitz, Stalingrad, Hiroshima? In der Schule lernen wir: Der Zweite Weltkrieg war das bisher blutigste Kapitel der Menschheitsgeschichte. Wie können wir behaupten, er sei das blutigste Kapitel gewesen, ohne ihn mit anderen Kapiteln zu vergleichen? Auch früher haben sich Menschen Unfassbares angetan. Die europäischen Religionskriege, die Invasionen von Dschingis Khan, die Raubzüge von Tamerlan, viele Bürgerkriege und der Untergang ganzer Imperien in China, die Dezimierung der amerikanischen Ureinwohner, der Handel mit Sklaven aus Afrika … Woher wollen Sie so genau wissen, wieviel Mord und Totschlag es damals gab? Selbst für sehr frühe Phasen der Menschheit besitzen wir forensische Nachweise. Erschreckend viele prähistorische Skelette weisen Verletzungen auf, die auf einen gewaltsamen Tod schließen lassen: eingeschlagene Schädel, Schnittspuren an Gliedmaßen, Pfeilspitzen, die noch in den Knochen stecken. Ich habe mich aber vor allem mit den vergangenen Jahrhunderten beschäftigt. Und hier gibt es schriftliche Dokumente. Schon im Mittelalter begann man in zahlreichen Weltregionen, Morde akribisch zu dokumentieren, Historiker haben die Zahlen später tabellarisch erfasst. Außerdem ließen Herrscher immer wieder Volkszählungen durchführen, um Steuern zu erheben. Sie können sich sicher sein: Es fiel ihnen auf, wenn plötzlich ein paar Hunderttausend Steuerzahler fehlten. So zuverlässig wie das statistische Bundesamt sind diese Quellen nicht … Aber die Gewaltraten gehen nicht nur ein bisschen zurück, sondern massiv. Selbst wenn wir annehmen würden, dass die

»Aktivisten sollten aufhören, ständig zu jammern, dass es uns so schlecht gehe wie nie!« 36

historischen Quellen um das Doppelte oder Dreifache danebenliegen – den logarithmischen Kurven würde man das kaum ansehen. Warum sind wir friedlicher geworden? Es gibt nicht nur eine, sondern eine ganze Reihe von Antworten. So haben zum Beispiel demokratische Regierungen dafür gesorgt, dass sich Menschen nicht mehr wahllos die Köpfe einschlagen. Der Aufstieg des Handels führte dazu, dass Menschen lebendig mehr wert waren als tot, denn mit Leichen macht man keine guten Geschäfte. Sobald Menschen anfangen zu handeln, ist es plötzlich billiger, Dinge zu kaufen als zu stehlen. Auch die Alphabetisierung hat beim Rückgang der Gewalt eine Rolle gespielt. Wenn wir Romane und Zeitungen lesen, lernen wir, uns in andere Menschen hineinzuversetzen und für fremdes Leid empfänglich zu werden. Und der Aufschwung von Bildung und Wissenschaft führte wiederum dazu, dass wir Gewalt – so wie Hunger oder Krankheit – als ein Problem begreifen konnten, das wir lösen wollen. Sie haben Ihre Gewalt-Studie vor vier Jahren veröffentlicht. Seitdem scheint alles nur noch schlimmer geworden zu sein: Bürgerkrieg in der Ukraine, der Terror des »Islamischen Staats«, Millionen Menschen auf der Flucht. Immer noch sicher, dass Sie sich nicht verrechnet haben? Wenn man die Welt in den Nachrichten sieht, erscheint es doch immer so, als würde alles nur noch schlimmer. Aber das ist eine Illusion! Sie haben recht, Putin und die Islamisten haben Fortschritte von ungefähr zwölf Jahren ausradiert: Die Todesrate durch Bürgerkriege ist wieder leicht angestiegen. Aber sie ist nicht in Ansätzen so hoch wie in den 1960ern, 1970ern, 1980ern oder den frühen 1990ern, von den 1940ern ganz zu schweigen. Und alle anderen Gewaltraten – beispielsweise Mord, Vergewaltigung, Kindesmissbrauch, Todesstrafe – fallen weiter. Der ewige Friede kommt also doch? Gewalt wird niemals ganz aus der Welt verschwinden. Auf unserem Planeten leben sieben Milliarden Menschen. Es wird immer junge Kerle geben, die in einer Kneipe durchdrehen oder eine »Volksfront zur Befreiung von Was-auch-immer« gründen, um ihrem Lebensfrust Ausdruck zu verleihen. Aber die Gewalt kann auch in Zukunft weiter zurückgehen.

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Quellen: Bureau of Justice Statistics

Opfer per 100.000 Frauen.


ENTKRIMINALISIERUNG VON HOMOSEXUALITÄT

TODESSTRAFE

Zahl der Länder, in denen Homosexualität entkriminalisiert wurde.

75 50 25 0 1800

1840

1880

1920

1960

2000

3,0

1,5

Quelle: Amnesty

100

Quellen: Ottoson, International Lesbian and Gay Association, ILGBTIA

Hinrichtungsrate in den USA per 100.000 Einwohner.

0,0 1650

1700

1750

1800

1850

1900

1950

2000

MORDRATE

Mordopfer pro 100.000 Einwohner im Jahr. 70 60

Italien

50 Niederlande und Begien

30 20 1

Deutschland und die Schweiz

Skandinavien

Quellen: UNODC für 2010 und Eisner (2003)

40

England

10 0 1300

1400

1500

1600

Und wir können uns zurücklehnen, die Weltgeschichte erledigt den Job? Diese Frage ist albern! Aber ich höre sie nicht zum ersten Mal. Wenn ich Ihnen jetzt sagen würde: »Ich prognostiziere, Ihre Zähne werden heute Nacht geputzt sein, wenn Sie ins Bett gehen.« Was würden Sie antworten? »Toll! Das heißt, ich muss meine Zähne heute nicht putzen«? Die Welt ist friedlicher geworden, weil sich Menschen in der Vergangenheit erfolgreich dafür eingesetzt haben. Und wir können die Welt noch friedlicher machen. Amnesty versucht das auch. Irgendwelche Tipps? Aktivisten sollten aufhören, ständig zu jammern, dass die jüngste Krise die allerschlimmste sei, dass es uns so schlecht gehe wie nie und dass die Welt sowieso dem Untergang geweiht sei! Damit vermittelt man anderen Leuten doch nur das Gefühl, dass es nichts bringt, sich einzusetzen – dass Jahrzehnte des Aktivismus reine Zeitverschwendung waren, dass Afrika und der Nahe Osten eben Dreckslöcher sind, dass sich die Menschen dort bis in alle Ewigkeit abschlachten werden, dass es für unseren Planeten keine Hoffnung gibt und wir uns deswegen genau-

ALLES WIRD GUT

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so gut zurücklehnen und unser Leben genießen können, solange das noch möglich ist. Aktivistinnen und Aktivisten sollten anfangen, mit Logik und Fakten zu argumentieren – und nicht nur Moral predigen. Man muss nicht sein Gehirn abschalten, um Aktivist zu sein.

INTERVIEW STEVEN PINKER Steven Pinker, 61, zählt zu den maßgeblichen Intellektuellen der USA. Seit 2003 ist er Professor für Psychologie an der Universität Harvard, davor lehrte er zwanzig Jahre lang am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge. Seine Forschungen zur Evolution von Sprache und Denken machten ihn Anfang der neunziger Jahre weltberühmt. Steven Pinker ist Autor mehrerer Bestseller und schreibt regelmäßig für die »New York Times« und »Time«. Sein Werk »Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit« ist 2011 im S. Fischer Verlag erschienen.

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MEXIKO: YECENIA ARMENTA

GEFOLTERT UND VON POLIZISTEN


N

VERGEWALTIGT SCHREIB FĂœR FREIHEIT! Jetzt Protestbrief schicken auf www.amnesty.de/briefmarathon


THEMEN

Frauenmorde in Mexiko

Stadt der verschwundenen Frauen

Folterst채tten hinter Backstein. Wohnsiedlung im Bundesstaat Mexiko.

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MEXIKO

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»Gerechtigkeit. Wenigstens das.« Irinea Buendía und ihr Mann Lauro Lima.

Rund um Mexiko-Stadt werden seit Jahren immer mehr Frauen ermordet. Fast alle Verbrechen bleiben ungesühnt, weil korrupte Beamte und Drogenkartelle die Aufklärung verhindern. Doch die Bewohner der verarmten Stadtteile wehren sich nun selbst gegen die Gewalt und setzen die Politik unter Druck. Von Kathrin Zeiske (Text) und Rodrigo Jardón (Fotos) Irinea Buendía erhielt den Anruf am frühen Morgen. »Deine Tochter hat sich erhängt«, sagte ihr Schwiegersohn lapidar. Den Körper ihrer Tochter Mariana fand sie mit blauen Flecken und Schrammen übersät auf dem Bett liegen. Viele weitere Ungereimtheiten am Tatort wiesen auf einen Mord hin. Die Polizei jedoch übernahm die Version des Ehemannes von einem Selbstmord. Dass dieser, ebenfalls ein Polizist, immer wieder geäußert hatte, dass er seine Frau töten werde, interessierte die Beamten nicht. Ebenso wenig, dass Mariana keineswegs depressiv war, sondern kurz vor ihrem Tod angekündigt hatte, die gewalttätige Beziehung zu beenden. Mariana Lima lächelt von jedem Foto herab, das im verwinkelten Haus ihrer Eltern in Nezahualcóyotl hängt. Nezahualcóyotl ist eine der riesigen Gemeinden, die in den vergangenen Jahrzehnten an den Hügeln rings um Mexiko-Stadt entstanden

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sind. Vor allem Menschen vom Land zogen hierher, um ein neues Leben zu beginnen. 16 Millionen Einwohner zählt der Bundesstaat Mexiko mittlerweile, der die Hauptstadt mit fast 21 Millionen Bewohnern hufeisenförmig umfasst. Nezahualcóyotl, Chimalhuacán, Ecatepec, Tlalnepantla, Chalco – dichtbesiedelte Ballungszentren voller Menschen, von denen viele nahe am Existenzminimum leben. Sie kaufen in der Hauptstadt chinesische Billigprodukte wie Babykleidung oder Plastikmöbel ein, um die Waren dann in der Peripherie weiterzuverkaufen: Auch Mariana Limas Eltern haben ihr Leben lang gearbeitet, um ihren Kindern ein Studium zu ermöglichen. Ihr Haus bauten sie in Etappen. Sobald Geld vorhanden war, kam ein weiteres Zimmer hinzu. Kürzlich wurde bei ihnen eingebrochen. Ihren ehemaligen Schwiegersohn sehen sie derweil in der Nachbarschaft patrouillieren.

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Einschüchtern lassen sich die beiden dennoch nicht. »Man hat uns eine Abfindung angeboten, um endlich zu schweigen. Als ob meine Tochter einen Preis hätte«, sagt Irinea Buendía wütend. »Wir wollen Gerechtigkeit. Wenigstens das.« Der Fall Mariana Lima Buendía wäre vermutlich wie viele andere Fälle, bei denen es um Gewalt gegen Frauen geht, zu den Akten gelegt worden. Die Polizisten sagten ihrer Mutter, sie solle bloß keine anderen Instanzen einschalten. Das würde »effektiven Untersuchungen« entgegenwirken. Die resolute Frau hielt sich nicht daran und zog mit Hilfe von Nichtregierungsorganisationen vor den Obersten Gerichtshof. Im März 2015 entschied das Gericht, dass der Fall neu aufgerollt werden müsse. Eine Verfügung mit weitreichender Bedeutung. Das Gericht machte auch deutlich, dass nun bei allen Gewaltverbrechen gegen Frauen ermittelt werden müsse, ob die Tat aus geschlechtsspezifischen Motiven begangen wurde. »Ein bahnbrechendes Urteil in einem Land, in dem jeden Tag sechs Frauen umgebracht werden«, so María de la Luz Estrada, Direktorin des Netzwerks »Observatorio Ciudadano Nacional del Feminicidio«. Die zivilgesellschaftliche Beobachtungsstelle dokumentiert sämtliche Frauenmorde im Land – eine Arbeit, die von Regierungsseite nicht geleistet wird. »Hassmorde gegen Frauen werden in Mexiko seit fast einem Vierteljahrhundert nicht sanktioniert«, konstatiert Estrada. Seit Anfang der neunziger Jahre machen die Femizide von Ciudad Juárez weltweit Schlagzeilen. Junge Arbeiterinnen wurden entführt, vergewaltigt und umgebracht. Mütter von Ermordeten organisierten sich und brachten den sogenannten »Fall des Baumwollfeldes« vor den Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof. Dieser verurteilte den mexikanischen Staat wegen Vereitelung der Strafaufklärung. »Doch die Straflosigkeit setzt sich fort und heute geschehen Frauenmorde im ganzen Land«, erklärt die Soziologin. »Meistens dort, wo ähnliche Bedingungen wie in der nördlichen Grenzstadt herrschen.« Wo Industrialisierung und Verstädterung einen Wandel traditioneller Rollenbilder bringen und wo der daraus folgende soziale Aufstieg von Frauen durch Gewaltakte im öffentlichen wie privaten Raum torpediert wird. Wie im Bundesstaat Mexiko, dessen Femizidzahlen die von Juárez weit übertreffen. Schon im Jahr 2010 forderte die Beobachtungsstelle die mexikanische Regierung auf, dort einen »Alarm wegen Gendergewalt« auszurufen, »angesichts von 900 ermordeten Frauen, von unzähligen verschwundenen Mädchen, von hohen Zahlen häuslicher Gewalt und sexueller Übergriffe«. María de la Luz Estradas Stimme klingt fest, doch ihre Mimik verrät ihre Betroffenheit. Im Innenhof der Organisation scheint die Sonne auf eine efeuüberrankte Natursteinmauer. Hier im kolonialen Viertel Coyoacán, im Süden von Mexiko-Stadt, scheinen Estradas Erzählungen von ermordeten Mädchen und zerstückelten Frauenleichen, die wie Trophäen ausgestellt werden, wie aus einer anderen Welt zu stammen. Doch keine zwei Fahrtstunden entfernt sind solche Verbrechen Alltag.

»Es ist bedrückend. Aber wir wollen uns nicht als Opfer sehen. Wir versuchen, die Welt um uns herum besser zu machen.« eine glückliche Braut in weißem Kleid. Gleich daneben, an Betonsäulen, die Brückenköpfe tragen, kleben selbstkopierte Suchanzeigen verschwundener Mädchen. Auch sie lächeln. Sie sind 14, 17 oder 21 Jahre alt, haben lange schwarze Haare und ebenmäßige Gesichter. Viele sind in nächster Nachbarschaft verschleppt worden oder in einem der Busse auf dem Weg nach Hause. Im Jahr 2014 verschwand jeden Tag ein minderjähriges Mädchen im Bundesstaat Mexiko. Die meisten von ihnen werden nie mehr nach Hause kommen. Während schätzungsweise 30 Prozent der Frauenmorde von Partnern und Ex-Partnern begangen werden, sind für Gewaltverbrechen im öffentlichen Raum zumeist Banden und Kartelle verantwortlich. Doch der Drogenhandel ist in Mexiko eng mit den politischen Sphären verknüpft. Der Bundesstaat gilt als Hochburg und Kaderschmiede der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI). Von großen Infrastrukturprojekten profitiert vor allem eine lokale Elite aus Transport- und Bauunternehmern. Der amtierende mexikanische Präsident Enrique Peña Nieto schritt während seiner Amtszeit als Gouverneur des Bundesstaates von 2005 bis 2011 nicht gegen die dramatisch zunehmende Zahl verschwundener und ermordeter Frauen ein. Unter seiner Regierung gingen die Behörden hingegen mit aller Härte gegen soziale Bewegungen vor und behandelten dabei be-

Selbstkopierte Suchanzeigen Mehrspurige Straßen führen aus der Hauptstadt in den Bundesstaat Mexiko, an denen unzählige Werbetafeln zu einem großen Puzzle aus Buchstaben und Farben verschmelzen. Eine Plakatwand zeigt

MEXIKO

»Willkommen in Ecatepec.« Einer der gefährlichsten Orte des Landes.

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sonders Frauen brutal. So vergewaltigten Polizisten in einem Großeinsatz in San Salvador Atenco im Jahr 2006 systematisch Demonstrantinnen. Trotz einer frauenverachtenden Grundhaltung gilt der smarte Peña Nieto als Wahlgewinner, dem vor allem Frauen seine Stimme gaben. Neben seiner Partei galt das Drogenkartell »La Familia« aus Michoacán lange als informeller Herrscher des Bundesstaates. Heute teilen sich fünf Kartelle die Territorien auf und haben ihre Einkommensquellen diversifiziert. Abgesehen vom Drogenhandel führen sie Erpressungen und Entführungen durch. Junge Frauen, die verschwinden, werden von den Kartellen untergeordneten Banden wie Wegwerfware in den Frauenhandel eingespeist und bald umgebracht. Auch das Kartell »Neue Generation

Jalisco« arbeite nun hier, sagen die Leute. Sie sagen »arbeiten«, denn das ist es, was das organisierte Verbrechen bringt: Arbeit. Oft die einzige, die es gibt. Und so verwandeln sich familiengerechte Siedlungen mit Eigentumswohnungen hinter Backstein in Operationszentren der Drogenbanden. Leerstehende Häuser werden zu Drogenhöhlen und Folterstätten, zu Lagerhallen für Koks und Kleinwaffen. Die organisierte Kriminalität ist eine Männerwelt. Von »Lumpenmachismo« sprechen mexikanische Akademiker, wenn sich der Frust und die Gewalterfahrung einer männlichen marginalisierten Bevölkerung in nächster Nähe zum kriminellen Milieu gegen Frauen entladen. Nur wenige können sich in diesem Ambiente behaupten, wie »La Bambi«, die in Chicoloapan Geschäftsinhaber entführte, bis sie auf einer Party erschossen wurde. Zumeist gelten Frauen in von Banden beherrschten Zonen als frei verfügbare Sexualobjekte – oder aber als gewinnträchtige Handelsware für Frauen- und Organhandel.

Gewalt beginnt im Alltäglichen

Opfern eine Stimme geben. Im Kunstsaal der Oberstufenschule Francisco Villa.

»Selbstbewusstsein.« Schülerinnen in Ecatepec.

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Lucía wird den Tag nie vergessen, als man die zerstückelte Leiche ihrer besten Freundin fand. Beide Mädchen waren 14 Jahre alt, gingen zur selben Schule und wohnten in derselben Straße in der Gemeinde Ecatepec, am Rande des gigantischen, weitgehend ausgetrockneten Texcocosees, der Mexiko-Stadt als Grundwasserreservoir dient – bis Rosario verschwand und sich Lucía aktiv an ihrer Suche beteiligte. Als Rosario gefunden wurde, war sie tot und ein Zettel klebte auf ihrem aufgeschnittenen Bauch: »Danke für die Organe« stand darauf. Eine Botschaft der Kartelle, die Gewalt in Terror verwandelt und neben aller Brutalität menschenverachtenden Zynismus offenbart. Lucía sagt, von diesem Tag an sei sie eine andere gewesen. In sich zusammengesunken und die Augen stets auf den Boden gerichtet. Erst ein engagierter Lehrer nahm ihr das anhaltende Gefühl, nicht frei atmen zu können. Manuel Amador unterrichtet an der Oberstufenschule Francisco Villa in Ecatepec. Neben dem herkömmlichen Stundenplan hat er eine Schülerinnengruppe gegründet, die sich selbst und anderen Mut macht. Seitdem ist der kleine Verschlag hinter dem Hauptgebäude, der voller selbstgemalter Gemälde hängt, Zufluchtsort und Ideenschmiede zugleich. Eine Hexenküche sagen die Mädchen und lachen. Die Teenager hocken auf zwei ausrangierten Kinosesselreihen, während sie erzählen. Von der täglichen Angst, auf die Straße zu gehen. Dass es bereits direkt vor der Schule Entführungsversuche gegeben habe. Dass die Polizei bei der Aufnahme einer Vermisstenanzeige generell erklärt, das Mädchen sei mit dem Freund durchgebrannt. Dass ihnen Polizisten aus dem Streifenwagen heraus hinterherpfeifen. »Es ist bedrückend, hier zu leben«, berichtet Sonja. »Aber wir wollen uns nicht als Opfer sehen. Wir versuchen, die Welt um uns herum zu verändern.« Sie organisieren deshalb unter anderem Kunst-

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Prinzessinnengewänder à la Disney. Vor der Kunstperfomance in Mexiko-Stadt.

performances. Momentan ist eine Fotoausstellung von ihnen in einer U-Bahn-Station in Mexiko-Stadt zu sehen. Die Performances würden ihnen »eine gehörige Portion Selbstbewusstsein« geben, sagen die Mädchen. Dabei gehen sie in ihren Debütantinnenkleidern auf die Straße – Prinzessinnengewändern à la Disney, die in Mexiko jedes Mädchen trägt, wenn es an seinem 15. Geburtstag offiziell in die Gesellschaft eingeführt wird. Um dieses antiquierte Frauenbild zu konterkarieren, haben sich die Schülerinnen Blutgerinnsel und blaue Flecken ins Gesicht geschminkt. Die Gewalt beginne im Alltäglichen, erzählt Karin. »All die Anmache auf der Straße; Männer, die uns begrapschen. Nie wissen wir, wie weit sie gehen würden. Wir versuchen das unseren Familien und Nachbarn klarzumachen. Oft sagen die: Ihr seid aufmüpfig, lernt lieber für die Schule.« Während im Bundesstaat Mexiko zivilgesellschaftliche Initiativen, die Frauenmorde zum Thema machen, rar sind, gibt es in Mexiko-Stadt eine ganze Reihe von Gruppen und Bewegungen, die Öffentlichkeit schaffen. Feministische Initiativen, die mit Linoldrucken (#vivasnosqueremos) und stilisierten Suchplakaten (#hastaencontrarlas) öffentliche Räume wie soziale Netzwerke mit künstlerischen Grafiken fluten, haben Erfolg. Denn die Sichtbarmachung der mörderischen Gewalt gegen Frauen setzt die Politik unter Druck. Noch im Vorjahr hatte Gouverneur Eruviel Ávila für Empörung gesorgt, als er verlauten ließ, »der Bundesstaat hat andere

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Probleme«, als sich um Frauenmorde zu kümmern. Anfang Juli sah er sich gezwungen, den seit fünf Jahren geforderten »Alarm wegen Gendergewalt« in elf Landkreisen umzusetzen. Erst wenige Wochen zuvor hatten Amnesty International Mexiko und andere Nichtregierungsorganisationen diesen erneut eingefordert. Nun sind Politik und Polizei aufgerufen, besondere Maßnahmen einzuleiten, um Frauen zu schützen. Die Autorin ist Korrespondentin und lebt in Mexiko. Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app

»Der Bundesstaat hat andere Probleme«, als sich um Frauenmorde zu kümmern, sagt der Gouverneur. 45


Insel der Sicherheit Das Schlachthaus kannten alle. Die Hafenstadt Buenaventura im Süden Kolumbiens.

In der südkolumbianischen Hafenstadt Buenaventura beherrschten Banden und Paramilitärs das alltägliche Leben – bis die Anwohner sie vertrieben. Von Wolf-Dieter Vogel Angst? Natürlich hatte Orlando Castillo Angst. »Die bewaffneten Männer standen wie eine kleine Armee auf der Straße«, erinnert er sich. Dann zeigt er auf die freie Fläche neben seinem Holzhaus, das wie die meisten Gebäude hier auf Pfählen ins Meer gebaut ist. »Da stand das Schlachthaus«, sagt der 36-Jährige. »Hier haben die Killer ihre Opfer gefoltert, bei lebendigem Leib zerstückelt und die Körperteile ins Meer geworfen.« Zwischen Plastikflaschen, Stofffetzen und den Booten der Fischer schwammen die Leichenreste. Das Schlachthaus kannten alle in Puente Nayero, einem Straßenzug in der südkolumbianischen Hafenstadt Buenaventura. Wer kein Schutzgeld zahlte oder sich den Kriminellen in den Weg stellte, landete dort. Niemand sprach darüber. »Wir haben uns kaum aus dem Haus getraut«, erinnert sich die 37-jährige Merci Caisero. »Man konnte nicht mal ans Meer gehen.« Auf Schritt und Tritt terrorisierten die jungen Bandenmitglieder die Menschen auf der Straße. Auch Kinder und Alte. Wie die meisten hier hat Merci Caisero das Viertel schon mehrmals für längere Zeit verlassen. Das Leben war einfach zu gefährlich geworden. Heute ist alles anders. Caisero, Mutter zweier Kinder, verkauft vor ihrem Haus wieder Würstchen mit Kartoffeln, die Fischer gehen ihrer Arbeit nach und auch der Soziologe Castillo

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muss nicht mehr fürchten, vor seiner Hütte von Bewaffneten angegriffen zu werden. Denn im April vergangenen Jahres vertrieben die Anwohner die »Bacrims«, wie viele die Verbrecherbanden nennen. Sie zerstörten das grausame Schlachthaus und erklärten das Gebiet zur »Humanitären Zone«. Das Tragen von Waffen ist seither verboten. In die kleinen Kanäle, über die Kriminelle vom Meer aus eindringen könnten, bauten sie dichte Holzzäune. Wer jetzt nach Puente Nayero will, muss sich an einem großen, rot gestrichenen Tor kontrollieren lassen, das Tag und Nacht bewacht wird. Ein Transparent, das am Eingang über den Schotterweg gespannt ist, stellt klar: »Lebensraum – ausschließlich für die Zivilbevölkerung.« Rund 1.400 Menschen leben in Puente Nayero. Fast alle sind Afrokolumbianer. Der Straßenzug liegt im Viertel La Playita, eine der gefährlichsten Ecken der Stadt Buenaventura, die wiederum als die gefährlichste Kolumbiens gilt. Hier kämpfen die »Urabeños«, die »Aguilas Negras« und andere »Bacrims« um den Drogenmarkt und die Kontrolle des Hafens, über den illegale Waren ins Land gelangen: gefälschte Jeans, unverzollte Fernsehgeräte, Waffen. In den Barrios, den Stadtteilen, entscheiden unsichtbare Grenzen über Leben und Tod. Wer die Straßenseite an der falschen Stelle wechselt und gegnerisches Terrain betritt, muss damit rechnen, von einem der vielen jugendlichen Auftragskiller ermordet zu werden. Den tropischen Regenwald im Umland kontrollieren die Guerilleros der FARC. Auch sie verüben immer wieder Anschläge in der Stadt. Für Orlando Castillo ist der Straßenzug ein Vorbild, das

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Foto: Fabio Cuttica / contrasto / laif

Schule machen soll. Aber wie, so fragt man sich, konnten die Bewohnerinnen und Bewohner ausgerechnet hier eine Insel der Sicherheit schaffen? Das sei nur mit Hilfe von Menschenrechtsorganisationen aus Bogotá und des örtlichen Bischofs Hector Epalza möglich gewesen, erklärt er. Epalza hatte schon vorher zu Demonstrationen gegen die Gewalt aufgerufen und konnte Zehntausende mobilisieren. »Durch die Unterstützung des Bischofs blickte die internationale Öffentlichkeit auf uns«, sagt Castillo. Einige Kriminelle seien deshalb von der Polizei festgenommen worden, andere hätten sich zurückgezogen. Bevor Castillo und seine Leute Puente Nayero zur »Humanitären Zone« erklärten, war das Konzept nur in ländlichen Regionen umgesetzt worden. In den Bundesstaaten Antioquia und Chocó gründeten Kleinbauern solche Schutzdörfer. Paramilitärische Gruppen waren dort gegen die Einheimischen vorgegangen. Sie vertrieben die Campesinos, damit sich agroindustrielle Unternehmen auf deren Land ansiedeln und Bananen oder Ölpalmen anbauen konnten. Um sich zu schützen, gründeten die Betroffenen »Humanitäre Zonen«. Das Konzept sieht vor, dass keine Soldaten, Polizisten, Paramilitärs oder Guerilla-Gruppen das Gebiet betreten dürfen. Die Gemeinden berufen sich auf das humanitäre Völkerrecht. Demnach müssen bewaffnete Akteure alle Handlungen unterlassen, die Zivilisten unnötig in Gefahr bringen. Deshalb muss es eine strenge Trennung zwischen Kombattanten und ziviler Bevölkerung geben. Das Recht gilt für legale Kampfverbände ebenso wie für illegale. Die Interamerikanische Menschenrechtskommission hat die Zonen anerkannt und der ihr angegliederte Gerichtshof verpflichtete die kolumbianische Regierung schon mehrmals, Maßnahmen zum Schutz der Dörfer zu ergreifen. Auch das schafft ein wenig Sicherheit. Doch für die Menschen in Puente Nayero endet die Sicherheit da, wo das Tor den Schotterweg von der Straße trennt. Jenseits des Zaunes beginnt Feindesland. Zwar ist die Zahl der Morde etwas zurückgegangen, nachdem Präsident Juan Manuel Santos im vergangenen Jahr mehr Polizisten und Soldaten schickte. Doch von Frieden kann keine Rede sein. Weiterhin verschwinden Menschen, die wahrscheinlich in »Schlachthäusern« hingerichtet werden. Keine 500 Meter von Puente Nayero entfernt töteten Banden im Juli 2015 den 15-jährigen Christian Aragón und verletzten dessen Freund Sol Angel Mina so schwer, dass er im Krankenhaus starb. Sie hatten zunächst versucht, Christian zu entführen, doch er wehrte sich. Für die Menschenrechtsorganisation »Justicia y Paz« aus Bogotá, die die »Humanitäre Zone« unterstützt, ist der Angriff kein Zufall. Christians Eltern, Bewohner von Puente Nayero, kämpften dagegen, dass die Kriminellen Kinder rekrutieren und Mädchen vergewaltigen, schreiben die Aktivisten und fordern Schutz für die Einwohner. Auch Castillo lebt außerhalb seines Barrios gefährlich. Immer wieder erhält er Morddrohungen. »Die Ausrufung der ›Humanitären Zone‹ hat mich noch bekannter gemacht«, sagt er. Sein freundlicher Blick, die sanften Gesichtszüge und seine klare politische Haltung lassen kaum erahnen, welche Angst die Drohungen in ihm hervorrufen. Vielleicht ist es die Hilfe seiner Familie, die ihn das alles durchstehen lässt. Seine Schwester, sein Vater, alle kämpfen für ein gewaltfreies Puente Nayero. Ihr Haus haben sie zur Verfügung gestellt, damit Unterstützer aus der Hauptstadt einen Platz zum Schlafen haben. Nur sehr zurückhaltend redet Orlando Castillo über die Momente, in denen ihm zum Heulen zumute ist. Darüber, dass er häufig Gott um Hilfe bittet und sich schuldig fühlt, weil er Angehörige gefährdet. Seine vier Kinder leben schon lange

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Heute ist alles anders. Niemand muss fürchten, vor seiner Hütte angegriffen zu werden. nicht mehr in der Stadt. Vor drei Jahren wurde seine Lebensgefährtin getötet. Eine verirrte Kugel während eines Schusswechsels zwischen Kriminellen sei dafür verantwortlich gewesen, sagt die Polizei. Aber das glaubt Castillo nicht: »Die Paramilitärs verfolgen uns.« Er spricht nur von »Paramilitärs«. Schließlich seien die »Bacrims« direkt aus den rechten Truppen hervorgegangen, die in vielen Regionen die Bevölkerung terrorisieren. Für ihn steckt hinter der Gewalt mehr als nur ein Revierkampf. Es gehe um wirtschaftliche Interessen: um den Ausbau des Hafens, der mit allen Mitteln durchgesetzt werden soll. Am Horizont kündigt sich mit einem lauten Hupen einer der vielen Frachter an, die täglich in die Bucht von Buenaventura einfahren. Zwischen den verletzlich klein wirkenden Holzbooten der Fischer bahnen sich die schwimmenden Kolosse ihren Weg. »China Shipping«, »Evergreen« oder »Hamburg Süd« ist auf den Containern zu lesen, die sie transportieren. Von Puente Nayero aus erscheinen die Behälter wie unzählige fein säuberlich gestapelte bunte Schuhschachteln. Etwa 600.000 von ihnen werden jährlich hier umgeschlagen. Der Hafen ist zum wichtigsten Umschlagsort Kolumbiens geworden, und angesichts der zunehmenden Geschäfte mit asiatischen Staaten, Chile, Mexiko und den USA gewinnt er weiter an Bedeutung. Spediteure vergrößern ständig ihre Lager, auf jeder Freifläche in Meeresnähe stehen die Metallbehälter. Gesellschaften wie »TC Buen« oder »Sociedad Portuaria« werben mit Hochglanzbroschüren, die sauber gestrichene Krananlagen und Frachtkähne zur Schau stellen. Wie sich Stadtplaner die Zukunft Buenaventuras vorstellen, demonstriert eine Wandtafel im Rathaus. Sie zeigt einen modernen Hafen und Hotelanlagen. Wo heute noch die Pfahlbauten der Armen ins Meer ragen, soll eine schicke Promenade für Touristen entstehen. Bischof Epalza ist skeptisch. Sein Sitz liegt gleich am Hafen. Schaut er aus dem Fenster, blickt er auf die Anlage. Nur wenige Meter entfernt stehen Soldaten hinter Sandsäcken und kontrollieren Fahrzeuge. Auch Metallzäune, Stacheldrahtrollen und Blechwände schützen das Gelände. Der Geistliche sieht einen Zusammenhang zwischen dem hochgesicherten und prosperierenden Hafen und dem Terror der Banden. »Da agieren mächtige Personen im Hintergrund«, ist er überzeugt. Dann verweist er auf die vielen Menschen, die wegen der Gewalt aus ihren Vierteln flüchten. Etwa 15.000 Menschen sind es jedes Jahr, die ihr Zuhause verlassen und in einen anderen Stadtteil ziehen müssen. Die meisten stammen aus den armen Vierteln. Epalza befürchtet, dass die Angriffe der Banden auch zum Ziel haben, Einwohner zu vertreiben, die der Verwertung im Wege stehen. Genau das sei die Aufgabe der paramilitärischen Gruppen in Antioquia und Chocó gewesen. »Die Leute sollen ihre Häuser verlassen, um die geplanten Bauarbeiten durchführen zu können«, vermutet er. Aktivist Castillo unterstreicht das:

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wieder um Sicherheitsvorkehrungen gehen. Doch bevor der 36Jährige zu seiner Rede anhebt, will er noch etwas klarstellen. Der Hafen erwirtschafte hohe Steuereinnahmen, von denen aber nur ein Prozent in der Stadt bleibe, die immerhin 400.000 Menschen beherberge. Das treffe besonders Afrokolumbianer, die vier Fünftel der Bevölkerung stellten. »Wir wehren uns nicht gegen die Entwicklung Buenaventuras, aber wir müssen mit einbezogen werden«, betont er. Das sieht auch Merci Caisero so. Aber sie geht nicht zur Versammlung, weil sie ihre Würste nicht allein lassen kann. Vor ihrem Haus riecht es nach Gebratenem, hinter dem Holzverschlag wartet sie mit ihrem kleinen Sohn auf Kundschaft. An der Wand meldet indes ein kleiner Flachbildschirm die neuesten Nachrichten, an einem Plastiktisch spielen ein paar Männer Karten. Wenn es gut läuft, verdient sie mit dem Laden etwa sechs Euro am Tag. Das reicht knapp, um die Kinder über die Runden zu bringen. Sie hätte gar nichts dagegen, wenn die Hafenpromenade gebaut wird. Dann würde sie dort ihre Würste mit Kartoffeln verkaufen. Und vielleicht könnte sie dann sogar den Traum ihrer Tochter erfüllen: Die Dreizehnjährige will Ärztin werden. Auch für Buenaventura hat Caisero eine Vision: »Wenn wir es schaffen würden, dass alle Arbeit haben oder lernen können, wäre Schluss mit der Gewalt. Denn dann hätten alle etwas, wovon sie leben könnten.«

Foto: Diego Ibarra Sanchez / The New York Times / Redux / laif

»Immer wenn die Leute aus einem Ort geflüchtet sind, beginnen ein paar Monate später die Arbeiten an dem Megaprojekt.« Den Unternehmern traut er ziemlich viel zu. So sei etwa ungeklärt, warum im vergangenen Jahr das Viertel Santa Fe abgebrannt sei. »Vieles spricht dafür, dass Paramilitärs gezündelt haben«, meint er. Schließlich lagere »TC Buen« gleich nebenan Container und wolle sich schon lange weiter ausbreiten. Bereits in den neunziger Jahren habe die Polizei den damaligen Chef des Unternehmens mit der Mafia in Verbindung gebracht. Wer bei »TC Buen« nachfragen will, muss aus der Stadt hinausfahren, sich am Betriebstor von der Polizei kontrollieren lassen und dann ziemlich lange warten. Zwischen Lagerhallen und Fuhrparks liegt das Gebäude der Firma, und während draußen die tropische Sonne brennt, sorgt in Gabriel Corrales Büro die Klimaanlage für kühle Luft. Die Vorwürfe von Bischof Epalza und den Aktivisten weist der Geschäftsführer der Firma naturgemäß von sich. »Niemand muss befürchten, dass wir ihn vertreiben«, sagt er. Im Gegenteil: Durch die Investitionen im Hafen seien mehr als 700 Arbeitsplätze geschaffen worden. Davon profitierten auch kleine Unternehmen. Corrales setzt auf Modernisierung: »Gerade dort, wo es keine Beschäftigung gibt, ist es doch besonders unsicher.« Zurück nach Puente Nayero. Castillo hat es jetzt etwas eilig. Gleich beginnt die Versammlung der Einwohner – wie jeden Samstagnachmittag. Vor dem Haus der Castillos stellen ein paar Frauen bereits Plastikstühle auf den Schotterweg. Heute soll es

Der Autor ist Lateinamerika-Korrespondent.

Willkommen in der »Humanitären Zone«. Wo einst das Schlachthaus stand, klafft heute eine Lücke (unten).

Fotos: Wolf-Dieter Vogel

Der Schrecken ist vorbei. Merci Caisero (oben) und Orlando Castillo (rechts).

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König KiK

Kampf der Hinterbliebenen. Mutter von Ahsan Ahmed, einem der Opfer des Brandkatastrophe.

In Pakistan starben 2012 bei einem Brand in einer Textilfabrik Hunderte Menschen. Nun wollen Angehörige der Opfer und Überlebende den Textildiscounter KiK zur Rechenschaft ziehen und klagen auf Schadenersatz. Von Antoine Verbij »KiK hat zum zweiten Mal eine Fristverlängerung für die Erwiderung unserer Klage beantragt. Das Unternehmen benötigt nach eigenen Angaben mehr Zeit zur Prüfung der Dokumente und Durchführung von Nachforschungen vor Ort«, erklärt Remo Klinger zufrieden. »Diese Zeit gönnen wir ihnen: Wir sind uns sicher, dass wir ausgezeichnete Chancen haben. Ihr Angebot einer Entschädigung wurde von den Betroffenen einstimmig abgelehnt. Es war unerhört niedrig.« Klinger vertritt die Hinterbliebenen und Überlebenden des Brandes in der Textilfabrik »Ali Enterprises« in Pakistan im September 2012. Dabei starben mehr als 250 Menschen, zahlreiche weitere wurden teilweise schwer verletzt. Nach der Katastrophe wurden beträchtliche Sicherheitsmängel festgestellt: So waren vor den Fenstern Gitter angebracht, und um Diebe fernzuhalten, waren die Notausgänge blockiert. »Die KiK-Manager müssen dies gesehen haben, als sie dort waren, um ihre Bestellungen aufzugeben. Ich selbst bin erst vor anderthalb Jahren dort gewesen, während der ersten Verhandlungen mit den Opfern. Ich habe gesehen, dass es unmöglich war, durch die Keller zu entkommen. Man muss kein Sachverständiger sein, um das festzustellen.« Der Fall ist einer der aufsehenerregendsten in Deutschland

KOLUMBIEN

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PAKISTAN

hinsichtlich Unternehmen, die an Menschenrechtsverletzungen beteiligt sind. Dank Klingers zahlreicher Kontakte zu Menschenrechtsorganisationen und zur Wirtschaft landet man schnell bei ihm, wenn es um Prozesse dieser Art geht. KiK gibt sich als schwieriger Gegner. Einerseits zeigt man sich bereitwillig, gleichzeitig verzögert das Unternehmen die Sache. KiK hat immer behauptet, dass es lediglich 75 Prozent der Produktion von Ali Enterprises abnahm. Das Unternehmen hat inzwischen eine umfangreiche Klageerwiderung eingereicht. Darin geht es im Wesentlichen darum, dass KiK nicht für die Sicherheitsstandards bei Zulieferbetrieben haftbar gemacht werden könne, da nur eine Lieferantenbeziehung bestanden habe. Man habe sich allerdings mehrfach von Ali Enterprises bescheinigen lassen, dass Vorschriften eingehalten würden. Laut Remo Klinger produzierte die Fabrik jedoch zu 100 Prozent für das deutsche Textilunternehmen. »KiK war dort der König, der Boss«, sagt der Rechtsanwalt, »dafür haben wir hinreichende Beweise«. Daher komme KiK eine besondere Verantwortung zu, stellt Klinger fest – und dieser Ansicht war KiK selbst auch: Nach der Katastrophe zahlte das Unternehmen eine Million US-Dollar Entschädigung. Vor kurzem beklagte Geschäftsführer Heinz Speet jedoch, dass die pakistanische Organisation, der die Million gezahlt wurde, nicht angebe, wo das Geld geblieben sei. Klinger reichte die Klage im Frühjahr 2015 ein. Mittlerweile hat KiK den Hinterbliebenen und Überlebenden je Opfer ein paar Tausend Euro Schmerzensgeld angeboten. »Für die Betroffenen ist dies nicht akzeptabel. Es handelt sich um junge Leute

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»KiK war der Boss.« Arbeiter in der niedergebrannten Fabrik »Ali Enterprises« in Karachi.

um die 20. Es sind Männer und Frauen, die für ihre Familien die Haupternährer waren und die jetzt arbeitsunfähig sind. Diese Familien haben keine Einkünfte. Es herrscht Arbeitslosigkeit, die Eltern haben keine Rente, und Sozialleistungen gibt es auch nicht«, erklärt Klinger. Die Opfer haben sich in Absprache mit ihm einstimmig dafür entschieden, für vier Menschen – drei Hinterbliebene und einen Überlebenden – beim Landgericht Dortmund Klage einzureichen. In Bönen, unweit von Dortmund, hat KiK seinen Firmensitz. Ziel ist eine höhere Entschädigung, die es den Menschen ermöglicht, sich eine neue Existenz aufzubauen. Eine Klage für alle Opfer ist in Deutschland nicht möglich. Daher klagen zunächst stellvertretend vier Opfer. Was den Prozessverlauf erheblich verzögert, ist die Tatsache, dass das Landgericht Dortmund den Fall nicht nach deutschem, sondern nach pakistanischem Recht behandeln muss. Dies führt dazu, dass die drei Parteien – Kläger, Beklagte und Gericht – ständig Schriftsätze aus Pakistan anfordern und übersetzen lassen müssen. »Wir erhalten aber Unterstützung von sehr renommierten Rechtsanwälten in Pakistan«, erklärt Klinger. Seit Einreichung der Klage hat KiK diverse Maßnahmen ergriffen, um sein Image zu verbessern. KiK hat sich dem »Textilbündnis« angeschlossen, das vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung initiiert wurde. In diesem Bündnis vereinbarten deutsche Unternehmen bestimmte Standards bezüglich Sicherheit und Menschenrechte. »KiK ist recht spät beigetreten. Die Standards wurden kürzlich

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abgesenkt.« KiK schloss sich auch dem internationalen Brandschutzabkommen für Bangladesch an, das nach dem Einsturz der Rana-Plaza-Fabrik 2013 geschlossen wurde, bei dem mehr als 1.100 Menschen starben. KiK bestreitet jedoch, dass dort für das Unternehmen produziert wurde, obwohl Fotos KiK-Einnäher in den Schutthaufen zeigen. »Dass KiK diesem Abkommen beitritt, ist natürlich lobenswert«, sagt Klinger, »aber ich bezweifle, ob das Unternehmen aufrichtig ist und sich daran hält.« KiK verkauft Kleidung, die nicht trendempfindlich ist. Basisausstattung, viel Unterwäsche. Daher kann sich das Unternehmen erlauben, die Textilien per Schiff aus fernen Ländern nach Deutschland zu transportieren. »Die trendempfindlichen Marken, die ihre Bekleidung einfliegen lassen und daher auch teurer verkaufen müssen, sind deswegen nicht automatisch Unternehmen, die höhere Menschenrechtsstandards bei der Produktion einhalten«, betont Klinger. KiK-Geschäftsführer Heinz Speet ist als medienscheuer Manager bekannt. Die Tageszeitung »Die Welt« war im März 2015 daher stolz, ein Interview mit ihm veröffentlichen zu können. Speet präsentierte darin die guten Vorsätze von KiK als eine Wende der Unternehmensstrategie, womit er nicht nur den Brand in Pakistan meinte, sondern auch KiKs Umgang mit Streiks in deutschen Niederlassungen, wo er lange Zeit nicht den in der Branche geltenden Mindestlohn zahlte. KiK genießt in Deutschland keinen guten Ruf. Mehr als einmal gab es Konflikte mit der Belegschaft. Dabei ging es um Löhne, aber auch um die überzogenen Kontrollen bezüglich mög-

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Foto: Diego Ibarra Sanchez / The New York Times / Redux / laif

licher Unterschlagungen. Zusammen mit den Berichten über schlechte Arbeitsbedingungen in den Fabriken Asiens hat dies KiK viel Kritik eingebracht. Dem Umsatz hat dies keinen Abbruch getan: Er beträgt mittlerweile fast zwei Milliarden Euro. Auch der Online-Umsatz steigt. Bei KiK gibt es T-Shirts für 2,99 Euro – da fragt man sich schon, wie das möglich ist. Dafür hat das Unternehmen in Ländern wie Pakistan und Bangladesch intensiv über den niedrigsten Preis verhandelt. Wie das geht, zeigte eine niederländische TV-Dokumentation, in der Hersteller zu Wort kamen, die unverfroren versprachen, sie könnten die Vereinbarungen des Bangladesch-Abkommens einfach umgehen und so den Preis niedrig halten. Genau das sei das Problem bei freiwilligen Vereinbarungen zu Sicherheitsmaßnahmen zwischen Herstellern und Abnehmern von Textilien, sagt Klinger. Er fordert statt freiwilliger Vereinbarungen Gesetze, die klar besagen, was erlaubt ist und was nicht. »Das ist die Erfahrung, die wir in den vielen Jahren gesammelt haben, in denen wir uns als Kanzlei mit Umweltrecht beschäftigen.« Umweltrecht sei noch immer der Schwerpunkt seiner Kanzlei, sagt Klinger. »Das ist deutlich weiter entwickelt als die Menschenrechte. Man fragt sich gelegentlich, warum der Feldhamster rechtlich besser geschützt ist als der Mensch. Dies betrifft vor allem internationale Menschenrechte: Die Folgen der Globalisierung für die Menschenrechte sind juristisch noch kaum abgedeckt.« Als Fortschritt bezeichnet Klinger die »Ruggie-Leitprinzipien«, benannt nach dem UNO-Sonderbeauftragten John Ruggie. Sie umfassen Menschenrechtsprinzipien für international tätige Unternehmen. »Die Frage ist jedoch, ob und wie sie in der Gesetzgebung umgesetzt werden. Bleiben Sie freiwillig? Oder erlassen die Länder tatsächlich entsprechende Gesetze? In Frankreich geschieht dies bereits, in Deutschland beginnt die Diskussion erst.« Das Schönste wäre natürlich, wenn es Regelungen auf europäischer Ebene gäbe, stellt Klinger fest: »Die Europäische Kommission müsste sich der Sache annehmen, aber dort sehe ich keine Bewegung. Jean-Claude Juncker hat ›Unternehmen und Menschenrechte‹ zwar auf die Agenda der sieben führenden Industrienationen (G7) gesetzt, aber ich habe nicht den Eindruck, dass die Europäische Kommission an einem Vorschlag arbeitet. Die Länder müssen alles selbst tun.« Klinger mischt sich ausdrücklich in die Diskussion in Deutschland ein – gemeinsam mit dem »European Center for Constitutional and Human Rights« (ECCHR). Die kleine, aber aktive Organisation hat Klinger bereits mehrere Male hinzugezogen, um Prozesse zu führen. »Ein Beispiel ist der MeroweStaudamm im Sudan, der vom deutschen Unternehmen Lahmeyer gebaut wurde. Das Unternehmen ließ 2010 das gesamte Wasser in ein Tal fließen, als die Verhandlungen zur Umsiedlung der Bevölkerung noch in vollem Gange waren. Wir haben im Namen der Dorfbewohner geklagt.« Mit dem ECCHR betreut Klinger diverse Fälle, die deutsche Unternehmen betreffen, darunter die argentinische MercedesBenz-Tochter, die an schwerwiegenden Menschenrechtsverstößen während der Militärdiktatur beteiligt war. Die Möglichkeiten, dagegen in Deutschland zivilrechtlich vorzugehen, sind jedoch begrenzt, erläutert Klinger. »Ich habe auch Fälle in Amerika begleitet.« Dort gebe es mehr Möglichkeiten. »In Amerika müssen zum Beispiel alle Beteiligten eines Prozesses ihre Unterlagen vorab zur Einsicht bereitstellen«, erklärt Klinger. In

PAKISTAN

»Man fragt sich, warum der Feldhamster rechtlich besser geschützt ist als der Mensch.« Deutschland hingegen müsse man als Kläger sämtliche Beweise sammeln, während der Gegner seine Akte geschlossen halten dürfe. Dieser könne darauf beharren, dass der Kläger Unrecht habe, selbst wenn er über Dokumente verfüge, die die Position des Klägers belegen. »Das deutsche Zivilrecht stammt noch aus dem 19. Jahrhundert«, seufzt Klinger. »Dies wird der derzeitigen Situation, mit all den internationalen Verflechtungen, nicht gerecht. Man müsste wie in Amerika und Großbritannien im Namen einer Gruppe eine Sammelklage einreichen können. Beim KiK-Prozess beschränken wir uns auf vier Opfer, um die Kosten niedrig zu halten. Es geht aber um Hunderte Menschen, die nun Gefahr laufen, dass ihr Fall in der Zwischenzeit verjährt.« Der deutsche Gesetzgeber sei dringend gefordert, sagt Klinger, doch sei es schwierig, Druck auf den Gesetzgeber auszuüben. Insbesondere, da die Zahl der deutschen Rechtsanwälte, die sich mit Menschenrechtsfragen beschäftigen, an einer Hand abzuzählen ist. Und das, obwohl es 100.000 Anwälte gibt. »Menschenrechtsfälle bringen eben in der Regel nichts ein. Es ist eine rein ehrenamtliche Arbeit. Aber ich sehe es als eine Pflicht an, die ich als Rechtsanwalt habe.« Der Autor war niederländischer Journalist und Philosoph. Antoine Verbij starb im Oktober 2015 in Berlin.

PRÄZEDENZFALL FÜR DIE TEXTILINDUSTRIE Am 11. September 2012 starben bei einem Brand in der Textilfabrik Ali Enterprises in Karachi (Pakistan) mehr als 250 Menschen, 32 wurden verletzt. Hauptkunde der Fabrik war nach eigenen Angaben der deutsche Textildiscounter KiK. Vier Betroffene des Brandes haben am 13. März 2015 beim Landgericht Dortmund Klage auf Schadenersatz gegen KiK eingereicht. Muhammad Hanif, Muhammad Jabbir, Abdul Aziz Khan Yousuf Zai und Saeeda Khatoon gehören zur Selbstorganisation der Betroffenen, der »Baldia Factory Fire Affectees Association«, und fordern je 30.000 Euro Schmerzensgeld. Das »European Center for Constitutional and Human Rights« (ECCHR) und medico international unterstützen die Klage, die Rechtsanwalt Remo Klinger aus Berlin eingereicht hat. Der Prozess wird in der internationalen Textilbranche mit großem Interesse verfolgt, da es sich um den ersten Fall handelt, in dem eine ausländische Textilfirma für die Zustände in einem asiatischen Zulieferbetrieb haftbar gemacht werden soll. Weitere Informationen unter www.ecchr.eu

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Foto: Hermann Bredehorst / Polaris / laif

Kein sicherer Ort

Sexuelle Belästigung gehört für viele zum Alltag. Bewohnerin einer Asylunterkunft in Berlin-Wilmersdorf.

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Viele geflüchtete Frauen haben im Heimatland oder auf der Flucht sexuelle Gewalt erlebt. Doch auch in Deutschland finden sie häufig keinen Schutz. Von Michaela Ludwig Es geschah in den frühen Morgenstunden. Sarah* war auf dem Rückweg von den Toiletten, die draußen auf dem Hof der Flüchtlingsunterkunft stehen. Hier muss sich der Mann wohl an ihre Fersen geheftet haben. Als Sarah wieder in ihrem Bett lag, stand er plötzlich im Zimmer und warf sich auf sie. Die junge Frau aus Westafrika schrie so laut sie konnte, ihre Bettnachbarin auch. Doch als das Wachpersonal eintraf, war der Angreifer schon verschwunden. Was Sarah in der Sammelunterkunft in Gießen erlebt hat, ist kein Einzelfall. In einem offenen Brief beklagten im September vier hessische Frauen- und Sozialverbände Missstände in der Erstaufnahmeeinrichtung. Auch aus anderen Städten wird von sexueller Gewalt berichtet. Sexuelle Belästigung gehört für viele Frauen, die allein nach Deutschland geflüchtet sind, zum Alltag. Sogar über Zwangsprostitution wird berichtet. »Die Situation in den Flüchtlingsunterkünften fördert Gewalt an Frauen«, sagt Jae-Soon Joo-Schauen, Geschäftsführerin der Frauen-Beratungsstelle »agisra« in Köln. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) schätzt, dass bis zum Jahresende rund 800.000 Schutzsuchende nach Deutschland eingereist sein werden – vermutlich werden es sogar mehr sein. Die hohe Zahl führt zu einer reinen Krisenbewältigung in den Ländern, Städten und Kommunen. Meist geht es bei der Suche nach Unterkünften nicht mehr darum, Standards einzuhalten, sondern schlichtweg um die »Vermeidung von Obdachlosigkeit«, wie der Hamburger Senat in der Antwort auf eine Kleine Anfrage im September bestätigte. In vielen Städten werden Neuankömmlinge in Großzelten, Turnhallen oder leerstehenden Baumärkten untergebracht. Hier leben Familien, allein geflüchtete Frauen und Männer auf engstem Raum, ohne Privatsphäre. Schon rein zahlenmäßig werden die Unterkünfte von Männern dominiert, nur gut 30 Prozent der Antragstellenden in Asylverfahren sind Frauen. Es gibt keinen Ort, an dem sie vor fremden Blicken geschützt sind – um das Kind zu stillen oder das Kopftuch abzulegen. »Selbst wenn die Wasch- und Toilettenräume für Männer und Frauen getrennt sind, kann man häufig nur die Kabinen abschließen, die Räume nicht«, sagt Jae-Soon Joo-Schauen. Viele Frauen wagen sich abends nicht mehr auf die Toiletten. Die Duschen benutzen sie nur, wenn andere Frauen Wache stehen. »Das Gefühl von Unsicherheit begleitet sie Tag und Nacht«, so Jae-Soon Joo-Schauen. »Sie müssen immer wachsam sein.« Dabei sind geflüchtete Frauen mit und ohne Kinder auf besonderen Schutz angewiesen, so Wiebke Judith, Asyl- und Flüchtlingsexpertin von Amnesty International. »Auch wenn die Situation derzeit schwierig ist, müssen die Unterkünfte bestimmten Standards gerecht werden. Es muss sichergestellt sein, dass Frauen vor Gewalt geschützt sind.« Gravierend ist die Situation in den Unterkünften für Frauen, die im Heimatland oder auf der Flucht sexuelle Gewalt erlebt haben. Manche wurden von Schleppern vergewaltigt, andere mussten sich prostituieren, um die Flucht zu finanzieren. »Für traumatisierte Frauen ist dies eine emotionale Fortsetzung ihrer Verfolgungsgeschichte«, sagt Jürgen Soyer, Geschäftsführer von

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»Refugio« in München, einem Behandlungszentrum für Flüchtlinge und Folteropfer. »Es besteht das Risiko der erneuten Traumatisierung.« Refugio bietet unter anderem in der Bayernkaserne, der zentralen Erstaufnahme in München, eine Gruppentherapie für Frauen an. »Sie haben das Grundgefühl von Sicherheit verloren und empfinden eine ständige Bedrohung«, sagt Soyer. »Gemischte Unterkünfte sind für die Frauen kein Ort, um zu genesen«, resümiert er. »Sie sollten die Wahl haben, eine reine Frauenunterkunft beziehen zu können.« Über das tatsächliche Ausmaß sexueller Gewalt in Flüchtlingsunterkünften gibt es keine verlässlichen Zahlen. Jedoch deuten die Ergebnisse einer nicht repräsentativen Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland aus dem Jahr 2004 darauf hin, dass Flüchtlingsfrauen häufiger Opfer sexueller Gewalt werden. Bei der Befragung gaben 25 Prozent an, von sexueller Gewalt betroffen gewesen zu sein. Zum Vergleich: 13 Prozent aller in Deutschland lebenden Frauen haben nach eigenen Aussagen sexuelle Gewalt erlebt. Diese Tatsache lässt sich nach Ansicht von Expertinnen wie Ulrike Krause nicht notwendigerweise mit religiösen oder kulturellen Gründen erklären, wie dies insbesondere in rechten Kreisen häufig getan wird. »Die Lebensbedingungen in Flüchtlingslagern können sexuelle Gewalt fördern«, sagt die Marburger Friedensforscherin. Ulrike Krause forscht über den Zusammenhang von Gewalt, Geschlechterverhältnissen und der Unterbringung in Flüchtlingsunterkünften. Faktoren, die Gewalt fördern, seien der enge Raum mit intensiven sozialen Dynamiken, der gleichzeitig nach außen isoliert ist. Dazu käme das Gefühl, der eigenen Entscheidungskraft beraubt zu sein, sowie die Ungewissheit, wie es weitergeht. Denn Entscheidungen treffen andere: Heimleitung, Politik, Gesetze und Verordnungen. »Das wirkt sich auf den einzelnen Menschen, Männer wie Frauen, sowie auf die sozialen Rollen und die Geschlechterbeziehungen aus«, so die Wissenschaftlerin. Dabei können sich Männer, die sehr patriarchalisch geprägt seien, ihrer Rolle beraubt fühlen. »Angesichts dieser veränderten Bedingungen werden Geschlechterbeziehungen neu ausgehandelt«, sagt Ulrike Krause. Das musste Zahira am eigenen Leib erfahren. Die junge Studentin ist allein aus Syrien geflohen. In ihrer Unterkunft wohnte ein Landsmann, mit dem sie sich zunächst recht gut verstand. Doch dann wurde er zudringlich, fragte Zahira, ob sie ihn heiraten wolle. Als sie ablehnte, begann der Horror: Er streute Gerüchte, dass sie leicht zu haben sei. Fortan wurde Zahira auf

»Das Gefühl von Unsicherheit begleitet sie Tag und Nacht. Frauen müssen immer wachsam sein.« 53


ihren Wegen zu Küche oder Dusche von Pfiffen begleitet. Bekannte des Mannes bedrängten und berührten sie unsittlich. Einer von ihnen belästigte sie über Monate. Aus Scham und Schuldgefühl offenbarte sich Zahira nicht dem Sozialdienst. Zu groß war die Angst, alles noch schlimmer zu machen. Dabei haben Heimleitungen die Möglichkeiten, für den Schutz der Frauen zu sorgen, sagt Heike Rabe vom Institut für Menschenrechte. »In den Unterkünften stellt man sich der Gewalt oft nicht ausreichend entgegen«, kritisiert die Juristin mit dem Schwerpunkt »geschlechtsspezifische Gewalt«. Sie hat bereits im August Empfehlungen zum Schutz bei geschlechtsspezifischer Gewalt in Flüchtlingsunterkünften herausgegeben. Ein bisher typischer Umgang zeigt sich in Sarahs Fall: Nach der versuchten Vergewaltigung wurde sie lediglich in ein anderes Stockwerk derselben Unterkunft verlegt. Da auch der Angreifer blieb, lebte Sarah in ständiger Angst. »In den Unterkünften gibt es keine geregelten Verfahren, wie bei einem Verdacht oder einem konkreten Vorfall zu handeln ist«, so Heike Rabe. »Wenn zudem auch das Personal meist nicht sensibilisiert ist, hängen die Reaktionen von der Initiative Einzelner ab.« Außerhalb der Unterkünfte gibt es klare Regelungen, wie bei sexueller Gewalt gehandelt werden muss. Es gilt der Grundsatz »wer schlägt, der geht«. »All diese Regelungen müssen rechtlich auch in Unterkünften greifen«, sagt sie und fordert Verfahrensleitlinien, wie zum Schutz der Betroffenen vorgegangen werden muss, für jede Einrichtung. Da die Flüchtlinge durch Asyl- und Aufenthaltsgesetz an ihren Wohnort gebunden sind, sei im Notfall ein schnelles Handeln durch die Ausländerbehörden erforderlich, um die Betroffenen aus der Gemeinschaftsunterkunft herausholen zu können. Dass Ausländer- und Sozialbehörden dem Gewaltschutz

Vorrang einräumen sollten, fordern auch Petra Schlesiger und ihre Kolleginnen vom Verein »Frauen helfen Frauen« in Hamburg, Träger eines Frauenhauses. Im ersten Halbjahr 2015 haben elf geflüchtete Frauen mit ihren Kindern in einem der fünf Hamburger Frauenhäuser Schutz gesucht. »Das ist sicher erst der Anfang«, sagt Petra Schlesiger. Die Sozialpädagogin erwartet, dass mehr Notrufe eingehen werden, wenn die Menschen erst einige Monate in den Unterkünften leben. Doch die Kapazitäten in Hamburg sind mit 194 Plätzen sehr begrenzt. Wenn die belegt sind, verbiete es die Wohnsitzauflage für Flüchtlinge, die betroffenen Frauen außerhalb Hamburgs unterzubringen. Zusätzlich erschweren die unterschiedlichen Finanzierungsmodelle der Bundesländer eine Betreuung. In Städten und Kommunen wird nun unter Hochdruck daran gearbeitet, Flüchtlings- und Frauenberatung zu vernetzen. Kostenlose Beratungsangebote stehen auf dem Papier allen Frauen offen, unabhängig von ihrer Herkunft. Doch den Weg in die Beratungszentren außerhalb der Unterkünfte finden Flüchtlingsfrauen selten. Noch sind es in erster Linie die Flüchtlingshelferinnen, denen betroffene Frauen sich offenbaren. Grundlage dafür ist ein stabiles Vertrauensverhältnis, berichtet ein Mitglied einer Amnesty-Asylgruppe. Einrichtungen für allein geflüchtete Frauen mit und ohne Kinder gab es bisher nur in Bremen und Jena. Angesichts der Vorfälle in vielen gemischten Flüchtlingsunterkünften werden nun weitere Einrichtungen für Frauen geplant oder sind bereits bezogen. Ein erster Schritt. * Namen von der Redaktion geändert. Die Autorin ist Journalistin und lebt in Hamburg.

»Die Situation erträglich machen« Wie kann man die vielen traumatisierten Flüchtlinge unterstützen, die nach Deutschland kommen? Die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité konzipiert derzeit ein Modell, das Hilfe zur Selbsthilfe bieten soll. Ein Gespräch mit Andreas Heinz, dem Direktor der Klinik.

gang mit unserer pluralen und diversen Gesellschaft. Die Idee ist, eine einfache Ausbildung anzubieten, die im Schneeballsystem von Geflüchteten erlernt und an andere weitergegeben werden kann, sodass nur am Anfang eine Supervision durch uns notwendig ist und sich das Konzept von selbst vervielfacht.

Derzeit fehlt es vielen Flüchtlingen am Allernötigsten: Essen, warme Kleidung, ein Dach über dem Kopf. Ist eine psychologische Behandlung von Traumata in diesem Kontext nicht völlig unrealistisch? Wir entwickeln gerade eine Selbsthilfe-Ausbildung, bei der wir den Geflüchteten einerseits ganz praktische Fertigkeiten vermitteln, wie zum Beispiel Grundkenntnisse über das medizinische Hilfesystem, Möglichkeiten der Muskelentspannung, die auch in angespannten Situationen zur Beruhigung führen kann, sowie Informationen über das Gastland und den Um-

Was muss geschehen, damit Geflüchtete ihre traumatisierenden Erfahrungen verarbeiten können? Es gibt sehr wirksame Traumatherapien, aber diese können in der Breite des jetzigen Bedarfs nicht angeboten werden. Ein erster Schritt wäre, in den Massenunterkünften sichere Orte zu schaffen, wohin sich Flüchtlinge zurückziehen können und Unterstützung bekommen, wenn traumatische Erfahrungsbilder auftauchen. Entspannungstechniken können beispielsweise helfen, die Situation erträglich zu machen, bis es therapeutische Hilfe gibt.

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Foto: Hermann Bredehorst / Polaris / laif

Die Angst läuft mit. Asylbewerberin im brandenburgischen Eisenhüttenstadt.

Oft ist von religiösen Überzeugungen und ethnischer Herkunft die Rede, wenn es zu Gewalt in Unterkünften kommt. Gibt es aus Ihrer Erfahrung auch andere Ursachen dafür? Sind Menschen durch Gewalterfahrungen traumatisiert, drängen sich schnell und völlig unkontrolliert Erinnerungsbilder auf. Das gilt insbesondere in Situationen, die der zurückliegenden Gewalterfahrung ähneln. Überhaupt sind traumatisierte Menschen meistens körperlich sehr angespannt und reagieren in Konfliktsituationen besonders stark. Das gilt nicht nur für traumatisierte Frauen, die leider besonders oft Opfer von Gewalt und sexuellen Übergriffen in Kriegsgebieten und auf der Flucht werden. Das ist natürlich auch bei Männern der Fall, insbesondere wenn sie mit ihrer Familie geflüchtet sind und das Gefühl haben, dass sie ihre Angehörigen im Kriegsgebiet oder

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auf der Flucht nicht beschützen konnten. Wenn sie sich angegriffen fühlen, kann es schnell zu Verteidigungsreaktionen kommen. Unter den Geflüchteten sind viele Kinder und Jugendliche, die Schreckliches erlebt haben. Was benötigen sie? Sie brauchen vor allem Sicherheit, Privatsphäre, Respekt, Akzeptanz und Möglichkeiten, ihre Erfahrungen auszudrücken. Kinder und Jugendliche sind gegenüber Traumatisierungen besonders empfindlich, viele haben ihre Eltern und Angehörigen verloren. Sie sind häufig äußerst lernfähig und flexibel und können lebenslang von therapeutischer Hilfe profitieren. Interview: Heike Kleffner

INTERVIEW ANDREAS HEINZ Foto: privat

Wie wirkt sich das Leben in einer Massenunterkunft auf die Psyche aus? Es ist für jeden beschwerlich. Man lebt mit Hunderten auf engstem Raum, ohne Privatsphäre. Aber für Menschen, die aus Kriegsgebieten geflüchtet sind, ist das besonders belastend. Gerade Frauen und Männer, die Opfer sexueller oder körperlicher Gewalt wurden, sind oft sehr empfindlich und reizbar, beispielsweise wenn man ihnen zu nahe tritt. Das kann von ihnen sehr schnell als Angriff erlebt werden.

Andreas Heinz, geboren 1960 in Stuttgart, ist Direktor der Klinik für Psychotherapie an der Charité in Berlin und Autor zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen.

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FÜR EIN EUROPA DER MENSCHEN UND DER MENSCHENRECHTE! So viele Menschen wie noch nie seit Ende des Zweiten Weltkriegs sind auf der Flucht und suchen Schutz, auch in Deutschland und Europa. Viele Bürgerinnen und Bürger zeigen eine überwältigende Hilfsbereitschaft. Doch Realität ist auch: Fast täglich werden in Deutschland Unterkünfte angezündet, Flüchtlinge oder die, die ihnen beistehen, angegriffen. Während Tausende Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Europa im Mittelmeer ertrinken, schotten viele europäische Regierungen ihre Grenzen ab. Und vielen, denen die Einreise gelingt, steht eine monatelange Odyssee in unwürdigen Verhältnissen bevor. Auch wenn die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung beeindruckend ist – Europa bietet insgesamt ein verheerendes Bild. Es zeigt sich uneinig, hilflos, kleinkrämerisch. Unser Kontinent verrät seine Ideale. Keine Frage – die Anzahl der Flüchtlinge stellt unsere Gemeinwesen vor enorme Herausforderungen. Aber wer, wenn nicht eine der friedlichsten und wohlhabendsten Regionen der Welt könnte diese Aufgabe stemmen? Eine Region, die auf Werten gründet wie Freiheit und Gerechtigkeit. Eine Region, die ihre Vielfalt als Stärke begreift. Unser Europa steht an einem Scheideweg. Wie wollen wir leben? Wer wollen wir sein? Wollen wir diejenigen sein, die sich mit Stacheldraht abschotten? Wollen wir diejenigen sein, die unsere Haltung von der aktuellen Befindlichkeit und der Kassenlage abhängig machen? Oder wollen wir diejenigen sein, die nicht von ihren Werten abrücken. Die für Menschlichkeit und die Wahrung von Menschenrechten stehen. 26 Jahre nach dem Fall der Mauer haben die Menschen in allen Teilen Deutschlands angesichts der Not der Flüchtlinge pragmatisch und engagiert ein Beispiel dafür gegeben, was es heißt, in einer friedlichen, freiheitlichen und gerechten Gesellschaft zu leben. Von diesen Werten dürfen wir nicht wieder abrücken. Wir müssen und wollen auch in Deutschland weiter wachsen an den aktuellen Herausforderungen: Statt neue Abschreckungsmaßnahmen in Form von Einschnitten im Aufenthalts-, Asyl- und Sozialrecht vorzunehmen, gilt es, Teilhabe zu ermöglichen, Grundbedürfnisse zu decken und Zugänge in Bildung und Arbeit zu öffnen. Es ist Zeit sich zu bekennen. Wir, die Unterzeichnenden, bekennen uns zu • • • • •

Humanität und Solidarität der Wahrung von Menschenrechten sicheren Zugangswegen und zu fairen Asylverfahren Schutz vor Hetze und Anschlägen einer offenen, menschlichen und von Vielfalt geprägten Gesellschaft


SOLIDARISCH UND HUMAN Tausende Einzelpersonen sowie zivilgesellschaftliche Organisationen unterstützen bereits den Aufruf »Für ein Europa der Menschenrechte«, der zum Nationalen Flüchtlingstag am 2. Oktober gestartet worden ist. Vier Unterzeichnerinnen erklären, warum ihnen die Initiative wichtig ist.

ANNELIE BUNTENBACH, MITGLIED DES BUNDESVORSTANDS DES DEUTSCHEN

SELMIN ÇALIŞKAN, GENERAL-

GEWERKSCHAFTSBUNDES: »Angesichts der

SEKRETÄRIN DER DEUTSCHEN

rassistischen Gewalt gegen Schutzsuchende

SEKTION VON AMNESTY

und des rechtsextremen Populismus wollen wir ein Zeichen der Solidarität setzen. Das große Engagement für Flüchtlinge in den vergangenen Wochen hat gezeigt, dass wir hier einen breiten Konsens in der Gesellschaft haben. Jetzt geht es um die schnelle Integration von Flüchtlingen in gute Arbeit und Ausbildung. Dabei sind menschengerechte Arbeitsbedingungen und Mindestlohnstandards unverzichtbar.«

»Meine Familie kam aus bitterer TANJA DÜCKERS, SCHRIFTSTELLERIN: »Als

Not nach Deutschland und hat

Berlinerin, die 21 Jahre mit einer Mauer vor der

wie alle Gastarbeiterfamilien zum

Nase aufgewachsen ist, wünsche ich mir kein

deutschen Wirtschaftswunder

Europa, in dem wieder neue Schlagbäume,

beigetragen. Wir sind lange als

Grenzen, Zäune und Mauern errichtet werden.

›Fremde‹ angesehen worden und

Viele Menschen haben über lange Zeit für ein

doch Teil der Gesellschaft in

freies Europa gekämpft, viele sind dafür gestor-

Deutschland geworden. – Auch

ben – eine leichte Errungenschaft war dieses

die ›Neuen‹, die vor allem als

offene Europa nicht. Wir dürfen es jetzt ange-

Kriegsflüchtlinge kommen, wer-

sichts der sich stellenden Herausforderungen

den einen positiven Beitrag zu

nicht aufs Spiel setzen.«

Deutschland und Europa leisten und uns bereichern. Es kommt nun darauf an, dass wir sie unterstützen und ihre elementaren

IRIS BERBEN, SCHAUSPIELERIN:

»Gemeinsam mit der Deutschen Film-

Rechte auf Schutz, Teilhabe und

akademie unterstütze ich diesen Aufruf

eine menschenwürdige Zukunft

sehr gerne, weil wir der tiefen Überzeu-

verteidigen.«

gung sind, dass wir mehr denn je auf die Unantastbarkeit von Menschenrechten hinweisen müssen. Angesichts der unerträglichen Bilder von den Pediga-Demonstrationen und täglich neuen rassistischen Anschlägen müssen wir uns als Zivilgesellschaft organisieren und mit vereinten Kräften gegen Hetze und für den Schutz vor Anschlägen eintreten."

UNTERSTÜTZEN SIE DEN AUFRUF AUF WWW.EUROPA-DER-MENSCHENRECHTE.ORG


KULTUR

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RELIKTE DER FLUCHT. Rettungswesten von Fl端chtlingen auf einer Deponie der griechischen Insel Lesbos.

Foto: Giulio Piscitelli / Contrasto / laif

FLUCHTURSACHEN

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Kopier der Gewalt Spuren des Krieges. Nasiriyah, Irak 2004.

Die Flucht Hunderttausender nach Europa erzwingt den Blick auf die Ursachen: Drei Bücher liefern Hintergründe über den Zerfall Syriens und des Iraks sowie zum Terror des »Islamischen Staats«. Von Maik Söhler

S

yrische Flüchtlinge, die in Ungarn ein Foto von Angela Merkel hochhalten. Irakische Familien, die in Deutschland nach mehr als tausend Kilometern Flucht vorerst zur Ruhe kommen. Die Bilder, die im Herbst und Winter 2015 omnipräsent sind, zeugen nicht nur von einer selten zuvor erlebten Hilfsbereitschaft gegenüber Menschen, die aus Kriegsgebieten kommen. Sie erzwingen gleichzeitig, sich mit den Ursachen der Flucht zu beschäftigen. Dabei geraten vor allem die von Kriegen, Bürgerkriegen, Terror, Not und Elend geprägten Staaten Syrien und Irak in den Blick – genauer: die längst zerfallenen Staaten Syrien und Irak. Millionen Syrer sind sowohl dem vom Assad-Regime entfachten und vom Iran und Russland unterstützten Krieg entflohen als auch dem Terror des »Islamischen Staats« (IS). Auch in Teilen des Irak wütet der IS, hinzu kommen die Unfähigkeit der Zentralregierung in Bagdad, dem Land Frieden zu bringen, und die tägliche Gewalt bewaffneter Milizen und krimineller Banden im Kampf zwischen Sunniten und Schiiten. Zwei im Jahr 2015 erschienene Sachbücher und eine Sammlung von Kurzgeschichten geben umfang- und kenntnisreich Auskunft über die Verhältnisse in beiden Ländern, über die Zahl der Toten, den Grad der Zerstörung und die Verzweiflung der Überlebenden. Von »schweren Tagen«, »bedrückend wie das elende Gesicht des Landes« schreibt der in Finnland lebende

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Exiliraker Hassan Blasim. Und weiter: »Die Kriege und die Gewalt wurden zur endlos arbeitenden Kopiermaschine. Wir alle trugen die gleiche Maske aus Schmerz und Pein. Wir kämpften ums tägliche Brot, beladen mit Traurigkeit und Befürchtungen, die das Bekannte und das Unbekannte schufen.« Blasim schreibt Kurzgeschichten und Erzählungen. Manche spielen im Irak unter Saddam Hussein. Andere im Irak unter der Verwaltung der US-Armee. Weitere im Irak nach dem Abzug der USA. Einige Protagonisten verlassen den Irak, um in der Türkei oder in der EU ein neues Leben zu beginnen. Allen Erzählungen gemeinsam aber sind Mord und Totschlag, Terror und Folter, Repression und Unterdrückung. Da ist ein Vater, der seine Töchter vergiftet, um sie »von der Prostitution fernzuhalten«, da sind »zermanschte Körper« im »Höllenfluss von Bagdad«, Schlepper bringen »das menschliche Vieh aus dem Orient auf die Farmen des Abendlands«, »es gibt nur noch Hungrige, Mörder, Analphabeten, Soldaten, Dörfler, Beter, Verirrte und Unterdrückte«. Die Story »Die Jungfrau und der Soldat« beginnt mit den Worten: »Im After der Leiche steckte eine Schnapsflasche, von der rechten Hand waren drei Finger abgeschnitten, und es gab weitere bestialische Verunstaltungen, als ob Wölfe, nicht Menschen am Werk gewesen wären.« Blasims Geschichten sind von einer Brutalität und Finsternis, die selbst die wechselnden Erzähler nur aushalten, indem sie wiederholt ins Surrealistische und in die Komik fliehen. Es ist große Literatur. Der Autor lässt die Trümmer in den Straßen, die jeder sehen kann, außer Acht, und wendet sich den Trümmern im Inneren der Überlebenden zu. Die Fakten zu Blasims Fiktionen liefert der Islamwissenschaftler Wilfried Buchta, der zwischen 2005 und 2011 für die UNO-Mission im Irak arbeitete. »Terror vor Europas Toren« heißt sein Buch über den IS, den Irak und die internationale

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maschine

»Die amerikanische Invasion von 2003 in den Irak ist ein Lehrstück dafür, dass Interventionen ausländischer Akteure keine funktionierenden Staaten hervorbringen können.« Foto: Giovanni Porzio / Contrasto / laif

Nahostpolitik der vergangenen Jahrzehnte. Der Titel ist reißerisch, das Buch selbst ist es zum Glück nicht. Im Gegenteil: Buchta analysiert den Aufstieg des IS und behält dabei Geschichte und Gegenwart, nationale und internationale Akteure, materielle und ideelle Quellen sowie Kontinuitäten und Widersprüche im Blick. Die mangelnde Integration der sunnitischen Minderheit in den irakischen Staat nach dem Sturz Saddam Husseins und des Baath-Regimes wird als eine Ursache für den Erfolg des IS benannt, andere Gründe liegen in den Geheimgefängnissen von CIA und US-Armee, in denen Baathisten auf islamistische Terrorverdächtige trafen, im Religionskrieg zwischen Schiiten und Sunniten, im Zerfall eines Staats, der weder seine Grenzen noch seine Waffenarsenale schützen kann, in der omnipräsenten Gewalt, in der staatsähnlichen IS-Struktur und in den »tiefen politischen, religiösen und wirtschaftlichen Verwerfungen, die bereits während Saddam Husseins Herrschaft existierten«. »Die amerikanische Invasion von 2003 ist ein Lehrstück dafür, dass Interventionen ausländischer Akteure keine funktionierenden Staaten hervorbringen können«, schreibt Buchta und skizziert präzise das gegenwärtige irakische System des politischen Klientelismus. Anders als in den Kurdengebieten basiert Loyalität in Bagdad fast ausschließlich auf Korruption. Fast 100 Jahre – von den kolonialistischen Grenzziehungen bis heute – deckt Buchta ab. 100 Jahre, an deren Ende Gotteskrieger mit mittelalterlichen Vorstellungen nach der Zukunft des Landes greifen. Das ist auch in Syrien nicht anders – und doch unterscheiden sich die Voraussetzungen im Vergleich zum Irak deutlich, wie Daniel Gerlach analysiert. Er leitet die deutsche Nahost-Expertengruppe »Zenith-Council«. Sein Buch »Herrschaft über Syrien« befasst sich hauptsächlich mit den Akteuren des Krieges und ihren unterschiedlichen Interessen. Das betrifft die Bünd-

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nispartner Assads – Russland, Iran und die libanesische Hisbollah – und die Sunniten, Schiiten, Alawiten, Drusen und Christen, die teils mit und teils gegen Assad kämpfen. Die Hinwendung zu den Akteuren bietet den Vorteil, die Komplexität der Machtverhältnisse in Syrien abzubilden. Militärische Netzwerke und auf Korruption beruhende politökonomische Seilschaften werden dabei ebenso sichtbar wie die strategische Anpassungsfähigkeit der syrischen Herrschenden. Gerlach schreibt: »Das Regime hält sich die Option offen, ob es als Regierung handeln möchte oder ob andere Gewänder zweckdienlicher sind. Es kann wahlweise als völkische Bewegung, als Militärkomplex, als konspirative, kriminelle Vereinigung oder auch als Terrorgruppe operieren.« Die Schwäche des Buches liegt darin, dass es immer wieder sehr kleinteilig wird und dass sich viele Behauptungen kaum überprüfen lassen; zu oft kommen unbekannte Zeitzeugen zu Wort, zu selten werden Anmerkungen ausgewiesen, die eine Überprüfung ermöglichen. Dennoch macht Gerlach überzeugend klar, dass das Assad-Regime derzeit alle möglichen Wege zum Frieden versperrt. Damit aber bleibt – neben dem Terror des IS – eine der Hauptursachen der Flucht von Syrern und Irakern nach Europa bestehen. Hassan Blasim: Der Verrückte vom Freiheitsplatz. Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich. Kunstmann, München 2015. 256 Seiten, 19,95 Euro. Wilfried Buchta: Terror vor Europas Toren. Der Islamische Staat, Iraks Zerfall und Amerikas Ohnmacht. Campus, Frankfurt/New York 2015. 413 Seiten, 22,90 Euro. Daniel Gerlach: Herrschaft über Syrien. Macht und Manipulation unter Assad. Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2015. 392 Seiten, 17 Euro.

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Foto: goEast

Eskalation. Szene aus »Kiew brennt«.

Nähe zum Geschehen Die Bilder der Proteste auf dem Maidan-Platz in der ukrainischen Hauptstadt Kiew zwischen November 2013 und Februar 2014 gingen um die Welt. Die Fotografin Yulia Serdyukova war mit ihren Kollegen im Zentrum der Demonstrationen, die friedlich begannen und bald in chaotische Straßenschlachten mündeten. Ihre Dokumentation »Kiew brennt« (»All Things Ablaze«) zeigt die Ereignisse unmittelbar.

dazu, als Oleksandr begann, Videoreportagen für die Webseite der FAZ zu drehen. Als die Proteste anfingen, war sofort klar, dass wir dort hin müssen, um alles auf Videos und Fotos festzuhalten. Da vieles gleichzeitig ablief, bat Oleksandr zwei Kollegen, Dmitry Stoykov und Aleksey Solodunov, uns zu unterstützen. Während der drei Monate des Protests arbeiteten wir als Team: Konrad als Autor, die drei Regisseure als Videoreporter und ich als Fotografin.

Interview: Jens Dehn

Ein Dokumentarfilm war zu Beginn also gar nicht geplant? Nein. Aber nach etwa eineinhalb Monaten wurde uns klar, dass die Geschehnisse ein viel größeres Ausmaß annahmen, als wir selbst zu Anfang dachten. Da kam der Gedanke auf, einen langen Film aus dem Material zu schneiden.

Wie kamen Sie dazu, über den Maidan zu berichten? Mein Kollege, der Fotograf Oleksandr Techynskyi, arbeitet seit mehr als zehn Jahren für die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, gemeinsam mit Konrad Schuller, der als FAZ-Korrespondent aus der Ukraine berichtet. Ich stieß 2013 als Fotografin

Der Film ist sehr nah dran an den Ereignissen. Es gibt darin Bilder, die man so noch nie gesehen hat. Als Fotojournalisten sind wir Nähe zum Geschehen gewohnt. Es gibt ja diesen Spruch: »Sind deine Bilder nicht gut genug, warst du nicht nah genug dran.« Meine drei Kollegen waren die

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Hatten Sie beim Schnitt ein bestimmtes Ziel? Oleksandr Techynskyi hat das ganze Material geschnitten und dabei versucht, für sich selbst zu verstehen, wie es zu der Eskalation kommen konnte, wie dieser friedliche Protest in so ein Chaos münden konnte. Als wir mittendrin waren, haben wir gar nicht verstanden, was vor sich ging. Unser Ansatz war, das alles im Schnittraum zu rekonstruieren und zu begreifen. Gab es Momente, in denen Sie sich überfordert fühlten? Beim Drehen und Fotografieren bist du durch das Adrenalin in einer Art Hochstimmung. Wir hatten zwar eine Wohnung, aber die meiste Zeit waren wir auf dem Maidan. Dort war so eine Atmosphäre von Hoffnung und Unterstützung, dass man gar nicht müde werden konnte. Aber wenn du dann nach Hause kommst und den Fernseher einschaltest, wirst du schon nervös. Es war viel beunruhigender, die Ereignisse im Fernsehen zu sehen als selbst Teil davon zu sein. Trotzdem gab es natürlich für jeden von uns Momente, in denen wir Angst hatten. Es gab durchaus gefährliche Situationen. Wie haben Sie sich geschützt? Wir benutzten Motorrad- und Fahrradhelme, um uns gegen die Steine zu schützen, die wie Konfetti flogen. Die Männer hatten sehr einfache kugelsichere Westen, die aber gegen Kalaschnikows nicht geholfen hätten. Irgendwann waren dann auch Heckenschützen da, die in die Menge feuerten. Ich selbst trug einen Fahrradhelm. Als ein Arzt mich so sah, empfahl er mir, den Helm abzunehmen. Er meinte, ein Stück Metall könne man unter Umständen aus meinem Kopf herausoperieren. Aber Metall plus zersplittertes Plastik von dem Fahrradhelm wäre schwierig. Ihr Film war schon auf Arte zu sehen. Werden andere Sender folgen? Können ihn die Menschen in der Ukraine sehen? Außer in Frankreich und Deutschland wurde der Film auch schon in Litauen und Estland im Fernsehen gezeigt. Für andere Länder laufen die Planungen. Davon abgesehen ist er bei iTunes und Vimeo on demand verfügbar. Die Premiere in der Ukraine war Ende März bei den »Docudays« in Kiew. Es gab zwei Vorstellungen, die ausgebucht waren, und die Zuschauer reagierten mit stehenden Ovationen. Wir sind sehr glücklich über die Publikumsreaktion in der Ukraine, vor allem deshalb, weil »Kiew brennt« sich von anderen Filmen über die Revolution deutlich unterscheidet. Er ist komplexer und kontroverser. Nach dem Festival lief der Film im ganzen Land in den Kinos. Wir hoffen, dass er eines Tages auch im ukrainischen Fernsehen läuft. Wie haben Sie »Kiew brennt« finanziert? Die Ereignisse haben uns regelrecht überrollt, wir waren viel zu sehr mit den täglichen Reportagen beschäftigt als dass wir Zeit gefunden hätten, über eine Finanzierung nachzudenken. Wir haben stets mit unserem eigenen Equipment gearbeitet, auch später in der Postproduktion. Sehr viele Leute haben uns unterstützt, indem sie umsonst oder für ganz wenig Geld gearbeitet haben. Bezahlt haben wir sie mit dem, was wir bei der FAZ

INTERVIEW: YULIA SERDYUKOVA

»Es war viel beunruhigender, die Ereignisse im Fernsehen zu sehen als selbst Teil davon zu sein.« verdienten. Glücklicherweise hat sich unser Einsatz ausgezahlt: Beim Leipziger Dokumentarfilmfestival haben wir den Preis für die beste osteuropäische Dokumentation gewonnen und wir haben auch einen Vertrieb gefunden, der Verträge mit Fernsehsendern auf den Weg gebracht hat, darunter Arte und der MDR. Der Film lief auf diversen Festivals. Wie waren die Reaktionen? Es gibt einen großen Unterschied zwischen den Zuschauern in der Ukraine und im Ausland. Uns Ukrainern gehen die Ereignisse immer noch sehr nah. Während der Premiere in der Ukraine lachten und weinten die Leute, sie kommentierten lautstark das Geschehen auf der Leinwand und applaudierten danach sehr lange. Und während der anschließenden Diskussionsrunde mit dem Publikum kam es fast zu tätlichen Auseinandersetzungen. Als wären wir wieder auf dem Maidan. Wie sehen westliche Zuschauer den Film? In Europa sind die Reaktionen ruhiger, wobei wir wärmeren Zuspruch bekommen, je näher das Land, in dem wir den Film zeigen, der Ukraine ist. Das Publikum auf den Festivals ist sehr interessiert und mitfühlend. Nach der Vorführung beim goEastFestival in Wiesbaden etwa befragte mich ein junges Paar eine halbe Stunde lang nach der Situation in der Ukraine. Ich glaube, das ist die zentrale Aufgabe von Filmen wie unserem auf Festivals: Informationen zu geben und Erfahrungen zu teilen. Arbeiten Sie an einem neuen Film? Während des vergangenen Jahres hat Oleksandr Techynskyi viel als Fotograf und Übersetzer aus dem Kriegsgebiet berichtet, vor allem für die FAZ. Die aktuellen Entwicklungen haben viel Zeit und Kraft in Anspruch genommen. Und darüber zu informieren, war sicher wichtiger als ein neuer Film, wenngleich wir schon lange etwas Neues planen. Aber die Revolution und der Krieg haben auch diesbezüglich alles verändert.

INTERVIEW YULIA SERDYUKOVA Foto: Amnesty

einzigen, die auch versucht haben, aus der Perspektive der Polizisten zu filmen und sie nicht nur automatisch als die Bösen hinzustellen. Das haben die anderen nicht gemacht, weil sie Angst vor Repressalien hatten. Doch Aleksey Solodunov ist ein sehr angenehmer Zeitgenosse, der überhaupt nicht aggressiv wirkt. So haben ihn die Polizisten lange Zeit gewähren lassen.

Yulia Serdyukova wurde 1981 in Kiew geboren. 2005 schloss sie ihr Studium der Kulturwissenschaft und Medien ab, seit 2007 arbeitet sie als professionelle Fotografin. Zusammen mit Regisseur Oleksandr Techynskyi gründete Serdyukova die Produktionsfirma »Honest Fish Documentary Stories«. Ihr Film »All Things Ablaze« gewann beim DOK Leipzig 2014 den Preis für den besten osteuropäischen Dokumentarfilm.

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Foto: Denis Dailleux / VU / laif

Zwei Völker in einem Land

Nur für Reiche. Neubauten in Kairo.

Mit »Utopia« zeichnet der Schriftsteller Ahmed Khaled Towfik ein bedrückendes Bild Ägyptens im Jahr 2023. Der Roman zeigt ein Land, in dem sich Reiche und Arme gegenseitig jagen. Von Maik Söhler

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ir sind zwei Völker, zwei Völker, zwei Völker. / Schau, wo das erste steht und wo das zweite. / Und hier läuft die Linie zwischen den beiden.« Gâbir, einer der Protagonisten des neuen Romans »Utopia« von Ahmed Khaled Towfik, zitiert mit diesen Worten einen Dichter namens Abdalrachmân al-Abnûdi und stirbt dann. Erschlagen von einem Jugendlichen aus Utopia, der von sich sagt, sein Name tue nichts zur Sache, weil »man sich sowieso von niemandem unterscheidet«. Es ist das Jahr 2023, Ägypten ist schon länger in zwei Teile zerfallen. Der eine, in dem auch Utopia liegt, ist »eine isolierte Kolonie an der Nordküste Ägyptens, von den Reichen gegründet, um sich gegen das wütende Meer der Armut draußen abzuschirmen. Hier haben sie alles, was sie wollen.« Der andere Teil, das sind Orte voller Elend, Gewalt und Hoffnungslosigkeit. Den Staat Ägypten gibt es nicht mehr, die soziale und gesundheitliche Versorgung ist zusammengebrochen, an jeder Ecke herrscht eine andere Bande, Einkommen beschafft man sich mit Überfällen, Prostitution, Tauschhandel, Betrug. »Erst mit zwanzig begriff ich die grausame Wirklichkeit, dass ich nämlich ohne Träume leben musste«, so fasst Gâbir seine Lebensrealität jenseits des reichen Utopia zusammen. Für die Jugend Utopias besteht das Leben aus einer endlosen

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Abfolge von Konsum, Sex und Drogen. Verantwortung und Leidenschaft sind anderswo. Das einzige Problem besteht darin, dass alles schnell langweilig wird. Um einen neuen Kick zu bekommen, gehen Jugendliche »auf die Jagd«. Gejagt werden »die Anderen«, Menschen wie Gâbir, man tötet sie in der Wüste und nimmt einen Arm oder eine Hand der Leiche als Trophäe mit. Bei Schwierigkeiten greift der hochgerüstete Wachschutz aus Utopia ein. Doch eine der Jagden geht schief und die Jäger werden zu Gejagten … Towfiks Roman ist eine Dystopie, ein Stück Science Fiction, das in der Zukunft nichts Positives mehr verorten kann. Im Original erschien das Buch 2009, lange bevor die Arabellion begann, und es hat auch nach den Aufständen, die nach den Stürzen Mubaraks und Mursis in einer Militärdiktatur mündeten, nichts an seiner fiktionalen Tiefe und Breite verloren. »Utopia« ist ein verstörender Roman, voller Morde, Vergewaltigungen, Verstümmelungen und Situationen, in denen der Mensch als geknechtetes und erniedrigtes Wesen nur noch ums Überleben kämpft. Ihre Stärke gewinnt die Fiktion aus vielerlei Beobachtungen und Reflexionen, die dem simplen Gut-Böseund Arm-Reich-Schema Konturen geben und für Paradoxien sorgen. Towfik spielt mit der Bedeutung von Literatur und Medien, er nimmt sich die Religion ebenso vor wie die Gewalt gegen Frauen, die Arm und Reich verbindet, und er führt die Sicherheit und Exklusivität, mit der »Gated Communities« so oft werben, als ein Phantasma vor. Ahmed Khaled Towfik: Utopia. Aus dem Arabischen von Christine Battermann. Lenos, Basel 2015. 188 Seiten, 19,90 Euro.

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Die Schattenseiten des ANC

Flucht aus dem ewigen Winter

Südafrika, Mitte der neunziger Jahre: Das Apartheidsystem ist besiegt, die rassistische Unterdrückung gehört der Vergangenheit an, Nelson Mandelas ANC regiert, alles wird gut. So denkt es sich Kimathi, der Protagonist in »Way Back Home«, dem ersten ins Deutsche übersetzten Roman des südafrikanischen Journalisten und Schriftstellers Niq Mhlongo. Und Kimathi hat allen Grund zur Hoffnung. Als ehemaliger ANCMilitanter im Exil kommen ihm nach seiner Rückkehr nach Johannesburg die guten Kontakte zu alten Kämpfern gelegen, um davon zu profitieren. ANC-Minister und Staatssekretäre vergeben lukrative Aufträge, Kimathis rasch gegründete Baufirma ist mit von der Partie. Ist nun tatsächlich alles gut? Von wegen. Seine Ehe geht in die Brüche, Geschäftspartner wenden sich ab, ein Alkoholproblem und Wahnvorstellungen tauchen auf. Vor allem aber drängt sich die Vergangenheit ins Alltagsleben Kimathis. Als ANC-Kämpfer hat er in Angola ein Gefangenenlager geleitet – rücksichtslos und mörderisch. Seine Taten von einst holen ihn nun mit Wucht ein. Niq Mhlongo rechnet ab mit der Korruption und Selbstgefälligkeit älterer ANC-Kader in Südafrika, die sich die politische und ökonomische Macht gesichert haben. Selbst die im Widerstand begangenen Verbrechen geraten in den Blick – in fiktionalisierter Form. »Way Back Home« ist ein spannender, gut zu lesender Roman.

Magnolien legen ihre Blüten bereits im Vorjahr an, um dann den Winter zu überdauern – bevor sie im Frühling aufblühen. Im abgeschotteten Nordkorea scheint der Winter ewig zu dauern. Amnesty International berichtet seit Jahren von Hunderttausenden Menschen, die in politischen Straflagern und anderen Haftanstalten gefangen gehalten werden. Seit ein paar Monaten beschäftigt sich auch der UNO-Sicherheitsrat mit der Menschenrechtssituation im Land. Augenzeugenberichte wie der von Hyeonseo Lee sind praktisch die einzigen Beweise für die Situation vor Ort, denn sonst dringt so gut wie nichts nach außen. In ihrer Autobiografie mit dem Titel »Schwarze Magnolie« schildert sie sehr eindrucksvoll ihr Leben und ihre Flucht aus dem totalitär regierten Land. Schon als Kind sieht sie, wie Freunde verhungern, Bekannte »verschwinden« oder Leichen im Grenzfluss zu China treiben. Sie wagt den Schritt, lässt alles hinter sich und versteckt sich jahrelang im chinesischen Untergrund, ständig in Gefahr, als Nordkoreanerin enttarnt und in ihre Heimat zurückgeschickt zu werden, wo sie Folter und Haft erwarten. Ihr gesamtes Leben dreht sich um die Frage, ob sie jemals in der Freiheit ankommen wird.

Niq Mhlongo: Way Back Home. Aus dem Englischen von Gunther Geltinger. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2015. 280 Seiten, 24,80 Euro.

Terror als Alltag In der Nacht vom 26. auf den 27. September 2014 verschwanden 43 Studenten eines Lehrerkollegs in Mexiko. Sie wurden in der Kreisstadt Iguala von Uniformierten verschleppt und seither nicht mehr gesehen. Das Sachbuch »TerrorZones« nimmt diese Verschwundenen zum Anlass, um die staatlichen, ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu analysieren, denen in Mexiko und anderen lateinamerikanischen Ländern in nur wenigen Jahren um die 100.000 Menschen zum Opfer fielen. »TerrorZones« behandelt vor allem die Kooperation und Konkurrenz, die in Mexiko den Staat und die Kartelle der Drogen- und Menschenhändler verbinden. Zum besseren Verständnis werden auch Gewaltbeispiele aus Kolumbien und El Salvador hinzugezogen, denn »die Dynamiken der Gewalt sind nicht mehr nur lokal oder national, sondern auch grenzüberschreitend zu begreifen«. Flucht und Migration, Drogen- und Waffenhandel, Entführungen und Erpressungen, Paramilitärs und Bürgerwehren, Frauenmorde, zur Schau gestellte Leichen – dieses Buch nähert sich dem Terror des mexikanischen Alltags. Doch es erstarrt nicht vor dem Horror. Widerstand, Gegenwehr, Aufklärung, Vernetzung, Gedenken und Kunst erhalten mindestens so viel Raum. Ein wichtiges Buch für all jene, die der Schockstarre angesichts exzessiver Gewalt entgehen wollen. Anne Huffschmid, Wolf-Dieter Vogel, Nana Heidhues, Michael Krämer (Hg.): TerrorZones. Gewalt und Gegenwehr in Lateinamerika. Assoziation A, Berlin/Hamburg 2015. 256 Seiten, 18 Euro.

Hyeonseo Lee mit David John: Schwarze Magnolie. Wie ich aus Nordkorea entkam. Ein Bericht aus der Hölle. Heyne-Verlag, München 2015. 416 Seiten, 19,99 Euro.

Von der Insel zur Festung »Am Morgen fanden die Inselbewohner einen Mann am Strand, da wo Meeresströmung und Schicksal sein Floß hingeführt hatten. Er stand auf, als er sie kommen sah. Er war nicht wie sie.« Dass der Mann anders ist, wird auf den ersten Blick deutlich – denn während er dünn und nackt allein am unteren rechten Bildrand steht, bauen sich auf der nächsten Doppelseite die dickleibigen Insulaner mit Mistgabeln bewaffnet seitenfüllend vor ihm auf. Misstrauen spricht aus ihren Augen, dennoch darf der Fremde bleiben – er hat einen Fürsprecher. Doch willkommen ist er nicht. Die bloße Anwesenheit des Mannes, der nichts fordert und sich nicht beklagt – nicht einmal darüber, dass er in einen Ziegenstall gesperrt wird und nur Essensreste bekommt – reicht aus, Ängste, Vorurteile und Hass der Inselbewohner anzufeuern. Am Ende jagen sie ihn mit ihren Mistgabeln an den Strand und schicken ihn zurück aufs Meer. Um die Insel bauen sie vorsorglich eine hohe Mauer und machen sie zur Festung. Armin Greders Bilderbuch »Die Insel. Eine tägliche Geschichte« wurde erstmals 2002 veröffentlicht, erscheint jedoch in der Neuauflage aktueller denn je. Greders Parabel spiegelt in kargen, präzisen Sätzen den Umgang mit allem Fremden; seine an Edvard Munch erinnernden, expressionistischen Zeichnungen wirken nach und mahnen an: Vorurteile, Angst und Hass dürfen nicht lauter sein als Solidarität, Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit. Armin Greder: Die Insel. Eine tägliche Geschichte. Fischer Sauerländer, Frankfurt am Main 2015. 40 Seiten, 16,99 Euro. Ab 8 Jahren.

Bücher: Maik Söhler, Ronny Hübner, Marlene Zöhrer BÜCHER

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Liebe auf der Flüchtlingsroute

Kaleidoskop des Libanons

Was schwierige Verhältnisse mit Menschen machen, davon handelt der griechische Film »Riverbanks«. Er spielt an den Ufern des griechisch-türkischen Grenzflusses Evros. Hier endet für viele Flüchtlinge der Weg nach Europa – in einem Gebiet, in dem noch Minen aus früheren Zypernkriegen liegen. Das gefährliche Terrain ist Tummelplatz von Menschenschmugglern wie Chryssa: Um Vater und Bruder zu unterstützen, schleust sie Flüchtlingskinder nach Griechenland, die in ihren Rucksäcken Drogen der Mafia transportieren. Sollten die Kinder erwischt werden, sind sie nicht strafmündig. Eines Tages trifft sie auf Yannis, einen Minenräumer der griechischen Armee. Immer wieder muss er erleben, dass Flüchtlinge, die seine Warnrufe nicht verstehen, in die Sprengfallen laufen. Er hat mehr oder weniger mit dem Leben abgeschlossen, aber nun kommen sich Soldat und Schlepperin nahe. Geht Liebe überhaupt an diesem unwirtlichen Ort? Welche Zukunft können zwei so unterschiedliche Menschen haben? Die aktuelle politische Lage gibt den Takt vor für diese Liebe. Derzeit sind so viele Menschen auf der Flucht wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Der Weg über die Türkei nach Europa zählt zu den am häufigsten genutzten Fluchtrouten. Vor diesem Hintergrund eine Liebesgeschichte erzählen zu wollen, kündet von cineastischem Mut. Und wenn »Riverbanks« auch manche dramaturgische Extraschleife dreht, ist der Film doch sehr sehenswert.

Der Komponist, Multiinstrumentalist und Sänger Bachar Mar-Khalifé ist der Sohn der libanesischen Songwriter-Legende Marcel Khalifé. Er lebt in Paris, wo er Musik studiert, zwei Alben veröffentlicht und diverse Filmmusiken komponiert hat, und hat seinen ganz eigenen Stil entwickelt, der zwischen Weltmusik, Elektronik und Jazz oszilliert und mit nahöstlichen Traditionen verschmilzt. Sein drittes Album »Ya Balad« (»Oh Heimatland«) ist seinem zerrissenen Herkunftsland gewidmet, dem Libanon. Es thematisiert die Erfahrung der Emigration und den Verlust der Heimat, der geradezu körperlich schmerzt: die nostalgischen Erinnerungen an den Geschmack von Croissants mit Thymian, von Kaffee über offenem Feuer oder dem Geruch der landestypischen BaladiSeife. Dräuend wie ein modernes Oratorium eröffnet das Album mit »Kyrie Eleison«, das wie ein Kirchenchoral klingt und ursprünglich für den Film »Fièvres« von Hicham Ayouch geschrieben wurde. »Balcoon« vereint TripHop mit orientalischen Motiven und ist der Jugend des Libanons gewidmet, die zwischen Aufbegehren und Anpassung hin- und hergerissen ist. Und in »Lemon« treffen Breakbeats auf raue arabische Volkstanzrhythmen, dafür hat Mar-Khalifé ein Cembalo auf orientalische Vierteltöne eingestimmt, die Zeilen stammen vom ägyptischen Dichter Samir Saady. So führt das Album arabische Lyrik, musikalischen Reichtum und elektronische Klangmalerei zu einem faszinierenden Kaleidoskop zusammen.

»Riverbanks«. G 2014. Regie: Panos Karkanevatos, Darsteller: Elene Mavridou, Levent Üzümcü. In den Kinos.

Bachar Mar-Khalifé: »Ya Balad« (infiné)

Kino zum Selbermachen

Revolutionäres aus Kanada

»Wir wollen mit den Zuschauern über Filme reden, über Medien und Menschenrechte. Wir füllen sie nicht mit Botschaften ab. Bei uns darf selbst gedacht werden.« Andrea Kuhns Arbeit folgt einem ebenso einfachen wie zuweilen schwer umzusetzenden Prinzip. Die Leiterin des Nürnberger Menschenrechtsfilmfestivals wünscht sich, »dass die Besucher den Eindruck haben, dass wir sie ernst nehmen«. Zu finden ist Kuhns Maxime in einem neuen Handbuch zur Durchführung eines Menschenrechtsfilmfests. Herausgegeben wird es vom »Human Rights Film Network«, einem Zusammenschluss von derzeit 38 Festivals rund um den Globus. Das Buch versammelt Stimmen von Festivalmachern, beschreibt Aufführungskonzepte, aber auch Probleme bei Technik und Verwaltung. Es enthält sogar Musterrechnungen und Budgetlisten. Zensur, Schwierigkeiten bei der Finanzierung, Sicherheitsrisiken: Ein Spaziergang sind solche Kulturveranstaltungen nicht, jedes Land hat seine Besonderheiten. Der Aufwand lohnt sich aber immer, da sind sich die Festivalchefs sicher: »Wir alle glauben an die Macht von Filmen. Sie verbinden gerade junge Leute – und schaffen ein Gefühl für soziale Gerechtigkeit.«

Widerstand kennt viele Ausdrucksformen. Auf seinem Album »Resistance« geht das kanadische Souljazz Orchestra gleich mehrere Spielarten durch. Die zwölfköpfige Retrosound-Kapelle aus Ottawa ist bekannt für messerscharfe Bläsersätze, mitreißende Tunes und stilsichere Reminiszenzen an die goldene Zeit des revolutionären Dancefloor-Stils mit politischer Message. Auch »Resistance« ist wieder eine Hommage an den Conscious Soul, den Polit-Funk und den antikolonialen Afrobeat und Latinjazz der siebziger Jahre, dockt aber auch an aktuelle westafrikanische und karibische Stile wie Coupé Décalé, Zock und Cadence an. Eigentlich ist das Souljazz Orchestral eine reine Instrumentalband, doch auf »Resistance« sind jetzt erstmals Gesangparts dazugekommen, welche die revolutionäre Botschaft unterstreichen. Der fulminante Opener »Greet the Dawn« ist ein groovendes Gute-Laune-Stück mit »Zur Sonne, zur Freiheit«-Message, das zornige »Shock and Awe« – der Titel eine ironische Anspielung auf die Kriegsstrategie der Bush-Administration – ist in der Tat ein gnadenloses Trommelfeuer, und das aufmunternde »Courage« eine swingende Latin-Nummer. Doch die Musiker brauchen nicht viele Worte, um ihre Botschaft rüberzubringen: Eine Bewegung fängt damit an, dass man sich bewegt. Oder: Wenn ich nicht dazu tanzen kann, dann ist es nicht meine Revolution.

»Setting Up a Human Rights Film Festival, Vol. 2«. PDF, Englisch, 241 Seiten. Download: www.humanrightsfilmnetwork.org/node/203 Vol. 1 unter: www.oneworld.cz/ow/2009/ download/pdf/OW-cookbook_web.pdf

Souljazz Orchestra: »Resistance« (Strut Records / K7 / Indigo)

Film: Jürgen Kiontke | Musik: Daniel Bax 70

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Foto: Elena Pardo / Sony Music Mexico

Sängerin der Seelenlandschaft

Halb Madonna, halb Frida Kahlo. Lila Downs.

Die mexikanische Sängerin Lila Downs beschwört auf ihrem neuen Album die Zerrissenheit ihres Landes zwischen Sinnlichkeit und Gewalt. Von Daniel Bax

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chokolade und Pistolenkugeln haben auf den ersten Blick nicht allzu viel miteinander zu tun. Aber die mexikanische Sängerin Lila Downs sieht in diesem Gegensatzpaar ein Sinnbild für die Extreme in ihrem Land, für dessen Zerrissenheit zwischen Sinnlichkeit und Gewalt. Die Kakaobohne, darf man nicht vergessen, stammt ursprünglich aus Mittelamerika und galt den Azteken als heilige Pflanze und Geschenk ihres Gottes Quetzalcoatl. Die Kombination aus sozialkritischen und folkloristischen Elementen ist typisch für Lila Downs, die legendäre Sängerinnen wie Chavela Vargas und Mercedes Sosa als Vorbild nennt. Bekannt wurde die Tochter eines US-amerikanischen Regisseurs und einer mexikanischen Sängerin mit indigenen Wurzeln durch ihren Soundtrack zum Biopic »Frida«, in dem sie auch selbst mitspielte. »Balas y Chocolate« (»Pistolenkugeln und Schokolade«) ist ihr neuntes Album und bislang das kommerziell ambitionierteste: Treibende Cumbia-Melodien lassen keinen Zweifel daran, dass sich Lila Downs möglichst vielen nachdrücklich ins Ohr fräsen will, ungewohnt kraftvoll pumpen die Beats. Ein Duett mit dem kolumbianischen Superstar Juanes zielt ebenfalls auf den Mainstream, doch das tut ihrem politischen Anspruch keinen Abbruch. Das Duett »La Patra Madrina« ist der Leidensgeschichte Lateinamerikas gewidmet, der jahrhundertelangen Ausbeutung von Mensch und Natur. Der dazugehörige Videoclip kombiniert Bilder von Umweltzerstörung mit tanzenden Skelet-

FILM & MUSIK

ten und historische Bilder der mexikanischen Revolution mit nachgestellten Szenen heutiger Protestmärsche und lässt sich als Aufruf verstehen, die Hoffnung nicht aufzugeben und den Horror nicht hinzunehmen. Mexiko macht derzeit vor allem durch Drogenkrieg, Massaker und Massengräber Schlagzeilen. Der Tod, der in der mexikanischen Folklore ohnehin seinen festen Platz hat, ist auch auf »Balas y Chocolate« ein häufig wiederkehrendes Motiv – sei es in »Humito de Copal«, der den jährlichen Zeremonien zum »Dia de Los Muertos« gewidmet ist, in »Viena la muerta enchano rasero« (»Der Tod kommt mit der Sense«) oder in »Son Difuntos«, dem »Lied der Verstorbenen«. Dieser Fokus verdankt sich nicht zuletzt einem persönlichen Schicksalsschlag: Bei Paul Cohen, ihrem langjährigen Lebenspartner, wurde kürzlich eine schwere Krankheit diagnostiziert. Als Co-Autor zeichnet er aber nach wie vor für viele Stücke auf »Balas y Chocolate« verantwortlich. Die Stimmung auf dem Album ist dennoch – oder gerade deshalb – fröhlich und zeugt von unerschütterlichem Optimismus und Lebenswillen, musikalisch reicht der Reigen von Mariachi-Trompeten zu Cumbia-Pop, von Corridos und Rancheros bis zu getragenen Boleros, die Lila Downs mit ihrer tiefen, kräftigen und ausdrucksstarken Stimme auszufüllen vermag. Auf dem Cover präsentiert sich die 47-Jährige im farbenprächtigen Folklore-Gewand und mit Sombrero in einer mexikanischen Landschaft – halb Madonna und halb einem Gemälde von Frida Kahlo entsprungen. Und wie die legendäre mexikanische Künstlerin, malt auch die Sängerin mit kräftigen Strichen und Farben das Abbild einer mittelamerikanischen Seelenlandschaft. Lila Downs: Balas y Chocolate (Sony Music Mexico)

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Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt oder man lässt sie »verschwinden«. AMNESTY INTERNATIONAL veröffentlicht regelmäßig an dieser Stelle drei Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden. Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie bitte eine digitale Kopie an: info@amnesty.de

AMNESTY INTERNATIONAL Zinnowitzer Straße 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 Fax: 030 - 42 02 48 - 488 E-Mail: info@amnesty.de www.amnesty.de Spendenkonto Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE 233 702050 0000 8090100 BIC: BFS WDE 33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00) 72

Foto: Amnesty

BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN

HAITI BEWOHNER VON VILLAGE GRÂCE DE DIEU Die Siedlung Village Grâce de Dieu liegt an der östlichen Grenze von Canaan, einem Landstrich am Stadtrand der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince. Schätzungen zufolge ließen sich etwa 250.000 Menschen nach dem Erdbeben vom 12. Januar 2010 in Canaan nieder. Viele von ihnen waren zuvor gezwungen worden, Lager für Binnenvertriebene zu verlassen. Am 30. Januar 2014 suchte ein Friedensrichter die Siedlung Village Grâce de Dieu auf, der von Polizeikräften und bewaffneten Männern begleitet wurde. Diese begannen etwa 100 Familien aus der Siedlung zu vertreiben. Bewohner berichteten, die Polizisten hätten Tränengas gegen sie eingesetzt. Angaben der Betroffenen zufolge hatte man sie nicht über die bevorstehende Räumung informiert. Am 3. Februar 2014 erschienen erneut Polizisten in der Siedlung, feuerten Warnschüsse ab und setzten Tränengas ein. Zwei Personen sollen ins Krankenhaus eingewiesen worden sein, nachdem sie von Polizisten geschlagen worden waren. Am 5. November 2014 zerstörten Polizeikräfte ein Betonhaus in Village Grâce de Dieu und gingen Berichten zufolge erneut mit Gewalt gegen Bewohner vor. In Village Grâce de Dieu gibt es weder Elektrizität und Trinkwasser noch ist die Siedlung an ein Abwassersystem angeschlossen. Es gibt in der näheren Umgebung keine Gesundheitsdienste. Die Regierung hat kürzlich ein Zwei-Jahres-Projekt gestartet, das eine nachhaltige Stadtentwicklung in Canaan fördern soll. Der Zugang zu angemessenen Unterkünften für die Bewohner von Village Grâce de Dieu und anderer Siedlungen in Canaan ist jedoch noch immer nicht geklärt. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Präsidenten von Haiti, in denen Sie ihn darum bitten, dafür zu sorgen, dass das kürzlich ins Leben gerufene Projekt in Canaan nicht zu rechtswidrigen Zwangsräumungen führt. Bitten Sie ihn zudem darum, sicherzustellen, dass die Bewohner von Village Grâce de Dieu und dem Landstrich Canaan Zugang zu sicheren Nutzungs- und Besitzrechten sowie zu angemessenen Unterkünften haben. Besonderer Schutz muss dabei den in Armut lebenden Menschen und anderen schutzbedürftigen Gruppen zukommen. Schreiben Sie in gutem Englisch, Französisch oder auf Deutsch an: Michel Martelly Président d’Haiti, Palais Nationale Rue Magny, Port-au-Prince, HAITI Fax: 002 02 - 745 72 15 E-Mail: communications@presidentmartelly.ht (Anrede: Dear President / Monsieur le Président / Sehr geehrter Herr Präsident) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,80 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Haiti Uhlandstraße 14, 10623 Berlin Fax: 030 - 88 62 42 79 E-Mail: amb.allemagne@diplomatie.ht

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Fariba Kamalabadi Taefi, Mahvash Sabet, Jamaloddin Khanjani, Afif Naeimi, Saeid Rezaei, Behrouz Tavakkoli und Vahid Tizfahm gehören der religiösen Minderheit der Baha’i im Iran an und sind Mitglieder einer Koordinierungsgruppe, die religiöse und administrative Angelegenheiten der Baha’i regelt. Sie verbüßen derzeit eine zehnjährige Haftstrafe, die offenbar mit ihrer friedlichen Religionsausübung zusammenhängt. Baha’i dürfen ihren Glauben im Iran nicht frei praktizieren. Die fünf Männer und zwei Frauen wurden im August 2010 von einem Revolutionsgericht in Teheran zu je 20 Jahren Haft verurteilt. Die Vorwürfe lauteten u.a. »Spionage für Israel« und »Propaganda gegen den Staat«. Amnesty hat in der Vergangenheit wiederholt kritisiert, dass Verfahren vor iranischen Gerichten nicht den Standards für faire Verfahren entsprechen. Im September 2010 teilten die Behörden den Rechtsbeiständen mit, dass das Strafmaß auf zehn Jahre Gefängnis herabgesetzt worden sei. Dies ist bisher jedoch noch nicht schriftlich bestätigt worden. Berichten zufolge werden die sieben Personen unter schlechten Bedingungen in kleinen Zellen festgehalten. Die Entwicklungspsychologin Fariba Kamalabadi Taefi und die Lehrerin Mahvash Sabet wurden in den ersten Monaten ihrer Haft in Einzelhaft gehalten. Alle haben nur eingeschränkten Zugang zu ihren Familien. Afif Naeimi wurde am 20. Oktober 2015 in ein Krankenhaus eingeliefert, um sich behandeln zu lassen und Medikamente zu erhalten. Er leidet unter anderem an geschwollenen Lymphknoten und sein Zustand hat sich durch die mangelhafte medizinische Versorgung im Gefängnis weiter verschlechtert.

Fotos: privat

Foto: privat

IRAN SIEBEN ANGEHÖRIGE DER RELIGIÖSEN MINDERHEIT DER BAHA’I

MEXIKO HÉCTOR RANGEL ORTIZ Héctor Rangel Ortiz und zwei seiner Kollegen verschwanden am 10. November 2009 in Monclova, einer Stadt im nordmexikanischen Bundesstaat Coahuila. Héctor Rangel war damals in einem Familienunternehmen tätig und befand sich in Monclova auf Geschäftsreise. Er rief von einem Hotel aus bei seiner Familie an und sagte, dass die Polizei seine Kollegen angehalten und ihren Wagen sichergestellt habe. Er werde zur Polizeiwache gehen, um Näheres herauszufinden. Seit diesem Anruf hat niemand mehr etwas von den drei Männern gehört. Kurz nach diesem letzten Lebenszeichen reisten die Geschwister von Héctor Rangel Ortiz, Brenda und Enrique Rangel, nach Monclova, um nach ihm zu suchen. Doch schon bald verließen sie fluchtartig die Stadt, da sie um ihr Leben fürchteten: Polizei und Staatsanwaltschaft hatten ihnen gedroht, ihnen würde dasselbe zustoßen, wenn sie sich nicht heraushielten. Weil sie die Ermittlungen der Behörden zu dem Fall nicht als ausreichend ansahen, begannen Brenda Rangel und ihre Familie eigene Recherchen und gingen damit ein hohes persönliches Risiko ein. Seit Juni 2013 liegt der Fall der Sondereinheit zur Aufklärung von Fällen des Verschwindenlassens (»Unidad Especializada de Búsqueda de Personas Desaparecidas«) der Generalstaatsanwaltschaft vor. Bis zum heutigen Tag ist das Schicksal von Héctor Rangel ungewiss, und niemand ist wegen seines Verschwindenlassens vor Gericht gestellt worden. Rund 70 Familien von »Verschwundenen«, einschließlich der Familie Rangel, haben die Organisation »Fuerzas Unidas por Nuestros Desaparecidos en Coahuila« (FUUNDEC) gegründet, um gemeinsam Druck auf die Behörden auszuüben, das Schicksal von »Verschwundenen« in Coahuila aufzuklären.

Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an die Oberste Justizautorität und fordern Sie die umgehende und bedingungslose Freilassung der sieben gewaltlosen politischen Gefangenen (bitte Namen nennen), da sie allein aufgrund ihres Glaubens bzw. ihrer friedlichen Aktivitäten für die Rechte der Baha’i inhaftiert sind. Bitten Sie darum, den Inhaftierten regelmäßigen Zugang zu ihren Familien, Rechtsbeiständen und jeder nötigen medizinischen Versorgung zu gewähren.

Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an die Generalstaatsanwältin und dringen Sie darauf, dass die Sondereinheit zur Aufklärung von Fällen des Verschwindenlassens umgehend eine umfassende und unabhängige Untersuchung des »Verschwindens« von Héctor Rangel Ortiz einleitet, um sein Schicksal und seinen Verbleib aufzuklären. Bestehen Sie außerdem darauf, dass die Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden.

Schreiben Sie in gutem Persisch, Englisch oder auf Deutsch an: Ayatollah Sadegh Larijani c/o Public Relations Office Number 4, 2 Azizi Street Vali Asr Ave., above Pasteur Street intersection Tehran, IRAN E-Mail: über die Webseite: http://www.biajudiciary.ir/tabid/62/Default.aspx (Anrede: Your Excellency / Exzellenz) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,80 €)

Schreiben Sie in gutem Englisch, Spanisch oder auf Deutsch an: Arely Gómez González Procuraduría General de la República Paseo de la Reforma 211-213 Col. Cuauhtémoc, México, D.F., C.P. 06500, MEXIKO Fax: 00 52 - 55 53 46 09 08 E-Mail: ofproc@pgr.gob.mx (Anrede: Dear Attorney General / Estimada Señora Procuradora / Sehr geehrte Frau Generalstaatsanwältin) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,80 €)

Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Islamischen Republik Iran S. E. Herrn Ali Majedi Podbielskiallee 65–67, 14195 Berlin Fax: 030 - 84 35 35 35 E-Mail: info@iranbotschaft.de

Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Vereinigten Mexikanischen Staaten I. E. Frau Patricia Espinosa Cantellano Klingelhöferstraße 3, 10785 Berlin Fax: 030 - 269 32 37 00 E-Mail: mail@mexale.de

BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN

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Foto: Gustav Pursche / Amnesty

Dagegenhalten. Amnesty-Aktivisten beim Anti-Pegida-Protest in Dresden.

»WIR NEHMEN DAS NICHT HIN« Seit mehr als einem Jahr schürt Pegida Hass und Gewalt. Zum Jahrestag gingen in Dresden so viele Menschen gegen Pegida auf die Straße wie nie zuvor. Auch Amnesty war dabei. Unter dem Motto »Herz statt Hetze« gingen in Dresden am 19. Oktober mindestens 15.000 Personen gegen Pegida auf die Straße. Schon seit einem Jahr halten viele Menschen dagegen: Sie wollen ein Zeichen setzen gegen die hasserfüllte und rassistische Rhetorik, mit der Pegida versucht, die Stimmung im ganzen Land zu prägen. Aber noch nie waren es so viele. Tausende strömten von vier verschiedenen Orten aus in Richtung der Pegida-Kundgebung vor der Dresdner Semperoper. Sie versammelten sich, um Pegida beim Jahrestag ihrer ersten Demonstration nicht die Hoheit zu überlassen. Auch Amnesty-Mitglieder waren gemeinsam mit AmnestyGeneralsekretärin Selmin Çalışkan vor Ort: »Es ist mir wichtig, unsere Gruppen in Dresden zu unterstützen, weil ich weiß, dass viele Mitglieder jeden Montag hier sind, um sich dem Rassismus entgegenzustellen und darüber hinaus auch Flüchtlinge vor Ort zu unterstützen – wofür sie leider auch selber Gefahren ausgesetzt sind«, sagte Selmin Çalışkan. Tatsächlich kommt es häufig zu Anfeindungen und Übergriffen. Auch an diesem Abend warfen Rechtsextreme aus dem Pegida-Pulk einen Böller in den Gegenprotest: »Als Reaktion drängte uns die Polizei ab. Gegenüber denjenigen, die in dieser Situation straffällig geworden waren, reagierte die Polizei nicht«, berichtete Amnesty-Mitglied Theo. Das Konzert am Postplatz – die zentrale Kundgebung des Anti-Pegida-Protestes – musste vorzeitig beendet werden, da die Polizei die Sicherheit der Veranstaltung nicht gewährleisten konnte.

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Die beiden Massen, die an diesem Abend in der Dresdner Altstadt aufeinandertrafen, hielten sich die Waage. Auch Pegida hatte zum ersten Geburtstag erfolgreich mobilisiert. Dort hörten mindestens 15.000 Menschen Rednern wie Akif Pirinçci zu. »Dresden ist zu einem Symbol für antidemokratische Werte und Hassrede in Deutschland geworden, aber Dresden ist nicht die einzige Stadt, wo Rechte und deren Sympathisanten regelmäßig demonstrieren – da gibt es viele Orte, auch im Westen von Deutschland«, sagte Selmin Çalışkan und forderte von der Politik eine klare Positionierung gegen das exorbitant zunehmende Ausmaß rechter Gewalt. »Als Amnesty verwenden wir den Begriff Straflosigkeit, wenn es um Saudi-Arabien, Ägypten oder Libyen geht. Dass wir hier straffreie Räume haben – Räume, in denen ohne Konsequenzen schwere Gewalttaten verübt werden, Räume, die rechte Strukturen als sogenannte befreite Zonen übernommen haben –, das nehmen wir auch nicht hin.« Am Anti-Pegida-Protest nahmen auch viele Flüchtlinge teil, wie Haydar, der in Freital über Wochen hinweg Hass und Anfeindungen zu spüren bekam. Er ließ sich durch seine Erfahrungen nicht abschrecken, an diesem Abend auf die Straße zu gehen. »Es ist wichtig, die Perspektive derjenigen einzubeziehen, die von rassistischer Gewalt betroffen sind und ihre Stimme ernst zu nehmen«, sagte Theo. Auch Selmin Çalışkan forderte, mehr Perspektiven in die Debatte einzubeziehen: »Eigentlich haben wir den Erfahrungsschatz einer multikulturellen Gesellschaft, nur wird das in dieser Debatte überhaupt nicht sichtbar, weil Menschen mit Migrationsbiografien gegenwärtig kaum zu Wort kommen.« Andreas Koob

AMNESTY JOURNAL | 01/2016


»MENSCHEN LASSEN SICH NICHT DURCH ZÄUNE AUFHALTEN« Slowenische Behörden nennen ihn »physische Barriere«, in Wahrheit ist der kilometerlange, messerscharfe Stacheldrahtzaun zwischen Slowenien und Kroatien ein weiteres Beispiel für die Abschottungspolitik der Europäischen Union. Selmin Çalışkan, Generalsekretärin von Amnesty International Deutschland, ist im November 2015 nach Slowenien gereist, um sich vor Ort über die Situation der Flüchtlinge zu informieren. »Menschen lassen sich nicht durch Zäune aufhalten. Zäune zwingen sie nur dazu, noch gefährlichere Wege zu wählen«, sagt Selmin Çalışkan. Sie machte sich ein Bild vom slowenisch-kroatischen Grenzübergang bei Rigonce im Süden Sloweniens und dem Bahnhof von Dobova, der nur wenige Kilometer von der Grenze entfernt

ist. Außerdem besuchte sie ein Flüchtlingscamp sowie ein Aufnahmezentrum für Asylsuchende. Während ihres Aufenthalts in Slowenien traf sich Selmin Çalışkan auch mit Unterstützern und Unterstützerinnen sowie Ehrenamtlichen der slowenischen Amnesty-Sektion. In den Gesprächen ging es um die Versorgung von Flüchtlingen und die Frage, wie ihnen die Teilhabe an der slowenischen Gesellschaft erleichtert werden kann. In den vergangenen Wochen kamen im Schnitt täglich rund 7.000 Flüchtlinge nach Slowenien. Der Anteil der Flüchtlinge, die in Slowenien einen Asylantrag stellen, ist jedoch äußerst gering. Die meisten reisen weiter nach Österreich, Deutschland oder Schweden.

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Durch ganz unterschiedliche Veranstaltungen geben Amnesty-Mitglieder den Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme. Diese Aktionen vor Ort sind ein unentbehrlicher Teil der Arbeit von Amnesty International. Mehr Informationen darüber finden Sie auf http://blog.amnesty.de und www.amnesty.de/kalender

Foto: Ralf Rebmann

MUSIK FÜR FLÜCHTLINGSSCHUTZ

»Noch gefährlichere Wege.« Selmin Çalışkan in Dobova.

Amnesty kämpft für die Rechte von Flüchtlingen und dokumentiert Menschenrechtsverletzungen, die Geflüchtete erleiden. Ein CD-Projekt will diese Arbeit unterstützen. Auf dem Album »Displaced – Songs that can’t replace home« finden sich 14 Songs, die von Ängsten, Träumen und Hoffnungen erzählen – eingespielt im Sound der NDR Bigband, gesungen unter anderem von Roger Cicero, Laith Al-Deen und Jeff Cascaro. Das Album ist im Handel (11,99 Euro) oder online als Digitalalbum (9,99 Euro) erhältlich. Der Erlös kommt Amnesty zugute.

IMPRESSUM Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 E-Mail: info@amnesty.de Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion Amnesty Journal, Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, E-Mail: journal@amnesty.de Adressänderungen bitte an: info@amnesty.de Redaktion: Markus N. Beeko, Jessica Böhner, Andreas Koob, Anton Landgraf (V.i.S.d.P.), Ramin M. Nowzad, Katrin Schwarz

AKTIV FÜR AMNESTY

Mitarbeit an dieser Ausgabe: Çiğdem Akyol, Birgit Albrecht, Daniel Bax, Selmin Çalışkan, Jens Dehn, Ronny Hübner, Jürgen Kiontke, Heike Kleffner, Ralf Rebmann, Michael Krämer, Maximilian Popp, Michaela Ludwig, Wera Reusch, Carole Scheidegger, Uta von Schrenk, Maik Söhler, Lotta Suter, Antoine Verbij, Keno Verseck, Wolf-Dieter Vogel, Kathrin Zeiske, Marlene Zöhrer Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck: hofmann infocom, Nürnberg Vertrieb: Carnivora Verlagsservice, Berlin

Bankverbindung: Amnesty International, Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE 233 702050 0000 8090100, BIC: BFS WDE 33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00) Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und erscheint sechs Mal im Jahr. Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.

und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, für die Verbreitung im Internet oder für Vervielfältigungen auf CD-Rom.

ISSN: 2199-4587

Für unverlangt eingesandte Artikel oder Fotos übernimmt die Redaktion keine Verantwortung. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder. Die Urheberrechte für Artikel

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FREIHEIT IST EIN WERT, DER BLEIBT

IHR TESTAMENT FÜR DIE MENSCHENRECHTE Seit 1961 setzt sich Amnesty International weltweit für Opfer von Menschenrechtsverletzungen ein. Und da Amnesty aus Gründen der Unabhängigkeit jegliche staatlichen Mittel ablehnt, können besonders Erbschaften helfen, diese Arbeit auch in Zukunft sicher und langfristig planbar zu machen. Als gemeinnützige Organisation ist Amnesty von der Erbschaftsteuer befreit, d.h. jeder Cent kommt unserer Arbeit zugute. Gestalten Sie eine Zukunft, in der jeder Mensch in Würde, Recht und Freiheit leben kann und bedenken Sie Amnesty International in Ihrem Testament. Danke! Weitere Informationen senden wir Ihnen gerne zu. Nehmen Sie Kontakt mit uns auf unter 030 / 420 248-354 oder testament@amnesty.de.


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