www.amnesty.de/journal
das maGazin Für die menschenrechte
4,80 euro
amnesty journal
brieFmarathon Fünf Fälle aus fünf ländern
»schande Für euroPa« amnesty-delegation besucht die eu-außengrenze in italien
istanbul united ein Film über Fußballfans und die Gezi-Park-Proteste
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2015 dezember/ januar
das besondere GeschenK: die amnesty-edition von rosemarie trocKel
rosemarie trocKel »selF insPection«, 2014
Die erste amnesty edition bietet die von Rosemarie Trockel gestaltete Titelseite des Amnesty Journals (Ausgabe Februar/März 2014) als exklusive, limitierte und von der Künstlerin auf der Rückseite signierte Sammler-Edition.
rosemarie trocKel »siXteen candles«, 2014 Offset, Format: 38,5 x 51 cm, 300 g/qm, ungerahmt Auflage: 30 signierte und nummerierte Exemplare
260,00 Euro
rosemarie trocKel »selF insPection«, 2014 Offset, Format: 38,5 x 51 cm, 300 g/qm, ungerahmt Auflage: 30 signierte und nummerierte Exemplare
260,00 Euro
rosemarie trocKel »siXteen candles« und »selF insPection«, diPtychon, 2014 Offset, Format: zwei Grafikblätter à 38,5 x 51 cm, 300 g/qm, ungerahmt Auflage: 30 signierte und nummerierte Exemplare
520,00 Euro
rosemarie trocKel »siXteen candles«, 2014
Die Verkaufserlöse gehen vollständig an Amnesty International. Senden Sie bei Interesse einfach eine kurze E-Mail an: kunst@amnesty.de
Copyright: Rosemarie Trockel, VG Bild-Kunst, Bonn 2014 / Courtesy Sprüth Magers Berlin London
Anton Landgraf ist Redakteur des Amnesty Journals
Foto: Mark Bollhorst / Amnesty
editorial
Für viele ist die Kindheit … … die schönste Zeit des Lebens. Doch wer ein Gewehr tragen oder auf einer Kakaoplantage arbeiten muss, für den ist diese Lebensphase alles andere als unbeschwert. Kinder und Jugendliche sind besonders häufig Opfer von Gewalt und Ausbeutung, denn sie sind wehrlos und haben oft keine starken Fürsprecher. Nur manchmal ruft die Verletzung ihrer Rechte weltweite Empörung hervor – so wie im Fall der Kindersoldaten der »Lord’s Resistance Army« im nördlichen Uganda. Die Kampagne, die vor zwei Jahren deren Anführer Joseph Kony anprangerte, erreichte eine ungeahnte Aufmerksamkeit. Heute ist davon allerdings nicht mehr viel zu spüren, obwohl das Schicksal vieler Kindersoldaten weiterhin ungewiss ist. Es gibt aber auch ermutigende Entwicklungen, wie die Reportage »Rückkehr ins Leben« eindrücklich beschreibt (siehe Seite 16). Damit wollen wir an die UNO-Kinderrechtskonvention erinnern, die vor 25 Jahren verabschiedet wurde. Kein anderes Menschenrechtsabkommen wurde von so vielen Staaten unterzeichnet. Dass internationale Menschenrechtsabkommen von Regierungen zwar unterzeichnet, aber anschließend nicht umgesetzt werden, zeigt auch die UNO-Konvention gegen Folter, die vor 30 Jahren verabschiedet wurde (siehe Seite 39). Wie willkürlich und nahezu alltäglich in vielen Staaten der Welt weiterhin gefoltert wird, belegt der Bericht über die Situation auf den Philippinen (siehe Seite 40). Vor einigen Monaten hat Amnesty International deshalb eine Kampagne gegen Folter gestartet, an der Sie sich beteiligen können (www.amnesty.de/stopfolter). Eine direkte Möglichkeit, sich für Opfer von Menschenrechtsverletzungen einzusetzen, bietet auch der Briefmarathon, der am 3. Dezember startet (siehe Seite 46). Auch hier gilt: Je mehr Menschen mitmachen, umso größer ist der Druck auf die Verantwortlichen. Im vergangenen Jahr beteiligten sich Hundertausende Menschen in 83 Ländern an der Aktion und verschickten mehr als 2,3 Millionen Briefe, Faxe, E-Mails und SMS. Ein Rekord, den wir in diesem Jahr gerne brechen möchten. Besonders einfach können Sie sich übrigens auf der Journal-App an dieser Aktion beteiligen – einige Klicks genügen. Unsere nächsten Ausgaben sind bereits in Planung. Auch für 2015 bereitet Amnesty wichtige Aktionen und Kampagnen vor. Bis dahin wünscht Ihnen die Redaktion des Amnesty Journals schöne Feiertage und einen guten Start ins neue Jahr!
editorial
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inhalt
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Titelbild: Gezeichnet von Yayo Kawamura für das Amnesty Journal
thema 19 Warum eigentlich Kinderrechte? Von Else Engel
20 Zurück ins Leben
rubriKen 06 Weltkarte 07 Erfolge 10 Panorama 12 Nachrichten 13 Interview: Abel Barrera 15 Kolumne: Peter Franck 61 Rezensionen: Bücher 62 Rezensionen: Film & Musik 64 Briefe gegen das Vergessen 66 Aktiv für Amnesty 67 Selmin Çalışkan über Mauern
Joseph Konys »Lord’s Resistance Army« entführte von Mitte der achtziger Jahre an innerhalb von zwei Jahrzehnten in Norduganda Zehntausende Kinder. Sie wurden als Kindersoldaten und Sklaven rekrutiert. Fast die Hälfte von ihnen waren Mädchen. Viele Überlebende sind inzwischen heimgekehrt – gebrochen und verhaltensauffällig. Nun sollen Projekte den ehemaligen Kindersoldatinnen aus dem Trauma ihrer Kindheit in eine Zukunft als Frau helfen. Von Kirsten Milhahn
26 Das Recht auf Kindheit Sie werden minderjährig verheiratet. Sie müssen in Minen und auf Plantagen schuften. Sie werden als kleine Soldaten missbraucht. Sie werden in Haft gefoltert und in Schulen diskriminiert. Weltweit werden die Rechte von Millionen Kindern verletzt. Auch in Deutschland. Von Uta von Schrenk
32 Wie Respekt und Würde aussehen 25 Jahre UNO-Kinderrechtskonvention – 25 Jahre internationale Erfolge und Misserfolge. Ein neuer Bildband zeigt eindrücklich, wie Kinder auf allen Kontinenten leben und was vielen von ihnen noch immer fehlt. Von Maik Söhler
Fotos oben: Anne Ackermann | Yayo Kawamura | Giuseppe Chiantera | Port au Prince Pictures
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amnesty journal | 01/2015
36
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berichte
Kultur
36 »Das ist eine Schande für Europa«
54 Treffer versenkt
Die Abschottungspolitik der EU drängt immer mehr Flüchtlinge auf die gefährliche Route über das Mittelmeer. Eine internationale Amnesty-Delegation reiste daher Ende September nach Italien, um sich ein Bild von der Situation zu machen. Selmin Çalışkan, Generalsekretärin der deutschen AmnestySektion, schildert ihre Eindrücke und Erlebnisse.
39 Für eine Welt ohne Folter Historischer Meilenstein: Vor 30 Jahren wurde die UNO-Konvention gegen Folter verabschiedet. Von Ramin M. Nowzad
40 Folter als Freizeitvergnügen Auf den Philippinen ist der Einsatz von Folter weit verbreitet. Inhaftierte sind der Willkür von Polizei und Sicherheitskräften schutzlos ausgeliefert. So wie die alleinerziehende Mutter Alfreda Disbarro. Von Daniel Kreuz
44 Warum wir Bhopal nicht vergessen dürfen Bei dem Giftgasunglück im indischen Bhopal starben 1984 Tausende Menschen. Die Verantwortlichen wurden bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen. Von Michael Gottlob
46 Dein Brief kann Leben retten Zum Internationalen Tag der Menschenrechte startet Amnesty International auch in diesem Jahr einen Briefmarathon – die weltweit größte Briefaktion für Menschen in Gefahr.
inhalt
Der Dokumentarfilm »Istanbul United« untersucht die Rolle von Fußballfans bei den sozialkritischen Protesten im Istanbuler Gezi-Park im Sommer 2013. Von Deniz Yücel
56 »Wie kann man diese Barbarei vergessen?« Aynur Doğan ist die bekannteste kurdische Sängerin der Türkei. Ein Gespräch über die Diskriminierung einer Kultur und die Verfolgung einer Ethnie.
58 Tot und doch präsent Der Roman »Die Ewigen« des argentinischen Schriftstellers Martín Caparrós erzählt vom Leben und Sterben in einem Land, in dem während der Militärdiktatur Tausende Regimegegner »verschwanden«. Von Maik Söhler
59 Multiple Weltidentitäten Der Liebesroman »Americanah« der nigerianischen Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie erzählt von den vielfältigen Formen des Rassismus. Von Maik Söhler
60 Wichtig ist nur das Dementi Kongo, Angola, Nicaragua: Ein neues Sachbuch analysiert, wie und warum die USA im Kalten Krieg manchmal Söldner den eigenen Soldaten vorzogen. Von Maik Söhler
63 Musikalische Spanienkämpfer Die opulente Edition »Spanien im Herzen« widmet sich den Liedern des Widerstands gegen den faschistischen General Franco. Von Daniel Bax
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deutschland Schweren Übergriffen waren die Bewohner eines Flüchtlingsheims in Nordrhein-Westfalen ausgesetzt. Wochenlang misshandelten Wachleute die Flüchtlinge, die in einer ehemaligen Kaserne untergebracht sind: Auf Handybildern ist ein am Boden liegender, gefesselter Mann zu sehen, dem ein Stiefel ins Genick gedrückt wird. Ein anderer Flüchtling wird gezwungen, sich in sein Erbrochenes zu legen. »Die brutalen Vorfälle zeigen ein menschenverachtendes Weltbild und erschreckenden Rassismus«, sagte ein Sprecher von Pro Asyl. »Flüchtlingsunterkünfte dürfen kein rechtsfreier Raum sein.« Pro Asyl und andere Organisationen kritisieren seit Jahren die schlechten Bedingungen in den Heimen und fordern die Abschaffung von Sammelunterkünften.
italien »Den Ausweis bitte«: Nach Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis suchte die Polizei ab Mitte Oktober zwei Wochen lang gezielt in Zügen, an Flughäfen, Bahnhöfen und Autobahnen. Zivilgesellschaftliche Initiativen reagierten auf die Aktion mit Reisewarnungen. Sie kritisierten, dass solche Kontrollen in der Regel auf »racial profiling« basieren, Personen also vor allem nach Herkunft und Hautfarbe beurteilt werden. Amnesty betonte, dass Menschen, die nach Europa kommen wollen, kaum ein offener Weg offensteht. Initiiert wurde die Polizeiaktion von der italienischen Regierung im Rahmen ihrer EU-Ratspräsidentschaft. Außer der Schweiz nahmen alle Länder des Schengenraums teil.
iraK Offenbar aus Rache für Taten des »Islamischen Staats« begehen schiitische Milizen Kriegsverbrechen an Sunniten. Ein aktueller Amnesty-Bericht belegt religiös motivierte Gewalttaten vor allem in den Städten Bagdad, Samarra und Kirkuk. Dort wurden Dutzende nicht identifizierter Leichen gefunden. Dass die Toten mit Handschellen gefesselt waren und Schusswunden am Kopf aufwiesen, deutet auf gezielte Hinrichtungen hin. »Indem die irakische Regierung die Milizen nicht davon abhält, solch schreckliche Taten routinemäßig zu begehen, billigt sie Kriegsverbrechen und fördert einen Teufelskreis von religiös motivierter Gewalt, der das Land weiter auseinanderreißt«, sagte Donatella Rovera, Krisenbeauftragte von Amnesty International.
Ausgewählte Ereignisse vom 3. September bis 7. November 2014
zentralaFriKanische rePubliK Mit Sturmgewehren und Handgranaten durch die Hauptstadt: Anhänger einer Miliz griffen im Oktober in einem Stadteil von Bangui die Zivilbevölkerung an. Sie töteten drei Menschen, verletzten mindestens 20 und brannten Häuser sowie eine Kirche nieder. Anwohner berichteten Amnesty von einem gewalttätigen Raubzug, der erst durch später eintreffende UNO-Soldaten beendet wurde. Bei den Tätern handelt es sich um Angehörige der christlich-animistischen Anti-Balaka-Miliz. Möglicherweise war der Angriff eine Vergeltungsaktion, da ein Mitglied der Miliz bei einem versuchten Diebstahl kurz zuvor schwer verletzt worden war. In der Zentralafrikanischen Republik verüben Milizen immer wieder Gewaltexzesse. Amnesty hat die Regierung wiederholt aufgefordert, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.
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iran Die Nachricht sorgte für weltweite Empörung: Eine Iranerin ist hingerichtet worden, weil sie angeblich einen Mann tötete, der versucht hatte, sie zu vergewaltigen. Die 26-jährige Reyhaneh Jabbari war bereits 2009 zum Tod verurteilt worden. Aufgrund fehlerhafter Ermittlungen und eines unfairen Gerichtsverfahrens blieben die genauen Umstände des Vorfalls ungeklärt. Jabbari selbst hatte ausgesagt, dem Mann eine Stichverletzung zugefügt zu haben und sprach von einer weiteren an der Tat beteiligten Person. Während ihrer Haft war sie zudem gefoltert und misshandelt worden. Ihrem Anwalt gelang es nicht, eine Neuverhandlung des Falls zu erreichen. Amnesty hatte sich mit Eilappellen für Jabbari eingesetzt.
indien Das Massaker liegt 30 Jahre zurück und noch immer gibt es keine Gerechtigkeit: Im November 1984 waren in Indien innerhalb von vier Tagen mindestens 3.000 Sikhs getötet worden. Nach der Ermordung von Premierministerin Indira Gandhi durch ihre Leibwächter, die der Sikh-Religion angehörten, war es zu grausamen Gewalttaten gekommen. Aufgebrachte Massen vergewaltigten und mordeten, während die Behörden weitgehend untätig blieben. Untersuchungen deuten darauf hin, dass führende Politiker zu einzelnen Taten angestiftet hatten. Seit 30 Jahren herrscht Straffreiheit. Für die Angehörigen der Opfer und Überlebende, die auf Gerechtigkeit warten, initiierte Amnesty jetzt eine neue Petition.
amnesty journal | 01/2015
Foto: Martin Roubíček
erFolGe
Unüberhörbar. Amnesty-Aktivisten protestieren vor dem tschechischen Bildungsministerium gegen die Diskriminierung von Roma an Schulen.
ausschluss auFGeFloGen tschechien Immer wieder landen Roma-Kinder pauschal auf Sonderschulen. Besonders oft ist das in Tschechien der Fall. Damit könnte bald Schluss sein, denn am 25. September leitete die EU-Kommission ein Verfahren gegen das Land ein. Angeprangert wird die Nicht-Einhaltung der Antidiskriminierungsrichtlinie. So stammt in tschechischen Sonderschulen nahezu jedes dritte Kind aus einer Roma-Familie, obwohl Roma nur etwa drei Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Ein deutliches Missverhältnis, das auf institutionellen Rassismus hindeutet. Bereits 2013 hatte Amnesty International gemeinsam mit Roma-Organisationen 100.000 Unterschriften gesammelt und
vorbildliche PartnerschaFtsrechte
Ab 2016 wird es die eingetragene Partnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare auch in Estland geben. Teil des Gesetzes ist auch ein Adoptionsrecht, das es Schwulen und Lesben ermöglicht, die Kinder der Partnerin oder des Partners zu adoptieren. Unter bestimmten Voraussetzungen kann ein Paar auch die Elternschaft für nicht-leibliche Kinder übernehmen. Zudem gibt es ähnliche rechtliche und finanzielle Vorteile wie für Verheiratete. Das neue Gesetz wurde vom Parlament verabschiedet, obwohl Umfragen zufolge eine knappe Mehrheit der estnischen Bevölkerung gegen die Neuregelung ist: »Trotz einer starken Opposition und großem Druck haben die Abgeordneten für Demokratie und Menschenrechte gestimmt«, sagte Imre Sooäär, einer der Abgeordneten, die das Vorhaben initiiert hatten. Er
gefordert, Verfahren gegen Länder einzuleiten, die Roma diskriminieren. Dass dies jetzt erstmals geschah, könnte eine Signalwirkung haben, etwa auch für die Slowakei oder Ungarn sowie weitere Länder, in denen Roma nicht denselben Zugang zu Bildung haben wie Nicht-Roma. Das Bildungssystem ist jedoch nicht der einzige Bereich, in dem Roma in vielen europäischen Ländern noch immer von der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen werden, auch bezüglich Wohnen, Arbeitsmarkt und Gesundheitsversorgung besteht erheblicher Reformbedarf. Mit dem Verfahren gegen Tschechien setzt die EU-Kommission ein wichtiges Signal. Zumindest dort können künftige Schulkinder auf Veränderung hoffen.
estland
dankte seinen Kollegen für ihre Zustimmung, die einen Schritt in eine tolerantere Gesellschaft möglich mache. Auch das estnische Menschenrechtszentrum sprach von einem historischen Beschluss. Estland kommt damit eine Vorreiterrolle zu. Das gilt insbesondere im Vergleich zu Litauen, wo ein »Gesetz zum Schutz Minderjähriger« homosexuelle Inhalte weitgehend aus der Öffentlichkeit verbannt. Mit dem »Baltic Pride« war es Aktivistinnen und Aktivisten aus dem Baltikum in den vergangenen Jahren trotz Anfeindungen gelungen, für mehr Akzeptanz von Lesben und Schwulen sowie Bi-, Trans- und Intersexuellen zu kämpfen. Von 2016 an wird es in 15 EU-Mitgliedsstaaten ein Partnerschaftsgesetz geben, dessen Ausgestaltung sich allerdings je nach Land deutlich unterscheidet.
erFolGe
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Foto: Amnesty
»Folter ist ein Abbild des Hasses.« Ángel Amílcar Colón Quevedo.
nach der tortur Fünf Jahre war Ángel Amílcar Colón Quevedo in Mexiko inhaftiert – ohne Prozess und unter katastrophalen Bedingungen: Er musste Folter und Rassismus erleiden. Jetzt ist er wieder frei, auch dank des Einsatzes von Amnesty. Bei aller Freude bleibt das Entsetzen über die Umstände, die sein Fall offenlegt. Sein Kind hatte Krebs und er kein Geld für die Behandlung. Ángel Colón verließ Honduras und wollte in den USA Geld verdienen, um sein Kind zu retten. Dorthin ist er aber nie gelangt. Seine Reise endete im Norden Mexikos in der Stadt Tijuana. Was mit Zuversicht begann, wurde zu einem Albtraum, denn es folgte eine unvorstellbare Tortur. Am 9. März 2009 wird Ángel Colón von der Polizei bei einer Razzia aufgegriffen und festgenommen. Er wird geschlagen, in die Rippen und in den Bauch getreten. Mexikanische Medien führen ihn als Kriminellen vor, sonst dringt nichts nach außen. Er selbst kann erst fünf Jahre später berichten, seine Augen verdunkeln sich, er weint hemmungslos. Man bringt ihn auf eine Militärbasis im westlichen Tepic, wo er weiter geschlagen wird, während er Schreie von Mitinhaftierten hört. Ihm wird eine Plastiktüte übergestülpt, bis er fast erstickt. Rassistische Beschimpfungen und Erniedrigungen folgen. Colón geschah das, wovor sich einer Amnesty-Umfrage zufolge nahezu zwei Drittel der mexikanischen Bevölkerung fürchten, wenn sie in Kontakt mit der Polizei oder anderen Behörden kommen: Folter. Und die geht weiter, bis er ein Geständnis unterschreibt für etwas, das er nicht getan hat. Der Albtraum war damit jedoch noch nicht beendet: Colón wurde bezichtigt, in das organisierte Verbrechen verwickelt zu sein. Er widerrief seine Aussage und wies auf die Folter hin – doch vergeblich. In seiner Akte gibt es nur eine Notiz, ernste
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Ermittlungen blieben aus. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätten Experten dem Folterverdacht nachgehen müssen. So sieht es das Istanbul-Protokoll vor, dessen Anwendung die UNO allen Staaten empfiehlt. Aber der Vater blieb mehr als fünf Jahre hinter Gittern. Statt Geld schickte Colón Videonachrichten an seine Familie: Darin lächelt er und ist doch dem Verzweifeln nahe. Lange Zeit hatte er gar keinen Kontakt. Ab Juli 2014 setzt sich Amnesty für ihn ein. Im Oktober wurde Colón schließlich ohne weitere Auflagen aus der Untersuchungshaft entlassen. Der Fall wirft viele Fragen auf, auf die es bisher keine Antworten gibt. Einiges deutet darauf hin, dass Rassismus im Spiel war. Amnesty geht davon aus, dass Colón als afro-honduranischer Migrant zur Zielscheibe wurde. Auch er grübelt über die Motive hinter den Erniedrigungen: »Folter ist ein Abbild des Hasses«, sagt er. Zugleich lässt Colóns Blick niemanden an seiner überschäumenden Freude zweifeln. Er will mit dem Erlebten abschließen, allerdings erst, wenn die Verantwortlichen ermittelt und bestraft sind: »Niemand soll dasselbe erleben müssen wie ich.« Sein Charisma verleiht der Forderung Nachdruck. Dass die Chancen dafür schlecht stehen, weiß er selbst nur zu gut. Das zentrale Problem ist die Straflosigkeit, die in Mexiko gegenwärtig so weit verbreitet ist wie in kaum einem anderen Land. Wenn er stark ist, kann Ángel Colón in Honduras jetzt wieder der Umweltaktivist sein, der er einmal war, mit seinem jüngsten Kind spielen und mit seiner Partnerin zusammensein. Die Durchreise ist beendet. In die USA muss er nicht mehr, denn seinem ältesten, krebskranken Sohn kann er nicht mehr helfen: Er starb vor fünf Jahren, als Colón in Mexiko war. Text: Andreas Koob
amnesty journal | 01/2015
einsatz mit erFolG Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen mit Appellschreiben an den »Urgent Actions«, den »Briefen gegen das Vergessen« und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz drohende Menschenrechtsverletzungen verhindert und Menschen in Not hilft, zeigen diese Beispiele.
aus der haFt entlassen
Der Blogger Nguyen Van Hai ist wieder frei. Unter einem Decknamen hatte er sich zu Fragen der sozialen Gerechtigkeit geäußert, bevor er 2012 wegen regierungsfeindlicher Propaganda angeklagt und in einem unfairen Gerichtsverfahren zu zwölf Jahren Haft verurteilt worden war. Nach vier Jahren kam er nun vorzeitig frei und reiste in die USA aus. »Nguyen Van Hai ist kein Einzelfall. In Vietnam sind noch viele weitere gewaltlose politische Gefangene in Haft, die nun auch endlich freigelassen werden müssen. Die Regierung muss ihr hartes Vorgehen gegen Menschen, die ihr Recht auf freie Meinungsäußerung wahrnehmen, beenden«, sagte Rupert Abbott, Direktor der Abteilung Südostasien und Pazifik von Amnesty International.
vietnam
justizsKandal oFFenGeleGt
Nach 17 Jahren Gefängnis ist Susan Mellen Anfang Oktober in Kalifornien freigesprochen und aus der Haft entlassen worden. Wie sich bei einer Wiederaufnahme des Verfahrens herausstellte, beruhte das erste Urteil gegen sie auf einer Falschaussage. Ein Schwurgericht hatte die dreifache Mutter 1997 für den
oPPositionsFührerin FreiGelassen
sudan Die sudanesische Oppositionsführerin Mariam al-Sadiq al-Mahdi ist am 9. September freigelassen worden. Zuvor war sie beinahe einen Monat lang ohne Anklage festgehalten worden. Mitarbeiter des Geheimdiensts hatten sie am Flughafen von Khartum festgenommen, nachdem sie als stellvertretende Vorsitzende der oppositionellen »National Umma Party« (NUP) ein Treffen Oppositioneller in Paris besucht hatte. Mariam al-Sadiq al-Mahdi ist die Tochter von Sadiq alMahdi, dem Vorsitzenden der NUP. Er war bereits am 17. Mai festgenommen und wegen »Untergrabung der Verfassung« angeklagt worden, weil er Menschenrechtsverletzungen kritisiert hatte, die von einer mit der Regierung kooperierenden Miliz verübt wurden. Auch er war nach einem Monat wieder freigelassen worden. Beide Fälle sind symptomatisch für willkürliche Schikanen gegen Oppositionelle im Sudan.
amnestie Für menschenrechtler
myanmar Der Menschenrechtsverteidiger Kyaw Hla Aung ist seit dem 7. Oktober wieder frei. Allerdings musste der Angehörige der muslimischen Rohingya-Minderheit versichern, sich zukünftig nicht an »rechtswidrigen Aktivitäten« zu beteiligen, sonst droht ihm eine erneute Freiheitsstrafe. Seine vorzeitige Freilassung erfolgte im Zuge einer Präsidial-Amnestie. Kyaw Hla Aung war im Juli 2013 inhaftiert und im September 2014 zu 18 Monaten Haft verurteilt worden. Er befindet sich in schlechter gesundheitlicher Verfassung. »Die Freilassung ist zu begrüßen«, so Amnesty International, »es hätte aber nie zu einer Verurteilung kommen dürfen«.
vor haFtende entlassen
Nach 13 Monaten Haft ist die philippinische Arbeitsmigrantin Ruth Cosrojas Gonzales vorzeitig freigelassen worden. Die dreifache Mutter war im Oktober 2013 in einem unfairen Gerichtsverfahren zu 18 Monaten Gefängnis und 300 Peitschenhieben verurteilt worden, weil sie angeblich gewerblichen Sex organisiert hatte. Ihrer Aussage zufolge hatte ein Mann ihr und drei Freundinnen im August 2013 zunächst Putzjobs angeboten, ihnen dann aber vorgeworfen, Sexarbeiterinnen zu sein, und sie der Religionspolizei übergeben. Die Polizei behauptete, Gonzales auf »frischer Tat« ertappt zu haben. Das Verfahren gegen Gonzales war nicht öffentlich und erfolgte ohne angemessene Verteidigung. Vor ihrer Freilassung hatte sie bereits mindestens die Hälfte der Peitschenhiebe erhalten. saudi-arabien
Fotos: Amnesty / privat, Brad Graverson / Daily Breeze / AP / pa
usa
Mord an ihrem Ex-Freund, dem zur Tatzeit obdachlosen Rick Daly, verurteilt. Das Verfahren war bereits damals als unzureichend kritisiert worden. Tatsächlich sollen Mitglieder einer gewalttätigen Gang für den Mord verantwortlich sein. Das Projekt »Innocence Matters«, das sich für unschuldig Verurteilte einsetzt, hatte eine Neuauflage des Falls initiiert. Ein weiterer unschuldig wegen Mordes Verurteilter war kurz zuvor im Bundesstaat Texas entlassen worden: Er saß neun Jahre in Haft – zeitweise in der Todeszelle.
Ausreise in die USA. Nguyen Van Hai nach seiner Freilassung.
erFolGe
Verurteilt aufgrung einer Falschaussage. Susan Mellen saß 17 Jahre in Haft.
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Foto: Todd Darling / Polaris / laif
honGKonG: mit schirm, charme und schlaGstocK
Tränengas- und Schlagstockeinsätze konnten die »Regenschirm-Bewegung« in Hongkong bisher nicht stoppen. Seit Ende September campieren Demonstrierende mitten im Zentrum der Millionenstadt und blockieren weite Teile des Regierungsviertels sowie zwei wichtige Geschäftsviertel. Sie fordern freie Wahlen im Jahr 2017, bisher zeichnet sich jedoch kein Entgegenkommen der chinesischen Regierung ab. Anders als 1997 versprochen, sollen die Bürger der Sonderverwaltungszone den künftigen Verwaltungschef lediglich aus einer Reihe von Kandidaten wählen können, die zuvor von Peking bestimmt wurden. Die Proteste gingen zunächst von Studierenden aus, inzwischen haben sich jedoch auch andere Gruppen und zahllose Bürger angeschlossen. Einzelne Protestteilnehmer wurden von der Polizei schwer misshandelt, andere inhaftiert. Neben staatlicher Repression gab es auch Angriffe aus der Bevölkerung auf die Demonstrierenden, darunter sexistische Übergriffe, wie Amnesty feststellte.
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australien: don’t enter down under
Als wäre Australien stolz auf seine rüde Behandlung von Flüchtlingen, schaltet die Regierung nun auch noch Anzeigen in den zentralen Herkunftsländern der Migranten. Darauf ist ein finsterer Himmel und wogendes Meer zu sehen. Ein Boot treibt umher, es wirkt verloren wie eine Nussschale. Über dem Foto steht als Hinweis an die Flüchtlinge: »Keine Chance – Du wirst in Australien keine Heimat finden«. Außerdem ist noch eine durchgestrichene Silhouette Australiens zu sehen. Die bizarre Anzeige erscheint in 17 Sprachen und ihre Botschaft ist klar: Die australische Flüchtlingsabwehr kennt kein Pardon. Für diejenigen, die es immer noch nicht verstanden haben, erklärt ein General der Küstenwache in einem Video auf Youtube, wie Flüchtlinge abgefangen und »ausnahmslos« auf entlegene Inseln im Pazifik verbracht werden. Amnesty hat gegen diese menschenverachtende Praxis der Offshore-Internierung mehrfach protestiert. Auch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sind dort in Lagern ohne jegliche Standards untergebracht. (Foto: Flüchtlingsunterkunft auf Nauru.) Foto: Vlad Sokhin / Panos Pictures
Panorama
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Foto: Paulo Nunes dos Santos / Polaris / laif
nachrichten
Suizidgefährdete werden nicht unterstützt, sondern zusätzlich belastet. Protestaktion vor dem irischen Parlament, Juli 2013.
hohe hürden In Irland sollte ein neues Gesetz das Abtreibungsverbot etwas lockern. Doch in der Praxis sind die Hürden so hoch, dass ein Schwangerschaftsabbruch nach wie vor kaum möglich ist. Mit dem im Juli 2013 verabschiedeten Gesetz zum »Schutz des Lebens während der Schwangerschaft« war zu hoffen, dass das katholisch geprägte Land einen ersten Schritt hin zur Lockerung seines strengen Abtreibungsverbots wagen würde. Zuvor waren Abtreibungen generell verboten. Nun dürfen sie zumindest dann vorgenommen werden, wenn durch die Geburt das Leben der werdenden Mutter in Gefahr ist. Die Klausel wird aber eng ausgelegt: So stuft das Gesetz das Selbstmordrisiko einer Frau, die nach einer Vergewaltigung schwanger wird und unter schweren Depressionen leidet, als »nicht akut lebensgefährlich« ein. Für diesen Fall ist vorgeschrieben, dass zwei Psychiater und ein Geburtshelfer attestieren müssen, dass eine Entbindung für die Frau lebensbedrohlich wäre. Erst dann ist ein Schwangerschaftsabbruch möglich – statt Suizidgefährdete zu unterstützen, belastet die Regelung sie zusätzlich.Noch deutlicher werden die Unzulänglichkeiten
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des Gesetzes bei den Richtlinien zu seiner Umsetzung, an die sich die Ärzte halten müssen: »Zweck dieses Gesetzes ist es, das generelle Abtreibungsverbot in Irland zu bekräftigen«, heißt es im Vorwort des über hundertseitigen Dokuments. Daher unterschrieben im vergangenen Jahr ein Drittel aller irischen Psychiater eine Erklärung, dass sie Abtreibung unter allen Umständen ablehnen. Hinzu kommt, dass der erste Psychiater, der eine Frau für das Gutachten untersucht, auch den zweiten Arzt wählt – und sie im Zweifelsfall an einen gleichgesinnten Kollegen weitervermittelt. Außerdem darf jeder Arzt die Erstellung des Gutachtens im Voraus verweigern. Viele Betroffene suchen vergeblich einen Arzt nach dem anderen auf, bis die Schwangerschaft schließlich so weit fortgeschritten ist, dass es für einen Abbruch zu spät ist. So erging es einer jungen Immigrantin: Die Frau war nach einer Vergewaltigung in ihrem Heimatland schwanger geworden. Bei ihrer ersten Untersuchung in Irland befand sie sich in der neunten Schwangerschaftswoche und bat um eine Abtreibung. Einer der Ärzte stufte sie als nicht selbstmordgefährdet ein. Sie trat in einen Hungerstreik, weil sie
lieber sterben als das Kind austragen wollte. Die Mühlen der Gesundheitsbürokratie nahmen so viel Zeit in Anspruch, dass ein Gericht sie im August 2014 schließlich zur Geburt des Kindes zwang, weil die Schwangerschaft bereits zu weit fortgeschritten sei. Die UNO-Menschenrechtskommission hat diese Verschleppungstaktik in einem Bericht ausdrücklich kritisiert und als »zusätzliche mentale Folter« für Suizidgefährdete bezeichnet. Sie forderte die irische Regierung auf, das Gesetz unverzüglich zu revidieren und in Fällen von Vergewaltigung, Inzest, fötaler Missbildung sowie bei ernsthaften gesundheitlichen Risiken für die Mutter Ausnahmen vom Abtreibungsverbot zuzulassen. Darüber hinaus forderte die Kommission klare Richtlinien, ab wann eine Krankheit als »lebensbedrohlich« zu betrachten ist. Außerdem appellierte sie an die Regierung, mehr Informationen über medizinische Beratungsangebote und legale Abtreibungsmöglichkeiten im Ausland bereitzustellen. Amnesty rief die irische Regierung auf, die Empfehlungen der Kommission umzusetzen. Text: Julia Nadenau
amnesty journal | 01/2015
Abel Barrera (54) ist Leiter des Menschenrechtszentrums »Tlachinollan« in Tlapa im mexikanischen Bundesstaat Guerrero. Seine Organisation begleitet die Angehörigen der Verschwundenen von Iguala. Barrera hat 2011 den Menschenrechtspreis der deutschen Sektion von Amnesty International erhalten.
abel barrera Foto: Christian Ditsch / Amnesty
interview
»sie Können tun, was sie wollen« 43 Studenten verschwanden und sechs Menschen starben am 26. September bei einem Polizeieinsatz in der Stadt Iguala im mexikanischen Bundesstaat Guerrero. Die Vermissten wurden nach ihrer Festnahme der Mafiabande »Guerreros Unidos« übergeben. Vieles spricht dafür, dass sie hingerichtet wurden. Seit dem Verschwinden der Studenten kommt Mexiko nicht zur Ruhe. Gibt es Hoffnung, dass die Vermissten noch leben? Bislang hat die Generalstaatsanwaltschaft keine Beweise vorgelegt. Sie hat lediglich drei Geständige präsentiert, die erklärten, die Studenten seien von Kriminellen getötet und verbrannt worden. Aber warum sollten ausgerechnet diese Aussagen stimmen? Es gibt noch viel mehr Zeugen. Einige Studenten beschuldigen Polizisten, an den Morden beteiligt gewesen zu sein. Die Strafverfolger wollen alle Aufmerksamkeit auf ein paar Jugendliche richten, die für die Organisierte Kriminalität arbeiten. Man will den Eindruck erwecken, nur die Mafia sei das Problem, und so von der Verantwortung der Regierung ablenken. Der Bürgermeister von Iguala, José Luis Abarca, der den Befehl für den Einsatz gegeben hat, wurde aber mitsamt seiner Gattin María de los Angeles festgenommen. Ja, aber erst mehr als fünf Wochen nach der Tat. Zunächst schützte ihn der Gouverneur des Bundesstaates Angel Aguirre. Obwohl die Verantwortung des Bürgermeisters offensichtlich war, ließ ihn Aguirre mit der Begründung laufen, Abarca genieße Immunität. Dabei gibt es in solchen Situationen durchaus Möglichkeiten, jemanden festzuhalten. Alles spricht dafür, dass der Bürgermeister schon letztes Jahr an der Ermordung dreier Oppositioneller beteiligt war. Damals hat Aguirre nichts unternommen, um die Tat aufzuklären. Auch die mexikanische Bundesregierung ignorierte den Fall. Diese Straflosigkeit schuf den Boden für Angriffe wie den auf die Studenten.
nachrichten
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interview
Der Bürgermeister hat die Festnahme der Lehramtsanwärter angeordnet. Aber doch nicht ihre Ermordung, oder? Abarca hat es mit nicht ausgebildeten Polizisten zu tun. Sie kennen keinen Respekt der Menschenrechte, arbeiten für die Mafia und sind nur gewohnt, ihre Waffen zu benutzen. Wenn er seinem Polizeichef den Befehl gibt: »Stoppt sie, unterwerft sie«, dann heißt das im kriminellen Code: Macht Schluss mit ihnen. Die lokale Polizei hat die Studenten zwei Stunden lang beschossen. Sechs Menschen sind gestorben, doch Abarca hat nicht eingegriffen. Auch Aguirre hat nichts getan. Und andere Sicherheitskräfte? Sowohl föderale Beamte als auch bundesstaatliche Polizisten waren vor Ort, haben aber nichts unternommen. Zur Erklärung sagten sie später, sie hätten keinen Befehl bekommen. In der Nähe waren auch Soldaten stationiert. Die haben ebenfalls nichts getan. Dabei kannten sie die kriminelle Struktur in Iguala genau. Sie wussten, dass viele Menschen in den letzten Jahren verschwunden sind, und dass es Massengräber gibt. Man hat das alles hingenommen. Deshalb fühlen sich Leute wie das Bürgermeisterpaar so sicher. Für sie scheint es selbstverständlich, dass sie tun und lassen können, was sie wollen. Wie ist diese Ignoranz zu erklären? Die Organisierte Kriminalität hat die Regierung unterwandert. Es gibt eine De-Facto-Allianz mit der Mafia auf allen Ebenen – föderal, bundesstaatlich und lokal. Nicht nur in Guerrero, sondern in vielen Bundesstaaten kontrollieren Verbrecher die Rathäuser. Aber es gibt auch eine historische Komponente: Seit dem schmutzigen Krieg in den siebziger Jahren, der insbesondere in Guerrero stattfand, wurden die Verantwortlichen für das Verschwindenlassen nicht zur Rechenschaft gezogen. Fragen: Wolf-Dieter Vogel
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amnesty journal | 01/2015
Thema: Kinderrechte
Die Kindheit soll die schönste Zeit des Lebens sein. Millionen Kinder und Jugendliche erleben aber weder Zuneigung noch Freude. Sie kämpfen als Soldaten, werden auf Plantagen und in Minen ausgebeutet oder müssen sich prostituieren. Doch es gelingt auch immer wieder, Kinder aus ihrer verzweifelten Lage zu befreien und sie zurück ins Leben zu führen.
Illustration: Yayo Kawamura
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Keine sĂźĂ&#x;e Kindheit. Jackfruitbaum in Gulu, Uganda.
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Warum eigentlich Kinderrechte? Die Frage, warum wir uns in dieser Ausgabe des Amnesty Journals Kinderrechten widmen, ist leicht zu beantworten. Vor 25 Jahren, am 20. November 1989, verabschiedete die UNO die Kinderrechtskonvention, die Menschenrechte für unter 18-Jährige enthält. Doch warum gibt es überhaupt eine gesonderte Kinderrechtskonvention? Grundsätzlich gelten die Menschenrechte für alle Menschen, ungeachtet ihres Alters, doch werden Kinder und Jugendliche nicht immer selbstverständlich mitbedacht. Beispielsweise wenn in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte steht: »Jeder Mensch hat das Recht auf freie Meinung und Meinungsäußerung«. Die Kinderrechtskonvention wiederholt daher einige Menschenrechte, die auch in anderen Abkommen festgehalten sind. Damit macht sie unmissverständlich klar, dass Kinder ebenfalls Träger dieser Rechte sind. In anderen Punkten geht die Kinderrechtskonvention konkreter auf den Schutz oder die Teilhabe von Kindern ein als andere Abkommen. Sie gibt auch genauer Auskunft, welche Rechte beispielsweise Flüchtlingskinder oder Kinder getrennter Eltern haben. Außerdem einigten sich die Staaten darauf, die Todesstrafe für Minderjährige explizit zu verbieten. Die Kinderrechtskonvention ist das Menschenrechtsabkommen, das von den meisten Staaten weltweit ratifiziert wurde. Für Amnesty International und andere Organisationen ist sie ein wichtiges Instrument, um die Rechte von Kindern und Jugendlichen weltweit einzufordern. Amnesty setzt sich zum Beispiel für die Rechte von Kindern in Haft, in gewaltsamen Konflikten und auf der Flucht ein, aber auch für Kinder, die von Vertreibung oder der Todesstrafe bedroht sind, oder für Kinder, die als Angehörige einer Minderheit diskriminiert werden. Amnesty leistet zudem mit vielfältiger Menschenrechtsbildung einen wichtigen Beitrag dazu, sowohl Kinder als auch Erwachsene für Kinderrechte zu sensibilisieren. Dieser Einsatz erfordert eine breite Unterstützung und einen langen Atem. Über beides verfügen wir. Dennoch könnte Amnesty die Kinderrechte noch stärker in ihrer Menschenrechtsarbeit verankern.
Foto: Anne Ackermann
Else Engel ist Mitglied der Koordinationsgruppe Kinderrechte der deutschen Amnesty-Sektion.
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Netzwerk Kinderrechte mit regelmäßigen Aktionsvorschlägen: www.amnesty.de/netzwerke-fuer-diemenschenrechte#netzwerkkinderrechte, E-Mail: netzwerk-kinderrechte@amnesty.de Facebook: www.facebook.com/AmnestyInternational. ChildrensHumanRights
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Zur체ck ins Leben Opfer der Stigmatisierung. Ehemalige Kindersoldatinnen in einem Dorf in der N채he von Gulu, Uganda.
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Joseph Konys »Lord’s Resistance Army« entführte von Mitte der achtziger Jahre an innerhalb von zwei Jahrzehnten in Norduganda Zehntausende Kinder. Sie wurden als Kindersoldaten und Sklaven rekrutiert. Fast die Hälfte von ihnen waren Mädchen. Viele Überlebende sind inzwischen heimgekehrt – gebrochen und verhaltensauffällig. Nun sollen Projekte den ehemaligen Kindersoldatinnen aus dem Trauma ihrer Kindheit in eine Zukunft als Frau helfen. Von Kirsten Milhahn (Text) und Anne Ackermann (Fotos)
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s war im Jahr 2006, als die Rebellen das Flüchtlingscamp stürmten. Meine Mutter und ich hatten dort Zuflucht vor Joseph Konys »Lord’s Resistance Army« (LRA) gesucht. Schon am Morgen sah ich bewaffnete Männer der LRA um das Camp schleichen. Bei Einbruch der Dämmerung griffen sie uns an, feuerten auf die Truppen der ugandischen Armee, die das Camp beschützten.« Lilly Acayo starrt vor sich auf die Tischplatte. Ein Blick aus schwarzen Augen, die keinen Kontakt suchen. Die junge Frau sitzt an diesem Morgen an einem der langen Tische im Speisesaal des Daniel-ComboniAusbildungszentrums in Gulu, der Hauptstadt der nordugandischen Provinz Acholiland. Sie hält die Hände fest im Schoß gefaltet. Ihr drahtiger Frauenkörper steckt in einem Blaumann, ihre schwarze Sonnenbrille hat sie in die kurz geschorenen Haare geschoben. Still sitzt sie da, nur die rechte Daumenkuppe malträtiert die Innenfläche ihrer linken Hand. Die Hand ist ölverschmiert, voller Schwielen. Seit etwa drei Monaten lernt die 23-Jährige in der Berufsschule das Schlosserhandwerk. Lilly ist kräftig, sie kann zupacken und zählt zu den Besten in ihrer Ausbildungsklasse. Doch das Reden fällt ihr schwer. Eigentlich spricht sie nie über das, was ihr vor sieben Jahren widerfuhr, sie flüstert, als habe sie Angst, belauscht zu werden. Dann bohrt sich ihr Daumen wieder tief in die linke Handfläche. »Mutter und ich rannten um unser Leben, in der Panik gerieten wir geradewegs vor die Läufe der AK-47 der Rebellen. Sie rissen mich weg von meiner Mutter, brüllten, sie würden mich töten, wenn die mich nicht gehen ließe. Dann warfen sie mir Berge von Gepäck
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zu, Dinge, die sie den Bewohnern des Camps gestohlen hatten, und stießen mich zusammen mit anderen Kindern vorwärts in den Busch.« Lilly war 16 Jahre alt, als sie entführt wurde. Der Krieg in der Region war eigentlich schon vorbei, doch die Rebellen rekrutierten weiter. Lillys Albtraum sollte fast zwei Jahre andauern. Die Rebellen überließen sie einem Mann aus ihren Reihen als »Ehefrau«. Sie diente ihm als Sexsklavin, kochte, schleppte Lasten. Sie wurde geschlagen, hungerte und trank ihren eigenen Urin, um nicht zu verdursten. »Ich hatte Angst, bei allem, was sie mit mir taten und was ich im Busch sah. Wenn du nach tagelangem Marschieren gestolpert bist, haben sie dir in den Kopf geschossen. Wenn du nach Hause wolltest, haben sie dir in den Kopf geschossen, und wenn sie spürten, dass du Angst hast, haben sie dich auch erschossen. Wir waren so viele Kinder und sie haben so viele von uns getötet. Ich wollte leben. Ich habe nie wieder geweint.« *** Erst vor acht Jahren ging in Norduganda einer der brutalsten Rebellenkriege in der Geschichte Ostafrikas zu Ende. Konys religiös getriebene Rebellenarmee tyrannisierte zwischen 1986 und 2006 die eigene Bevölkerung in allen nördlichen Provinzen, vor allem im Acholiland und in der Region um die Stadt Gulu. Die LRA zog marodierend durchs Land, plünderte Dörfer, brannte sie nieder, tötete die Bewohner, riss Kinder von den Schulbänken oder nachts aus den Betten und verschleppte sie in den Busch. Mehr als 30.000 Kinder dienten den Rebellen in dieser Zeit als Buschkrieger. Sie hatten nur die Wahl zu töten, wenn sie nicht selbst getötet werden wollten. Etwa die Hälfte der entführten Kinder waren Mädchen, die meisten haben nicht überlebt. Lilly hatte Glück. 2008 entkam sie ihren Entführern. Während eines Angriffs der ugandischen Armee auf die Rebellen ganz in der Nähe eines Flüchtlingscamps rannte das Mädchen davon, mitten durch den Kugelhagel in Richtung Lager. Sie fand ihre Mutter und kehrte später mit ihr aus dem Camp zurück in
Arbeiten für die eigene Zukunft. Konrad Tremmel hilft in der Schreinerei.
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ihr Heimatdorf. Doch Lilly fand nicht zurück ins Leben. »Nachts kamen die Albträume, tags die Depressionen«, sagt sie. Eines Tages habe sie im Radio von der Berufsschule der ComboniMissionare in Gulu gehört. »›Geh hin‹, dachte ich. ›Eine andere Chance bekommst du nicht.‹« Sie sei den kilometerlangen Weg zum Ausbildungszentrum gegangen, habe ans Tor geklopft. Die Leute dort hätten ihr bei der Bewerbung geholfen und ihr ein Stipendium besorgt. Lilly begann ihre Lehre als Schlosserin. Ein Männerberuf, sagt sie. Aber das mache ihr nichts aus. Seit 1995 bildet das Comboni-Zentrum in Gulu junge Männer und Frauen zu Handwerkern aus. »Jedes Jahr sind das 400 junge Tischler, Steinmetze, Maurer, Elektriker, Friseure, Automechaniker und Schlosser«, sagt Konrad Tremmel, der das Trainingszentrum seit fünf Jahren leitet. »Wir zeigen ihnen, wie sie mit Kopf und Händen für ihre eigene Zukunft arbeiten.« Tremmel weiß, wovon er spricht. Bevor er Geistlicher wurde, war er selbst lange Zeit erfolgreicher Handwerker. Heute ist er in erster Linie Manager und seine Berufsschule ist inzwischen eine der besten in ganz Uganda. Doch das Zentrum hat noch eine andere Funktion. Seit Kriegsende fördert es Härtefälle – vor allem junge Frauen, die wie Lilly Acayo aus dem Busch heimkehrten. Gebrochene Seelen ohne Kindheit, wie Tremmel die ehemaligen Kindersoldatinnen nennt. In ihren Dörfern würden sie vor die Hunde gehen, ließe man sie dort allein. Fast alle seien traumatisiert, viele bekämpften ihre Depressionen mit Drogen. »Bei uns bekommen diese Frauen eine Aufgabe und die Aussicht auf einen Neuanfang.« Damit das gelingt, unterhält Tremmel Kontakte zu Handwerksbetrieben in ganz Uganda. »Wir schicken Auszubildende für Praktika sogar bis in die Hauptstadt Kampala und vermitteln später Arbeitsplätze im ganzen Land.« *** Beschäftigung lenkt ab und bringt Anerkennung. Das weiß auch Dorina Tadiello, Comboni-Schwester bei den Samaritern der Diözese in Gulu, aus langjähriger Erfahrung mit den Frauen. Sie sieht allerdings noch einen anderen Weg aus dem Trauma. »Die Mädchen haben im Busch ihre Würde und das Vertrauen in andere Menschen verloren. Sie brauchen das Gefühl, Teil der Gesellschaft zu sein.« Eine Kooperative des Pfarrbezirks mit dem treffenden Namen »Wawoto Kacel«, was so viel heißt wie »Geht gemeinsam«, setzt daher nicht nur auf Arbeitsplätze, sondern vor allem auf Gemeinschaftssinn. Aus den Produktionsräumen auf dem weitläufigen Gelände der Diözese hallt Stimmengewirr und Gelächter. An langen Tischen sitzen Frauen vor Nähmaschinen oder Schalen voller Früchte und Samen, die sie zu Perlenketten fädeln. Sie schneidern traditionelle Kleidung und Taschen, weben Schals, Decken oder Tischtücher und verkaufen ihre Produkte im Ausstellungsraum nebenan. »Wawoto Kacel« liefert Kunsthandwerk in andere ostafrikanische Länder und bis nach Europa. »Die Frauen kommen zu uns, weil sie hier Freunde finden«, sagt Tadiello. Die Diözese öffnete 1992 ihre Pforten, zunächst für Menschen mit HIV und Aids. Später kamen auch ehemalige Kindersoldatinnen. »Nichts ist schlimmer, als diese Mädchen mit ihrem Schicksal allein zu lassen«, sagt sie. »Sie leiden viel mehr als männliche Kindersoldaten.« Weshalb? Weil Mädchen in den Reihen der Rebellen nicht nur gezwungen wurden, Nachbarn oder Familienmitglieder zu töten. Sie wurden vergewaltigt, misshandelt, entwurzelt. Zudem tragen viele von ihnen heute das Zeugnis ihrer Vergangenheit mit sich herum.
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»Eine andere Chance bekommst du nicht.« Lily Acayo während des Unterrichts in einer Werkstatt und mit ihrer Tochter.
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»Da draußen gibt es niemanden, der dir hilft.« Christine Aciro in der Weberei und auf dem Weg nach Hause.
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Christine Aciro sitzt in der Weberei von »Wawoto Kacel« am Webstuhl, lässt das Schiffchen hin- und herflitzen. Die 28-Jährige lächelt viel. Das war nicht immer so. Als sie vor vier Jahren in die Diözese kam, war die junge Frau am Ende. Sie war zehn, als Rebellen sie entführten. Zwölf Jahre verbrachte sie bei ihnen im Busch und wurde dort Mutter. Als Christine 2005 den Rebellen entkam, war sie gezeichnet. Sie kehrte mit drei Söhnen in ihr Dorf zurück. Der Vater der Jungen: ein 50-jähriger LRA-Kommandant und Vertrauter Konys, dem Christine seit ihrem 13. Lebensjahr als »Ehefrau« diente. »Es gab keine Liebe im Busch«, sagt sie. »Dort draußen gab es niemanden, der dir geholfen hat, keinen, dem du vertrauen konntest. Wir haben getan, was uns die Rebellen befahlen, weil jede von uns ums Überleben kämpfte. Jede für sich, jede auf ihre Weise.« Als die junge Frau mit den Kindern in ihren Heimatort zurückkehrte, wurde sie von den Dorfbewohnern gemieden und als Rebellenhure und Mörderin beschimpft. Seither quälten sie Schuldgefühle. Die Diözese sei ihre Rettung gewesen. Christine ist heute eine von 14 ehemaligen Kindersoldatinnen in der Kooperative. »Schuld, die auf tiefe Verletzung trifft, ist heute symptomatisch in vielen Dörfern im Acholiland«, sagt Dorina Tadiello. »Die Leute stehen noch reihenweise unter Schock. Jede Familie im Distrikt Gulu ist vom Krieg gezeichnet. Sie haben Mütter, Väter, Brüder oder Schwestern durch die Rebellen verloren, fast alle von ihnen hausten jahrzehntelang in den Flüchtlingscamps der Regierung.« Die Mädchen seien zwar entführt worden, hätten aber aus Sicht der Dorfbewohner für die Rebellen gekämpft und deren Kinder ausgetragen. »Sie halten diese Frauen für einstige Komplizinnen der Mörder. Mit ihrer bloßen Anwesenheit reißen Frauen wie Christine beständig alte Wunden auf.« Der Weg zur Vergebung ist daher noch lang und steinig. Denn Versöhnungsprozesse bleiben vielfach aus. Zwar leisteten Hilfsorganisationen nach Kriegsende psychische Nothilfe bei den Opfern. Sie sprachen mit Dorfältesten und betrieben Aufklärung in den Gemeinden zur Situation der Kindersoldaten. In Einzelfällen hat das Erfolg gezeigt, erzählt die Comboni-Schwester. Aber die Akuthilfe ist vorbei, die Organisationen ziehen ihre Leute inzwischen ab in Richtung Kongo und Zentralafrika. Die ugandische Regierung unter Yoweri Museveni müsste längst Verantwortung übernehmen in Sachen Aufarbeitung, doch sie zeigt wenig Interesse am Norden. Die Samariter haben deshalb versucht, Gespräche in den betroffenen Familien anzuregen. Manche Mädchen hatten Glück und wurden wieder in die Verwandtschaft integriert. »In vielen Fällen, vor allem in den harten, bei Mädchen, die getötet haben, waren wir nicht sehr erfolgreich«, erzählt Tadiello. »Oft gingen Familienmitglieder schon nach einer halben Stunde aufeinander los. Die Wunden müssen erst heilen und die Menschen lernen, sich wieder zu lieben.«
»Wir waren so viele Kinder und sie haben so viele von uns getötet.« thema
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Doch was, wenn Albträume bleiben? Christine sucht ihr Seelenheil inzwischen im Glauben. »Das Gebet hilft zu vergessen, das gelingt aber nicht immer.« Wie viele andere verdrängt sie die Erinnerung, schweigt über das, was war, auch weil sie sich dafür schämt. Das Schwesternteam um Dorina Tadiello hält deshalb nicht nur Gottesdienste, sondern auch regelmäßige Gesprächsrunden ab. »Die Frauen sollen lernen, dass sie keine Schuld tragen«, erklärt eine der Schwestern. »Hartnäckige Fälle provozieren wir, indem wir im Gespräch in die Rolle der einstigen Peiniger schlüpfen. Oft bricht der Damm, sie reden, manche schreien mir ihre Wut geradezu ins Gesicht. Meist fließen Tränen, die erleichtern und schon lange hätten geweint werden müssen.« *** Auch Lilly Acayo sagt, sie wolle reden. Irgendwann. Am Nachmittag hat sie ihren Blaumann gegen Rock und Bluse getauscht. Die junge Frau wirkt entspannter, als sie sich an diesem Tag auf den Heimweg macht von der Berufsschule. Lilly lebt mittlerweile in einer anderen Gemeinde, in der nur ihre Mutter und ihre Geschwister von ihrer Vergangenheit wissen. Sie hat eine dreijährige Tochter, die sie allein großzieht. Für sie kämpfe sie sich zurück ins Leben, sagt Lilly. Komme, was wolle. Jeden Tag geht sie dafür fünf Stunden zu Fuß: morgens zweieinhalb Stunden zur Berufsschule und nachmittags zurück ins Dorf. Sie will als eine der besten ihren Schlosserkurs abschließen. Den zehn erfolgreichsten haben die Comboni eine Starthilfe fürs eigene Unternehmen versprochen und wollen die ersten Maschinen sponsern. Die junge Frau hofft auf ihre Schlosserei, mit der sie endlich eigenes Geld verdient. Ihre Tochter Sophie kommt in diesem Jahr in den Kindergarten, danach soll sie zur Schule gehen. »Sophie wird eine bessere Kindheit haben als ich.« Die Autorin ist freie Journalistin und lebt in Nairobi und Hamburg. Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app
»Die Leute stehen unter Schock.« Dorina Tadiello in der Werkstatt.
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Das Recht auf Kindheit Sie werden minderjährig verheiratet. Sie müssen in Minen und auf Plantagen schuften. Sie werden als kleine Soldaten missbraucht. Sie werden in Haft gefoltert und in Schulen diskriminiert. Weltweit werden die Rechte von Millionen Kindern verletzt. Auch in Deutschland. Von Uta von Schrenk (Text) und Yayo Kawamura (Illustrationen)
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as braucht es für eine Kindheit in Würde? Eigentlich nicht viel: Eine liebevolle Familie, genug zu essen, Zeit zum Spielen sowie die Möglichkeit, zum Arzt und zur Schule gehen zu können. So selbstverständlich, dass es schon banal klingt? Leider ist es das nicht. Etwa eine Milliarde Kinder werden regelmäßig geschlagen, Millionen Kinder werden zur Arbeit gezwungen und Hunderttausende zum Kampf in Kriegen. Millionen Mädchen werden an Männer verheiratet und müssen schwere Hausarbeit verrichten und Kinder gebären – obwohl sie selbst noch Kinder sind. Das zeigen Berechnungen der Vereinten Nationen. Das Recht auf Bildung, Gesundheit, Freizeit, Spiel und Erholung für Kinder ist keine Selbstverständlichkeit, auch heute nicht. Das legt nicht zuletzt auch die diesjährige Verleihung des Friedensnobelpreises an die beiden Kinderrechtsaktivisten Malala Yousafzai und Kailash Satyarthi nahe: Das Engagement der 17-jährigen Pakistani und des 60-jährigen Inders für die Bildungsrechte von Kindern ist bewundernswert und bitter nötig (siehe Kasten Seite 29). Dabei hat die UNO bereits vor 25 Jahren, am 22. November 1989, die »Konvention über die Rechte des Kindes« beschlossen. Diese besagt, dass das Kindeswohl in allen Maßnahmen, die Heranwachsende betreffen, vorrangig berücksichtigt werden muss. Das Abkommen ist der einzige völkerrechtliche Vertrag, den fast alle UNO-Mitgliedsstaaten, außer dem Süd-Sudan, unterzeichnet haben. Doch vom Papier bis zur Realität ist es ein langer Weg – und einer, der durch die Gewalt an Kindern markiert ist.
Elfenbeinküste: Kinderarbeit Eine der häufigsten Verletzungen der Rechte von Kindern ist – neben körperlicher Gewalt – sicher der Umstand, dass Millionen von ihnen unter schlimmsten Bedingungen schuften müssen, statt spielen und lernen zu können. Etwa in der Elfenbeinküste. Das Land ist der größte Kakaoexporteur der Welt. Gerade der konventionelle Anbau wird überwiegend mit Hilfe von Kindern bewältigt, die zudem meist unter sklavenähnlichen Bedingungen arbeiten müssen.
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Was sich die meisten Menschen bei dem Genuss eines Schokoriegels eher nicht bewusst machen dürften: Kakaoernte ist eine schwere und verletzungsträchtige Arbeit. Das beginnt beim Benebeln der Bäume mit Pestiziden, geht über das Abschlagen der reifen Früchte mit der Machete, das Aufsammeln der Früchte und das Schleppen der oft um die 30 Kilo schweren Säcke zu den Transportern. Die Pestizide verursachen Ekzeme und tränende Augen, die Macheten führen zu blutigen Verletzungen und die schweren Säcke zu Rückenschäden. Eine Knochenarbeit, zumal für Kinder. Ein Junge aus Mali berichtete der NGO »Earth Link« sein Leben als Kakao-Sklave (siehe Kasten Seite 28). Trotz zahlreicher Abkommen arbeiten noch heute mehr als 500.000 Kinder in der Kakaoproduktion, heißt es bei »Earth Link«. Und es gibt unzählige weitere Branchen, in denen Kinder schuften: Sei es in den Steinbrüchen Indiens, in den Coltan-Minen des Kongo oder in der Elektronik-Industrie Chinas. Weltweit arbeiten 168 Millionen Kinder unter 17 Jahren, davon 85 Millionen unter ausbeuterischen Bedingungen. 73 Millionen sind sogar jünger als elf Jahre. Diese Zahlen veröffentlichte die Internationale Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen (ILO) im
»Eine Milliarde Kinder werden regelmäßig geschlagen, Millionen Kinder werden zur Arbeit gezwungen.« 27
September 2013. Doch es gibt Kinder, die ihre Ausbeutung nicht hinnehmen wollen. In Bolivien, einem der Länder mit der höchsten Kinderarbeitsquote, hat sich nun eine Gewerkschaft gegründet. Laut einer Umfrage der Regierung arbeiten gut 27 Prozent der Bolivianer schon im Alter zwischen fünf und 17 Jahren gegen Bezahlung. Die Kindergewerkschaft hat nun erreicht, dass ein Gesetz das Mindestalter für bezahlte Arbeit auf zehn Jahre festlegt. Ein erster, kleiner Schritt.
Mali: Kindersoldaten eingesperrt In Mali werden immer noch Kindersoldaten rekrutiert – eine besonders grausame Form, eine Kindheit früh zu beenden und ein psychisch und oft genug auch physisch unbelastetes Leben unmöglich zu machen. Einen besonders perfiden Umgang mit Kindersoldaten hat eine Amnesty-Delegation im Sommer 2014 in Mali festgestellt. Kinder, die unter Verdacht stehen, einer bewaffneten Gruppe anzugehören oder illegal Waffen zu besitzen – die also möglicherweise als Kindersoldaten rekrutiert wurden –, werden entgegen internationalem Recht in dieselben Gefängnisse wie Erwachsene gesperrt. Eine doppelte Strafe – zuerst der Missbrauch als kleine Kämpfer und dann eine menschenrechtsverletzende Haft. Die Amnesty-Delegierten sprachen mit neun Kindern im Alter zwischen 13 und 17 Jahren, die wegen des Verdachts der Zusammenarbeit mit bewaffneten Gruppen im Erwachsenengefängnis »Maison central dárrêt« und im »Camp I« in der malischen Hauptstadt Bamako gefangen gehalten werden. Einer von ihnen, ein 15-jähriger Junge, wurde von tschadischen Einheiten in der nördlichen Region Kidal festgenommen und französischen Streitkräften übergeben. Er sagte, dass er nicht nach seinem Alter gefragt wurde und man ihn nicht in seiner Muttersprache Tamasheq, einer Tuareg-Sprache, befragt habe, bevor er der malischen Polizei übergeben wurde. Während des Flugs nach Bamako wurden ihm die Augen verbunden und er wurde an Händen und Füßen gefesselt.
Andere Kinder erzählten, sie seien von malischen Streitkräften gefoltert oder misshandelt worden. »Sie haben mich an die Decke gehängt und mir mit Elektroschocks gedroht. Sie haben gedroht, mich zu töten!«, sagte eines der Kinder der AmnestyDelegation. Mali verstößt damit gegen das Völkerrecht. »Die malischen Behörden sollten bei Verdachtsfällen verantwortliche Institutionen wie UNICEF informieren, sodass die Familien der Kinder benachrichtigt und Kinderrechtsexperten die Fälle untersuchen können«, fordert Fabienne Dietzsch, Mali-Expertin von Amnesty International. Seit Beginn des Konflikts im Januar 2012 in Mali wurden Dutzende Minderjährige sowohl von regierungsnahen Milizen als auch von bewaffneten Oppositionsgruppen rekrutiert.
Iran: Zwangsbraut droht Hinrichtung Intimer sind die Menschenrechtsverletzungen, die Mädchen erleiden müssen. Ein Beispiel hierfür ist Razieh Ebrahimi aus dem Süden des Iran. Die mittlerweile junge Frau wurde mit 14 Jahren verheiratet. Mit 15 bekam sie ein Kind. Mit 17 brachte sie ihren Mann um. Nun droht ihr die Hinrichtung – und das, obwohl sie zur Tatzeit minderjährig war. (Mehr zu dem Fall im Kasten rechts.) Nicht jeder Fall von Zwangsverheiratung endet so drastisch wie der Fall von Razieh – aber jeder Fall ist eine drastische Menschenrechtsverletzung an Mädchen, die oft genug mit dem Einverständnis der eigenen Eltern geschieht. Zwangsheirat – ein gesellschaftliches Relikt aus finsteren Zeiten, ein seltener Einzelfall? Leider nein. Nach Angaben von UNICEF sind weltweit mehr als 250 Millionen Frauen bei der Eheschließung nicht älter als 15
bitterer KaKao
»Wir schliefen auf dem Boden einer Hütte aus Schlamm und Stroh. Wir durften sie nur zur Arbeit in den Feldern verlassen. Die Arbeitszeiten waren sehr hart, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, und manchmal, wenn Vollmond war, sogar bis zehn Uhr abends. Uns wurde Lohn versprochen, aber sie sagten, dass wir erst die Kosten der Reise zurückzahlen müssten. Ich habe mich dort zwei Jahre lang abgerackert, ohne jemals Geld zu bekommen. Kinder, die sich weigerten zu arbeiten, wurden mit dem Motorgurt des Traktors geschlagen oder mit Zigaretten verbrannt. Wir bekamen kaum etwas zu essen: mittags zwei Bananen, die wir aßen, ohne die Arbeit zu unterbrechen, und eine Maismehlsuppe am Abend. Einige Kinder sind vor Erschöpfung zusammengebrochen. Diejenigen, die krank wurden, wurden fortgeschafft. Wir haben sie nie wieder gesehen.« Bericht eines 16-jährigen Jungen aus Mali über die Kakaoernte. Quelle: »Earth Link«, Kampagne gegen Kinderarbeit
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Jahre. Seit etwa drei Jahrzehnten sind diese Zahlen relativ konstant. In Niger etwa werden 77 Prozent aller Mädchen unter 18 Jahren zwangsverheiratet – damit ist es das Land mit dem höchsten Anteil an Kinderehen. Die Folgen solcher Zwangsheiraten – oder anderer Formen sexueller Gewalt – sind für die jungen Mädchen verheerend. Nach Berechnungen des »International Centre for Research on Women« sterben jedes Jahr 70.000 Teenager infolge einer Schwangerschaft. Gebärmuttervorfälle und Organsenkungen sind weitere häufige Qualen, die die viel zu jungen Mütter erwarten. Bedrückende Zahlen. Und sie lassen sich leider fortsetzen, was die Sexualität anbelangt: Geschätzt 100 bis 140 Millionen Frauen und Mädchen wurden einer Genitalverstümmelung unterzogen, pro Jahr sind das etwa drei Millionen Mädchen. Und 150 Millionen Mädchen unter 18 wurden nach Schätzungen der UNO Opfer sexueller Gewalt. Diese Zahlen sind der traurige Anlass für eine globale Amnesty-Kampagne unter dem Titel »My Body, My Rights«, die die von den UNO-Vertragsstaaten bereits 1994 formulierten sexuellen und reproduktiven Rechte weltweit einfordert. Dabei geht es gerade um den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexuellem Missbrauch – ob mit Trauschein oder ohne.
Indonesien: Polizeifolter an Schüler Selbst vor Folter sind Kinder nicht sicher, das zeigt eine Eilaktion von Amnesty aus dem Sommer: Am 8. August wurde in Manokwari, in der indonesischen Provinz West-Papua, der 16-jährige Schüler Robert Yelemaken festgenommen. Sein vermeintliches
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der Fall razieh ebrahimi aus dem iran
Razieh Ebrahimi aus dem Iran wurde mit 14 Jahren verheiratet. Als sie 17 ist, erschießt sie ihren Ehemann. Nun droht ihr die Hinrichtung. Razieh hatte sich während des Prozesses schuldig bekannt und ihre Tat damit begründet, dass ihr Ehemann sie fortdauernd geschlagen und beschimpft habe. Sie sei mit ihrem ehemaligen Nachbarn verheiratet worden, weil ihr Vater darauf bestand. Ein Jahr später habe sie ein Kind geboren. Seit 2010 sitzt Razieh Ebrahimi im Gefängnis Sepidar in der südiranischen Provinz Chuzestan. Das gegen sie verhängte Todesurteil ist an die Behörde zur Vollstreckung von Strafen weitergeleitet worden, es kann jederzeit auf Verlangen der Familie des Mordopfers vollstreckt werden. Eigentlich dürfte es den Fall Razieh gar nicht geben: Der Iran ist Vertragsstaat des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte und der UNO-Kinderrechtskonvention, welche die Verhängung der Todesstrafe gegen Personen, die zum Tatzeitpunkt jünger als 18 Jahre alt waren, ausdrücklich verbieten.
FriedensnobelPreis Für Kinderrechte
Malala Yousafzai und Kailash Satyarthi wurden am 10. Oktober in Oslo mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Die Jury würdigte damit das langjährige Engagement der beiden für Kinderrechte, insbesondere für das Recht auf Bildung. Malala Yousafzai musste für ihren Einsatz einen hohen Preis bezahlen: Die heute 17-jährige Pakistanerin überlebte vor zwei Jahren nur knapp einen gezielten Kopfschuss durch einen Auftragsmörder der Taliban. Unmittelbar nach der Verleihung des Friedensnobelpreises drohte eine Splittergruppe der Taliban erneut, sie zu töten. Malala Yousafzai hatte sich in ihrer Heimat, dem Swat-Tal im Norden Pakistans, als Bloggerin dafür eingesetzt, dass Mädchen zur Schule gehen können. Nach dem Anschlag ging die Familie ins britische Exil. Von dort aus verschaffte sich die junge Frau nun noch mehr Gehör: Sie hat inzwischen ein Buch über Kinderrechte geschrieben, vor der UNO gesprochen und wurde im vergangenen Jahr von Amnesty International zur »Botschafterin des Gewissens« ernannt. Der 60-jährige Inder Kailash Satyarthi kämpft seit Jahrzehnten friedlich gegen die Ausbeutung von Kindern als Arbeitssklaven. In Indien sind Millionen Kinder von Zwangsarbeit betroffen. Sie werden geprügelt, können nicht zur Schule gehen und werden nicht versorgt, wenn sie krank werden. Satyarthi ist es mit seinen Protesten und Aktionen gelungen, Zehntausende Kinder von ihrem Joch zu befreien und vielen von ihnen den Besuch einer Schule zu ermöglichen. Aufgrund seines Engagements wurde er bereits mit Messern und Eisenstangen attackiert. »Dies ist eine Auszeichnung für Menschenrechtsverteidiger, die sich bedingungslos dafür einsetzen, die Rechte und Bildungschancen der verletzlichsten Kinder der Welt zu stärken«, sagte Amnesty-Generalsekretär Salil Shetty anlässlich der Bekanntgabe der Preisträger.
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Vergehen: Er hatte gemeinsam mit dem Studenten Oni Wea Graffitis gesprüht, die ein Referendum über die Unabhängigkeit Papuas forderten. Die beiden jungen Männer wurden bei ihrer Festnahme und später im Polizeigewahrsam gefoltert und misshandelt. Die Polizeibeamten schlugen sie mit dem Griff einer Waffe ins Gesicht und traten sie. Sie zwangen sie, sich in einem Abflusskanal zu wälzen und Farbe zu trinken. Die beiden wurden mittlerweile wieder freigelassen. Amnesty setzt sich für eine unabhängige Untersuchung der von den beiden erhobenen Folter- und Misshandlungsvorwürfe ein und fordert, dass die Verantwortlichen in fairen Verfahren vor Gericht gestellt und die Folteropfer entschädigt werden.
Türkei: Tod eines Flüchtlingskindes Doch die Verletzung von Kinderrechten findet nicht nur in fernen Ländern statt. Auch in Europa werden täglich Kinder diskriminiert, missbraucht oder sogar getötet. Im Osten der Türkei starb am 31. Mai ein Flüchtlingskind aus Afghanistan bei der Prüfung seines Alters, nachdem es von einem Beamten des Abschiebezentrums geschlagen worden war. Dies haben mehrere Zeugen bestätigt. Der Junge, Lutfillah Tadjik, war zu diesem Zeitpunkt 17 Jahre alt. Am 16. Mai war der Jugendliche zusammen mit 20 weiteren Flüchtlingen in der Provinz Iğdır im Osten der Türkei wegen illegaler Einreise festgenommen worden. Am 23. Mai wurde er in das Abschiebezentrum von Van verbracht. Da er unter 18 Jahre und damit nach internationalem Recht minderjährig war, berief er sich auf seinen Status als Kind. Drei Tage später wurden Lutfillah Tadjik und sechs weitere Jugendliche in das Kinder- und Jugendzentrum von Van gebracht, wo sie bis zu ihrer Abschiebung bleiben sollten. Am Tag darauf wurde er gemeinsam mit den anderen jedoch erneut in das Abschiebezentrum von Van gebracht – für eine Alters- und Gesundheitsprüfung. Hier soll
zehn Grundrechte
UNICEF fasst die umfangreiche und kompliziert formulierte UNO-Kinderrechtskonvention in zehn Grundrechten des Kindes zusammen. Das Recht auf Gleichheit. Alle Kinder sind gleich. Niemand darf aufgrund seiner Hautfarbe, seines Geschlechts oder seiner Religion benachteiligt werden. Das Recht auf Gesundheit. Jedes Kind hat das Recht, die Hilfe und Versorgung zu erhalten, die es braucht, wenn es krank ist. Das Recht auf Bildung. Jedes Kind hat das Recht zur Schule zu gehen und zu lernen, was wichtig ist. Zum Beispiel die Achtung vor den Menschenrechten und anderen Kulturen. Es ist wichtig, dass Kinder in der Schule ihre Fähigkeiten entwickeln können und dass sie dazu ermutigt werden. Das Recht auf Freizeit, Spiel und Erholung. Jedes Kind hat das Recht zu spielen und in einer gesunden Umgebung aufzuwachsen und zu leben. Das Recht sich zu informieren, sich mitzuteilen, gehört zu werden und sich zu versammeln. Jedes Kind hat das Recht, seine Gedanken frei zu äußern. Die Meinung der Kinder soll bei allen Dingen, die sie direkt betreffen, beachtet werden. Alle Kinder haben das Recht auf Information und Wissen über ihre Rechte.
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ein Polizeibeamter Lutfillah dann mit Ohrfeigen und Fauststößen ins Gesicht dermaßen traktiert haben, dass der Junge das Bewusstsein verlor und wenige Tage später starb. Dem Rechtsbeistand zufolge, der den Fall in Van begleitet hat, wurden die anderen sechs Afghanen (von denen sich einer später als 22 Jahre alt erweisen sollte) als Zeugen vernommen. Ihnen droht noch vor Abschluss der laufenden Ermittlungen in dem Todesfall die Abschiebung nach Afghanistan.
Slowakei: Roma-Kinder auf Sonderschulen Roma sind europaweit vielfältigen Diskriminierungen und Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Besonders hart trifft dies die Kinder. International bekannt wurde der Fall eines slowakischen Mädchens, das aufgrund seiner ethnischen Zugehörigkeit in einem Krankenhaus zwangssterilisiert wurde. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied 2012, dadurch seien die Menschenrechte des Roma-Mädchens verletzt worden. Im gleichen Jahr kritisierte der UNO-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte die Slowakei, weil sie Roma-Kinder im Bildungssystem diskriminiert – passiert ist bislang jedoch wenig, der getrennte Unterricht ist weiterhin gängige Praxis in dem Land. Nach Angaben der UNO werden nach wie vor 40 Prozent der slowakischen Roma-Kinder auf Sonderschulen oder in getrennten Klassenräumen unterrichtet. In den frühen neunziger Jahren waren es gerade mal sieben Prozent. Die Folgen dieser Politik für die Kinder und ihr künftiges Leben sind fatal: Ein Drittel der slowakischen Roma-Kinder absolviert nicht einmal die Grundschule. Ein Teufelskreis aus Diskriminierung und Armut. In Tschechien sieht die Situation ähnlich aus. Obwohl nach Schätzungen maximal drei Prozent der tschechischen Bevölkerung Roma sind, machen sie über ein Drittel der Schüler auf den Sonderschulen aus. Die Europäische Kommission hat wegen der anhaltenden Diskriminierung der
Jedes Kind hat das Recht, Informationen aus der ganzen Welt durch Radio, Fernsehen, Zeitungen und Bücher zu bekommen und Informationen auch an andere weiterzugeben. Das Recht auf gewaltfreie Erziehung. Jedes Kind hat das Recht auf eine Erziehung ohne Anwendung von Gewalt. Das Recht auf Schutz vor wirtschaftlicher und sexueller Ausbeutung. Kein Kind soll schlecht behandelt, ausgebeutet oder vernachlässigt werden. Kein Kind soll zu schädlicher Arbeit gezwungen werden. Das Recht auf Schutz im Krieg und auf der Flucht. Ein Kind, das aus seinem Land flüchten musste, hat dieselben Rechte wie alle Kinder in dem neuen Land. Wenn ein Kind ohne seine Eltern oder seine Familie kommt, hat es das Recht auf besonderen Schutz und Unterstützung. Wenn es möglich ist, soll es mit seiner Familie wieder zusammengebracht werden. Das Recht auf eine Familie, elterliche Fürsorge und ein sicheres Zuhause. Jedes Kind hat das Recht, mit seiner Mutter und seinem Vater zu leben, auch wenn diese nicht zusammenwohnen. Eltern haben das Recht, Unterstützung und Entlastung zu bekommen. Das Recht auf Betreuung bei Behinderung. Jedes Kind hat das Recht auf ein gutes Leben. Wenn es behindert ist, hat es das Recht auf zusätzliche Unterstützung und Hilfe.
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Roma-Kinder im Schulsystem nun beschlossen, ein Vertragsverletzungesverfahren gegen das Land einzuleiten. Amnesty wertet dies als ein Zeichen der Hoffnung.
Deutschland: Schlechte Behandlung von Flüchtlingskindern Und auch im vermeintlich menschenrechtssensiblen Deutschland werden die Rechte von Kindern systematisch verletzt. Dies betrifft vor allem Flüchtlingskinder, die hier vor Tod, Folter oder Zwangsheirat Schutz suchen. Zum Beispiel Ehmal. Er war zehn Jahre alt, als er mit seinen Eltern und zwei Schwestern Afghanistan verließ. Auf der Flucht wurde er von seiner Familie getrennt und musste sich allein nach Hamburg durchschlagen. Dort fand er zwar seine Familie wieder, hatte jedoch erneut mit Problemen zu kämpfen: Mit der Familie lebte er lange in einem einzigen Raum, den er als bedrückend und eng beschreibt. Er erhielt keine Sprachförderung und musste sich vieles selbst beibringen. Bei Behördengängen musste das Kind für seinen Vater dolmetschen. Ehmals Fall wird in einer UNICEF-Studie zur Situation von Flüchtlingskindern in Deutschland beschrieben. Das Urteil der Studie: Die deutschen Behörden werden in vielen Fällen nicht den Prinzipien der UNO-Kinderrechtskonvention gerecht. Dabei hat Deutschland die Konvention bereits 1992 ratifiziert. »Das deutsche Ausländer- und Asylrecht schränkt für Kinder aus Flüchtlingsfamilien den Zugang zu Bildung, medizinischer Versorgung und sozialer Teilhabe gravierend ein«, schreibt der Geschäftsführer des Deutschen Komitees von UNICEF, Christian
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Kinderrechte
Schneider: »Was wir anderswo auf der Welt als selbstverständlich ansehen, scheint im modernen Europa nicht selbstverständlich.« Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Christoph Strässer, spricht von teilweise unzumutbaren Zuständen und fordert die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz. Laut UNICEF leben 65.000 Kinder und Jugendliche in Deutschland, die entweder geduldet werden oder einen Asylantrag gestellt haben. Die meisten sind mit ihren Familien hier, doch es gibt auch knapp 2.000 unbegleitete Flüchtlingskinder.
Amnesty fordert mehr Schutz für Kinder Die Schicksale von Robert in Indonesien, Razieh im Iran, Lutfillah in der Türkei und Ehmal in Deutschland sowie die der Kindersoldaten in Mali oder die der Roma-Kinder in der Slowakei zeigen: Kinder sind besonders verletzlich und offensichtlich reicht eine UNO-Konvention nicht aus, um ihre Rechte zu schützen. Es bedarf also weitergehender Maßnahmen. Amnesty fordert daher von den Regierungen a allen Kindern die Grundschulbildung zu ermöglichen, a Diskriminierung von Kindern aufgrund ihrer ethnischen und nationalen Herkunft zu beenden, a aktiv gegen Ausbeutung (Arbeit, sexuelle Gewalt) von Kindern vorzugehen, a Hinrichtungen von jugendlichen Straftätern sofort auszusetzen und zu verbieten, a bei der Inhaftierung von Jugendlichen internationale Mindeststandards zu garantieren.
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Berichte
36 Italien: Der Tod wartet im Mittelmeer 39 Folter: 30 Jahre UNO-Konvention 40 Philippinen: Schutzlos vor der Polizei 44 Indien: Erinnerung an Bhopal 46 Briefmarathon: Dein Brief kann Leben retten
Dem Sterben im Mittelmeer ein Ende bereiten. Amnesty-Aktion in Agrigento, Sizilien. Fotos: Giuseppe Chiantera
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»Mare Nostrum« hat über 170.000 Menschen das Leben gerettet. Schiffsfriedhof auf Lampedusa.
»Das ist eine Schande für Europa« 36
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Die Abschottungspolitik der EU drängt immer mehr Flüchtlinge auf die gefährliche Route über das Mittelmeer. Eine internationale Amnesty-Delegation reiste daher Ende September nach Italien, um sich ein Bild von der Situation zu machen. Selmin Çalıs¸kan, Generalsekretärin der deutschen Amnesty-Sektion, schildert ihre Eindrücke und Erlebnisse. Mit Fotos von Giuseppe Chiantera Ende September sind wir als Amnesty-Delegation drei Mal über das Mittelmeer geflogen. Erst von Rom nach Palermo auf Sizilien, von dort zur Insel Lampedusa und wieder zurück nach Palermo. Als ich aus dem Flugzeugfenster sah, lag das Meer still und friedlich unter uns. Doch jedes Mal, wenn ich ein kleines Boot oder Schiff erkannte, erschrak ich und dachte sofort: »Hoffentlich sind das keine Flüchtlinge, die in Seenot sind …« Wenn man das Meer von oben betrachtet, denkt man automatisch an die Tausende von Menschen, die auf der Flucht nach Europa dort ihr Leben verloren haben. Und das nur, weil die EU die Außengrenzen dicht gemacht hat und sich immer mehr abschottet. Vielen Flüchtlingen, die Schutz in Europa suchen, bleibt nur die Möglichkeit, in zumeist untauglichen Booten das Meer zu überqueren, das häufig alles andere als still und friedlich ist. Im Alleingang startete Italien im Oktober 2013 die groß angelegte Seenotrettungsaktion »Mare Nostrum«, die innerhalb eines Jahres mehr als 170.000 Menschen das Leben gerettet hat. Doch von den anderen EU-Staaten erhielt Italien weder finanzielle noch logistische Unterstützung. Um uns ein Bild von der Lage vor Ort zu machen, reisten wir als Amnesty-Delegation durch Italien. Mit dabei waren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und Aktivistinnen und Aktivisten der italienischen und französischen Amnesty-Sektion. Die deutsche Amnesty-Sektion wurde außer von mir vertreten durch die Asyl-Referentin Franziska Vilmar, den Leiter der Abteilung »Kampagnen und Kommunikation« Markus Beeko, den Schauspieler und Amnesty-Unterstützer Benno Fürmann und das Amnesty-Mitglied Ingeborg Heck-Böckler, die sich in Aachen seit Jahrzehnten für Flüchtlinge politisch, aber auch ganz praktisch einsetzt. Gemeinsam machten wir das, was eigentlich auch die EU tun sollte: über Landesgrenzen hinweg zusammenarbeiten und sich solidarisch zeigen mit den Flüchtlingen und denjenigen, die sich für sie einsetzen. Unsere Reise führte uns unter anderem in das Hauptquartier von »Mare Nostrum« in Rom und zu einem Marinestützpunkt im sizilianischen Augusta, wo uns Offiziere von ihren Erfahrungen berichteten. Unter ihnen waren auch Männer, die selbst bereits ins Meer gesprungen sind, um Menschen zu retten. Ihnen konnte man ansehen, wie viel Leid sie gesehen haben. Für sie ist es selbstverständlich, Flüchtlinge auf hoher See zu retten und aufs sichere Festland zu bringen – wohlwissend, dass viele ihrer Landsleute es lieber sehen würden, wenn die Flüchtlinge nicht nach Italien kämen. Flüchtlinge wie Alieu und Mamadou. Nur knapp überlebten die beiden jungen Männer aus Gambia im Juni 2014 ein Schiffsunglück, bei dem mindestens 30 Menschen starben. Sie selbst trieben stundenlang im Wasser, bis sie gerettet wurden. Nun warten sie im Aufnahmelager im sizilianischen Mineo auf die Entscheidung über ihren Asylantrag, fast eine Stunde Taxifahrt entfernt von der nächsten größeren Stadt. Einen Tag lang begleiteten sie uns. Ihre Schilderungen werden mir noch lange im Ge-
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Das Richtige tun. Treffen mit dem »Rat der Migranten« in Palermo.
dächtnis bleiben. Aber es ist gut zu wissen, dass sich Mitglieder des sizilianischen Amnesty-Bezirks engagiert um sie und andere Flüchtlinge kümmern. Wir besuchten auch die Insel Lampedusa, die in den vergangenen Jahren Anlaufstation für Tausende Flüchtlinge war und vor deren Küste sich immer wieder Tragödien ereignen. Dort trafen wir die Bürgermeisterin der Insel, Giusi Nicolini. Sie war sehr freundlich und offen, gleichzeitig aber auch gezeichnet von der Zeit, in der es mehr Flüchtlinge als Einwohnerinnen und Einwohner auf der Insel gab. Man konnte Nicolini die Erschöpfung ansehen. Sie ist eine zierliche Person mit viel Kraft, auf der viel Verantwortung lastet. Sie sagte uns, dass Lampedusa das Alibi für Europa sei, das ja eigentlich seinem Selbstverständnis nach für Menschenrechte steht. Doch es waren die Menschen auf Lampedusa, die sich um die Flüchtlinge kümmerten – und nicht die Behörden oder Politikerinnen und Politiker, weder in Italien noch auf EU-Ebene. Nicolini stellte klar: »Es ist eine Schande für Europa, wie die
Tote ohne Namen. Friedhof von Lampedusa.
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Flüchtlinge und die Inselbewohnerinnen und -bewohner immer wieder alleingelassen werden.« Und natürlich bekamen auch die Kinder mit, was vor ihrer Küste passiert, wenn im Hafen die Särge für die im Meer geborgenen Leichen der Flüchtlinge standen. Ein kleiner Junge fragte die Bürgermeisterin einmal: »Aber warum nehmen die Menschen denn nicht einfach ein Flugzeug, um hierher zu kommen?« Ja, warum müssen Menschen eigentlich ihr Leben riskieren, um in Europa Schutz zu finden? Das ist die Kernfrage, der sich alle stellen müssen. Einige Gesprächspartner sagten uns, dass ein humanitäres Visum eine Lösung sein könnte. Flüchtende könnten es in den Botschaften, beim UNHCR oder in den Büros der EU-Delegationen direkt vor Ort beantragen, um dann sicher nach Europa kommen zu können, um Schutz zu beantragen. Das Treffen mit Bürgermeisterin Nicolini hat mich sehr beeindruckt. Genauso wie das mit Mimmo Zambito, Pastor von Lampedusa, der den Flüchtlingen hilft, wo er nur kann. Er kann einfach nicht begreifen, dass Europa wegschaut, wenn Menschen aus Angst vor Krieg und Gewalt so verzweifelt sind, dass sie ihr Leben auf dem Meer riskieren und dabei sterben … Und ich begreife es auch nicht. Auf Lampedusa trafen wir auch den Kommandanten der Küstenwache, Giuseppe Cannarile. Als wir auf das Bootsunglück vom 3. Oktober 2013 zu sprechen kamen, bei dem ungefähr 380 Flüchtlinge aus Somalia und Eritrea vor der Insel ertranken, musste er sich vor Anspannung erst eine Zigarette anzünden. Später trafen wir die Aktivistin Paola Rosa vom »Komitee 3. Oktober«. Sie ging mit uns auf den Friedhof der Insel, der geradezu pittoresk wirkt mit seinen hellen, gepflegten Grabsteinen und Steinplatten, teilweise verziert mit kleinen Statuen oder Fotos der Verstorbenen. Doch inmitten dieses akkurat gepflegten Friedhofs gibt es eine Grasfläche mit kleinen aufgeschütteten Erdhügeln. Dort liegen die Gräber der Flüchtlinge, die nur noch tot aus dem Wasser geborgen werden konnten. Ihre Gräber sind versehen mit schiefen Holzkreuzen, ohne Namen. Man weiß nicht, wer hier begraben liegt. Es ist schwer, Menschen zu gedenken, die keinen Namen haben und von denen man nicht weiß, wo sie herkamen. Was hinter ihnen lag. Was sie sich erhofft hatten … Aber auch an einigen dieser Gräber liegen frische Blumen. Das hat mich sehr berührt, denn es zeigt: Diese Flüchtlinge kannte niemand – und
trotzdem gibt es hier Menschen, die an sie denken und die Erinnerung an sie wachhalten. Auf unserer Reise trafen wir sehr viele hilfsbereite und engagierte Menschen. Doch erweckten sie nicht den Eindruck, als würden sie etwas Heldenhaftes tun. Sie sind bescheiden, fast demütig, weil sie mit eigenen Augen menschliche Tragödien miterlebt haben – und auch die Ohnmacht angesichts des allgegenwärtigen Todes. Aber es steht für sie außer Frage, dass sie das Richtige tun. So wie die Ordensschwestern, die wir in Agrigento auf Sizilien trafen. Die Schwesterngemeinschaft hat ein Netzwerk von 100 ehrenamtlichen Helfern aufgebaut, die Flüchtlinge unterstützen. Als eine Helferin vor Kurzem verstarb, vermachte sie ihr Haus der Initiative und verfügte in ihrem Testament, dass das Haus zukünftig als Unterkunft für Flüchtlinge und Asylsuchende dienen soll. Dabei ist die Unterstützung illegaler Einwanderer in Italien verboten. Als wir eine der Ordensschwestern fragten, ob sie sich vor juristischen Konsequenzen fürchte, lächelte sie nur und antwortete gelassen: »Wir haben doch den besten Anwalt auf unserer Seite, den es nur geben kann: den lieben Gott«. Wir sind allen Menschen sehr dankbar, die sich Zeit genommen haben, uns ihre Sicht der Dinge und ihre Erfahrungen zu schildern. Aber auch wir wurden mit großer Dankbarkeit empfangen. Die Menschen freuten sich über unsere Solidarität und den Einsatz von Amnesty auf Kampagnen- und Lobby-Ebene, denn sie wissen, dass unsere Stimme laut ist und zählt, wenn es um politischen Druck geht. Wir wissen auch von Gesprächen mit Admiral Foffy, dem Chef der italienischen Marine, dass er alles tut, damit seine Flotte weiterhin Menschen retten kann, auch wenn das Innenministerium die Operation »Mare Nostrum« erst kürzlich offiziell beendet hat. Denn die Nachfolgeoperation »Triton« hat weder die nötige Ausstattung, noch den expliziten Auftrag, Menschen zu retten. Noch fährt sie bis in libysche Gewässer, wo die meisten Boote sinken. »Triton« soll nur in EU-Gewässern nach Flüchtlingen Ausschau halten. Viele Gesprächspartner bestätigten uns, dass wir uns nicht in einer Ausnahmesituation befinden, sondern, dass wir alle uns darauf einstellen müssen, dass noch viele Menschen kommen werden. Also ist weiterhin politischer und moralischer Druck dringend nötig. Denn die EU muss endlich alle notwendigen Maßnahmen treffen, um den Tod von Menschen im Mittelmeer zu verhindern, statt ihn stillschweigend in Kauf zu nehmen – was viele EU-Regierungen bis heute tun. Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app
FlüchtlinGe im mittelmeer
Solidarität zählt. Selmin Çalışkan und Benno Fürmann.
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Die Untätigkeit der EU treibt die Zahl toter Flüchtlinge auf dem Mittelmeer weiter nach oben. Dies prangert Amnesty in einem am 30. September veröffentlichten Bericht an. »Ohne Rettungsanker – Wie Flüchtlinge im Mittelmeer ihr Leben riskieren« dokumentiert die Ergebnisse einer Recherchemission nach Italien und Malta im Sommer 2014. Darin fordert Amnesty alle EU-Mitgliedsstaaten auf, gemeinsam Verantwortung für die Seenotrettung im Mittelmeer zu übernehmen. Den Bericht und weitere Informationen finden Sie unter: www.amnesty.de/bericht
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Für eine Welt ohne Folter Historischer Meilenstein: Vor 30 Jahren wurde die UNO-Konvention gegen Folter verabschiedet. Von Ramin M. Nowzad
Foto: Amnesty
Folter ist vielleicht der größte Schrecken, den sich der Mensch für den Menschen ausgedacht hat: Wer einen anderen foltert, fügt ihm nicht nur Schmerzen zu, sondern verwandelt ihn in ein Objekt, in ein bloßes Stück Fleisch. »Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt«, notierte einst Jean Améry. Der große jüdische Essayist war als junger Mann selbst von der Gestapo gefoltert worden – und fand nicht ins Leben zurück. Im Jahr 1978 nahm er sich in Salzburg das Leben. Vor dreißig Jahren, im Dezember 1984, einigten sich die Vereinten Nationen in New York auf ein historisches Vertragswerk, um dieser Menschheitsgeißel ein Ende zu bereiten: die Antifolterkonvention. Darin wurde nicht nur ein absolutes Folterverbot verankert, sondern auch festgeschrieben, welche Pflichten aus diesem Verbot entstehen: So dürfen beispielsweise keine Beweise vor Gericht verwertet werden, die unter Folter erpresst wurden. Auch dürfen Menschen nicht in Länder abgeschoben werden, in denen ihnen Folter droht. Außerdem verpflichteten sich die Vertragsstaaten, Folter unter Strafe zu stellen, entsprechende Vorwürfe unabhängig und effektiv zu untersuchen, die
Folgenreiche Kampagne. Die US-amerikanische Folksängerin Joan Baez spricht auf einer Amnesty-Konferenz gegen Folter 1973 in Paris.
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stoP Folter
Verantwortlichen vor Gericht zu stellen und Opfer angemessen zu entschädigen. Die Antifolterkonvention war ein Meilenstein im Kampf gegen Folter. Bislang haben sie 155 Staaten ratifiziert. Möglich wurde dies auch durch das Engagement von Amnesty. Die Menschenrechtsorganisation setzt sich seit ihrer Gründung im Jahr 1961 für Menschen ein, denen Folter droht oder die Opfer von Folter geworden sind. Nicht zuletzt deshalb erhielt Amnesty International 1977 den Friedensnobelpreis. »Täglich erreichen uns Berichte, wonach Menschen gefoltert werden«, stellte der damalige Amnesty-Generalsekretär Martin Ennals 1968 fest. Die Berichte stammten keineswegs nur aus fernen Ländern, sondern auch aus Europa, so zum Beispiel aus dem von Salazar beherrschten Portugal oder aus dem Spanien Francos, die beide erbarmungslos gegen Regimekritiker vorgingen. Als sich Amnesty erstmals intensiv mit Folter beschäftigte, betraf dies ein Land, das als Wiege der europäischen Kultur gilt: In Griechenland hatten sich am 21. April 1967 Offiziere an die Macht geputscht. Schon in der Nacht des Staatsstreiches nahmen die Putschisten Tausende Menschen fest. Was heute unvorstellbar ist: Folter wurde damals international kaum geächtet. Um dies zu ändern, startete Amnesty im Dezember 1972 eine weltweite »Kampagne zur Abschaffung der Folter«. Die damals noch junge Menschenrechtsorganisation sammelte innerhalb eines Jahres mehr als eine Million Unterschriften – auch 110.000 Polizisten aus Europa unterstützten die Petition. Der Aufschrei blieb nicht ungehört: Im Herbst 1973 verabschiedete die UNO-Generalversammlung einstimmig eine Resolution gegen Folter. Und 1975 einigten sich die Mitgliedsstaaten auf eine Antifolterdeklaration, in der es heißt: »Kein Staat darf Folter oder andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe zulassen«. Doch handelte es sich dabei lediglich um eine Absichtserklärung. Die Staaten waren keineswegs verpflichtet, sie auch umzusetzen. Deshalb lancierte Amnesty im Jahr 1984 eine zwe te Kampagne gegen Folter, mit dem Ziel, die Regierungen auf ein Folterverbot zu verpflichten. Mit Erfolg: Noch im selben Jahr verabschiedete die UNO die Antifolterkonvention. Damit konnten die Staaten nun auch ausländische Täter strafrechtlich verfolgen. Wie etwa Chiles Ex-Diktator Augusto Pinochet, der 1998 in London verhaftet wurde. Zum Prozess kam es allerdings nicht, denn der britische Innenminister ordnete im Jahr 2000 an, den greisen General aus gesundheitlichen Gründen wieder freizulassen. Dass Täter zur Rechenschaft gezogen werden, war eine der zentralen Forderungen der dritten globalen Antifolterkampagne, die Amnesty im selben Jahr startete. Heute, dreißig Jahre nach der Verabschiedung der Antifolterkonvention, ist die Bilanz ernüchternd: Weiterhin werden in mehr als 140 Staaten Gefangene gefoltert und misshandelt. Auch westliche Demokratien haben in den vergangenen Jahren kräftig am Foltertabu gerüttelt. »Wir haben ein paar Kerle gefoltert«, sagte US-Präsident Barack Obama nonchalant auf einer Pressekonferenz. Schläge, Schlafentzug, Stresspositionen, sexuelle Demütigungen, simuliertes Ertrinken – die Agenten der CIA bedienten sich schmutziger Methoden, um den Willen ihrer Gefangenen zu brechen. Bis heute wurde kein Täter zur Rechenschaft gezogen. Eine Welt ohne Folter – dies ist noch immer das Ziel, für das Amnesty kämpft. Es bleibt noch viel zu tun.
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Warum wir Bhopal nicht vergessen dürfen
»No more Bhopals.« Ruine der Pestizidfabrik von Union Carbide.
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Foto: Sanjit Das / Panos Pictures
Bei dem Giftgasunglück im indischen Bhopal starben 1984 Tausende Menschen. Die Verantwortlichen wurden bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen. Von Michael Gottlob Die Katastrophe von Bhopal jährt sich am 3. Dezember 2014 zum 30. Mal: Ein Leck in einer Pestizidfabrik der USamerikanischen Firma Union Carbide Corporation (UCC) ließ kurz nach Mitternacht Tonnen des hochgiftigen Gases Methylisocyanat (MIC) austreten. In wenigen Tagen starben in der indischen Metropole rund 8.000 Menschen, bis heute kamen weitere 15.000 Todesopfer hinzu. Die Bilder aus Bhopal, die nicht abreißende Kette der Schreckensnachrichten und die hochschnellenden Opferzahlen machten bald klar, dass es sich um einen der größten Unfälle der Industriegeschichte handelte. Bhopal gehört zu der langen Reihe von Desastern – von Seveso über Tschernobyl bis Fukushima –, die für den fahrlässigen Umgang mit technischen Risiken stehen. Das Gasunglück ist in das globale Gedächtnis eingegangen, auch als Beispiel dafür, dass westliche Konzerne gefährliche Produktionen in die Länder der Dritten Welt auslagern. Es geht an diesem Jahrestag aber nicht bloß um das Gedenken. Dass man wieder an Bhopal erinnern muss, liegt auch daran, dass die Überlebenden noch immer um Gerechtigkeit kämpfen. Bis heute sind sie finanziell nicht angemessen entschädigt worden. UCC zahlte im Jahr 1989 eine Abfindung in Höhe von 470 Millionen US-Dollar. Dass dieser Betrag viel zu gering ist, hat inzwischen auch die indische Regierung eingesehen. Sie will die Abfindungsvereinbarung im Licht des heutigen Kenntnisstands über die Auswirkungen der Katastrophe neu verhandeln. Gefordert wird ein zusätzlicher Betrag von bis zu 1,7 Milliarden Dollar. Nach Einschätzung der Betroffenengruppen wären allerdings 8,1 Milliarden Dollar nötig. Auch die Verseuchung des Fabrikgeländes ist noch nicht beseitigt. Die Bewohner der Umgebung müssen immer noch damit leben, dass Boden, Wasser und Luft verschmutzt sind. UCC verletzte schon vor dem Unglück die Sicherheitsstandards für die Lagerung toxischer Substanzen. Bis heute erweisen sich die staatlichen Stellen als unfähig, die Firma zur Sanierung des Geländes zu zwingen. Zudem sind die Verantwortlichen des Unglücks bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen worden. Lediglich einige indische Manager wurden im Juni 2010 zu geringfügigen Strafen verurteilt. Die Hauptverantwortlichen von UCC und Dow Chemical, seit 2001 alleinige Eigentümerin von UCC, in den USA haben sich bisher stets geweigert, vor indischen Gerichten zu erscheinen. Jetzt gab es eine erneute Vorladung vor ein Gericht in Bhopal. Amnesty fordert die indische und die US-Regierung auf, dafür zu sorgen, dass Dow Chemical ihr folgt. Dass sich die Verantwortlichen den rechtlichen Konsequenzen so lange entziehen konnten und die staatlichen Behörden in ihrer Schutzpflicht versagten, dies ist die zweite Katastrophe von Bhopal. Die erwartete mediale Aufmerksamkeit zum 30. Jahrestag gibt den Überlebenden noch einmal die Chance, der Weltöffentlichkeit ihre aktuelle Situation nahezubringen und den Druck auf die Regierungen zu erhöhen. Opfer von Menschenrechtsverletzungen durch multi-
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nationale Unternehmen stehen oft vor nahezu unüberwindlichen Hindernissen, um zu ihrem Recht zu gelangen. Nicht nur in Indien, wie ein Bericht von Amnesty International zeigt. Der Bericht »Injustice Incorporated« (März 2014) dokumentiert anhand von vier Fällen, wie Unternehmen ihre politische und finanzielle Macht ausnutzen, um sich ihrer Verantwortung zu entziehen. Neben Bhopal geht es um die Ok-Tedi-Mine in Papua Neuguinea, wo Minenabfall die Flüsse mit schädlichen Substanzen flutete (1984), das Goldbergwerk von Omai in Guyana, dessen Abfallsicherungssystem versagte (1995), sowie den Giftmüll der Firma Trafigura in Abidjan, Elfenbeinküste, der mehr als 100.000 Menschen gesundheitlich schädigte (2006). Besonders am letzten Beispiel wird deutlich: »Die Lektionen der Vergangenheit wurden nicht gelernt. Fast ein Vierteljahrhundert nach Bhopal wurden viele schwere Fehler wiederholt.« Die Menschenrechtsverletzungen sind in allen vier Fällen unbestritten, auch die Schuldhaftigkeit der Unternehmen. Aber mit juristischen Tricksereien und politischer Einflussnahme konnten sich die Verantwortlichen dem Zugriff der Gerichte entziehen. Angesichts des »gefährlichen Ungleichgewichts« zwischen multinationalen Unternehmen und potenziellen Opfern muss die Macht der Unternehmen begrenzt werden. Den Opfern vergangener Menschenrechtsverletzungen kommt dabei eine besondere Rolle zu. Nicht nur, dass sich letztlich an der Aufarbeitung ihrer Fälle erweisen muss, ob Standards wirklich erreicht sind. Auch als Akteure stehen sie an vorderster Front. Sie haben bereits über Jahrzehnte jene Hartnäckigkeit bewiesen, die als Garantie gegen die Wiederholung des Unrechts nötig ist. Dass es hier einige der ärmsten Menschen der Welt mit einigen der mächtigsten aufgenommen haben, sollten wir nicht aus den Augen verlieren. Für die Opfer in Bhopal war die Erfahrung von 1984 traumatisch. Und dieses Trauma dauert bis heute an. Sie waren denn auch besonders hellhörig, als gefordert wurde, die sichtbaren Überreste des Unglücks (das »Schandmal«) zu beseitigen. Im Jahr 2005 hatte die indische Regierung einen Wettbewerb für ein Mahnmal ausgeschrieben, dabei aber stets den Abbau der Anlage favorisiert. Die Überlebenden der Katastrophe, die in die Planungen nicht einbezogen wurden, wandten sich daher im Februar 2009 an die Repräsentantin der UNESCO in NeuDelhi mit der Bitte, dabei zu helfen, die Fabrikruine als Ort des Erinnerns zu bewahren. Inzwischen haben die Überlebenden den »Remember Bhopal Trust« gegründet und wollen noch in diesem Jahr ein kleines Museum errichten, das die Spuren der Zerstörungen und Verletzungen, an denen sie leiden, sichert und ihren Kampf um Gerechtigkeit nacherzählt. Sie bewahren ein tiefes Misstrauen gegenüber dem ungebremsten Gewinnstreben von Investoren und der Tatenlosigkeit, wenn nicht Komplizenschaft der Regierung, mit denen auch in Zukunft zu rechnen ist. Mit dem Slogan »No more Bhopals« gaben die Überlebenden ihrem Kampf eine globale und menschenrechtliche Perspektive. Die Erinnerung an das Unglück hält die verstörenden Fragen offen, die es aufgeworfen hat. Wir sollten sie als ständigen Appell begreifen, der Macht multinationaler Unternehmen weltweit rechtliche Grenzen zu setzen. Der Autor ist Sprecher der Indien-Kogruppe der deutschen AmnestySektion. Weiteres Material zu Bhopal unter: www.amnesty-indien.de/Main/Bhopal
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Dein Brief kann Leben retten Zum Internationalen Tag der Menschenrechte startet Amnesty International auch in diesem Jahr einen Briefmarathon – die weltweit größte Briefaktion für Menschen in Gefahr.
Fotos: Amnesty
»Eure vielen Solidaritätsschreiben haben mir neue Kraft und Stärke gegeben. Ich danke euch allen wirklich sehr! Ich weiß, dass jede Unterschrift, die Kampagne und eure Unterstützung mir dabei helfen werden, endlich das zu erreichen, was ich mir so sehnlich wünsche: Gerechtigkeit!« Mit diesen Worten bedankte sich Miriam López bei den Mitgliedern und Unterstützerinnen und Unterstützern von Amnesty International aus aller Welt, die sich im vergangenen Dezember am weltweiten Amnesty-Briefmarathon beteiligt und sich für die Mexikanerin eingesetzt hatten. Die Mutter von vier Kindern war 2011 von Soldaten willkürlich festgenommen und anschließend vergewaltigt und in anderer Weise gefoltert worden. Miriam López war einer von zwölf Fällen, für die im Rahmen des Briefmarathons 2013 Appellschreiben verschickt wurden. Adressaten waren Regierungen und Behörden, die aufgefordert wurden, Gefangene freizulassen, ein Todesurteil aufzuheben oder Personen zur Rechenschaft zu ziehen, die für Verstöße verantwortlich sind. Aber auch Opfer von Menschenrechtsverletzungen erhielten Briefe, als Zeichen der Solidarität und Unterstützung. Im vergangenen Jahr nahmen Hunderttausende Menschen aus 83 Ländern auf allen Kontinenten teil. Insgesamt wurden mehr als 2,3 Millionen Briefe, Faxe, E-Mails und SMS verschickt – das ist ein neuer Rekord! 99.296 Appelle kamen aus Deutschland, wo Amnesty-Gruppen mehr als 150 Aktionen in rund 100 Städten quer durch die Republik organisierten. Von Brasilien bis Australien, von Finnland bis Südafrika und von Kanada bis Taiwan veranstalteten Amnesty-Mitglieder Stra-
Über 2,3 Millionen Appelle weltweit. Briefmarathon in Sydney, Australien.
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ßenfeste, Konzerte, Fußballturniere, Fahrradtouren und Theaterstücke, um auf den Briefmarathon aufmerksam zu machen. Sie sammelten Unterschriften auf der Straße, gingen von Haustür zu Haustür oder trafen sich mit Unterstützerinnen und Unterstützern in Schulen, Universitäten und Cafés, um gemeinsam Briefe zu schreiben. So sammelten Amnesty-Mitglieder auf den Bermudas beispielsweise Briefe für einen inhaftierten Journalisten in Äthiopien, in der Elfenbeinküste wurden Appelle für einen politischen Gefangenen in Myanmar verschickt. In Chile galt die Aufmerksamkeit einem LGBTI-Aktivisten in Belarus, in Schweden schrieben Menschen Briefe für inhaftierte Oppositionelle in Bahrain, während in der Mongolei unter anderem Polizisten Appelle für politische Gefangene in Russland unterzeichneten und sich Amnesty Japan für eine verfolgte NGO in Honduras einsetzte. Dieser Einsatz zeigte auch im vergangenen Jahr wieder Wirkung: In Russland kamen Vladimir Akimenkov und Mikhail Kosenko frei, die in Moskau friedlich gegen Präsident Wladimir Putin demonstriert hatten. Ebenfalls aus dem Gefängnis frei kamen Yorm Bopha, eine Aktivistin aus Kambodscha, die sich in Phnom Penh gegen Zwangsräumungen einsetzt, und Jabeur Mejri, ein junger Mann aus Tunesien, der wegen der Veröffentlichung islamkritischer Artikel und Cartoons im Internet verurteilt worden war. Ohne den Einsatz vieler Menschen weltweit würden sie heute wohl immer noch im Gefängnis sitzen. Die Idee zum Briefmarathon kam ursprünglich aus Polen. Im Dezember 2001 traf sich eine Amnesty-Gruppe in Warschau, um innerhalb von 24 Stunden so viele Briefe wie möglich zu schreiben für Menschen in Gefahr. Ihre Idee verbreitete sich rasant und in den folgenden Jahren machten immer mehr Amnesty-Sektionen mit. In einigen Ländern wird zum Briefeschreiben innerhalb von 24 Stunden aufgerufen, in anderen Ländern, wie zum Beispiel in Deutschland, dauert der Briefmarathon mehrere Tage. Mittlerweile ist er die weltweit größte Briefaktion für Menschen in Gefahr. In Deutschland findet der Briefmarathon in diesem Jahr vom 3. bis 17. Dezember statt. Von den insgesamt zwölf Fällen unterstützt die deutsche Amnesty-Sektion fünf besonders: Chelsea Manning aus den USA, Moses Akatugba aus Nigeria, Raif Badawi aus Saudi-Arabien, Liu Ping aus China und Paraskevi Kokoni aus Griechenland. Es wäre schön, wenn auch dieses Mal wieder möglichst viele Menschen aus allen Teilen der Welt zu Stift, Tastatur oder Handy greifen würden. Denn je mehr Menschen mitmachen, umso größer ist der Druck auf die Verantwortlichen. Einen einzelnen Brief, der auf die Einhaltung der Menschenrechte pocht, können sie vielleicht ignorieren. Doch Hunderttausende garantiert nicht. Online mitmachen unter: www.briefmarathon.de
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Nigeria: Moses Akatugba Jugendlicher gefoltert und zum Tode verurteilt Moses Akatugba wurde im Alter von 16 Jahren festgenommen und später zum Tode verurteilt – nur, weil er Handys gestohlen haben soll. In der Haft zwang man ihn mit massiver Folter, die Tat zu »gestehen«. Am 27. November 2005 nahmen Soldaten Moses Akatugba in seiner Heimatstadt Ekpan fest, weil er angeblich Handys gestohlen hatte. Der 16-Jährige wurde in eine Kaserne gebracht, wo er misshandelt wurde. Anschließend kam der Jugendliche für mehrere Monate in Polizeihaft. Moses Akatugba berichtete, dort hätten Polizisten ihn mit Macheten und Schlagstöcken traktiert. Man habe ihn stundenlang mit gefesselten Armen aufgehängt und ihm die Zehen- und Fingernägel herausgerissen. Unter dem Druck der brutalen Folter unterschrieb Moses Akatugba zwei vorformulierte »Geständnisse«. Im November 2013 verurteilte ihn ein Gericht wegen bewaffneten Raubes zum Tode. Als Beweise galten die Aussage des vermeintlichen Diebstahlopfers und die erpressten »Geständnisse«. Moses Akatugba bestreitet die Tat. Nach internationalem Recht ist es verboten, die Todesstrafe gegen eine Person zu verhängen, die zum Tatzeitpunkt noch minderjährig war. Die schwerwiegenden Foltervorwürfe sind bis heute nicht untersucht worden.
unterstützen sie moses aKatuGba mit einem Gruss! Zeigen Sie sich solidarisch mit Moses Akatugba, der in der Todeszelle sitzt, zum Beispiel mit folgendem Gruß: »Sie sind nicht allein! Ich denke an Sie. Herzliche Grüße, Ihr Freund/Ihre Freundin von Amnesty International, (Name)«. Oder auf Englisch: »You are not alone! I’m thinking of you and send you my best wishes. Your friend from Amnesty International, (Name)«. Schicken Sie Ihre Grußbotschaft an: Human Rights, Social Development and Environmental Foundation (Moses Akatugba) PO Box 1800 Diobu Port Harcourt Rivers State NIGERIA
todesurteil GeGen moses aKatuGba auFheben! eXzellenz, Moses Akatugba wurde im November 2005 im Alter von 16 Jahren in Ekpan festgenommen, weil er Handys gestohlen haben soll. Seinen Angaben zufolge wurde er zunächst in einer Kaserne misshandelt und später während des mehrmonatigen Polizeigewahrsams schwer gefoltert. Man zwang ihn, zwei vorformulierte »Geständnisse« zu unterschreiben. Im November 2013 wurde Moses Akatugba unter anderem auf Grundlage dieser Geständnisse zum Tode verurteilt. Ich möchte Sie daran erinnern, dass es nach der UN-Antifolterkonvention nicht erlaubt ist, Aussagen, die durch Folter herbeigeführt wurden, als Beweis in einem Prozess zu verwenden. Nigeria ist außerdem dazu verpflichtet, Foltervorwürfe umgehend und unparteiisch zu untersuchen. Zudem ist es nach internationalem Recht verboten, die Todesstrafe gegen eine Person zu verhängen, die zum Tatzeitpunkt minderjährig war. daher Fordere ich sie auF, • das Todesurteil gegen Moses Akatugba aufzuheben; • die von ihm erhobenen Foltervorwürfe umgehend und unabhängig untersuchen zu lassen.
His Excellency Dr. Emmanuel Uduaghan Governor of Delta State Office of the Governor Government House Asaba Delta State NIGERIA
Hochachtungsvoll,
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Griechenland: Paraskevi Kokoni Rassistische Angriffe auf Roma In Griechenland kommt es immer wieder zu Angriffen auf Roma. Im Oktober 2012 wurde Paraskevi Kokoni in Etoliko auf offener Straße attackiert. Polizei und Justiz müssen entschieden gegen rassistische Übergriffe vorgehen. Paraskevi Kokoni war am 13. Oktober 2012 mit ihrem Sohn und ihrem Neffen in Etoliko unterwegs, um einzukaufen. Plötzlich stürmten einige Männer, die in einem Café saßen, los und attackierten die Romafamilie mit Holzbrettern, die auf einem Lastwagen lagen. Paraskevi Kokoni und ihr Sohn erlitten Verletzungen und mussten medizinisch behandelt werden. Ihr Neffe wurde bewusstlos geschlagen. Die Polizei unternahm nicht genug, um der Romafamilie zu helfen. Nach Angaben von Paraskevi Kokoni sagte ein Polizist: »Habe ich euch nicht gesagt, dass ihr das Dorf verlassen sollt? Für euch ist es nicht sicher hier.« Es war nicht der erste rassistisch motivierte Angriff auf die in Etoliko lebenden Roma. Vermutlich angestiftet durch die rechtsextreme Partei Goldene Morgenröte hatten Einwohnerinnen und Einwohner des westgriechischen Ortes bereits zuvor zwei Mal Roma in ihren Häusern attackiert, ihr Eigentum zerstört und mehrere Menschen verletzt. Viele Romafamilien flohen daraufhin aus dem Ort und kehrten erst Monate später zurück.
unterstützen sie ParasKevi KoKoni mit einer PostKarte! Schicken Sie Paraskevi Kokoni eine Postkarte. Sie können Ihre Grüße im griechischen Romani-Dialekt oder auf Deutsch senden, zum Beispiel: »Σκεμπτζαβα ι τούκι – Ich denke an Sie. Τίτσερες δύναμη – Bleiben Sie stark. Σινάμ ετούσα κα τι τσαβέντζα – »Wir halten zu Ihnen und Ihren Angehörigen.« Schicken Sie Ihre Postkarte an: Paraskevi Kokoni c/o Amnesty International Griechenland Sina 30 10672 Athen GRIECHENLAND
GerechtiGKeit Für ParasKevi KoKoni! sehr Geehrter herr minister, ich möchte Sie um Unterstützung für Paraskevi Kokoni bitten, die gemeinsam mit zwei weiteren Familienmitgliedern am 13. Oktober 2012 in Etoliko von mehreren Männern auf der Straße angegriffen und verletzt wurde. Paraskevi Kokoni gehört zur Roma-Gemeinschaft des Ortes und es besteht der Verdacht, dass der Angriff rassistisch motiviert war. Die lokale Roma-Bevölkerung war zuvor bereits zwei Mal angegriffen worden. Im November 2013 wurden drei Männer im Zusammenhang mit dem Angriff auf Paraskevi Kokoni, ihren Sohn und ihren Neffen wegen schwerer Körperverletzung angeklagt. Dabei wurden mögliche rassistische Motive des Angriffs jedoch nicht berücksichtigt. daher Fordere ich sie auF, • zu gewährleisten, dass die Täter, die Frau Paraskevi Kokoni und ihre Familie angegriffen haben, unverzüglich verurteilt werden und das rassistische Motiv für den Angriff im Urteil berücksichtigt wird. Hochachtungsvoll,
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Minister of Justice Charalampos Athanassiou Ministry of Justice, Transparency and Human Rights Mesogeion Avenue 96 11527 Athen GRIECHENLAND
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USA: Chelsea Manning 35 Jahre Haft für Whistleblowing Der Fall machte international Schlagzeilen: Chelsea Manning gab vertrauliche Informationen an die Enthüllungsplattform Wikileaks weiter. Sie wurde dafür zu 35 Jahren Haft verurteilt. Amnesty fordert ihre Begnadigung. Chelsea Manning (vormals Bradley Manning) wurde am 21. August 2013 zu 35 Jahren Haft verurteilt. Die ehemalige Angehörige der US-Streitkräfte wurde für schuldig befunden, vertrauliche Regierungsinformationen an die Online-Enthüllungsplattform Wikileaks weitergegeben zu haben. Diese Informationen enthielten unter anderem Hinweise darauf, dass Angehörige der US-Armee und der CIA bei Einsätzen im Ausland möglicherweise gegen das Völkerrecht verstoßen haben. Chelsea Manning wollte nach eigenen Angaben Missstände aufdecken. Nach Ansicht der US-Regierung gefährdete sie die nationale Sicherheit und Menschenleben. Während ihrer Untersuchungshaft wurde Chelsea Manning sieben Monate lang in Isolationshaft gehalten. Vor Gericht hatte sie keine angemessene Möglichkeit, sich zu ihrer Verteidigung auf das öffentliche Interesse zu berufen. Amnesty International fordert, dass Chelsea Manning angesichts ihrer Motive, ihrer menschenrechtswidrigen Behandlung in der Untersuchungshaft und verfahrensrechtlicher Fehler begnadigt werden sollte.
unterstützen sie chelsea manninG mit GeburtstaGsGrüssen! Chelsea Manning darf im Militärgefängnis Briefe und Postkarten erhalten. Sie können ihr zum Beispiel zu ihrem Geburtstag am 17. Dezember gratulieren. Falls Sie ein Foto senden möchten, beachten Sie bitte das maximal zulässige Maß von 12,7 x 17,78 Zentimeter. Ihr Brief sollte nicht länger als sechs Seiten sein. Schicken Sie Ihre Grüße an: Chelsea E Manning 89289 1400 North Warehouse Road Fort Leavenworth Kansas 6602702304 USA
Freiheit Für chelsea manninG! sehr Geehrter herr Präsident, Chelsea Manning wurde für die Weitergabe vertraulicher Informationen zu 35 Jahren Haft verurteilt. Die US-Regierung machte geltend, dass sie die nationale Sicherheit und Menschenleben gefährdet habe. Manning sagte, dass sie Missstände aufdecken wollte. Sie wurde sieben Monate lang in Isolationshaft gehalten. Der UN-Sonderberichterstatter über Folter hat dies als grausam und unmenschlich bezeichnet. Ihr wurde zunächst nicht ermöglicht, sich zu ihrer Verteidigung auf das öffentliche Interesse zu berufen. Ich bin der Ansicht, dass Manning angesichts ihrer Handlungsmotive, ihrer menschenrechtswidrigen Behandlung und der verfahrensrechtlichen Fehler begnadigt werden sollte. daher Fordere ich sie auF, • sich dafür einzusetzen, dass das Urteil umgewandelt und Chelsea Manning unverzüglich freigelassen wird; • die von Manning offengelegten Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen und Schritte gegen die Verantwortlichen einzuleiten; • Whistleblower, die Informationen von öffentlichem Interesse veröffentlichen, zu schützen, anstatt sie anzuklagen.
President Barack Obama The White House 1600 Pennsylvania Avenue NW Washington DC 20500 USA
Hochachtungsvoll,
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China: Liu Ping Repressionen gegen die »Neue Bürgerbewegung« Die chinesische Bürgerrechtlerin Liu Ping sitzt im Gefängnis, weil sie Korruption angeprangert hat. Amnesty International fordert die sofortige Freilassung der gewaltlosen politischen Gefangenen. Die chinesische Bürgerrechtlerin Liu Ping wurde im Juni 2014 zu sechseinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Sie hatte gemeinsam mit anderen im April 2013 eine Demonstration organisiert: Damit sollten hochrangige Staatsbedienstete aufgefordert werden, ihr Vermögen offenzulegen. Kurz darauf wurde die Bürgerrechtlerin in ihrer Heimatstadt Xinyu festgenommen. Die Behörden warfen ihr unter anderem vor, sie habe »Streit angefangen« und durch eine Versammlung die öffentliche Ordnung gestört. Vor Gericht gab Liu Ping an, in der Untersuchungshaft gefoltert worden zu sein. Unter anderem habe man sie mit dem Kopf gegen Metallstangen gestoßen. Amnesty International betrachtet die Strafverfolgung der Bürgerrechtlerin als politisch motiviert. Liu Ping gehört zu Dutzenden von Menschen, die in China inhaftiert sind, weil sie sich der »Neuen Bürgerbewegung« verbunden fühlen. Es handelt sich dabei um ein lockeres Netzwerk von Aktivistinnen und Aktivisten, die Korruption aufdecken und von den Behörden Transparenz fordern.
unterstützen sie liu PinG mit GeburtstaGsGrüssen! Am 2. Dezember 2014 wird Liu Ping 50 Jahre alt. Schicken Sie der chinesischen Bürgerrechtlerin einen Geburtstagsgruß ins Gefängnis: Liu Ping Jiangxi Nanchang Women’s Prison 630 Changzheng Road Zhang Leng County Nanchang City Jiangxi Province, 330100 VOLKSREPUBLIK CHINA Sie können Ihre Geburtstagsgrüße und Fotos für Liu Ping auch ins Internet stellen: messagesforliuping.tumblr.com
Freiheit Für liu PinG! sehr Geehrter herr Präsident, die Bürgerrechtlerin Liu Ping wurde im Juni 2014 zu sechseinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Sie wurde für schuldig befunden, Streit angefangen und durch eine Versammlung die öffentliche Ordnung gestört zu haben. Liu Ping hat jedoch lediglich von ihren Rechten auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit Gebrauch gemacht. Sie hat sich gegen Korruption eingesetzt und mehr Transparenz gefordert. Die Inhaftierung einer Aktivistin, die sich für mehr Transparenz einsetzt, steht im Widerspruch zu der propagierten Absicht der Regierung, Korruption bekämpfen zu wollen. Liu Ping leidet unter gesundheitlichen Problemen und erhält in der Haft nicht die notwendige medizinische Behandlung. daher Fordere ich sie auF, • Liu Ping umgehend und bedingungslos freizulassen; • dafür zu sorgen, dass sie eine unabhängige medizinische Untersuchung und jede nötige Behandlung erhält; • sicherzustellen, dass sie nicht gefoltert oder anderweitig misshandelt wird.
President Xi Jinping The State Council General Office 2 Fuyoujie Xichengqu Beijingshi 100017 VOLKSREPUBLIK CHINA
Hochachtungsvoll,
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Saudi-Arabien: Raif Badawi Tausend Peitschenhiebe für Bloggen Raif Badawi gründete in Saudi-Arabien eine Webseite für öffentlichen Meinungsaustausch. Sein Engagement für mehr Meinungsfreiheit in Saudi-Arabien kam ihn teuer zu stehen: Zehn Jahre Haft und 1.000 Peitschenhiebe. Raif Badawi ist seit fast zweieinhalb Jahren in einem Gefängnis der saudi-arabischen Stadt Dschidda inhaftiert. Sein Vergehen: Er gründete eine Online-Plattform zum Meinungsaustausch über politische und soziale Themen. Der Blogger wurde am 17. Juni 2012 festgenommen. Nach einem jahrelangen juristischen Tauziehen verurteilte ihn ein Gericht am 7. Mai 2014 wegen Gründung der Webseite »Saudi-arabische Liberale« und wegen »Beleidigung des Islams« zu zehn Jahren Haft, 1.000 Peitschenhieben und einer Geldstrafe von einer Million SaudiRial (etwa 195.000 Euro). Nach Verbüßung seiner Haftstrafe darf Raif Badawi außerdem zehn Jahre lang nicht reisen und keine Medienkanäle mehr nutzen. Raif Badawi ist einer von vielen gewaltlosen politischen Gefangenen in Saudi-Arabien, die wegen kritischer Äußerungen verurteilt wurden. In dem Golfstaat wird die Meinungsfreiheit massiv unterdrückt. Die Behörden verstärkten in den vergangenen Jahren auch die Kontrolle der sozialen Medien, die häufig genutzt werden, um Reformen zu fordern.
unterstützen sie raiF badawi mit einem Gruss! Um den gewaltlosen politischen Gefangenen Raif Badawi zu unterstützen, können Sie Twitter nutzen (sein Account @raif_badawi wird von seiner in Kanada lebenden Frau Ensaf Haidar verwaltet). Schicken Sie zum Beispiel folgende Botschaften: »@raif_badawi You are not forgotten, #FreeRaif; #Istandwithraif, #Saudi«. Sie können auch Ensaf Haidar einen Brief schicken: Ensaf Haidar c/o Amnistie Internationale Canada Francophone 50 Rue Ste-Catherine Ouest, Bureau 500 Montreal Quebec H2X 3V4 KANADA
Freiheit Für raiF badawi! majestät, Raif Badawi verbüßt derzeit in einem Gefängnis in Dschidda eine zehnjährige Haftstrafe. Er wurde am 7. Mai 2014 wegen Gründung der Webseite »Saudi-arabische Liberale« und wegen Beleidigung des Islams schuldig gesprochen. Er wurde außerdem zu 1.000 Peitschenhieben und einer Geldstrafe verurteilt. Ich betrachte Raif Badawi als gewaltlosen politischen Gefangenen, der allein deshalb verurteilt wurde, weil er friedlich von seinem Recht auf Meinungsfreiheit Gebrauch gemacht hat. Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass die Ausübung dieses grundlegenden Menschenrechts auch von Saudi-Arabien garantiert werden muss. Außerdem möchte ich Sie daran erinnern, dass Saudi-Arabien Vertragsstaat des UN-Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung ist, das die Verhängung von Körperstrafen wie Stock- oder Peitschenhiebe untersagt. daher Fordere ich sie auF, • Raif Badawi unverzüglich und bedingungslos freizulassen; • das Urteil gegen ihn aufzuheben; • die Auspeitschung nicht zu vollstrecken.
His Majesty King Abdullah bin Abdul Aziz Al Saud The Custodian of the two Holy Mosques Office of His Majesty the King Royal Court Riyadh SAUDI-ARABIEN
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54 Dokumentarfilm: »Istanbul United« über türkische Fußballfans und die Gezi-Proteste 56 Interview: Die kurdische Sängerin Aynur über ihr verfolgtes Volk 58 Literatur: »Americanah« und »Die Ewigen« – zwei große Romane des Jahres 60 Bücher: Von »Washingtons Söldner« bis »Nanas Liebe« 62 Musik & Film: Von »Spanien im Herzen« bis »Bekas«
Und jetzt alle! Stadion Galatasaray, Istanbul. Foto: Olli Waldhauer / Port au Prince Pictures
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Die Fanclubs der drei großen Istanbuler Fußballvereine sind traditionell verfeindet – im Protest jedoch vereint. Beşiktaş-Stadion.
Treffer versenkt Der Dokumentarfilm »Istanbul United« untersucht die Rolle von Fußballfans bei den sozialkritischen Gezi-Park-Protesten in Istanbul im Sommer 2013. Einige von ihnen stehen wegen ihres Engagements nun vor Gericht. Es drohen ihnen drakonische Strafen. Von Deniz Yücel
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enn das möglich ist, können wir hier alles erreichen«, sagt eine Aktivistin in dem Film »Istanbul United«. Ein Satz, der deutlich macht, warum im Frühjahr und Sommer 2013 ein Hauch von Revolution durch Istanbul wehte: Im Zuge der Gezi-Park-Proteste standen die verfeindeten Fans der drei großen Istanbuler Fußballclubs Galatasaray, Fenerbahçe und Beşiktaş Seite an Seite – was zuvor undenkbar erschien. Der Film von Olli Waldhauer und Farid Eslam dokumentiert diesen besonderen Moment: Es geht um das Lebensgefühl in der Kurve, und darum, wie sich die Ultras beim Gezi-Aufstand plötzlich unter dem Motto »Istanbul United« vereinigten. Porträtiert werden drei Fans, außerdem kommen die zitierte Aktivistin und ein Sportjournalist zu Wort. Fast eine Dreiviertelstunde vergeht, bis der Film die Gezi-Proteste in den Blick nimmt: Straßenschlachten, Tränengas, Barrikaden, Verletzte. Das Bildmaterial stammt größtenteils von Handyvideos, die auf Youtube die Runde machten. Es sind bewegende und schockierende Bilder, die deutlich machen, dass die Ultras bei den Aus-
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einandersetzungen mit der Polizei in vorderster Reihe standen. »Die Fans wurden wie die einreitende Kavallerie empfangen«, erzählt der Journalist. Tatsächlich wurden die Ultras, insbesondere die des Beşiktaş-Fanclubs Çarşı zu Volkshelden – jedenfalls für die Hälfte der türkischen Gesellschaft, die es nicht mit Recep Tayyip Erdoğan hält. Im Internet kursieren teils wahre, teils erfundene Heldengeschichten. Und unter den Menschen, die bei der Räumung des Gezi-Parks im Divan-Hotel eingeschlossen waren – darunter die deutsche Grünen-Politikerin Claudia Roth – brach Jubel aus, als sich die Nachricht verbreitete, die Ultras seien auf dem Weg, um sie herauszuholen. »Dass Çarşı zu einer solchen Projektionsfläche wurde, hat etwas mit der Sehnsucht nach einem Superman zu tun, der es den Prügelpolizisten heimzahlt«, sagt Çarşı-Sprecher Önder Abay. »Aber darin zeigt sich auch das Bedürfnis nach einer anderen politischen Opposition.« Dies erkannte bald auch die Regierung. Als Erdoğan am Tag nach der Räumung des Gezi-Parks eine Kundgebung vor Hunderttausenden Anhängern abhielt, wehten vor dem Rednerpult amateurhaft gefälschte Fahnen mit der Aufschrift Çarşı – man wollte damit suggerieren, wenigstens ein Teil der Fans unterstütze den damaligen Regierungschef. Mehr als ein Jahr später, im September 2014, wurde gegen 35 Çarşı-Mitglieder ein Strafprozess eröffnet. Mitte Dezember sollen die Verhandlungen beginnen. »Putschversuch« lautet der Vorwurf, die Staatsanwaltschaft fordert lebenslängliche Haft aufgrund der besonderen Schwere der Schuld. Unter den Angeklagten ist auch Ayhan Güner, der in »Istanbul United« porträtiert wird. Dem Film mangelt es allerdings an Tiefe. Er richtet den Blick
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Fotos: Port au Prince Pictures
auf die Militanz und die Gewaltverherrlichung, die in der Ultraszene teilweise herrscht, und wird damit seinem Anspruch nicht gerecht, den Beitrag der Fans zu den Gezi-Protesten darzustellen. Denn der bestand nicht nur in Militanz – Straßenkampferfahrung hatten auch kurdische oder linke Aktivisten und Aktivistinnen. Mindestens genauso wichtig war der Humor, den die Fans vom Stadion auf die Straße trugen. Zu den Sprechchören, auf die sich in jenen Tagen Kemalisten und Kurden, Linke und Liberale, Homosexuelle, fromme Muslime und alle anderen verständigen konnten, gehörten das Spottlied auf die Polizei »Los, schieß dein Gas« und der Çarşı-Gesang »Tränengas, olé!«. »Wenn Menschen, die gerade mit Reizgas beschossen wurden, noch mit roten Augen ›Tränengas olé!‹ rufen, also darüber lachen, verhindert dies Traumatisierungen«, erläuterte ein Istanbuler Psychologe die Wirkung solcher Lieder. Auch der Ort, an dem diese Sätze fielen, hatte mit den Fans zu tun: Wenige Tage nach der Räumung des Gezi-Parks fand im Abbasağa-Park im Viertel Beşiktaş ein »Parkforum« statt. In der allgemeinen Niedergeschlagenheit, die nach der Räumung herrschte, hatten Çarşı-Leute die Initiative ergriffen und in »ihrem« Park ein »Forum« organisiert. Schon am nächsten Abend versammelten sich dort mehrere Tausend Menschen – wie auch in anderen Parks in Istanbul und anderswo. Die »Parkforen« wurden einen Sommer lang zur Anlaufstelle. Dort wurden die Diskussionen fortgesetzt, die im Gezi-Park begonnen hatten. Die Foren stifteten das Gefühl, dass es auch nach dem Verlust des Gezi-Parks weitergehen würde, ehe sie sich im Herbst allmählich auflösten. »Im Gezi-Park haben wir gekämpft und gefeiert. Miteinander zu reden, haben wir erst in den Parkforen gelernt«, sagt der Lehrer Necmi Sağlar, der monatelang das »Parkforum« in Beşiktaş moderiert hat. »Dort sind Netzwerke entstanden, deren Legitimität auf Gezi zurückgeht. So, wie sich die Parkforen aus Gezi entwickelt haben, wird sich vielleicht daraus etwas Neues entwickeln. Jetzt sind wir wieder in einer Phase, in der alles über einige Aktivisten läuft.« In »Istanbul United« jedoch erfährt man von alledem nichts. Dafür führt der Film in die Fankurve. Es geht derb zu, Schieds-
richter werden als »Hurensöhne« beschimpft, gegnerische Spieler als »schwul«, ständig ruft jemand, er wolle irgendwen »ficken«. Diese Szenen wiederholen sich mit einer Penetranz, dass Anfang September nach einer Filmvorführung in Berlin mit anschließender Diskussion mehrere Kinobesucher darauf zu sprechen kamen. Regisseur Waldhauer verurteilte die Parolen, meinte aber, dass es in der Kurve nun mal derb zur Sache gehe. Dabei waren die sexistischen und homophoben Sprüche, die auf die Polizei und den damaligen Ministerpräsidenten Erdoğan umgedichtet wurden, ein weiterer Beitrag der Fans. Allerdings ein unfreiwilliger. In den fast zwei Wochen, in denen sich die Polizei aus dem Gezi-Park zurückgezogen hatte, forderten transsexuelle Prostituierte, die im Gezi-Park gleich neben den Beşiktaş-Fans zelteten, diese auf, Wörter wie »schwul« und »Hure« nicht als Schimpfwort zu benutzten. Frauen übermalten sexistische Parolen und veranstalteten Workshops zum Thema Sprache und Gewalt. Andere, vornehmlich junge Aktivistinnen, hielten dem entgegen, dass sie keine braven Mädchen sein wollten. In ihrer Wut bedachten sie selbst Polizisten mit Flüchen wie »Ich ficke dein Schicksal«. Ihre Strategie gegen Sexismus war nicht die Säuberung von Sprache, sondern deren Aneignung. Diese Diskussionen haben Spuren hinterlassen. Wer die damaligen Demonstranten heute fragt, was sie in Gezi gelernt haben, bekommt häufig zu hören: »Ich hatte zum ersten Mal in meinem Leben mit Schwulen zu tun.« Noch mit dem Abstand von anderthalb Jahren bekunden Schwule, Lesben und Transsexuelle, dass sich für sie durch Gezi alles verändert habe. Von solchen Prozessen erfährt man in »Istanbul United« nichts. Gezi war eben nicht nur ein militanter Aufstand, erst durch diese Prozesse wurde daraus ein kulturrevolutionärer Aufbruch, dessen Folgen man erst aus historischem Abstand wird beurteilen können. Über Gezi wird man in der Türkei noch in vielen Jahren reden. »Istanbul United« hält davon einige Bilder fest – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Deniz Yücel ist taz-Redakteur und Autor des Buches »Taksim ist überall – Die Gezi-Bewegung und die Türkei«, Edition Nautilus.
Fußball ist Politik. Fenerbahçe.
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»istanbul united«
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»Wie kann man diese Barbarei vergessen?« Aynur Dog˘an ist die bekannteste kurdische Sängerin der Türkei. Weil sie gegen die Unterdrückung der Frau sang, wurde eines ihrer Alben verboten. Ein Gespräch über die Diskriminierung einer Kultur und die Verfolgung einer Ethnie.
Aynur Doğan, 39, kleidet traditionelle kurdische Volkslieder in moderne, akustische Folk-Arrangements. Durch ihren Auftritt in Fatih Akins IstanbulMusik-Dokumentation »Crossing the Bridge« wurde sie 2005 auch einem deutschen Publikum bekannt. Zuletzt erschien ihr Album »Hevra« (Deutsch: Zusammen), das seit diesem Sommer auch in Deutschland vertrieben wird.
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Sie sind 1975 geboren. Damals war kurdische Musik in der Türkei noch gänzlich verboten … Ja, die Menschen vergruben Kassetten mit kurdischer Musik aus Angst in der Erde und wenn sie sie heimlich hören wollten, gruben sie sie aus. Trotzdem war Ihre Kindheit von kurdischer Musik geprägt? Ich bin in einem Dorf in der ostanatolischen Provinz Dersim aufgewachsen, in einer alevitisch-kurdischen Familie. Alle unsere Lieder waren auf Kurdisch, auch manche unserer rituellen Semah-Tänze und überlieferten Erzählungen. Wir lauschten den Liedern der Alten – den Epen unserer Dengbej-Barden oder den Frauen, die auf Hochzeiten und bei religiösen Cem-Zeremonien sangen. Als ich später in der Provinzhauptstadt Elazig auf die Mittelschule ging, habe ich dort unter anderem die Alben des kurdischen Protestsängers Sivan Perver gehört. 1992 kamen Sie mit Ihrer Familie nach Istanbul. Weshalb? Die frühen neunziger Jahre waren eine der gewalttätigsten Phasen in der türkischen Geschichte. In den kurdischen Gebieten kam es damals fast täglich zu ungeklärten Verbrechen, Massakern, willkürlichen Festnahmen. Viele Dörfer wurden niedergebrannt oder bombardiert. Auch wir verließen, wie viele andere, in dieser Zeit unser Dorf und zogen nach Istanbul. Zehn Jahre später veröffentlichten Sie Ihr erstes Album und 2004 das zweite, das sehr erfolgreich war. Für Aufsehen sorgte schon der Titelsong »Kece Kurdan«, auf Deutsch: »Kurdisches Mädchen«. Wie kamen Sie auf das Lied? Ich habe das Lied sehr oft gehört, als wir gerade nach Istanbul gezogen waren, wo ich das Gymnasium beendete. Es handelt vom Kampf der kurdischen Frau – gegen Feudalismus und Unterdrückung und davon, dass sie ihrer Identität beraubt werden soll. Es ist ein Lied, das dazu aufruft, sich der männlichen Vorherrschaft zu widersetzen. Mehr als ein Jahr, nachdem das Album erschienen war, wurde es von einem türkischen Gericht verboten, weil das Lied angeblich Frauen dazu ermutige, sich dem kurdischen Widerstand anzuschließen. Haben Sie diese Reaktion erwartet? Eigentlich nicht. Damals hatte sich die Türkei gerade in Richtung Europäische Union geöffnet, es gab positive Signale für die Kurden. Ein halbes Jahr lang war das Album dann aus den Regalen verschwunden.
Foto: iksvpress.com
Dann wurde das Urteil aufgehoben. Was dachten Sie da? Dadurch wurde uns klar, dass sich doch noch nicht so viel geändert hatte. Dass sich die Gesetze ändern müssen, damit sich wirklich etwas ändert. In der Türkei wurde ja früher nicht nur kurdische Musik – sogar Instrumentalmusik – verboten. Es traf auch türkische Musiker, zum Beispiel Volkssänger wie Ruhi Su. Auch später haben Sie Anfeindungen erlebt. Im Sommer 2011 wurden Sie beim Jazz-Festival in Istanbul ausgebuht. Warum? Es war nur eine Minderheit, die dagegen protestierte, dass ich auf Kurdisch sang – eine gezielte Provokation. Denn ich hatte die Lieder auch zuvor schon auf Kurdisch gesungen. Wie haben Sie die Situation erlebt? In dem Moment habe ich nur eine innere Leere gespürt. Meine Lieder wurden viele Male im türkischen Fernsehen
interview
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aynur doĞan
gespielt, ich habe viel Zuspruch erhalten. Da trifft einen so etwas völlig unerwartet. Aber man muss erkennen, dass es Menschen gibt, die diesen Frieden nicht wollen. Wie oft treten Sie in der Türkei auf? Für Leute wie mich, die kurdische Musik machen, sind die Bedingungen sehr schwierig, weil wir auf nichts Anspruch haben. Selbst auf TRT 6, dem neuen kurdischsprachigen Programm des türkischen Staatsfernsehens, kommt kurdische Musik oder kurdische Kultur kaum vor. Werden kurdische Musiker noch immer ausgegrenzt? Eine aktive Unterstützung gibt es nicht. Und seit den GeziProtesten im vergangenen Sommer werden in allen Institutionen nur noch die eigenen Leute gefördert. Künstler, die anders denken, kommen gar nicht zum Zug. Wir kurdischen Musiker, Maler, Filmemacher oder Literaten haben von diesen Vereinigungen und Institutionen ohnehin nie profitiert, wir wurden nie gefördert und werden es wohl auch künftig nicht. Gab es seit den Neunzigern keine Fortschritte für die Kurden? Doch, die gibt es. Aber die Reformen müssen auch weitergeführt werden. Wir wollen eine demokratische Türkei. Da ist es nicht mit einem kurdischen Fernsehsender getan, mit Lizenzen für ein paar kurdische Sender oder der Erlaubnis, ein oder zwei Universitäten zu öffnen. Die kurdische Sprache wird verloren gehen, wenn sie nicht im Alltag gelebt und an den Schulen gelernt werden kann. Wo steht der türkisch-kurdische Friedensprozess? Es gibt ein kurdisches Volk, das seine eigene Sprache, Kultur und Tradition besitzt und dafür seit Jahren einen hohen Preis zahlt. Meine Großmutter ist gestorben, ohne ein Wort Türkisch zu können. Die Türkei muss das anerkennen. Man darf Menschen nicht wegen ihrer Herkunft ausgrenzen. Es darf nicht sein, dass der Friedensprozess scheitert. Das wäre nicht gut, für beide Seiten nicht. Wir dürfen das nicht zulassen. Kurden und Türken leben doch schon so lange zusammen. Und trotz aller Gewalt und aller Kämpfe, allem Hass und allem Rassismus müssen sie nach Wegen suchen, zusammen in Frieden zu leben. Es gibt keine Alternative. In den Nachbarländern sind die Kurden massiven Angriffen ausgesetzt. Früher wurden sie im Nordirak und in Syrien von Saddam Hussein und Bashar al-Assad unterdrückt, jetzt kämpfen die Milizen des »Islamischen Staats« gegen sie. Wie verfolgen Sie die Geschehnisse? Mit großer Sorge. Besonders die dramatischen Bilder aus dem Sindschar-Gebirge, als kleine Kinder, Frauen und Alte im August bei sengender Hitze in die Berge flüchten mussten, haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Wie kann man diese Barbarei vergessen? Ich würde mir mehr internationale Anteilnahme am Schicksal der jesidischen Frauen wünschen, damit sie aus den Fängen des IS befreit werden. Wenn ich an die Qualen denke, die diese Frauen erleiden müssen, schäme ich mich, dass ich lebe. Und auch in Kobane spielt sich eine Tragödie ab, und alle schauen zu, als wäre man in einem Theater. Diese Ungerechtigkeit haben wir nicht verdient. Wir mögen keine Kriege, wir wollen nicht kämpfen, wir lieben den Frieden. Fragen: Daniel Bax
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Tot und doch präsent Der Roman »Die Ewigen« des argentinischen Schriftstellers Martín Caparrós erzählt vom Leben und Sterben in einem Land, in dem während der Militärdiktatur Tausende Regimegegner »verschwanden«. Von Maik Söhler
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Foto: Geoff Renner / Robert Harding World Imagery / pa
wischen 1976 und 1983 hörten Tausende Argentinier plötzlich auf zu existieren. Die nach dem Ende der Diktatur vom damaligen Präsidenten Raúl Alfonsín eingerichtete Untersuchungskommission zum Verschwindenlassen von Personen gab in ihrem Abschlussbericht an, rund 9.000 Menschen seien der Militärdiktatur zum Opfer gefallen. Menschenrechtler gehen von 25.000 bis 30.000 Verschwunde-
nen aus. Sie hatten ihre Stimme gegen die faschistische Junta unter Jorge Rafael Videla erhoben oder waren vom Regime als Gefahr für den »Prozess der Nationalen Reorganisation« betrachtet worden. Das Verschwindenlassen und die Ermordung der Regimegegner beschäftigen bis heute die argentinische Politik, Justiz und Gesellschaft. Der Roman »Die Ewigen« von Martín Caparrós, der jetzt auf Deutsch erschienen ist, zählt zu den wichtigsten Neuerscheinungen dieses Jahres. Es geht dem argentinischen Schriftsteller und Journalisten nicht darum, wie viele Opfer die Militärdiktatur zu verantworten hat. Sein Thema ist der große Gleichmacher – der Tod selbst. Dem Protagonisten des Romans, Nito, gelingt es, die Lebenden mit seinen Gedanken und Worten über den Tod einzuschüchtern: »Die einen können Fußball spielen, andere singen, andere lösen Logarithmen; ich vermag mir den Tod vorzustellen.« Nito kommt zur Welt, als der zweimalige, von vielen Argentiniern bis heute verehrte Präsident Juan Perón gerade stirbt. Nitos Vater wird kurz danach bei einem Autounfall getötet. Schon früh ist der Tod also in seinem Leben gegenwärtig, die Endlichkeit ist ihm schon als Kind deutlich bewusst. Als er später den Fahrer des Autos, das seinen Vater tötete, zur Rede stellt, bemerkt er, dass ihm die Angst vor dem Tod, die andere Menschen haben, nützlich ist und zu Macht verhilft. Caparrós behandelt fast sämtliche Aspekte, die mit dem Sterben verbunden sind: Angst und Freude, Trauer und Hoffnung, Leugnung und Sehnsucht, Alter, Unfall und Suizid, Selbst- und Fremdbestimmung, die Bedeutung der Bestattung in der Zivilisationsgeschichte, das Geschäft mit den Beerdigungen, die Kunst und ihr Blick auf den Verfall, kurz: die Omnipräsenz des Todes. Auf fast 450 Seiten entsteht ein Panoptikum des Endes vom Leben. Der Roman ist bedrückend und erhellend zugleich, denn in seinem Zentrum und an seinen Rändern findet sich das, was viele von uns am meisten fürchten. Was auf den ersten Blick als entpolitisierende Reflexion über den Tod erscheint, verwandelt sich bei genauerem Lesen in politische Prosa par excellence. Denn Caparrós gibt, ohne auch nur einen Satz darüber zu schreiben, den ermordeten Regimegegnern jenen Platz in der argentinischen Gesellschaft zurück, den ihnen die Diktatur für immer verweigern wollte, indem sie sie verschwinden ließ. Martín Caparrós: Die Ewigen. Aus dem Spanischen von Sabine Giersberg. Berlin Verlag, Berlin 2014. 448 Seiten,
Leerstelle. Im Gedenken an die Verschwundenen der argentinischen Militärdiktatur.
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24,99 Euro.
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Foto: Q. Sakamaki / Redux / laif
Multiple Weltidentitäten
Milieubedingt. Zeig mir deine Frisur und ich sag dir, wer du bist.
Der Liebesroman »Americanah« der nigerianischen Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie erzählt von den vielfältigen Formen des Rassismus. Von Maik Söhler
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enn wir der Kritik glauben dürfen, dann ist Chimamanda Ngozi Adichies Bestseller »Americanah« die Literatur gewordene humane Antwort auf den Prozess der Globalisierung. Das ist wahr und falsch
zugleich. Wahr, denn das Buch, gefeiert als »globaler Roman« (»Die Welt«) und »Weltroman« (»Die Zeit«), stellt tatsächlich den Versuch dar, Kontinente episch zu verbinden und zwar auf der Grundlage von Diskriminierungserfahrungen. Falsch, denn die humane Antwort, die Adichie in einer wunderbar einfachen Sprache gibt, ist eine, die sich bei Weitem nicht jeder leisten kann. Adichie schreibt eine Mittelschichtsgeschichte. Ihre Hauptfigur Ifemelu hat in Nigeria ein US-Stipendium bekommen, erfährt rasch die ökonomischen und sozialen Härten des Lebens in den USA, studiert dann doch in Princeton und notiert ihre Beobachtungen über den Alltagsrassismus in einem Weblog, das schnell so erfolgreich wird, dass sie damit ein gutes Auskommen findet. Sie lebt weitgehend sorgenfrei im liberal-akademischen Milieu, Freunde und Lebenspartner kommen und gehen, und doch fehlt ihr etwas. Ifemelu kehrt schließlich nach Nigeria zurück, um dort ihr Glück zu finden und eine alte Liebe wiederzubeleben. Von Anfang an geht es in »Americanah« um Haare. Sie sind
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ein Platzhalter für das komplexe Thema Migration und Rassismus. Denn auch im Friseursalon entscheidet sich, wie in Migrationsgesellschaften Anpassung und Abweichung, Assimilation und Segregation, Überidentifikation und Ghettoisierung verhandelt werden. Ein ungezügelter Afro steht für schwarzes Selbstbewusstsein, eine mit der Brennschere und Chemikalien geglättete Krause zeugt von der Unterwerfung unter das Schönheitsideal einer weißen Mehrheitsgesellschaft. Dazwischen liegen allerlei Stufen, denen ebenfalls eine bestimmte Frisur zukommt. Diese Differenzierungen zu sehen, zu beschreiben und wirken zu lassen – das ist eine der Stärken des Buches. Ausgrenzung und Rassismus werden in ihrer Vielfalt deutlich. Der Roman dringt mit schlichten Mitteln in analytische Tiefen vor, die sonst politologischen und soziologischen Fachdiskursen vorbehalten sind. Dabei entsteht nebenbei etwas, das die nordamerikanischen und westeuropäischen Debatten um Migration und Rassismus voranbringen kann. Einwanderung erzeugt plurale Identitäten. Ifemelu, die jahrelang um eine einzige Identität kämpft, wird irgendwann begreifen, dass es genau dieser Kampf ist, der sie unglücklich werden lässt. Sobald sie in der Lage ist, mehrere Identitäten zuzulassen, verbessert sich ihre Lage immens. Ihr Blick auf die USA und auf Nigeria wird ein anderer. In diesem Sinne ist »Americanah« tatsächlich ein »globaler Roman« bzw. »Weltroman«. Denn um die verschiedenen Formen von Diskriminierung zu verstehen, reicht eine einzelne Identität nicht aus. Chimamanda Ngozi Adichie: Americanah. Aus dem Englischen von Anette Grube. S. Fischer, Frankfurt/M. 2014. 606 Seiten, 24,99 Euro.
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Söldner der USA. Contra-Soldaten vor dem Einsatz in Nicaragua. Honduras, 1989.
Kongo, Angola, Nicaragua: Ein neues Sachbuch analysiert, wie und warum die USA im Kalten Krieg manchmal Söldner den eigenen Soldaten vorzogen. Von Maik Söhler
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rak, Afghanistan, Somalia: Wo auch immer die USA derzeit – offen oder verdeckt – Krieg führen oder Al-Qaida samt Verbündete bekämpfen, kommen auch sogenannte »Kontraktoren« zum Einsatz, private Sicherheitsfirmen. Immer noch sind US-Gerichte damit beschäftigt, die Schreckenstaten von Mitarbeitern der mittlerweile aufgelösten Firma Blackwater (heute: Academi) im Irak zu untersuchen. Indes hat die US-Regierung im Drohnenkrieg gegen Islamisten in Somalia und Jemen längst neue Kontraktoren gefunden. Kontraktor meint nichts anderes als das, was jahrzehntelang Söldner hieß. Das betont auch Klaas Voß, Historiker am Hamburger Institut für Sozialforschung, in seinem neuen Buch »Washingtons Söldner«. Nicht die Blackwater-Aktionen zu Beginn des neuen Jahrtausends im Irak und in Afghanistan sind sein Thema und schon gar nicht die ausdifferenzierte internationale Kontraktorenszene von heute, sondern ihre historischen Vorläufer in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts im Kongo, in Angola, Rhodesien und Nicaragua. Der indirekte Söldnereinsatz in den sechziger Jahren im Kongo, schreibt Voß, »ergab sich aus einer Kette von Ereignissen außerhalb der Kontrolle Washingtons; sie war zu Beginn nicht Teil einer kohärenten Strategie, sondern ein Resultat von Zufällen und bestimmten Begleitumständen«. Wie auch später in Angola und Nicaragua ging es der US-Regierung darum, die Einflusssphäre der sozialistischen Staaten zu begrenzen, insbe-
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sondere der Sowjetunion und Kubas. Da der Kongo im Vergleich zu Vietnam als weniger bedeutend eingestuft wurde, entschied man sich für eine Mischform aus direkter und indirekter Hilfe: Militärberater, Transportmittel, Waffen und Geld wurden zur Finanzierung von Söldnerarmeen bereitgestellt. Der Erfolg der Söldner im Kongo bildete die Basis für weitere Aktionen dieser Art. In Angola mischten sich die USA mittels bezahlter Söldner mehr, in Rhodesien weniger, in Nicaragua sogar in sehr großem Ausmaß ein. Voß untersucht diese Interventionen akribisch und unterscheidet, so gut es geht, zwischen politischen, strategischen, militärischen, ökonomischen, Bündnis- und Öffentlichkeitsinteressen. Dabei steht häufig die Möglichkeit zum Dementi im Vordergrund: Der Einsatz eigener Soldaten lässt sich nicht leugnen, der von Söldnern eher. Auch auf die privat organisierte Söldnerszene geht Voß ein. Bei der Rekrutierung von Söldnern war die Bedeutung der von ehemaligen US-Offizieren herausgegebenen Militärzeitschrift »Soldiers of Fortune« wohl derart groß, dass der Besitz und die Lektüre des Magazins im »Infantry Center Fort Benning« der US-Armee zumindest zeitweilig untersagt wurde. Erst Mitte der achtziger Jahre endete die Söldner-Akquise von »Soldiers of Fortune« mittels Kleinanzeigen. Die Analyse zeigt: Bei Söldnereinsätzen überwiegen fast immer die negativen Aspekte. Voß schreibt: »Die Währung, in der Söldner bezahlt wurden, waren am Ende keine Dollars, sondern der politische Kredit der USA und ihrer lokalen Verbündeten.« Da die USA daraus auch im Irak und in Afghanistan nur wenig gelernt haben, wird sich dieser Fehler wohl in Zukunft wiederholen. Klaas Voß: Washingtons Söldner. Verdeckte US-Interventionen im Kalten Krieg und ihre Folgen. Hamburger Edition, Hamburg 2014. 590 Seiten, 38 Euro.
amnesty journal | 01/2015
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Wichtig ist nur das Dementi
Gefangen im Isis-Land
Organisiert nach Europa
Genau dort, wo sunnitische Isis-Milizen derzeit die Menschenrechte systematisch zu zerstören versuchen, lässt der deutsch-irakische Schriftsteller Sherko Fatah seinen Protagonisten Albert auf die Suche nach dem Menschlichen gehen. Dazu zählen für ihn Angst und Hoffnung, Freundschaft und Überlebenswillen. Albert wurde zusammen mit seinem Übersetzer Osama im Irak entführt, wo er als deutscher Aussteiger mit einem Museum zusammenarbeitet, um antike Schätze zu bewahren. Es ist egal, wer ihn entführt hat, denn wieder und wieder werden die Entführten an neue »Besitzer« weitergereicht, wie antike Scherben an Sammler. Schließlich landen Albert und Osama im Isis-Land, aus ihrer gemeinsamen Notlage haben beide längst unterschiedliche Schlüsse gezogen. Fatah schildert ihre Überlebensstrategien, ihre Panik, ihre Anpassungsleistungen, ihren Zynismus und er beschreibt die Entführer: junge Männer, die von einem zertrümmerten Ort aus den gesamten Irak in Trümmer legen wollen und denen der Handel mit Geiseln und Antiquitäten dazu das nötige Geld verschafft. Albert fragt schließlich Osama: »Aber es geht doch um Geld, oder?« Osama antwortet: »Geld und Glauben«. Beides zusammen schafft in Fatahs Buch ein literarisches Grauen, das dem zerfallenen Irak angemessen ist. »Der letzte Ort« ist ein Buch, das nach der Lektüre im Gedächtnis bleibt.
Wo die Politik versagt, hilft das eigene politische Engagement. In diesem Satz lässt sich ein neues Buch des kongolesischen Ökonomen Emmanuel Mbolela zusammenfassen. In der Demokratischen Republik Kongo als Oppositioneller verfolgt, macht sich der Autor im Jahr 2002 auf den Weg ins Exil. Mbolela kann zu diesem Zeitpunkt nicht wissen, dass er den Kongo für lange Zeit verlassen wird und ihn sein Weg in die Niederlande verschlägt. Über Kamerun, Nigeria, Benin, Burkina Faso, Mali und Algerien gelangt er nach Marokko. Unterwegs hat er all das Leid sehen können, das afrikanischen Flüchtlingen so oft widerfährt: der Tod in der Wüste, wo die algerische Polizei Migranten mittellos und ohne Wasser aussetzt; Raub, Vergewaltigung, Erpressung, Nötigung, Ausbeutung, Hunger. In Marokko gründet Mbolela dann »Arcom«, eine Selbsthilfeorganisation von Flüchtlingen. Das UNOFlüchtlingskommissariat verschafft ihm später ein Visum für die Niederlande, wo er heute lebt. Mbolela schreibt, er habe die Geschichte seiner Flucht aufgeschrieben, um Europa aufzurütteln. Vor allem aber können Hilfsorganisationen daraus lernen: Wer konsequent die sozialen und politischen Interessen von Flüchtlingen vertritt, verbessert ihre Chance auf ein menschenwürdiges Leben. »Mein Weg vom Kongo nach Europa« ist ein Buch, das hoffen lässt. Emmanuel Mbolela: Mein Weg vom Kongo nach Europa.
Sherko Fatah: Der letzte Ort. Luchterhand, München 2014. 288 Seiten, 19,99 Euro.
Zwischen Widerstand, Flucht und Exil. Aus dem Französischen von Dieter Alexander Behr. Mandelbaum Verlag, Wien 2014. 234 Seiten, 19,90 Euro.
Fremdgesteuert in Libyen Revolte, Militärputsch, Krieg und Bürgerkrieg, neue Bündnisse und alte Seilschaften, die Bevölkerung will nicht mehr, und die Regime können manchmal nicht mehr: Das Setting in vielen arabischen Ländern, in denen in den vergangenen Jahren Revolutionen versucht wurden oder tatsächlich zum Erfolg führten, hat das Zeug für einen Thriller. Und so ist es kein Wunder, dass mit Olen Steinhauers »Die Kairo-Affäre« nun auch ein Thriller vorliegt, der die Umbrüche in Ägypten und Libyen zum Anlass nimmt, eine Agentengeschichte zu erzählen. Ein US-Diplomat wird in Ungarn ermordet. Zuvor war er in Kairo stationiert. Ein CIA-Analyst, der auf Libyen spezialisiert ist und der Diplomaten in Budapest besucht, verschwindet spurlos. Die Witwe des Ermordeten macht sich auf die Suche nach dem Täter und dem Tatmotiv und landet im Gewirr von ägyptischen, libyschen, osteuropäischen und US-amerikanischen Geheimdiensten. Der versierte US-Thrillerautor Olen Steinhauer entwickelt vordergründig einen Plot um den Aufstand im libyschen Bengasi und den Sturz Muammar Gaddafis. Im Hintergrund aber steht die Frage, ob die Menschen, die sich bewaffnet gegen die Macht stellen, nur Marionetten anderer sind. Hier Akteure, die Geschichte schreiben, und dort Machtinstitutionen, die sich das Erreichte aneignen wollen. »Die KairoAffäre« ist ein kurzweiliges, wenn auch nicht in Gänze überzeugendes Buch.
Liebe im Township Der junge südafrikanische Autor Sonwabiso Ngcowa erzählt in »Nanas Liebe« die Geschichte einer Liebe, die nur schwer vorstellbar ist: einer lesbischen Liebe in Masiphumelele, einem Township bei Kapstadt. Denn obwohl Südafrikas Verfassung festschreibt, dass niemand aufgrund von »Geschlecht oder sexueller Orientierung« diskriminiert werden darf, sieht die Realität ganz anders aus. Von Toleranz oder Akzeptanz ist kaum etwas zu spüren, stattdessen schlägt Homosexuellen Ablehnung, Ausgrenzung und Hass entgegen. Die raue, mitunter brutale Lebenswirklichkeit macht Liebesbeziehungen wie die zwischen Nana und Agnes zu etwas ganz Besonderem. Trotz aller Schatten werden Nanas Schilderungen getragen von einem romantischen und hoffnungsvollen Gefühl. Nana erzählt ihre Geschichte Phelokazi, einem Mädchen, das eines Tages neben ihr im Bus sitzt und sie in seiner Andersartigkeit bewegt. »In diesem Moment entsteht meine Idee, für sie aufzuschreiben, wie ich diejenige wurde, die ich heute bin und eigentlich immer war. (...) Für sie und andere Kids, Jungen oder Mädchen, die so sind wie ich. Die auf der Suche nach sich selbst sind und auf der Suche nach dem Glück.« »Nanas Liebe« ist ein vielschichtiges Buch, das auch oder vielleicht gerade wegen der bewusst gesetzten Leerstellen weit mehr ist als eine Coming-outGeschichte. Berührend.
Olen Steinhauer: Die Kairo-Affäre. Thriller. Aus dem Eng-
Sonwabiso Ngcowa: Nanas Liebe. Aus dem Englischen und
lischen von Rudolf Hermstein. Blessing, München 2004.
mit einem Nachwort von Lutz van Dijk. Peter Hammer
496 Seiten, 19,99 Euro.
Verlag, Wuppertal 2014. 188 Seiten, 15,90 Euro. Ab 13 Jahren.
Bücher: Maik Söhler, Marlene Zöhrer Kultur
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Klares Statement in Mali
Opfergabe
Fußball ohne Ball – das gibt ein schräges Ballett. Aber die Jungs in der malischen Stadt Timbuktu in Abderrahmane Sissakos gleichnamigen Film sind schon echte Meister in dieser Disziplin. Gezwungenermaßen: Denn seitdem die Dschihadisten regieren, sind Fußbälle verboten. Wie auch Frauen ohne Socken, Sex ohne Ehe oder Singen. Die Strafen, die die zusammengewürfelten Fundamentalisten aus aller Herren Länder verhängen, sind drakonisch. »Den Tod muss ich nicht fürchten«, sagt Filmheld Kitane, der mit Frau und Kind im Zentrum der Handlung steht. »Er ist ein Teil von mir.« Droht ihm doch in einem wirren Gerichtsverfahren die Todesstrafe. Der mauretanische Regisseur Sissako erzählt nicht ohne Sinn fürs Absurde: Kitanes Kuh heißt »GPS«, und wenn die Dschihadisten mal Pause vom »Heiligen Krieg« machen, stehen sie in der Raucherecke und diskutieren – ausgerechnet über Fußball: War Zidane der bessere Fußballer oder ist es Messi? Im Jahr 2012 erlangten islamistische Gruppen Macht in Mali und zerstörten nicht nur Kulturstätten, sondern auch die Alltagskultur. Dieser Film erzählt von den schleichenden Veränderungen unter dem Regime. Warum die Dschihadisten Regeln aufstellen und andere zur Einhaltung zwingen, ist ihnen oft selbst nicht ganz klar. »Timbuktu« ist ein bildhaft subtiler, inhaltlich sehr expliziter und vor allem topaktueller Film.
Eine »Libation« ist ein Trankopfer, mit dem man in Westafrika einen Segen erbittet oder feiert. Mit ihrem Album »Libation« erinnern die Sierra Leone Refugee All Stars an Bandmitglieder, die sie verloren haben, ehren ihr Heimatland und feiern ihren Erfolg, von dem sie nie zu träumen wagten. Zu ihrem zehnjährigen Jubiläum hat die Band sich in den USBundesstaat Vermont zurückgezogen, wo ihr Plattenlabel Cumbancha zu Hause ist und wo auch die beiden Filmemacher wohnen, die mit ihrem Film über die Band aus den Flüchtlingscamps von Sierra Leone diese einst berühmt gemacht hatten. Auf ihr Debütalbum »Living like A Refugee« von 2004 folgten Welttourneen und Aufnahmen in renommierten Studios und an der Seite bekannter Rockstars und Produzenten. Nun begeben sich die Musiker mit alten Gitarren und Handpercussion atmosphärisch wieder zurück zu ihren Anfängen am Lagerfeuer der Flüchtlingslager. Alte Rhythmen und Genres wie das traditionelle Highlife, Maringa, Gumbe und Baskeda werden zu neuem Leben erweckt und in Liedern wie »Rich but Poor« zum Banjo-Reggae wird das traurige Schicksal ihres Landes beklagt, das trotz reicher Bodenschätze zum Armenhaus herabgesunken ist und nun von Ebola gebeutelt wird. Im Song »Manjagali« beschwört Sänger Ashade Pearce den Zusammenhalt der Armen, mit »Gbaenyama« den Spirit der Gemeinschaft. Die Botschaft ihres intimen Albums ist: Musik kann Trauma heilen.
»Timbuktu«. F/MAUR 2014. Regie: Abderrahmane Sissako, Darsteller Abel Jafri, Hichem Yacoubi.
Sierra Leone All Stars: Libation (Cumbancha)
Kinostart: 11. Dezember 2014
Unsichere Reise
Weckruf
Zana bekommt einen Fußball an den Kopf – Superman wäre das nicht passiert! Der fliegt nebenan im Kino über die Leinwand und führt ein Leben, wie Zana es sich erträumt. Denn als Superheld muss man nicht von der Hand in den Mund leben. Und auch nicht ständig Backpfeifen einstecken. Der siebenjährige Zana und sein drei Jahre älterer Bruder Dana leben im kurdischen Teil des Irak. Es ist das Jahr 1990, ihre Eltern sind von Saddam Husseins Truppen getötet worden. Nun leben die beiden auf der Straße und schlagen sich als Schuhputzer durch. Ihre Faszination für Superman kommt also nicht von ungefähr. Probleme aller Art lösen – das würden sie auch gern können. Als ihr weiser alter Freund stirbt, beschließen sie, Superman in seiner Heimat Amerika zu besuchen. Mit einem Esel namens Michael Jackson machen sie sich auf einen ganz besonderen Trip. Karzan Kader behandelt in seinem bildgewaltig fotografierten Film »Bekas« das Thema Migration am eigenen Beispiel – Zanas Story basiert auf biografischen Erfahrungen des Regisseurs. Der Zuschauer lernt eine feindliche Welt kennen, die in jeder Situation Intelligenz erfordert. Die Brüder kapern Lastwagen und fahren in Getreidesäcken – immer in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Dann kommt die Reise durch eine Landmine zum Stillstand. Das Beispiel der beiden Kinder steht für 50 Millionen Menschen, die derzeit weltweit aus unterschiedlichen Gründen auf der Flucht sind.
Der ivorische Reggae-Sänger Tiken Jah Fakoly gilt mit seiner sozialkritischen Haltung als Sprachrohr einer ganzen Generation. Sein Album »Dernier Apell« ist ein wütender Weckruf, ein panafrikanisches Manifest und seine bislang beste Produktion. Der 46-jährige Sänger mit den wilden Dreadlocks zeichnet im französischen Titelsong das Bild eines Kontinents, der wie ein Flugzeug vor dem Absturz steht, wenn Passagiere und Piloten nicht einen gemeinsamen Kurs einhalten. In Songs wie »Diaspora«, »Le Prix du Paradis« und »Too much Confusion« ruft er zur Selbstermächtigung und Solidarität auf und fragt sich, wann sein Kontinent endlich aufwachen wird. Begleitet wird er dabei von fetten Reggae-Beats, die seinen Worten Nachdruck verleihen, und prominenten Partnern wie Alpha Blondy, der deutsch-nigerianischen Sängerin Nneka und dem deutschen Reggae-Sänger Patrice. In Europa ist Tiken Jah Fakoly längst genauso zu Hause wie in der Elfenbeinküste. Sein Heimatland leidet immer noch an den Folgen des Bürgerkriegs von 2004 bis 2007. Nach den umstrittenen Wahlen von Ende 2010 starben bei Auseinandersetzungen zwischen den politischen Lagern mehr als 3.000 Menschen. Wegen der Verbrechen seiner Anhänger und Milizen steht der unterlegene Kandidat Laurent Gagbo jetzt in Den Haag vor Gericht. »Dernier Apell« ist ein eindrucksvoller Aufruf, all diese Differenzen beiseite zu legen und in die Zukunft zu blicken.
»Bekas«. FIN, IRQ, SWE, Finnland 2012. Regie: Karzan Kader, Darsteller: Zamand Taha, Sarwar Fazil. DVD
Tiken Jah Fakoly: Dernier Appel (Harmonia Mundi)
Film: Jürgen Kiontke | Musik: Daniel Bax 62
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Musikalische Spanienkämpfer Die opulente Edition »Spanien im Herzen« widmet sich den Liedern des Widerstands gegen den faschistischen General Franco. Von Daniel Bax
Kultur
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Film & musiK
Foto: akg-images / pa
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er spanische Bürgerkrieg von 1936 bis 1939 markierte eine Zäsur in der Geschichte Europas und bildete die Ouvertüre zum Zweiten Weltkrieg. Die linke Volksfrontregierung, die die Wahlen im Februar 1936 gewonnen hatte, musste sich der rechten Putschisten um General Francisco Franco erwehren und unterlag. Der Sieg der Anhänger Francos führte Spanien in eine Diktatur, die bis nach Francos Tod im Jahr 1975 Bestand haben sollte. Während Franco von den faschistischen Führern in Italien und Deutschland unterstützt wurde, sprang die Sowjetunion der bedrängten Republik mit Waffen und Beratern zur Seite; die liberalen Demokratien Frankreich und Großbritannien hielten sich aus antikommunistischem Kalkül heraus. So spiegelten sich in diesem Krieg die großen ideologischen Konfliktlinien des 20. Jahrhunderts. Linke aus aller Welt fieberten in diesem Kampf mit und manche ließen sich sogar dafür mobilisieren. Auf Anweisung Josef Stalins beschloss die »Komintern«, das weltweite Bündnis kommunistischer Parteien, im August 1936, eine »internationale Brigade« ins Leben zu rufen. Kommunistische Parteien in verschiedenen Ländern rekrutierten Freiwillige – darunter viele Intellektuelle wie die Briten George Orwell und Arthur Koestler oder den Russen Ilja Ehrenburg und den Franzosen André Malreaux. Der US-Amerikaner Ernest Hemingway widmete dem Partisanenkampf seinen Roman »Wem die Stunde schlägt«, der später verfilmt wurde. Auch der deutsche Schauspieler und Sänger Ernst Busch (1900–1980) begab sich 1937 nach Spanien, sang vor den internationalen Brigaden und trat im Radio auf, spielte Schallplatten ein und gab Liederbücher mit Kampfliedern wie »No pasarán« heraus. In den sozialistischen Ländern wurden diese Lieder später zu Propagandazwecken eingesetzt, in der DDR sogar in der Schule gesungen. Der Musikhistoriker Jürgen Schebera, der sich um die Pflege des Erbes von Ernst Busch bemüht, hat sich den »Liedern des Spanischen Bürgerkriegs« zugewandt – mit einer opulenten Edition von sieben CDs, einem aufwändigen, dreisprachigen Begleitbuch und einer DVD mit dem Film »Madrid before Hanita«, in dem einige der 300 jüdischen Spanienkämpfer porträtiert werden, die sich aus Palästina kommend den Brigaden angeschlossen hatten. Fünf Jahre hat Schebera Archive durchforscht und ist in Paris und Barcelona auf alte, teils unbekannte Schellack-Pressungen gestoßen. Die alte spanische Tradition des »Romancero« war nach Ausrufung der Republik zu neuer Blüte gelangt. Volkstümliche Romanzen und alte spanische Volkslieder wurden von Dichtern wie Federico García Lorca mit neuen Texten versehen und gingen von Mund zu Mund. Naturgemäß überwiegen auf »Spanien im Herzen« die überlieferten Lieder aus den Reihen der »internationalen Brigaden«, deren Rückkehrer im Ausland viel zum
Im Spanienkrieg. Egon Erwin Kisch und Ernst Busch. Um 1937.
eigenen historischen Mythos beitrugen. Doch nicht nur Ernst Busch, auch Raritäten von mexikanischen oder schottischen Freiwilligen sind auf den sieben CDs zu finden. Zeitzeugen wie der populäre afroamerikanische Sänger Paul Robeson, der einst für die Brigaden in Spanien sang, sind ebenso vertreten wie Max Parker, der mit zwanzig Jahren aus New York nach Spanien ging, dort in Gefangenschaft geriet und die Lieder, die er von seinen Mithäftlingen hörte, 1981 dann im Studio einsang. Viele Liedermacher haben dieses Repertoire später neu interpretiert. Der US-Folkveteran Pete Seeger widmete den Amerikanern, die im Spanischen Bürgerkrieg im »Lincoln Bataillon« kämpften, einst ein Album, und der chilenische Sänger Rolando Alarcón, ein Pionier des politisch bewegten »Nueva Canción« Lateinamerikas, ließ sich davon inspirieren. Die Lieder der Marxisten und Anarchisten, die von den moskautreuen Kommunisten bekämpft wurden, gerieten dagegen in Vergessenheit. Sie kommen daher auch auf dieser sympathischen Compilation ein wenig zu kurz. Spanien im Herzen. Lieder des Spanischen Bürgerkriegs (Bear Family)
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Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt oder man lässt sie »verschwinden«. amnesty international veröffentlicht regelmäßig an dieser Stelle drei Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden. Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie bitte eine digitale Kopie an: info@amnesty.de
amnesty international Zinnowitzer Straße 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 Fax: 030 - 42 02 48 - 488 E-Mail: info@amnesty.de www.amnesty.de Spendenkonto Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE 233 702050 0000 8090100 BIC: BFSWDE33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00)
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Foto: KRB / AI
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norweGen john jeanette solstad remø Die Norwegerin John Jeanette Solstad Remø wird im Freundeskreis nur »Jeanette« genannt. Offiziell benutzt sie jedoch bewusst ihren vollen Namen, um auf die Diskriminierung aufmerksam zu machen, der sie und andere Transgender in Norwegen ausgesetzt sind. Ihren Namen konnte John Jeanette nach ihrem Coming-Out 2010 recht unproblematisch ändern lassen – nicht aber ihr amtliches Geschlecht. Um dieses von »Mann« zu »Frau« zu ändern, müsste sie gemäß der aktuellen Rechtslage im Universitätskrankenhaus von Oslo eine Geschlechtsangleichung vornehmen lassen, die eine Sterilisierung mit sich brächte. Zudem müsste sie sich einer psychiatrischen Untersuchung unterziehen und sich eine psychische Störung attestieren lassen. Dazu ist John Jeanette allerdings nicht bereit. In allen offiziellen Dokumenten wird sie daher als »männlich« bzw. »Herr« geführt. Da ihre Identifizierung als Transgender jedoch offensichtlich ist, wird sie häufig angesprochen, wenn sie sich ausweisen muss, z.B. in Hotels oder in der örtlichen Bücherei. John Jeanette Solstad Remø erlebt nicht nur Diskriminierung und Schikane, sondern läuft auch Gefahr, keine angemessene Gesundheitsversorgung zu erhalten. Ende Oktober hat die norwegische Regierung angekündigt, die Rechtslage ändern zu wollen, um es Personen zu ermöglichen, ihr amtliches Geschlecht auch ohne eine unumkehrbare Sterilisierung ändern zu lassen. Amnesty International begrüßt diese positive Entwicklung sehr. Nun muss die Regierung ihren Worten Taten folgen lassen. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den norwegischen Gesundheitsminister und bitten Sie ihn, dafür zu sorgen, dass die angekündigten Gesetzesänderungen für die Rechte von Transgender-Personen zügig umgesetzt werden. Die Gesetzesänderungen müssen sicherstellen, dass John Jeanette Solstad Remø und alle Transgender-Personen ihr amtliches Geschlecht ohne einen medizinischen Eingriff ändern können. Schreiben Sie in gutem Norwegisch, Englisch oder auf Deutsch an: Bent Høie Minister of Health and Care Services, PO Box 8011 Dep 0030 Oslo, NORWEGEN (Anrede: Dear Minister / Sehr geehrter Herr Minister) E-Mail: postmottak@hod.dep.no (Standardbrief Luftpost bis 20g: 0,75 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft des Königreichs Norwegen S. E. Herrn Sven Erik Svedman Rauchstraße 1, 10787 Berlin Fax: 030 - 50 50 55 E-Mail: emb.berlin@mfa.no
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Am 3. Dezember 1984 traten aus einer Pestizidfabrik im indischen Bhopal mehrere Tonnen giftiger Stoffe aus. Das Gasunglück tötete innerhalb von drei Tagen zwischen 7.000 und 10.000 Menschen. Viele Überlebende leiden noch heute unter schweren gesundheitlichen Beschwerden, besonders Frauen sind betroffen. Die Verunreinigung durch Giftmüll auf dem verlassenen Fabrikgelände stellt zudem nach wie vor eine ernste Gefahr für die Gesundheit der Menschen dar, die in der Nähe wohnen. Die Überlebende Rampyari Bai und die jugendliche Aktivistin Safreen Khan haben die Folgen der Katastrophe aus erster Hand erfahren. Die Schwiegertochter von Rampyari Bai war zum Zeitpunkt des Unglücks im siebten Monat schwanger. In der Nacht der Gaskatastrophe setzten bei ihr plötzlich die Wehen ein. Mutter und Kind starben noch im Krankenhaus. Rampyari Bai selbst kämpft seit Langem mit Krebs. Safreen Khans Vater leidet infolge des Unglücks an einer schweren Herzkrankheit, ihre Mutter an einer Augenerkrankung. Ihren Angaben zufolge kommen viele Kinder mit Behinderungen oder Fehlbildungen zur Welt. Viele der dort lebenden Menschen sind überzeugt, dass ihre gesundheitlichen Probleme noch dadurch verstärkt werden, dass sie gezwungen sind, verunreinigtes Wasser zu trinken. Auch 30 Jahre nach der Katastrophe kämpfen die Menschen von Bhopal noch immer um Gerechtigkeit. Die Überlebenden haben bisher keine angemessene Entschädigung erhalten und viele von ihnen leben in bitterer Armut. Die Verunreinigungen auf dem Gelände sind immer noch nicht beseitigt und die verantwortlichen Konzerne nicht zur Verantwortung gezogen worden. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den indischen Premierminister und bitten Sie ihn dringend, die Verunreinigungen auf dem Fabrikgelände zu beseitigen. Appellieren Sie außerdem an ihn, dafür zu sorgen, dass die für das Unglück und die Umweltfolgen Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Schreiben Sie in gutem Hindi, Englisch oder auf Deutsch an: Narendra Modi Prime Minister’s Office South Block, Raisina Hill New Delhi-110011, INDIEN (Anrede: Honourable Prime Minister / Sehr geehrter Herr Premierminister) Fax: 00 91 - 11 - 23 01 95 45 oder 00 91 - 11 - 23 01 68 57 (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,75 €)
Foto: privat
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indien ramPyari bai und saFreen Khan sowie weitere überlebende des bhoPal-unGlücKs
usbeKistan erKin musaev Erkin Musaev, ein ehemaliger Mitarbeiter des usbekischen Verteidigungsministeriums, war für das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) in Usbekistan tätig, als er im Januar 2006 festgenommen wurde. 2006 und 2007 wurde er in einer Reihe unfairer Gerichtsverfahren wegen Landesverrats und Amtsmissbrauchs zu 20 Jahren Haft verurteilt. Die Vorwürfe gegen ihn sind allem Anschein nach politisch motiviert. Er hat sie stets bestritten. Angaben seiner Familie zufolge wurde Erkin Musaev einen Monat lang jeden Tag geschlagen und jede Nacht verhört. Zudem drohte man damit, seiner Familie etwas anzutun. Schließlich unterzeichnete er ein »Geständnis«, weil man ihm im Gegenzug zusicherte, seine Familie in Ruhe zu lassen. In allen drei Verfahren gegen ihn wurden vor Gericht »Geständnisse« als Beweise zugelassen, die Erkin Musaev nur abgegeben hatte, weil er von den usbekischen Sicherheitskräften gefoltert worden war. Der Richter weigerte sich zudem, Entlastungszeugen zu vernehmen. Trotz zahlreicher Beschwerden seines Rechtsbeistands und seiner Familie ist bis heute keine wirksame Untersuchung der von ihm erhobenen Foltervorwürfe durchgeführt worden. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den usbekischen Generalstaatsanwalt und fordern Sie ihn auf, Erkin Musaev umgehend freizulassen, da er seit acht Jahren auf ein faires Gerichtsverfahren wartet. Bitten Sie ihn, umgehend eine unparteiische und wirksame Untersuchung der von Erkin Musaev erhobenen Foltervorwürfe einzuleiten und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Schreiben Sie in gutem Usbekisch, Russisch, Englisch oder auf Deutsch an: Rashidzhon Kodirov Prosecutor General’s Office of Uzbekistan ul. Gulyamova 66 Tashkent 700047, USBEKISTAN (Anrede: Dear Prosecutor General / Sehr geehrter Herr Generalstaatsanwalt) Fax: 009 98 - 711 - 33 39 17 E-Mail: prokuratura@lawyer.uz (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,75 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Usbekistan S. E. Herrn Durbek Amanov Perleberger Straße 62, 10559 Berlin Fax: 030 - 39 40 98 62 E-Mail: botschaft@uzbekistan.de
Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Indien S. E. Herrn Vijay Keshav Goghale Tiergartenstraße 17, 10785 Berlin Fax: 030 - 25 79 51 02 oder 030 - 26 55 70 00 E-Mail: dcm@indianembassy.de
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Foto: Amnesty Belgien
aKtiv Für amnesty
Alltägliche Folterinstrumente. »Stop-Folter-Shop« in Mechelen, Belgien.
der shoP, der Folter stoPPt Folterwerkzeuge sind leicht zugänglich – immer und überall. Oft werden Menschen mit banalen Alltagsgegenständen gefoltert: Zange, Nadel oder Seil sind ebenso beliebt wie Plastiktüte, Batterie oder dreckiges Wasser. In einem Berliner Laden stellt Amnesty diese Gegenstände jetzt aus und macht damit auf ihre Verwendung zu Folterzwecken aufmerksam. Am 8. Dezember wird der temporäre »Stop-Folter-Shop« in Berlin eröffnet. Wer will, kann Folter auch gleich vor Ort stoppen – mit einer Unterschrift für die Stop Folter-Kampagne oder an der Mitmach-Theke des Briefmarathons. Als Vorbild dient eine sehr erfolgreiche Aktion der belgi-
schen Amnesty-Sektion: Dort hatte der Laden »Toolz & Things« in Mechelen im August alltägliche Folterinstrumente gezeigt. Im Berliner »Stop-Folter-Shop« werden eine Pressekonferenz zum Tag der Menschenrechte am 10. Dezember stattfinden sowie Filmvorführungen, Diskussionen und eine Lesung mit Ulrich Noethen in Kooperation mit dem Berliner Behandlungszentrum für Folteropfer. Das detaillierte Programm ist im Internet zu finden unter: www.amnesty.de/StopFolterShop. Bis einschließlich 17. Dezember ist der »Stop-Folter-Shop« in der Brunnenstraße 188 in Berlin-Mitte täglich von 12 bis 20 Uhr geöffnet.
Mehr als 20.000 Papierboote, die Unterstützer aus ganz Deutschland gefaltet hatten, setzten ein deutliches Signal gegen die europäische Flüchtlingsabwehr. Zum Tag des Flüchtlings am 24. September erinnerten die Papierboote am Berliner Ostbahnhof an die im Mittelmeer Ertrunkenen. Auf einem blauen Teppich formten die Boote ein SOS. Seit dem Jahr 2000 starben mindestens 23.000 Menschen, allein dieses Jahr sind bereits 3.000 Tote zu beklagen. »Die EU-Staaten müssen endlich ihre Politik ändern – statt Grenzen müssen Menschen geschützt werden!«, sagte Selmin Çalışkan, Generalsekretärin der deutschen Amnesty-Sektion. An der Aktion nahmen auch die Schauspielerinnen Meret Becker und Melika Foroutan, der Schauspieler Benno Fürmann sowie Shermin Langhoff, Intendantin des Maxim-Gorki-Theaters, teil.
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Foto: Henning Schacht / Amnesty
FlüchtlinGsschutz jetzt!
Deutliches Signal. Benno Fürmann und Meret Becker.
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In einer europaweiten Aktion fordert Amnesty von der usbekischen Regierung gegen die weitverbreitete Folter in dem Land vorzugehen und in unfairen Verfahren verurteilte Gefangene freizulassen. Insgesamt etwa 200.000 Unterschriften, darunter 37.000 aus Deutschland, hat Amnesty Ende Oktober an verschiedene usbekische Botschaften in Europa übergeben, mit der Forderung, die gewaltlose politische Gefangene Dilorom Abdukadirova freizulassen. Zeitgleich protestierten Aktivistinnen und Aktivisten in zahlreichen europäischen Städten. »Wir wissen aus zahllosen Berichten, dass in Usbekistan Folter weitverbreitet ist«, sagte Selmin Çalışkan, Generalsekretärin von Amnesty in Deutschland, am Rande der Aktion vor der usbekischen Botschaft in Berlin. »Die Dementis der usbekischen Regierung sind völlig unglaubwürdig. Statt Folter zu leugnen, muss sie endlich damit beginnen, wirksam dagegen vorzugehen.«
aKtiv Für amnesty
Durch ganz unterschiedliche Veranstaltungen geben Amnesty-Mitglieder den Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme. Diese Aktionen vor Ort sind ein unentbehrlicher Teil der Arbeit von Amnesty International. Mehr Informationen darüber finden Sie auf http://blog.amnesty.de und www.amnesty.de/kalender
imPressum Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, Tel.: 030 - 42 02 48 - 0, E-Mail: info@amnesty.de, Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion Amnesty Journal, Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, E-Mail: journal@amnesty.de (für Nachrichten an die Redaktion) Redaktion: Bernd Ackehurst, Markus N. Beeko, Andreas Koob, Anton Landgraf (V.i.S.d.P.), Larissa Probst Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit Albrecht, Daniel Bax, Selmin Çalışkan, Else Engel, Peter Franck, Michael Gottlob, Jürgen Kiontke, Daniel Kreuz, Kirsten Milhahn, Julia Nadenau, Ramin M. Nowzad, Wera Reusch, Uta von Schrenk, Maik Söhler, Wolf-Dieter Vogel, Deniz Yücel, Marlene Zöhrer Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck: hofmann infocom GmbH, Nürnberg Vertrieb: Carnivora Verlagsservice, Berlin Bankverbindung: Amnesty International, Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE 233 702050 0000 8090100, BIC: BFSWDE33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00) Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und erscheint sechs Mal im Jahr. Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Nichtmitglieder können das Amnesty Journal für 30 Euro pro Jahr abonnieren. Für unverlangt eingesandte Artikel oder Fotos übernimmt die Redaktion keine Verantwortung. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder. Die Urheberrechte für Artikel und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, für die Verbreitung im Internet oder für Vervielfältigungen auf CD-Rom.
ISSN: 2199-4587
aKtiv Für amnesty
selmin ÇalişKan über
mauern
Foto: Amnesty
euroPaweite aKtion GeGen Folter in usbeKistan
Am 9. November jährte sich der Fall der Berliner Mauer zum 25. Mal. Deutschland feierte den Mut der Demonstrantinnen und Demonstranten, die 1989 im Osten auf die Straße gegangen waren und sich mit dem Ruf »Die Mauer muss weg!« gegen das SED-Regime erhoben hatten. Auch heute werden Grenzen und Mauern benutzt, um Menschen einzusperren oder auszugrenzen – und sie so ihrer Rechte und Freiheiten zu berauben. Während die Berliner Mauer Menschen am Verlassen der DDR hindern sollte, schottet sich die EU mit ihren Mauern gegen Menschen ab, die ihr nacktes Leben retten müssen. Die Regierung spricht von einem »Sicherheitsproblem« – meint damit aber nicht das der Flüchtlinge. Da sich die EU Staaten weigern, sichere reguläre Wege nach Europa zu schaffen, wählen immer mehr Flüchtlinge die lebensgefährliche Reise über das Mittelmeer, unter ihnen sehr viele Kinder. Mit einer Amnesty-Delegation war ich im September in Italien, wo viele Flüchtlinge ankommen – wenn sie die Fahrt überleben. In diesem Jahr starben bereits 3.000 Menschen bei dem Versuch, Europa über das Mittelmeer zu erreichen. Wir haben in Catania mit zwei jungen Männern gesprochen, die ein Bootsunglück überlebt hatten. Ich fragte sie, wie sie sich im Aufnahmezentrum weit außerhalb der Stadt fühlen: »At least, we have peace« war ihre Antwort. Ich verließ sie in der Gewissheit, dass unsere Bezirksgruppe in Catania sich weiter um die beiden kümmern wird. Antonella, die Anwältin, meinte noch: »Dafür sind wir doch da!« Weit mehr als 100.000 DDR-Bürgerinnen und -Bürger versuchten über die innerdeutsche Grenze zu fliehen. Diejenigen, die dabei getötet wurden, waren auch auf der Suche nach Freiheit und Lebensperspektiven. Wer würde heute die Gründe einer Flucht aus der DDR anzweifeln? Dieses Verständnis scheint an anderer Stelle zu fehlen. Während sich die BRD damals um die Flüchtlinge kümmerte, gehört es heute nicht zur Staatsräson, Flüchtlinge aus Eritrea oder Syrien willkommen zu heißen. 1989 haben uns Menschen gezeigt, dass man wirkliche Mauern und Mauern in den Köpfen einreißen kann. Und auch jetzt gibt es immer mehr Menschen in Deutschland, die Flüchtlingen direkt helfen wollen. Sie alle machen der Politik vor, was nötig ist: Mauern einreißen, Menschen auf hoher See retten und ihnen die Hand reichen. Selmin Çalışkan ist Generalsekretärin der deutschen Amnesty-Sektion.
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