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DaS MagaZin für Die MenSchenrechte
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Warten auf Zukunft flüchtlinge in SyrienS nachbarStaaten
nicht allein Migranten helfen flüchtlingen
MenSchenrechtSpreiS henri tiphagne kämpft für ein gerechteres indien
»colonia DigniDaD« Spielfilm über das deutsche folterlager in chile
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2016 februar/ MärZ
INHALT
titel: Warten auf Zukunft 16 Im Stich gelassen Von Wiebke Judith 17 Eine Frage der Würde Kein Land hat im Verhältnis zur Bevölkerungszahl so viele syrische Flüchtlinge aufgenommen wie der Libanon. Sie leben unter schwierigen Bedingungen. Wer die überteuerten Unterkünfte nicht bezahlen kann, dem bleibt nur die Straße. 22 »Es muss viel mehr getan werden« Trotz mangelnder internationaler Unterstützung bieten die Nachbarländer syrischen Flüchtlingen Schutz. Die Bedingungen werden allerdings immer schlechter, sagt Amnesty-Expertin Khairunissa Dhala. 24 Im Wartestand 2,5 Millionen Syrer schlagen sich in der Türkei auf eigene Faust durch – von weiten Teilen der Bevölkerung abgelehnt, von der Regierung instrumentalisiert und von der EU im Stich gelassen. 28 Willkommenskulturen Jetzt in Deutschland, zuvor in Syriens Nachbarstaaten. Zwei Geschichten über das jeweilige Ankommen. 30 »Flüchtling bin ich nicht. Oder doch?« Viele Syrer haben in Saudi-Arabien oder den Vereinigten Arabischen Emiraten ein neues Zuhause gefunden. Allerdings sind sie nicht unbedingt Flüchtlinge.
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theMen
kultur
34 Nicht allein Junge Berliner Migranten unterstützen Flüchtlinge. Der geteilte Erfahrungsschatz erleichtert das Ankommen.
50 Ein deutsches Folterzentrum Florian Gallenbergers Film »Colonia Dignidad« ist Menschenrechtsfilm und bemerkenswerter Politthriller in einem.
40 Der Vorkämpfer Seit seiner Jugend kämpft Henri Tiphagne für ein gerechteres Indien. Die deutsche Amnesty-Sektion ehrt ihn mit dem Menschenrechtspreis 2016.
54 #refugeeswelcome Viele Theater in Deutschland bringen Fluchtgeschichten auf die Bühne und heißen Geflüchtete willkommen.
43 »Jeder deckt jeden« Staatliche Folter hat in Ägypten eine lange Tradition – doch selten war die Lage so dramatisch wie heute. 45 »Mein Beruf machte mich verdächtig« Die Aktivistin Yara Sallam saß 15 Monate in einem ägyptischen Gefängnis. 46 »Wir haben uns große Freiheiten erkämpft« Die Anwältin Radhia Nasraoui kämpft in Tunesien seit vierzig Jahren gegen Folter. 48 Tödlicher Schuss vor Publikum Der kurdische Anwalt Tahir Elçi wurde auf einer Kundgebung erschossen. Die Opposition sagt: Es war Mord.
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56 Gezeichnet Die Künstlerin Ali Fitzgerald bietet in einer Berliner Notunterkunft ComicWorkshops für Geflüchtete an. 58 Milliardengeschäft Sicherheit Militär- und Sicherheitsindustrien haben ein lukratives Jahrzehnt hinter sich. 60 Strukturschwach und schlecht legitimiert Imperialer Alleinherrscher oder Partner des Westens? Katja Gloger zeichnet die Welt nach, in der Wladimir Putin regiert. 63 Ich hab nichts anzuziehen Andrew Morgan untersucht in »The True Cost – Der Preis der Mode« die Bedingungen, unter denen »Fast Fashion« hergestellt wird.
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aMneSty journal | 02-03/2016
haben Sie auch Schon … … aufgerüstet? Pfefferspray, Schreckschusspistolen und Elektroschocker sind vielerorts ausverkauft. Nach der Terrornacht von Paris und der Silvesternacht von Köln greift die Angst vor muslimischen Asylbewerbern weiter um sich. »Rechtsfreie Räume, hilflose Polizei – können wir uns noch sicher fühlen?«, fragt Der Spiegel. Titelbild: Die Familie Wais (von links: Aisha, 3, Abdelmalik, 15, Wafaa, 37, Mahmood, 10, Abdel Nasser Abdel Latif, 47, Mohamed, 4 und Abdel Latif, 17) stammt aus Homs in Syrien. Jetzt leben sie als Flüchtlinge in dem Dorf Berqayel im Libanon. Foto: Jacob Russell
rubriken 04 Weltkarte 05 Good News: Mongolei schafft Todesstrafe ab 06 Panorama 08 Interview: Marcela Turati 09 Nachrichten 11 Kolumne: Elke Wittich 12 Einsatz mit Erfolg 13 Selmin Çalışkan über gute Geschäfte 61 Rezensionen: Bücher 62 Rezensionen: Film & Musik 64 Briefe gegen das Vergessen 66 Aktiv für Amnesty 67 Impressum
Deutschland vor dem Kollaps? Die Türkei steht zumindest noch. Rund 2,5 Millionen syrische Flüchtlinge hat das Land aufgenommen, mehr als ganz Europa (S. 24). Der Libanon beherbergt mehr als eine Million. Das Land ist kleiner als der Freistaat Sachsen, hat die dritthöchste Staatsverschuldung der Welt und balanciert politisch über dem Abgrund: Seit fast zwei Jahren gibt es keinen Präsidenten. In der Flüchtlingskrise trägt das kleine Land die größte Last. Jeder fünfte Einwohner des Libanon ist dem syrischen Bürgerkrieg entflohen. Unsere Autorin Theresa Breuer und der britischen Fotograf Jacob Russell haben syrische Flüchtlinge im Libanon begleitet. Sie sind Menschen begegnet, die unter dramatischen Bedingungen leben – auch weil Hilfe aus dem Ausland fehlt (S. 17). Im Dezember 2014 war es den meisten Zeitungen nur eine Randnotiz wert: Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) meldete, dass es 1,7 Millionen Schutzsuchende in Syriens Nachbarstaaten nicht mehr mit Lebensmittelmarken versorgen kann. Bis heute stellt die internationale Gemeinschaft nicht genügend Geld zur Verfügung. Die Not treibt viele syrische Flüchtlinge weiter. Viele versuchen, unter Einsatz ihres Lebens Europa zu erreichen. Und inzwischen flüchten auch immer mehr in eine andere Richtung: Jeden Monat ziehen Tausende Syrerinnen und Syrer in ihre Heimat zurück. Ihr Hunger besiegt ihre Angst. Fünf Jahre ist es her, dass in Syrien und anderen arabischen Ländern Millionen Menschen für Brot, Freiheit und Gerechtigkeit auf die Straßen zogen. Die Bilanz: In Syrien herrscht Bürgerkrieg, in Libyen Chaos, in Ägypten das Militär (S. 43). Nur in Tunesien scheint die arabische Hoffnung noch lebendig zu sein. Das Land hat seit 2014 eine neue Verfassung, in der Demokratie und Menschenrechte verankert sind. »Wir haben uns große Freiheiten erkämpft«, sagt die prominente Rechtsanwältin Radhia Nasraoui. Als unser Reporter Bernd Beier sie am Flughafen von Tunis zum Gespräch traf, hatte sie dennoch einen Leibwächter dabei (S. 48).
Fotos Seite 2: Jacob Russell | Ralf Rebmann Susanne Tessa Müller | Oliver Wolff | Majestic / Ricardo Vaz Palma Foto Editorial: Sarah Eick
inhalt
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eDitorial
Ramin M. Nowzad ist Redakteur des Amnesty Journals.
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WELTKARTE
guateMala Amnesty spricht von einem ÂťSchlag ins Gesicht der OpferÂŤ: Eigentlich  sollte sich Guatemalas Ex-Diktator EfraĂn RĂos Montt am 11. Januar 2016 wegen VĂślkermord vor Gericht verantworten – doch in letzter Minute wurde der Prozess auf unbestimmte Zeit verschoben. Als Grund wurden verfahrensrechtliche Fragen genannt. RĂos Montt, der Guatemala von 1982 bis 1983 regierte, war bereits 2013 wegen des Genozids an 1.771 Ixil-Indios zu achtzig Jahren Haft verurteilt worden. Doch nur wenige Tage später wurde der Schuldspruch wegen angeblicher Verfahrensfehler aufgehoben. Die Opfer warten seit Jahrzehnten auf Gerechtigkeit. Die BehĂśrden spielen mit ihnen ein grausames SpielÂŤ, sagte Erika Guevara-Rosas, Lateinamerikaexpertin von Amnesty.     í˘ą
DoMinikaniSche republik Vorwärts in die Vergangenheit: Frauen und Mädchen, die in der Dominikanischen Republik abtreiben wollen, gelten fortan wieder als Kriminelle – selbst wenn ihre Schwangerschaft durch Vergewaltigung oder Inzest zustande kam oder das Leben der Schwangeren auf dem Spiel steht. Das Verfassungsgericht des Landes stoppte Anfang Dezember 2015 ein neues Gesetz, das eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts vorsah. Nun gilt wieder ein Gesetzestext aus dem Jahr 1884. ÂťDie Entscheidung des Obersten Gerichts fĂźhrt die Frauenrechte zurĂźck ins 19. Jahrhundert. Der Richterspruch wird sich auf das Leben von Frauen und Mädchen in der Dominikanischen Republik katastrophal auswirkenÂŤ, sagte Amnestys Lateinamerikaexpertin Erika Guevara Rosas.    í˘˛
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kuWait Maulkorb im Internet: Der Golfstaat Kuwait hat die Meinungsfreiheit weiter eingeschränkt. Ein neues Gesetz verbietet es, sich online kritisch ßber die kuwaitische Regierung, religiĂśse FĂźhrer oder ausländische Staatsoberhäupter zu äuĂ&#x;ern. Bereits in der Vergangenheit wurden in Kuwait Dutzende Menschen wegen kritischer MeinungsäuĂ&#x;erungen inhaftiert, die sie ßber Twitter oder andere soziale Medien verbreiteten. Amnesty International hat die kuwaitischen BehĂśrden aufgefordert, das neue Gesetz zu annullieren. Ein solches Gesetz gehĂśrt nicht ins 21. JahrhundertÂŤ, sagte der Nahostexperte von Amnesty, Said Boumedouha. Wie alle Menschen haben auch die Bewohner Kuwaits das Recht, ihre Meinung zu äuĂ&#x;ern und die eigene oder eine fremde Regierung zu kritisieren, ohne Angst haben zu mĂźssen, dafĂźr im Gefängnis zu landen. 
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hongkong Tausende Menschen sind am 10. Januar 2016 in Hongkong auf die StraĂ&#x;e gegangen, um Aufklärung ßber den Verbleib von fĂźnf Verschwundenen zu fordern. Seit  Oktober 2015 fehlt von vier Buchhändlern und einem Verleger jede Spur. Es wird vermutet, dass sie von chinesischen Sicherheitskräften verschleppt worden sind, weil sie China-kritische Literatur verlegten beziehungsweise verkauften. Der Fall ist besonders brisant, weil Hongkong seit der RĂźckgabe durch die Briten als Sonderverwaltungszone gilt: Peking hat sich verpflichtet, den Bewohnern Hongkongs bĂźrgerliche Freiheitsrechte zu gewähren, die auf dem Festland nicht gelten. Weder die Polizei noch die Justiz der Volksrepublik haben das Recht, in Hongkong einzugreifen. 
japan Die japanischen BehĂśrden haben erneut zwei Menschen hingerichtet. Der 63-Jährige Sumitoshi Tsuda wurde am 18. Dezember 2015 gehängt, weil er 2009 seinen Vermieter sowie dessen Frau und Bruder ermordet hatte. Er ist der erste hingerichtete Häftling in der Geschichte Japans, dessen Todesurteil von Laienrichtern gefällt worden war. Am selben Tag wurde auch der 39-Jährige Kazuyuki Wa kabayashi wegen zweifachen Mordes hingerichtet. Japan ist neben den USA die einzige groĂ&#x;e Industrienation, die noch an der Todesstrafe festhält. Zum Tode Verurteilte erfahren in Japan nicht, wann sie hingerichtet werden. Jeden Tag mĂźssen sie damit rechnen, den nächsten Morgen nicht mehr zu erleben.  Amnesty spricht von psychischer Folter. 
aMneSty journal | 02-03/2016
GOOD NEWS
Foto: Amnesty Mongolei
ruSSlanD Die russische Luftwaffe hat bei i hren Angriffen in Syrien Hunderte Zivilisten getĂśtet. Ein neuer Bericht von Amnesty International dokumentiert, dass Wohnhäuser und Gesundheitszentren getroffen wurden, aber auch eine Moschee und ein belebter Marktplatz. Amnesty untersuchte sechs Angriffe auf Homs, Aleppo und Idlib, die zwischen September und November 2015 geflogen wurden. Allein bei diesen Einsätzen kamen rund 200 Zivilisten ums Leben. Einige Angriffe scheinen direkt auf Zivilisten oder zivile Objekte gerichtet gewesen zu sein – ohne erkennbaren militärischen SinnÂŤ, sagte der Nahostexperte von Amnesty, Philip Luther. Solche Angriffe kĂśnnten Kriegsverbrechen darstellen. Auch international geächtete Streubomben scheinen zum Einsatz gekommen zu sein.     í˘ł
Endlich am Ziel. Amnesty-Aktivisten im mongolischen Ulan-Bator.
ÂťSieg fĂźr Die MenSchenrechteÂŤ
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Ausgewählte Ereignisse vom  18. Dezember 2015 bis 11. Januar 2016
Weltkarte
Mongolei Es ist ein historischer Tag im weltweiten Kampf fĂźr die Menschenrechte: Das Parlament der Mongolei hat am 3. Dezember 2015 die Todesstrafe abgeschafft. Hinrichtungen seien kein wirkungsvolles Mittel, um potenzielle Täter abzuschrecken, auĂ&#x;erdem seien Fehlurteile nicht wiedergutzumachen, sagte Präsident Tsachiagiin Elbegdordsch. Das neue Gesetz soll im September 2016 in Kraft treten. Die Mongolei zählt damit zu den mittlerweile 102 Ländern, in denen die Todesstrafe abgeschafft wurde. Entsprechende Entscheidungen trafen 2015 auch Fidschi, Madagaskar und Suriname. ÂťDie historische Entscheidung der Mongolei, die Todesstrafe abzuschaffen, ist ein groĂ&#x;er Sieg fĂźr die MenschenrechteÂŤ, sagte die Ostasien-Expertin von Amnesty, Roseann Rife. ÂťDie Todesstrafe wird weltweit mehr und mehr zu einer Sache der Vergangenheit.ÂŤ Dem Beschluss ging ein langer Kampf voraus: Bereits in den fĂźnfziger Jahren wollte das Parlament die Todesstrafe abschaffen, zog die Entscheidung aber aufgrund Ăśffentlicher Proteste nach nur sechs Monaten wieder zurĂźck. Erst in den vergangenen beiden Jahrzehnten drehte sich die Ăśffentliche Meinung, unter anderem durch den Fall des zum Tode verurteilten Erdene-Ochir, der 1995 zu Unrecht inhaftiert wurde. Nachdem zunächst drei verschiedene Gerichte das Urteil bestätigt hatten, wurde er 2002 schlieĂ&#x;lich fĂźr unschuldig befunden und dient heute als Beispiel dafĂźr, warum die Todesstrafe weltweit abgeschafft werden sollte. Die letzte Hinrichtung in der Mongolei wurde 2008 vollstreckt. Aktivistinnen und Aktivisten von Amnesty trugen in den vergangenen Jahren mit Kunstausstellungen, Filmen und Diskussionen dazu bei, die Ă–ffentlichkeit Ăźber Menschenrechte aufzuklären. Roseann Rife hofft nun, dass die Mongolei ein Vorbild sein kĂśnnte fĂźr Länder wie China, Japan, Nordkorea und Taiwan. ÂťDie Mongolei hat ein Beispiel gesetzt, das hoffentlich in ganz Asien Schule macht. Den Ländern, die weiterhin Todesurteile vollstrecken, wurde ein klarer Weg aufgezeigt, wie diese unmenschliche Strafe zu beenden ist. Länder, die weiterhin Menschen hinrichten, stehen auf der falschen Seite der Geschichte.ÂŤ
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Foto: Adnan Abidi / Reuters
SauDi-arabien: toDeSStrafe alS politiSche Waffe
Geköpft und gekreuzigt: Saudi-Arabiens Henker haben im vergangenen Jahr so viele Menschen hingerichtet wie seit zwei Jahrzehnten nicht mehr. Und das neue Jahr begann gleich mit einer Massenexekution: 47 Menschen ließ Saudi-Arabien am 2. Januar 2016 hinrichten – darunter auch den prominenten schiitischen Geistlichen Nimr Baqir al-Nimr. »Die Regierung setzt die Todesstrafe als politisches Druckmittel ein, um alte Rechnungen zu begleichen und Kritiker des Königshauses aus dem Weg zu räumen«, sagte Amnesty-Expertin Ruth Jüttner. »Bei Scheich Nimr Baqir al-Nimr handelte es sich um einen gewaltlosen politischen Gefangenen. Er hat mit seinen Predigten und Forderungen nach politischen Reformen nur von seinem Menschenrecht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch gemacht.«
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aMneSty journal | 02-03/2016
PANORAMA
SloWenien: klareS »nein« Zur hoMo-ehe
Rückschlag für die Menschenrechte: Die Slowenen haben sich in einem Referendum gegen die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe ausgesprochen. Im März 2015 hatte das Parlament mit großer Mehrheit ein Gesetz verabschiedet, das es homosexuellen Paaren erlauben sollte, zu heiraten und Kinder zu adoptieren. Slowenien war damit das erste Land des ehemaligen Ostblocks, das die Ehe für Schwule und Lesben öffnete. Doch die katholische Kirche und die rechtsgerichtete Opposition machten gegen den Parlamentsentscheid mobil. Sie sammelten mehr als 40.000 Unterschriften und erzwangen so eine Abstimmung über das Gesetz. 63 Prozent votierten am 20. Dezember 2015 schließlich gegen die Gleichstellung homosexueller Paare, die Beteiligung lag allerdings bei nur rund 35 Prozent. Foto: Jure Makovec / AFP / Getty Images
panoraMa
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INTERVIEW MARCELA TURATI
Foto: Manuel Velasquez / Anadolu Agency / pa
was du tust. Das war eine entmutigende Erkenntnis. Auch dass er für ein renommiertes Medium arbeitete, die Zeitschrift »proceso«, schützte Espinosa nicht.
»kriegSreporterin iM eigenen lanD« In Mexiko werden immer wieder Journalisten verschleppt und getötet. Wer über Drogenkartelle und korrupte Politiker berichtet, lebt besonders gefährlich, sagt die prominente Reporterin Marcela Turati. Interview: Wolf-Dieter Vogel
Mindestens achtzig Journalistinnen und Journalisten wurden in Mexiko in den vergangenen 15 Jahren ermordet, andere sind verschwunden. Wen trifft es? Oft trifft es investigative Medienschaffende, die korrupte Verstrickungen zwischen Kriminellen und Politikern aufdecken. Eine Ausnahme bildet der Fotograf Rubén Espinosa. Er hatte soziale Proteste begleitet. Seine letzten Fotos zeigten eine Gruppe von Vermummten, wohl Polizisten, die Studenten angriffen und ihnen das Gesicht zerschnitten. Espinosa wurde im August 2015 gemeinsam mit einer Menschenrechtsaktivistin und drei weiteren Frauen ermordet. Dieser Angriff hat besonders viel Aufsehen erregt. Warum? Espinosa war nach Mexiko-Stadt gekommen, weil er der Verfolgung im Bundesstaat Veracruz entgehen wollte. Sein Schicksal zeigte uns, dass auch die Hauptstadt kein sicherer Zufluchtsort ist. Plötzlich war klar: Sie finden dich – ganz egal,
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Weltweit schlug der Fall hohe Wellen. Ja, die internationale Solidarität war sehr wichtig. 600 Schriftsteller und Journalisten, Künstler und Filmemacher unterschrieben einen Brief, den der PEN-Club initiiert hatte. Zuvor hatten wir immer das Gefühl, es interessiere niemanden, was mit uns passiert. Aufgrund der weltweiten Empörung reagierte auch zum ersten Mal Präsident Enrique Peña Nieto. Das Wichtigste bleibt jedoch, dass die Straflosigkeit beendet wird. Die Staatsanwaltschaft muss endlich vernünftig arbeiten. Wenn niemand für den Mord an einem Journalisten bestraft wird, bleibt die Botschaft: Es ist folgenlos, Medienschaffende zu bedrohen, zu foltern, verschwinden zu lassen oder zu ermorden. Das ist eine Einladung, es weiter zu tun. Wer sind die Täter? Recherchen der Organisation »Artículo 19« zeigen, dass hinter den meisten Verbrechen Politiker stecken und nur ein Drittel der Taten von der organisierten Kriminalität verübt wird. Natürlich gibt es enge Verbindungen, etwa Bürgermeister, die selbst zur Drogenmafia gehören. Seit dem Jahr 2008 geht der Staat militärisch gegen die organisierte Kriminalität vor. Wie hat sich Ihre Arbeit als Reporterin seither verändert? Plötzlich schrieb ich über Massengräber, Schusswechsel, Massaker und zählte die Toten. Die Redaktionen schickten mich in die umkämpften Regionen. So wurde ich zur Kriegsreporterin im eigenen Land. In dieser Zeit gründeten wir »Periodistas de a Pie« und Reporter aus anderen Bundesstaaten kamen zu uns. Manche hatte man gezwungen, Fotos von Enthaupteten zu schießen. Andere berichteten, wie sie einen Ermordeten fotografieren wollten, dann aber vor Ort die Auftragsmörder trafen, die mit ihrer Arbeit noch nicht fertig waren. Die Killer zwangen sie, wegzuschauen, bis sie alle Opfer getötet hatten. Wie hält man das aus? Viele Kollegen sind ausgebrannt. Auch mich griff es irgendwann sehr an. Ich heulte los, wenn Angehörige von ihrem Leid erzählten. Bei »Periodistas de a Pie« geben wir Kurse, um uns emotional zu schützen: Tai Chi, psychologische Behandlungen, Meditation. Ich persönlich stelle manchmal Kerzen auf, wenn ich über die Opfer schreibe. Oder ich bete für sie. Auch das hilft mir.
aMneSty journal | 02-03/2016
»Wir wissen nicht, was die Zukunft uns bringt, wenn wir hier als Flüchtlinge in Deutschland keine Sicherheit haben.« BEWOHNER EINER FLÜCHTLINGSUNTERKUNFT IM HESSISCHEN DREIEICH, DIE UNBEKANNTE AM 4. JANUAR 2016 MIT MINDESTENS SECHS SCHÜSSEN ATTACKIERTEN UND DABEI EINEN SCHLAFENDEN FLÜCHTLING VERLETZTEN. (Quelle: hr/ hessenschau.de)
Viel geWalt, Wenig aufklärung
bilanZ 2015
MINDESTENS
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Das Ausmaß rechter Gewalt in Deutschland ist erschreckend: Von Januar bis Oktober 2015 erfassten die Behörden 11.312 politisch rechts motivierte Delikte. »In keinem Monat der vergangenen zwei Jahrzehnte gab es mehr rechte Straftaten als im Oktober 2015«, stellen die Grünen-Politikerinnen Irene Mihalic und Monika Lazar ernüchtert fest. Sie hatten eine Anfrage an die Bundesregierung gestellt und Auskunft zur polizeilichen Einstufung der Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte verlangt. Die daraufhin vorgelegten Zahlen zeigen einen dramatischen Anstieg. Dabei liegen sie immer noch unter denen, die von zivilgesellschaftlichen Organisationen erfasst wurden, etwa bei Brandanschlägen. Die Politikerinnen bemängeln, dass die Taten vom Bundeskriminalamt (BKA) chaotisch erfasst werden, sodass das tatsächliche Ausmaß nicht deutlich wird: »Der rechte Kontext vieler Angriffe wird durch die Polizei verkannt.« Eine Recherche der Wochenzeitung »Die Zeit« ergab außerdem eine geringe Aufklärungsquote bei Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte. Die Journalisten untersuchten 222 flüchtlingsfeindliche Angriffe, »bei denen Menschen zu Schaden gekommen sind oder zu Schaden hätten kommen können«. Davon waren nur in vier Fällen die Tatverantwortlichen verurteilt worden, in acht weiteren Fällen wurde Anklage erhoben. Nur in jedem vierten Fall wurden Tatverdächtige ermittelt, während bei elf Prozent der Delikte das Verfahren bereits eingestellt war.
ANGRIFFE AUF FLÜCHTLINGSUNTERKÜNFTE.
126 BRAND ANSCHLÄGE SONSTIGE UND 401 ANGRIFFE (STEINWÜRFE, BÖLLER-
DAVON
ATTACKEN, SCHÜSSE, RECHTE SCHMIEREREIEN ETC.) auSSerDeM
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KÖRPERLICH ANGRIFFE VERLETZTE
(Quelle: mut-gegen-rechte-gewalt.de (erfasst bis 31.12.15))
Flammender Hass. Geplante Flüchtlingsunterkunft in Tröglitz.
interVieW
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nachrichten
Foto: Jens Schlueter / Getty Images
abgeSang
Die »Pegida-Hymne« gehörte zum Jahresende zu den beliebtesten Downloads bei Amazon. Daraufhin entschied das Unternehmen, seinen Anteil des Gewinns aus dem Songverkauf Flüchtlingsprojekten zu spenden. Inzwischen ist das fünfminütige Instrumentalstück mit dem Titel »Gemeinsam sind wir stark« sowohl bei Amazon als auch bei Google Play gelöscht – weder die Pegida-Verantwortlichen noch Amazon wollen für das Entfernen verantwortlich sein. Amazon stand bereits mehrfach wegen seiner laxen Haltung zum Vertrieb rechter Propaganda in der Kritik.
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Foto: Jaap Arriens / NurPhoto / pa
anSchlag auf Die DeMokratie
»Stoppt die Diktatur.« Demonstration im polnischen Bydgoszcz, 19. Dezember 2015. polen Im Eiltempo treibt Polens rechts-
nationale Regierung Reformen voran, die die Rechtsstaatlichkeit Polens infrage stellen. Ob Geheimdienste, Verfassungsgericht oder öffentlich-rechtliche Medien – die Maßnahmen der seit November 2015 amtierenden Regierung betreffen demokratische Grundpfeiler. Ende 2015 beschloss das polnische Parlament eine von der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) eingebrachte Medienreform, die vor allem die Unabhängigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks infrage stellt. Anstatt des Rundfunkrats bestimmt künftig der Minister für Staats-
vermögen die Direktoren der öffentlichrechtlichen Rundfunksender und kann sie auch jederzeit grundlos entlassen. Mehrere amtierende Direktoren traten aus Protest gegen das Gesetz zurück und wurden inzwischen durch regierungsnahe Personen ersetzt. Auf ein weiteres Gesetzesvorhaben weist die Organisation »Reporter ohne Grenzen« hin: Geplant ist demnach, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und die Nachrichtenagentur PAP »in staatliche Institutionen umzuwandeln, die traditionelle und christliche Werte vermitteln«. Außerdem würden mit Inkrafttreten des
Gesetzes die Arbeitsverträge aller bisherigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten aufgehoben. Ähnlich fragwürdige Reformen betreffen die Arbeit des Verfassungsgerichts. Dessen Urteile benötigen jetzt eine Zweidrittelmehrheit – zuvor reichte eine einfache Mehrheit. Wichtige Fälle müssen in einem Gremium von mindestens 13 der insgesamt 15 Verfassungsrichter verhandelt werden, bisher waren es neun. Alle Fälle werden künftig in der Reihenfolge ihres Eingangs bearbeitet, unabhängig davon, ob sie dringlich sind. Zudem können Präsident und Justizminister Disziplinarverfahren gegen einzelne Verfassungsrichter einleiten – was in einem Fall bereits geschehen ist. Mit diesen Veränderungen scheint eine effektive und unabhängige Arbeit des Verfassungsgerichts unmöglich und damit auch seine Funktion als letzte wichtige demokratische Kontrollinstanz gefährdet. Polens Präsident Andrzej Duda steht der Regierungspartei PiS nahe und unterstützt den propagierten Umbau des politischen Systems. Die Partei hatte bei der Parlamentswahl im Oktober 2015 die absolute Mehrheit erhalten. Gegen die neue Regierung hatten zuletzt wiederholt Zehntausende Menschen im ganzen Land demonstriert. Auch die EU-Kommission leitete ein Verfahren ein, um die Rechtsstaatlichkeit Polens zu überprüfen – es handelt sich um einen 2014 eingeführten Kontrollmechanismus, der nun erstmals angewendet wird.
auSnahMe per geSetZ
schen unter Generalverdacht: Nach den Terroranschlägen von Paris am 13. November 2015 gilt in Frankreich noch bis 26. Februar 2016 der Ausnahmezustand. Das heißt unter anderem: Die Behörden dürfen Tag und Nacht Hausdurchsuchungen durchführen – ohne richterlichen Beschluss. Nach insgesamt 2.700 Hausdurchsuchungen wurden Medienberichten zufolge bisher nur zwei Verfahren wegen möglicher terroristischer Straftaten eingeleitet. Dagegen wurden 488 Verfahren ohne Terrorbezug eingeleitet. 360 Personen wurden zudem unter Hausarrest gestellt und müssen sich mitunter mehrmals täglich bei der Polizei melden. Diese Auflagen hatten die Behörden auch gegen einzelne Umweltaktivisten während der UNO-Weltklimakonferenz verhängt. Ende Dezember kündigte das französische Kabinett an, den Ausnahmezustand in die Verfassung aufzunehmen und dessen Dauer von drei auf sechs Monate ausweiten zu wollen. Dann müsste das Parlament der Ausrufung des Ausnahmezustands nicht mehr zustimmen.
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Foto: Carolyn Cole / Los Angeles Times / Polaris / laif
frankreich Hausdurchsuchungen, geschlossene Moscheen, Men-
Ein Land rüstet auf. Französische Soldaten im Anti-Terror-Einsatz.
aMneSty journal | 02-03/2016
koluMne elke Wittich
Zeichnung: Oliver Grajewski
Vermutlich wird am 8. März der Internationale Frauentag in Deutschland zum letzten Mal begangen – als Kampftag zur Durchsetzung der Gleichberechtigung hat er sich hierzulande offenbar erledigt, wenn man die männlichen Reaktionen auf die Übergriffe in der Kölner Silvesternacht zugrunde legt. Selbst in Naziforen, wo volksverhetzende Postings gern mit sexistischen Bildchen aufgelockert werden, entdeckte man plötzlich, dass Frauen, naja gut, natürlich nur deutsche Frauen, keine Sexobjekte sind. Selbst sogenannte Maskulisten, in aller Regel rechte Männerrechtler, die ihre Geschlechtsgenossen unermüdlich gegen »Feminazis« (das heißt Feministinnen auf maskulistisch) verteidigen und Vergewaltigungsopfer grundsätzlich für Lügnerinnen halten, fanden plötzlich, dass man den Frauen, die in Köln Opfer sexueller Belästigungen wurden, auf jeden Fall glauben müsse – was ja eigentlich nicht schlecht ist. Eigentlich.
aufSchrei Der raSSiSten
Interessant wurde es immer dann, wenn diejenigen, die in diesen Kreisen gern als »unsere Frauen« bezeichnet werden, sich gegen ihre selbst ernannten, rassistischen Beschützer positionierten. Dann liefen diejenigen, die auf Facebook oder Twitter die sexuellen Übergriffe durch »die Flüchtlinge« und »die Ausländer« beklagten – man muss sich die Begriffe verächtlich ausgespuckt vorstellen, um eine vage Ahnung von dem damit verbundenen Hass zu bekommen – umgehend zur Hochform auf: In Mails und Textnachrichten wünschten sie solchen Frauen, vergewaltigt und ermordet zu werden. Die gern mit gewaltpornografischen Details versehenen Botschaften gipfelten meist in handfesten Drohungen – womit sie noch mehr Knalltütigkeit bewiesen als diejenigen, die ihre vehementen Klagen darüber, dass die »Lügenpresse« die Vorfälle in Köln verschweige, mit Links zu Berichten der großen Tageszeitungen und Fernsehsender über eben diese Vorfälle garnierten. Aber war nicht eigentlich die Presse schuld daran, dass der Volkszorn sich derartig steigern und in den folgenden Wochen sogar in Bürgerwehren und Angriffen auf ausländisch aussehende Männer gipfeln konnte? Hätte eine zeitnahe Berichterstattung verhindern können, dass Rassisten mit grotesk übersteigerten Schilderungen der Übergriffe Stimmung machen? Vermutlich nicht, denn in den entsprechenden Foren und Facebook-Gruppen gibt es schon seit Jahren gefälschte Berichte über angebliche Verbrechen von Flüchtlingen und die Verbreiter derartiger Lügen sind international gut vernetzt: Eine schwedische, längst als Fälschung entlarvte Meldung über eine angebliche Massenvergewaltigung kleiner Mädchen in einem skandinavischen Hallenbad kursiert immer noch in deutscher Übersetzung. Dabei macht man sich zunutze, dass kaum ein besorgter deutscher Bürger Schwedisch versteht und den Wahrheitsgehalt der Nachricht überprüfen kann. Obwohl deutsche Polizeidienststellen die meist blutrünstig aufgemachten Falschmeldungen über von Flüchtlingen angeblich begangene Morde, Vergewaltigungen und Raubüberfälle öffentlich dementieren und ihren Verbreitern mit Strafverfolgung drohen, ist ein Ende der Hetze nicht abzusehen. Denn diejenigen, die solche Horrormeldungen begeistert glauben, weil sie ihre Vorurteile bestärken, sind gleichzeitig davon überzeugt, dass »die da oben« der Polizei und den Medien verbieten, »die Wahrheit« zu berichten. Und so wurden in diesen Kreisen aus den sexuellen Übergriffen in Köln auch ganz rasch »hundertfache Vergewaltigungen«, vor denen »unsere Frauen« eben nun geschützt werden müssen. Eines steht fest: Mit Verschärfungen des Asylrechts wird der gezielten Niedertracht dieser Rassisten nicht beizukommen sein. Elke Wittich ist Redakteurin der Wochenzeitung »Jungle World« und Mitgründerin des Blogs »Prinzessinnenreporter«.
nachrichten
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überraSchenDe WenDe in Mexiko
Adrián Vásquez Lagunes ist bedingungslos freigelassen worden. Die Polizisten, die ihn misshandelten, sitzen hingegen auf der Anklagebank. Dies ist eine Kehrtwende, die kaum möglich schien, schon gar nicht im berüchtigten mexikanischen Bundesstaat Baja California. Im September 2012, als der Busfahrer Adrián Vásquez Lagunes mit seinem Auto durch Tijuana fuhr, hielten ihn Polizisten an, weil er vermeintlich zu schnell unterwegs war. Er kam in Gewahrsam und wurde zwölf Stunden gefoltert. Die Sicherheitskräfte drohten ihm, schlugen und misshandelten ihn. Schließlich starb er beinahe, als man ihm durch die Nase Wasser einflößte, das sich in seiner Lunge sammelte. Er kam ins Krankenhaus, wo Ärzte ihm mit einer Notoperation das Leben retteten. Nachdem die Polizei den vierfachen Vater in den Medien als hochrangigen Drogenhändler präsentierte, erhob die Generalstaatsanwaltschaft Anklage wegen Drogendelikten und illegalem Waffenbesitz. Lagunes’ Folterer gaben fälschlicherweise an, ihn in einem gestohlenen Auto mit Drogen und Waffen vorgefunden zu haben. Die vermeintlichen Beweise der Polizei wurden von der Anklage unhinterfragt akzeptiert – und Lagunes saß daraufhin mehr als drei Jahre unschuldig in Haft. Die Geschichte des 33-Jährigen ist kein Einzelfall. Folter und Misshandlungen haben in Mexiko besonders seit 2006 mit dem verstärkten Vorgehen der Regierung gegen das organisierte Verbrechen stark zugenommen. Vor allem Angehörige armer oder marginalisierter Bevölkerungsgruppen sind gefährdet, Folter und Gewalt zu erleiden, da ihnen oftmals der Zugang zu wirksamem rechtlichem Schutz fehlt. Festnahme ohne Beweise, die Anerkennung von falschem, von der Polizei platziertem, Beweismaterial in Gerichtsverfahren sowie das Vorführen vermeintlich Krimineller in den Medien, all das ist keine Seltenheit und zielt darauf, Freisprüche vor Gericht zu erschweren. Folter und andere Menschenrechtsverletzungen
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Foto: Amnesty
Er wurde gefoltert und saß mehr als drei Jahre unschuldig in Haft. Jetzt ist der Mexikaner Adrián Vásquez Lagunes frei, und die Täter werden zur Rechenschaft gezogen.
Amnesty setzte sich für seine Freilassung ein. Adrián Vásquez Lagunes.
werden im mexikanischen Justizwesen meist ignoriert oder toleriert – lediglich sieben Folterer wurden auf Bundesebene bislang verurteilt, seit Folter in Mexiko 1991 Straftatbestand wurde. Im Rahmen der weltweiten Stop Folter-Kampagne setzte sich Amnesty für die Freilassung von Adrián Vásquez Lagunes ein. Seine Familie sowie zahlreiche Amnesty-Aktivisten und -Aktivistinnen auf der ganzen Welt appellierten an die Behörden und machten Medien auf den Fall aufmerksam. Schließlich stand auch die Staatsanwaltschaft des Bundesstaates Baja California unter Druck. Im April 2015 wurden drei der Poli-
zisten, die für Lagunes’ Folter verantwortlich waren, angeklagt. Es ist das erste Mal, dass in dem berüchtigten Bundesstaat Anklage gegen mutmaßliche Folterer erhoben wurde. Nach weiteren Monaten im Gefängnis gelang es Lagunes’ Anwältin schließlich, seine Unschuld zu beweisen. Und am 2. Dezember 2015 kam Adrián Vásquez Lagunes bedingungslos frei. »Ich danke allen bei Amnesty International«, sagt er. »Ihr habt mich so sehr unterstützt und ich wünsche jedem von euch nur das Beste.« Zu Hause wird er zum ersten Mal sein jüngstes, viertes Kind sehen. Mia-Sophie Scheurmann
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Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen mit Appellschreiben an den »Urgent Actions«, den »Briefen gegen das Vergessen« und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz drohende Menschenrechtsverletzungen verhindert und Menschen in Not hilft, zeigen diese Beispiele.
athen billigt »hoMo-ehe«
griechenlanD Als einer der letzten Staaten der Europäischen
Union hat Griechenland die eingetragene Partnerschaft für Schwule und Lesben legalisiert. Ministerpräsident Alexis Tsipras sprach nach der Parlamentsabstimmung am 22. Dezember 2015 von einem »wichtigen Tag für die Menschenrechte«. Lesbische und schwule Paare, die ihre Partnerschaft eintragen lassen, sind fortan in Erbschafts- und Eigentumsfragen heterosexuellen Eheleuten praktisch gleichgestellt. Allerdings dürfen sie weiterhin keine Kinder adoptieren und haben auch nicht das Recht, einen gemeinsamen Nachnamen zu tragen.
SeparatiSt in freiheit
Mehr als ein Jahrzehnt saß Filep Karma in einem indonesischen Gefängnis, nur weil er eine Flagge hochgehalten hatte. Nun ist der politische Aktivist wieder in Freiheit. Karma gehörte zu einer Gruppe von 200 Menschen, die am 1. Dezember 2004 für die Unabhängigkeit der Provinz Papua demonstrierten. Weil Karma die Morgenstern-Flagge – ein verbotenes Symbol der Unabhängigkeitsbewegung – bei sich trug, wurde er festgenommen und wegen »Unruhestiftung« zu 15 Jahren Haft verurteilt. Am 15. November 2015 wurde er vorzeitig aus der Haft entlassen. Amnesty hatte sich seit Jahren für seine Freilassung eingesetzt.
inDoneSien
regiMekritikerin frei
Die prominente aserbaidschanische Oppositionelle Leyla Yunus ist im Dezember 2015 unter Auflagen aus der Haft entlassen worden. Die 60-Jährige war im August 2015 wegen Betrugs und anderer Straftaten zu acht Jahren Haft verurteilt worden, ihr Ehemann Arif erhielt sieben Jahre. Nach Ansicht von Amnesty waren die Vorwürfe konstruiert. Das Ehepaar setzt sich unter anderem für die Aussöhnung mit dem Nachbarland Armenien ein. Arif Yunus war bereits im November wegen gesundheitlicher Probleme aus der Haft entlassen worden.
aSerbaiDSchan
politiScher häftling entlaSSen
Sein Einsatz für die Landbevölkerung brachte ihn ins Gefängnis: Der politische Aktivist Ko Wai Lu ist nach Verbüßung seiner Haftstrafe am 12. November 2015 aus dem Insein-Gefängnis in Rangun, Myanmars größter Stadt, entlassen worden. Ko Wai Lu war im Dezember 2014 festgenommen worden, weil er eine Protestkundgebung von Einwohnern Michaungkans, einer Gemeinde östlich von Rangun, unterstützt hatte. Sie hatten in der Nähe des Rathauses von Rangun einen friedlichen Sitzstreik veranstaltet, weil die Behörden Myanmars nichts getan hatten, um ihren Landkonflikt zu lösen.
MyanMar
erfolge
SelMin Çalişkan über
gute geSchäfte Foto: Amnesty
einSatZ Mit erfolg
Für viele EU-Politiker klang es nach einem guten Geschäft: Die Türkei verstärkt ihre Grenzen und sorgt dafür, dass Flüchtlinge sich nicht mehr auf den Weg nach Europa machen. Dafür erhält das Land drei Milliarden Euro sowie die Aussicht auf eine Wiederaufnahme des EU-Beitrittsprozesses inklusive Visa-Erleichterungen. Im vergangenen November einigte man sich auf diesen »Aktionsplan«. Wie sieht die Realität aus? In den ersten beiden Januarwochen sind zwar weniger Menschen auf den griechischen Inseln angekommen als im Vorjahr. Dennoch haben es laut UNHCR mehr als 10.450 Flüchtlinge nach Lesbos geschafft. Auf der Insel Chios kamen rund 4.600 Personen an. Mindestens 30 Schutzsuchende hat die Überfahrt im neuen Jahr bereits das Leben gekostet. Abschottungsmaßnahmen halten Menschen nicht von ihrer Flucht ab, sondern zwingen sie auf lebensbedrohliche Routen. Doch das sind nicht die einzigen Konsequenzen dieses »Aktionsplans«: Amnesty hat recherchiert, dass seit den Verhandlungen zwischen der EU und der Türkei Hunderte Flüchtlinge an der Westgrenze der Türkei festgenommen wurden. Viele wurden in Haftzentren gebracht, die auch mit EU-Geldern betrieben werden. So handelt es sich bei sechs Aufnahmezentren für Flüchtlinge in Wahrheit um Gefängnisse. Viele Flüchtlinge wurden auch nach Syrien und in den Irak zurückgeschickt – in Länder also, wo ihnen Gewalt und Verfolgung drohen. Damit verstößt die Türkei gegen internationales Recht. Todesfälle durch gefährliche Fluchtrouten, Abschiebungen in Kriegsgebiete und Masseninhaftierungen: All dies nehmen EU-Politiker in Kauf, damit ihnen die Türkei bei der Abwehr von Flüchtlingen hilft. Die Bundesregierung zieht unsere Recherchen, die ganz klar Fälle von Abschiebung in die Verfolgung dokumentieren, in Zweifel. Amnesty fordert, dass der »Aktionsplan« solange ausgesetzt wird, bis die Fälle lückenlos aufgeklärt sind, Menschen nicht festgenommen werden und es keine Abschiebungen nach Syrien und in den Irak mehr gibt. Gute Geschäfte auf Kosten der Menschen? Mit uns jedenfalls nicht. Selmin Çalışkan ist Generalsekretärin der deutschen Amnesty-Sektion.
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TITEL
Flüchtlinge in Syriens Nachbarstaaten
Zeltstadt. Flüchtlingslager in der Bekaa-Ebene im Libanon. Foto: Jacob Russell
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Mehr als vier Millionen syrische Flüchtlinge leben in nur drei Ländern: in der Türkei, im Libanon und in Jordanien. Die Bedingungen werden immer schlechter, auch weil internationale Hilfe ausbleibt. Hunderttausende Flüchtlinge schlagen sich auf eigene Faust durch – und die Gastfreundschaft der Einheimischen schwindet.
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Im Stich gelassen Die Hälfte der syrischen Bevölkerung ist durch den bewaffneten Konflikt vertrieben. Die überwiegende Mehrzahl der Syrerinnen und Syrer, die aus ihrer Heimat geflüchtet sind, wurden von den Nachbarstaaten aufgenommen. Vier Millionen syrische Flüchtlinge leben in nur drei Ländern: in der Türkei, im Libanon und in Jordanien. Diese Staaten werden seit dem Ausbruch des Bürgerkrieges in Syrien von der internationalen Gemeinschaft im Stich gelassen. Ihnen wurde weder finanziell unter die Arme gegriffen, noch wurden die humanitären Programme der UNO ausreichend unterstützt. Auch großangelegte Programme zur Aufnahme von Flüchtlingen aus diesen Erstaufnahmeländern wurden nicht ins Leben gerufen. Erst als im vergangenen Jahr Hunderttausende Flüchtlinge nach Europa kamen, lenkten europäische Politikerinnen und Politiker, die im selben Jahr noch Zahlungen an das Welternährungsprogramm und damit wichtige Unterstützung vor Ort gekürzt hatten, ihren Blick auf die Flüchtlingslager in den Nachbarländern. Zuvor war dies ein »blinder Fleck« im Bewusstsein der europäischen Regierungen. Zum Teil war es erst die Perspektivlosigkeit in diesen Lagern, die Menschen zur weiteren Flucht nach Europa gezwungen hatte. Nach dieser »Erkenntnis« wurde Besserung versprochen, Europa sagte eine Milliarde Euro für die Nachbarstaaten und eine Milliarde Euro für die UNO-Hilfsprogramme zu. Doch bis Ende 2015 war nur etwa die Hälfte des versprochenen Geldes geflossen. Amnesty fordert seit dem Beginn der syrischen Flüchtlingskrise mehr Solidarität mit den Erstaufnahmeländern. Nicht für jeden Flüchtling ist eine Flucht nach Europa die richtige oder gewünschte Option. Ohne eine grundlegende Versorgung und Perspektive vor Ort werden sich aber weiterhin viele dafür entscheiden und dabei ihr Leben riskieren. Die europäischen Staaten müssen deshalb jetzt die syrischen Nachbarstaaten bei einer menschenwürdigen Aufnahme von Flüchtlingen unterstützen und außerdem Flüchtlingen sichere Einreisemöglichkeiten eröffnen. Wiebke Judith ist Fachreferentin für Asylrecht und Asylpolitik bei der deutschen Sektion von Amnesty International.
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Eine Frage der Würde Kein Land hat im Verhältnis zu seiner Bevölkerungszahl so viele syrische Flüchtlinge aufgenommen wie der Libanon. Viele von ihnen leben unter schwierigen Bedingungen. Wer die überteuerten Unterkünfte nicht bezahlen kann, dem bleibt nur die Straße. Von Theresa Breuer (Text) und Jacob Russell (Fotos)
Flüchtlingskind Mohammed. »Früher bin ich manchmal abgezockt worden, aber damals war ich noch sehr klein.«
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Rostiges Zuhause. Mohammed, sein Vater und sein Bruder Nasser (v.l.n.r.) vor dem Kleintransporter, in dem die drei leben.
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s ist Freitagabend in Beirut und das Viertel Mar Mikhael vibriert. Dutzende Kneipen reihen sich hier aneinander, sie heißen »The Bohemian«, »Café Internazionale« und »Urban Factory«. An den Tresen wird geflirtet, dahinter mixen Barkeeper Gin Tonics. Vor den Bars stehen Frauen mit wilden schwarzen Locken und Männer mit Vollbart. Sie sind jung, sie sind schön, sie wiegen ihre Körper im Takt des Bob Marley-Songs »Everything’s gonna be alright«, der aus den Lautsprechern dringt. Durch die feiernde Menge bewegt sich Mohammed Ali. In der Hand hält er eine Plastiktüte gefüllt mit Erdnusspackungen. Wenn er Menschen anspricht, muss er seinen Kopf in den Nacken legen, weil er drei Köpfe kleiner ist als die Erwachsenen um ihn herum. Er zupft an ihren Jacken, hält ihnen die Nüsse hin. Die meisten streicheln ihm über den Kopf, scherzen mit dem Jungen. Im Gegensatz zu den anderen Kindern, die hier nachts arbeiten, lacht Mohammed immer. Trotzdem kauft ihm kaum jemand seine Erdnüsse ab. Am Ende des Abends wird er achttausend libanesische Pfund verdient haben – umgerechnet knapp fünf Euro. Jeden Abend zieht Mohammed durch das Partyviertel, bis spät in die Nacht. »Früher bin ich manchmal abgezockt worden«, sagt er, »aber das ist lange her, damals war ich noch sehr klein«. Mit klein meint er: fünf Jahre alt. Heute ist er acht, vielleicht auch neun, er weiß es nicht genau. Er kann sich nicht daran erinnern, jemals seinen Geburtstag gefeiert zu haben. Mohammed ist einer von einer Million syrischen Flüchtlingen, die seit Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs 2011 geflohen und derzeit im benachbarten Libanon registriert sind. Es waren
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einmal knapp 1,5 Millionen Syrer, doch viele sind weitergezogen nach Europa. Außerdem hat der Libanon im Mai 2015 einen Einreisestopp für syrische Flüchtlinge verhängt. Nur noch Härtefälle dürfen offiziell ins Land reisen, wie zum Beispiel Menschen mit gesundheitlichen Problemen. Dennoch: Kein Land hat im Verhältnis zu seiner Bevölkerung so viele syrische Flüchtlinge aufgenommen. Jeder fünfte Bewohner des Libanons kommt inzwischen aus Syrien. Anders als in anderen Staaten des Nahen Ostens gibt es im Libanon jedoch keine offiziellen Flüchtlingslager. Die Regierung weigert sich, Lager zu errichten, weil sie fürchtet, dass diese sich zu Ghettos entwickeln und Orte für Extremisten und Aufstände werden könnten. Mohammeds Familie lebt in einem rostigen Kleintransporter. Der weiße Kia Pregio steht, nur wenige Gehminuten vom Partyviertel Mar Mikhael entfernt, neben einer mehrspurigen Schnellstraße. Den Bus hat ihnen ein Mann aus der Nachbarschaft überlassen. Der Wagen war schon nicht mehr fahrtüchtig, als Mohammed mit seinem zwei Jahre älteren Bruder Nasser und seinem Vater vor vier Jahren aus Aleppo nach Beirut floh. Sie verließen ihre Heimat, nachdem die Mutter bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen war. Der Vater sagt, es sei reiner Zufall gewesen, dass er an dem Morgen die Kinder zur Schule gebracht habe und nicht seine Frau. Auch im Libanon gehen Mohammed und sein Bruder in die Schule. Seit Herbst 2015 dürfen syrische Kinder kostenlos libanesische Schulen besuchen. Es ist eines der wenigen Zugeständnisse der libanesischen Regierung. Mohammed geht gern in die Schule, er ist beliebt, seine Noten sind gut. Seinem Bruder Nasser fällt das Lernen hingegen
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schwer, er verweigert sich. Obwohl er älter ist als Mohammed, besucht er eine Klasse unter ihm. Der Vater, der selbst nie Lesen und Schreiben gelernt hat, weiß nicht, wie er mit Nasser umgehen soll. Er hat eine Nachhilfelehrerin engagiert, doch der Junge reißt manchmal einfach die Seiten aus dem Heft, auf denen die Hausaufgaben stehen. Mohammeds Vater arbeitet nicht. Mal sagt er, er finde keinen Job, mal sagt er, dass er im Libanon nicht arbeiten dürfe. Tatsächlich dürfen Syrer im Libanon arbeiten, doch sie brauchen einen libanesischen Sponsor, der ihnen einen Job gibt. Mohammeds Vater kennt keine libanesischen Arbeitgeber, er wirkt hilflos: ein einfacher Mann, der in Aleppo in einer Bäckerei gearbeitet hat, der seine Frau bei einem Bombenangriff verlor und jetzt nicht weiß, wie sein Leben weitergehen soll. Er lebt in den Tag hinein, sitzt Wasserpfeife rauchend vor dem Transporter, während seine Kinder für das Einkommen der Familie sorgen. Die Unterstützung, die Syrer vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) erhalten, deckt nicht einmal den monatlichen Bedarf an Lebensmitteln: 21 US-Dollar bekommen Flüchtlinge im Monat. Allerdings können maximal fünf Familienmitglieder die Hilfe beantragen. Wenn ein Elternpaar fünf Kinder hat – was in vielen syrischen Familien der Fall ist – bekommt die Familie insgesamt so viel Geld wie eine Familie mit drei Kindern. Auch für die medizinische Versorgung reicht die UNO-Unterstützung nicht aus. Krankenhauskosten können derzeit nur im absoluten Notfall übernommen werden. Das mussten auch Mohammed und seine Familie mehrfach erleben. Vor einigen Monaten drangen nachts Ratten in den Transporter ein und bissen Mohammed blutig. Zwei Tage musste er im Krankenhaus verbringen. Schließlich bezahlten Nachbarn die Rechnung, weil sonst niemand dafür aufkommen konnte. Trotz der Umstände hadert Mohammed nicht mit seinem Schicksal. Wer in sein Gesicht blickt, sieht noch Hoffnung, Neugier, Fröhlichkeit. Er sagt: »Nüsse verkaufen macht Spaß, Schule macht noch mehr Spaß«. Wer in Nassers Gesicht schaut, obwohl er nur zwei Jahre älter ist als Mohammed, sieht bereits Wut, Schmerz, Verbitterung. Er sagt: »Ein Kind sollte ein Haus haben, einen Vater und eine Mutter. Ein Kind sollte Zeit zum Spielen haben. Ein Kind sollte nicht die Zeit nach der Schule mit Arbeit verbringen. Das ist kein Leben.«
»Mama, such bitte nicht nach mir« Das ist kein Leben – dieser Satz fällt auch in Saadnayel immer wieder. Der Ort liegt 50 Kilometer östlich von Beirut in der Bekaa-Ebene. Auf einem Acker stehen weiße Zelte aneinandergereiht. Ein libanesischer Grundbesitzer hat sie aufstellen lassen, um sie an syrische Familien zu vermieten. 150 Dollar verlangt er im Monat für ein Zelt mit zwei Räumen und einer Toilette. Im Libanon gibt es nichts umsonst, auch nicht für Flüchtlinge. Im Gegenteil – häufig missbrauchen Vermieter die Notlage, weil sie wissen, dass die Familien froh sind, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben. Viele Syrer im Libanon verschulden sich, um überteuerte Mieten zu bezahlen, die libanesische Hausbesitzer für schäbige Unterkünfte verlangen. Wer sich keine Wohnung oder kein Zelt leisten kann, baut sich irgendwo eine kleine Baracke oder schläft auf der Straße. Die Gassen zwischen den Zelten in Saadnayel geben den Blick frei auf Felder und Berge. Bis nach Syrien kann man von hier aus sehen, die Grenze liegt nur wenige Kilometer entfernt. Obwohl die Menschen, die hier wohnen, nah an ihrer alten Heimat sind, hat ihr Leben doch nichts mehr mit dem von einst ge-
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Akkar
Beirut
Saadnayel SYRIEN
LIBANON
meinsam. Jedes Zelt birgt eine Leidensgeschichte. Es grenzt an Willkür, welche man erzählt. Fatima Mustafa Muwaz, Mutter von zwei Söhnen, ist 50 Jahre alt und kommt aus Homs. Sie sitzt auf dem Boden von Zelt Nummer 18, eingehüllt in schwarze Tücher. Es ist kalt in dem Raum. Hinter einer Trennwand steht zwar ein kleiner Ofen, doch die Wärme reicht nicht aus, um das ganze Zelt zu heizen. In der Ecke steht ein alter Fernseher und ein Computer, der nicht funktioniert. Die Uhr an der Wand ist stehengeblieben. Seit sechs Monaten lebt Fatima hier mit ihrem Sohn Mohammed, ihrer Schwiegertochter und ihrem 15 Monate alten Enkel. Mohammed hat Arbeit in einem Friseursalon gefunden. Als alleiniger Versorger der Familie muss er seinen Chef fast jeden Monat um einen Vorschuss bitten, um die Miete bezahlen zu können. Alle Ersparnisse sind längst aufgebraucht. Fatimas Martyrium begann an dem Tag, als die Familie beschloss, ihre Heimatstadt Homs zu verlassen, die seit 2011 als Protesthochburg gilt und deshalb von Assads Truppen massiv bombardiert wird. Mit ihrem Mann und ihrem 25-jährigen Sohn Khalid wollte Fatima nach Damaskus reisen, um sich dort eine neue Bleibe zu suchen. Doch schon am ersten Checkpoint nahmen Soldaten ihren Mann und Khalid fest. Was ihnen vorgeworfen wurde, weiß sie bis heute nicht. Sie sagt, ihre Familie sei nie politisch gewesen, sie hätten noch nicht einmal an Demonstrationen teilgenommen. »Mein Mann war Taxifahrer und Khalid Kellner, wir waren zufrieden mit unserem Leben.« Acht Monate lang suchte Fatima nach ihnen. Krank vor Sorge ging sie zu Polizeistationen, fragte in allen Gefängnissen des Landes nach. Eines Tages kam ein Anruf: Dein Mann ist tot, du kannst seine Sachen abholen. Eine Leiche hat sie nie gesehen. Fatima schaltete einen Anwalt ein, um zumindest ihren Sohn ausfindig zu machen. Der Anwalt fand Khalid in einem Gefängnis nahe Damaskus. Einmal pro Woche durfte Fatima ihn von da an besuchen, jeweils eine Stunde. »Er hat sich nie beklagt, nie von Folter oder Schlägen gesprochen, weil er mir Hoffnung machen wollte«, sagt Fatima, »doch ich habe die Wunden an seinem Körper gesehen«. Im Frühjahr 2015 wartete sie wieder im Besucherbereich, doch ihr Sohn tauchte nicht auf. Fatima erinnerte sich daran, dass er einige Monate zuvor gesagt hatte: »Mama, wenn ich eines Tages nicht mehr hier sein sollte, such bitte nicht nach mir. Ich werde verschwunden sein, wie die anderen Männer. Such
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Zelt Nummer 18. Fatima Mustafa Muwaz vor ihrer Unterkunft in Saadnayel.
nicht nach mir, ich weiß, dass dein Herz es nicht aushalten wird.« Sie suchte dennoch. Die Gefängnisleitung gab vor, nicht zu wissen, wohin ihr Sohn verlegt wurde. Es folgten Telefonate, Gesuche, wieder der Anwalt. Vier Monate später erhielt sie einen Anruf, wie schon bei ihrem Ehemann, dass ihr Sohn gestorben sei. Die offizielle Todesursache lautete Herzversagen. Sie lautet fast immer Herzversagen. Fatima bittet um eine Pause, Tränen laufen ihr über die Wangen. Über den Boden krabbelt ihr Enkel, er heißt Khalid, wie ihr verstorbener Sohn, und blickt fragend zu seiner Oma. »Ich wollte meinen Sohn nicht alleine lassen«, sagt sie schließlich, »aber am Ende ist er doch alleine gestorben«. Danach gab es keinen Grund mehr für sie, in Syrien zu bleiben. Sie floh und kam bei ihrem jüngsten Sohn Mohammed unter, der schon drei Jahre zuvor in den Libanon geflohen war.
»Im Libanon kann man mit Geld und Beziehungen fast alles erreichen, aber ohne das eine oder das andere kaum etwas.« 20
Vor Fatimas Zelt haben sich während des Gesprächs weitere Frauen eingefunden. Auch sie wollen reden. In ihren Händen halten sie Bilder von Söhnen und Ehemännern, von denen sie seit Wochen, Monaten, Jahren nichts gehört haben. Sie alle erzählen die gleiche Geschichte: Checkpoints, Festnahmen, ohne Angabe von Gründen. Später dann: Es handle sich um eine Verwechslung. Die Mütter, die Ehefrauen, sie sollten nur Geduld haben. In ein paar Tagen kämen die Männer frei. Sie kamen nicht mehr frei. Die Kerker des Regimes haben sie verschluckt, wahrscheinlich für immer.
»Wir haben keine Zukunft hier« Auch Fatima steht jetzt draußen und blickt in die Ferne. Wie geht es ihr nun, im Libanon, wie gehen die Libanesen mit ihr um? Ihre Miene bleibt völlig ausdruckslos. »Es gibt nichts, worauf ich hoffe. Den Libanesen sind wir egal.« Tatsächlich gibt es im Libanon jedoch eine Region, die versucht, Flüchtlinge zu integrieren. Akkar liegt im Norden des Landes und grenzt wie die Bekaa-Ebene an Syrien. Doch während die Bevölkerung der Bekaa-Ebene schiitisch ist, leben hier Sunniten – sie gehören damit derselben Konfession an wie die meisten syrischen Flüchtlinge. Als der Bürgerkrieg ausbrach, setzten sich die geistlichen Führer der Region zusammen und beschlossen, ihren Brüdern in Not zu helfen. Akkar ist keine reiche Region, aber die Menschen fühlen sich den Flüchtlingen verbunden. Als Syrien während des libanesischen Bürgerkriegs hier einmarschierte und nach dem Ende des Bürgerkriegs 1990 nicht abzog, litten die Menschen unter
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200 US-Dollar Miete. Abdel Nasser Abdel Latif Wais in der Wohnung in Berqayel.
Assads Truppen. Sie verstehen das Leid der Flüchtlinge, fühlen mit ihnen. Und sie wissen, wie man Hilfe organisiert. Die Bewohner des Dorfes Berqayel haben in den vergangenen Jahren Spenden gesammelt, vor Ort, aber auch bei Verwandten im Ausland. Regelmäßig schicken Brüder aus Australien und Neffen aus Dubai Geld in das Städtchen mit seinen 20.000 Einwohnern. Auf einem Hügel sind in den vergangenen Jahren Dutzende Wohnhäuser für Syrer entstanden, weitere sind im Bau. Es gibt Wohnblöcke für Familien mit Kindern und Apartmenthäuser für Witwen. Am unteren Ende der Straße wird gerade eine Moschee errichtet, gestiftet von einem katarischen Gönner. Gegenüber befindet sich die Schule, auf der Kinder zwischen sechs und 18 Jahren nach syrischen Lehrplänen von syrischen Lehrern unterrichtet werden. Bezahlt werden die Lehrer durch Spenden. Im untersten Stockwerk eines Betonbaus wohnen Abdel Nasser Abdel Latif Wais, seine Frau Wafaa und fünf ihrer sieben Kinder. Die Wohnung ist groß, aber spärlich eingerichtet. Nur im Elternschlafzimmer steht ein Bett, überall sonst liegen Matratzen auf dem Boden. Der Vater war Kämpfer, wahrscheinlich, er möchte nicht darüber sprechen. Nur so viel sagt er: Er sei in Syrien 2012 verwundet und in den Libanon gebracht worden. Das Haus, in dem er jetzt mit seiner Familie wohnt, diente damals als improvisiertes Krankenhaus, finanziert von einem kuwaitischen Geschäftsmann. Nach seiner Genesung durfte die Familie ein Jahr lang in dem Haus mietfrei wohnen. Inzwischen zahlen sie 200 US-Dollar Miete im Monat. Die Kinder gehen auf die nahe gelegene Schule, der Vater
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arbeitet gelegentlich auf dem Bau. Für eine Flüchtlingsfamilie im Libanon scheinen sie es auf den ersten Blick gut getroffen zu haben. Doch das Problem liegt tiefer. Ein Dach über dem Kopf und ein Gelegenheitsjob reichen nicht für eine Zukunft. »Wir leben in einem Staat, der uns nie als gleichwertige Bürger anerkennen wird«, sagt Wais. Seine Frau pflichtet ihm bei: »Im Libanon kann man mit Geld und Beziehungen fast alles erreichen, aber ohne das eine oder das andere kaum etwas.« Dieses Gefühl geben die Eltern an ihre Kinder weiter. »Wir haben keine Zukunft hier«, ist ein Satz, den die Kinder so oft hören, dass sich inzwischen ihre Schulnoten verschlechtert haben. Die älteste Tochter wollte einst Pharmazie studieren, doch weil sie keinen kostenlosen Studienplatz fand, haben die Eltern sie verheiratet. Ihr Ehemann hat in Syrien als Anwalt gearbeitet. Jetzt kellnert er. Am liebsten würde Vater Wais seine Kinder nach Europa schicken, »wo sie eine gute Ausbildung erhalten würden und wo Menschen mit Würde behandelt werden«. Doch sie haben kein Geld. Sie fürchten sich vor den Gefahren der Reise. Sie wollen die Nähe zu Syrien und der Gemeinschaft noch nicht ganz aufgeben. Ein Leben in Würde, das sie sich so sehr wünschen, ist für sie, wie für so viele Familien im Libanon, sehr weit weg. Die Autorin lebt in Beirut und berichtet seit 2012 unter anderem für Stern, Neon und die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung aus der Region. Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app
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»Es muss viel mehr getan werden« Trotz mangelnder internationaler Unterstützung bieten Syriens Nachbarländer nach wie vor den meisten aus Syrien geflohenen Menschen Schutz. Die Bedingungen werden allerdings immer schlechter, sagt Amnesty-Expertin Khairunissa Dhala.
Improvisiertes Kleinod. Eine syrische Familie im selbst angelegten Garten vor ihrem Wohncontainer im jordanischen Flüchtlingslager Zaatari.
Interview: Andreas Koob
Auch in den Anrainerstaaten Syriens herrscht gegenwärtig Winter. Sie waren zuletzt in Jordanien. Wie ist die Situation dort? Die Mehrheit der Flüchtlinge lebt in den Städten, nicht in Flüchtlingslagern, wie meist fälschlicherweise angenommen wird. Das ist wichtig zu betonen: Denn die Flüchtlinge in den Städten erhalten weniger Unterstützung als jene in den Flüchtlingslagern – sie sind weit verstreut und Unterstützung ist für sie meist nicht zugänglich. Für viele ist es ein Überlebenskampf – ohne oder mit wenig humanitärer Hilfe von Seiten der internationalen Gemeinschaft. Auch viele Flüchtlingskinder müssen jetzt arbeiten. Das ist einer von vielen schlechten Bewältigungsmechanismen, die inzwischen gang und gäbe sind.
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Seit Jahren fliehen Millionen Menschen in Syriens Nachbarstaaten. Wie hat sich die Situation entwickelt? Im März geht die Krise in Syrien ins sechste Jahr und die Situation in den Hauptaufnahmeländern wird immer schwieriger. Die Türkei, der Libanon und Jordanien haben mehr als vier Millionen Menschen aufgenommen. Viele von ihnen leben in extremer Armut – ohne Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung oder Obdach. Mehr als die Hälfte der schulpflichtigen Kinder geht nicht zur Schule – das ist eine alarmierende Zahl von Kindern, die keine Bildung erhalten. Viele Flüchtlinge, die anfangs auf eigene Rücklagen zurückgriffen, haben diese inzwischen aufgebraucht. Schutzsuchende durften die Grenze zu Jordanien zuletzt nicht mehr überqueren, auch aus der Türkei wurden Menschen
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klaMMe helfer
unmittelbar nach Syrien abgeschoben. Wie sieht die Lage an Syriens Grenzen aus? De facto haben alle Nachbarstaaten Syriens ihre Grenzen geschlossen. Momentan befinden sich 12.000 syrische Flüchtlinge im »Niemandsland« an der syrisch-jordanischen Grenze unter unhaltbaren Bedingungen – ohne Nahrungsmittel, Trinkwasser, Schutz oder medizinische Versorgung. Auch Hochschwangere, kleine Kinder und Alte warten wochenlang darauf, nach Jordanien zu gelangen. Und je mehr sich der Konflikt in Syrien zuspitzt, umso mehr wartende Menschen werden hinzukommen.
Wie ernst ist die Lage in Anbetracht der fehlenden Gelder? Der UNO-Hilfsplan für die Syrienkrise war bis zum Jahresende 2015 nur zur Hälfte finanziert. Das zwingt humanitäre Organisationen zu schwierigen Entscheidungen bei der Versorgung – dazu zählen auch Einschnitte bei den Essensgutscheinen und bei der Bargeldunterstützung der besonders Schutzbedürftigen. Nicht zuletzt führt es dazu, dass Flüchtlinge ihr Leben riskieren, indem sie entweder nach Syrien zurückkehren oder versuchen, irregulär nach Europa einzureisen. Jeder fünfte Mensch, der im Libanon lebt, ist ein syrischer Flüchtling. Wie arrangiert sich die Mehrheitsgesellschaft damit? Der Libanon und die anderen Nachbarstaaten Syriens haben sich in der Vergangenheit unglaublich großzügig verhalten. Gerade zu Beginn des Konflikts, als viele Personen Flüchtlinge aus Syrien bei sich zu Hause aufnahmen. Im Laufe der Zeit und in Anbetracht der knappen Ressourcen nehmen die Spannungen allerdings zu. Die Länder stoßen an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Die internationale Gemeinschaft ist deshalb jetzt in der Pflicht, die Länder bei der Aufnahme der Flüchtlinge zu unterstützen. Innerhalb der EU scheint sich kein Konsens zu finden, mehr Flüchtlinge adäquat zu verteilen und zu versorgen. Wie bewerten Sie die Rolle Europas? Die verzweifelte Lage und all die Missstände, denen die Flüchtlinge im Syrienkonflikt ausgesetzt sind – das haben die Verantwortlichen in den reichsten Ländern der Welt wohl noch immer nicht realisiert, das gilt auch für einige europäische Länder. Auch wenn es Medien und Politik gegenwärtig anders darstellen: Noch immer leben die meisten Flüchtlinge in den Anrainerstaaten Syriens. Es kann und muss viel mehr getan werden, um sicherzustellen, dass es für syrische Flüchtlinge sichere Optionen und legale Wege nach Europa gibt.
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Der Diskurs scheint festgefahren. Wie lässt sich Bewegung in die Debatte bringen? Die Debatte kann sich grundlegend verändern. 2015 gab es sehr inspirierende Geschichten, von aktiven Freiwilligen, die Flüchtlinge willkommen hießen und sie bei ihrer Ankunft in Europa unterstützten. Das ist ein wichtiges Moment, wenn Menschen – ob in Europa oder anderswo – signalisieren, dass sie bereit sind, Flüchtlinge in ihrem Land aufzunehmen. Gleichzeitig verschärfte etwa die deutsche Politik das Asylrecht und diskutierte auch darüber, den Nachzug von syrischen Familienangehörigen zu erschweren. Ist das legitim? Deutschland hat syrische Flüchtlinge großzügig aufgenommen – etwa auch im Rahmen von Aufnahmeprogrammen. Jedoch kann und muss mehr geschehen: Die europäischen Länder müssen die schutzbedürftigsten Flüchtlinge aufnehmen, sichere und legale Routen nach Europa möglich machen und auch Familienangehörige aufnehmen. Gerade eine Einschränkung des Familiennachzugs bei syrischen Flüchtlingen wäre der falsche Weg und gefährdet Menschenleben. Auch andere innenpolitische Asylrechtsverschärfungen, die die Qualität der Asylverfahren mindern, lehnt Amnesty ab. Während Flüchtlinge aus Syrien in Deutschland als schutzbedürftig gelten, gilt dies für Menschen vom Balkan und auch aus Afghanistan nicht oder kaum mehr. Was halten Sie davon? Syrien braucht unsere Aufmerksamkeit, allerdings im gleichen Maße wie auch langjährige Flüchtlingskrisen. Menschen, die Asyl suchen, sollten wegen ihrer Nationalität weder diskriminiert noch bevorzugt werden. Wer vor Verfolgung, Gewalt und anderen Menschenrechtsverletzungen flieht, sollte als Asylsuchender anerkannt werden und die gleichen Rechte genießen.
Foto: Henning Schacht / Amnesty
Foto: Samuel Aranda / The New York Times / Redux / laif
In den vergangenen Monaten kehrten auch Tausende syrische Flüchtlinge freiwillig aus Jordanien nach Syrien zurück. Im August und September 2015 berichtete das UNHCR von mehr und mehr syrischen Flüchtlingen, die freiwillig aus Jordanien in ihre Heimat zurückkehrten. Auslöser dafür sind nicht zuletzt die schwindenden Gelder der Staatengemeinschaft für humanitäre Hilfe. Wegen starker Unterfinanzierung kam es zu drastischen Einschnitten beim UNO-Welternährungsprogramm: So standen für syrische Flüchtlinge zeitweise nur noch sieben US-Dollar im Monat zur Verfügung – anstatt 14 US-Dollar. Angesichts von Perspektivlosigkeit und Arbeitsverbot entschieden sich einige dafür, ins syrische Konfliktgebiet zurückzukehren.
2015 veranschlagte das UNHCR für seinen »Regional efugee Response Plan« eine Summe von 4,32 Milliarden R US-Dollar, um syrische Flüchtlinge in den Nachbarländern zu unterstützen. Lediglich 58 Prozent dieses Bedarfs waren bis Ende 2015 durch Gelder der internationalen Gemeinschaft und private Spenden gedeckt. Im Sommer 2015 mussten Hilfen des Welternährungsprogramms wegen Geldmangels massiv gekürzt werden. Der größte Beitragszahler waren die USA mit 281 Millionen US-Dollar, gefolgt von Kuwait und Großbritannien. Viele der versprochenen Gelder wurden nie gezahlt. Für Februar 2016 ist eine weitere internationale Geberkonferenz in London geplant.
interVieW khairuniSSa Dhala Khairunissa Dhala ist Amnesty-Researcherin für Flucht und Migration. Seit 2013 dokumentiert sie speziell die Lage syrischer Flüchtlinge in den Hauptaufnahmeländern und berichtete wiederholt aus Jordanien, dem Libanon und dem Irak.
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Im Wartestand Rund 2,5 Millionen syrische Flüchtlinge hat die Türkei inzwischen aufgenommen, mehr als ganz Europa. Sie schlagen sich auf eigene Faust durch – von weiten Teilen der Bevölkerung abgelehnt, von der Regierung instrumentalisiert und von der EU im Stich gelassen. Von Jürgen Gottschlich
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s geht laut und lebhaft zu auf dem engen Hof einer Schule in Kahramanmaras. Mehr als hundert Kinder aller Altersklassen drängeln sich zwischen dem Hauseingang und einem großen Tor, das zur Straße führt. Es wird gelacht, geschubst und geschrien, wie auf jedem anderen Pausenhof auch, nur, dass dieser enge Vorhof als Schulhof eigentlich völlig ungeeignet ist. Der Grund dafür ist einfach: Es handelt sich um ein Provisorium. Das Haus war ein normales Wohnhaus, bevor es von einem Verein, den ehemalige Lehrer aus Syrien gegründet haben, gemietet und in eine Schule umgewandelt wurde. Die Ausgelassenheit der Kinder weicht schnell einer großen Traurigkeit, wenn man sie nach ihrer Familie und ihren Freunden fragt. Viele haben einen Bruder, eine Schwester oder ein Elternteil verloren. »Mein Vater und mein großer Bruder sind tot«, erzählt Merjem aus Aleppo. »Ich bin jetzt seit zwei Jahren mit meiner Mutter und meinen beiden kleinen Schwestern hier. Ein Onkel lebt noch mit uns zusammen.« Die Familie hat es schwer, der Bruder des getöteten Vaters, der auch aus Aleppo geflohen ist, kümmert sich jetzt um sie.
Das Schönste ist für Merjem, dass sie wieder in eine Schule gehen kann. »Die Kinder können sich hier für ein paar Stunden am Tag als normale Kinder fühlen«, sagt Snabl Mirandi, die Initiatorin der Schule. »Das ist fast genauso wichtig wie der Unterrichtsstoff, den sie hier lernen.« Was die Kinder lernen, entspricht weitgehend dem, was sie auch an einer Schule in Syrien lernen würden. Türkisch steht zum Beispiel nicht auf dem Programm. »Wir wollen, dass unsere Kinder ohne Probleme wieder in eine syrische Schule gehen können, wenn sie in ihre Heimat zurückkehren«, begründet Mirandi den Lehrplan. Das wollen auch die Eltern so. Tatsächlich können sich die wenigen privaten syrischen Schulen, die in der Türkei mittlerweile entstanden sind, vor dem Andrang der Flüchtlingsfamilien kaum retten. Die Initiative in Kahramanmaras hat inzwischen bereits zwei weitere Schulen aufgemacht. Das liegt allerdings auch daran, dass diese Schulen kein hohes Schulgeld verlangen. Sie bieten den Unterricht kostenlos an, alles wird über Spenden finanziert. »Sonst könnte es
Meeresblick. Flüchtlinge betrachten von einem Hügel an der türkischen Küste, wie andere Flüchtlinge per Boot in Richtung Griechenland aufbrechen.
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sich kaum eine Familie leisten, ihre Kinder hierher zu schicken«, so Mirandi. Selbst eine kostenlose Schule ist für viele noch eine Herausforderung, denn oft können Familien nur überleben, wenn auch die Kinder arbeiten und einen Teil zum Unterhalt beitragen. Am Schicksal vieler Kinder in der Schule in Kahramanmaras zeigen sich die typischen Probleme syrischer Flüchtlingsfamilien in der Türkei. Fast alle leben in großer materieller Not. Kahramanmaras ist eine ostanatolische Großstadt, die ungefähr hundert Kilometer von der syrischen Grenze entfernt in den Ausläufern des Taurusgebirges liegt. In Deutschland wurde die Stadt dadurch bekannt, dass hier bis Ende 2015 mehrere Jahre lang deutsche Soldaten mit Patriot-Luftabwehrraketen stationiert waren. Zu den 700.000 Einwohnern der Stadt kommen mehr als 80.000 syrische Flüchtlinge. Ein kleiner Teil von ihnen lebt in einem Lager vor der Stadt, die allermeisten aber sind über die ganze Stadt verstreut in billigen Wohnungen, oft auch in baufälligen Häusern untergekommen.
Mentale Probleme Auch nach fünf Jahren Bürgerkrieg denken die allermeisten, dass sie schon bald wieder in ihre Heimat zurückkehren können. Deshalb will die Mutter von Merjam ihre Tochter auch nicht auf eine türkische Schule schicken, obwohl sie seit einem Regierungsbeschluss vom Herbst 2014 die Möglichkeit dazu hätte. Weil die meisten syrischen Eltern so denken, gehen von den rund 800.000 schulpflichtigen syrischen Kindern in der Türkei nur 25 Prozent zur Schule. Das sind zum einen die Kinder, die in einem Flüchtlingslager leben und dort auch schulisch versorgt werden, dann die Kinder, die einen Platz in einer privaten syrischen Schule gefunden haben und schließlich einige wenige,
Die meisten halten sich mit Schwarzarbeit über Wasser, darunter auch viele Kinder. die tatsächlich eine türkische Schule besuchen. Damit mehr Kinder eine normale türkische Schule besuchen, müsste es aber auch von Seiten des türkischen Staates mehr Integrationsangebote geben. So gibt es weder speziellen Türkischunterricht noch andere Hilfen für die syrischen Flüchtlingskinder. Den Hauptgrund für die Misere stellen aber nicht unbedingt materielle, sondern vor allem mentale Probleme dar. Bis jetzt haben weder die Flüchtlinge noch der türkische Staat wirklich realisiert, dass aus den einstigen »Gästen« de facto längst Einwanderer geworden sind, die jedoch bislang nicht als solche behandelt werden. Erst im Oktober 2014 hatte sich die türkische Regierung dazu durchgerungen, den syrischen Flüchtlingen einen vorläufigen Rechtsstatus zuzugestehen und sie mit einem Flüchtlingsausweis auszustatten, der auch all denjenigen, die nicht in einem der staatlichen Flüchtlingslager leben, Zugang zu Schulen, medizinischer Versorgung und gelegentlichen Sachleistungen bietet. Dieser Ausweis beinhaltet jedoch keine reguläre Aufenthaltsgenehmigung und berechtigt auch nicht dazu, in der Türkei eine Arbeit aufzunehmen.
Foto: Umit Bektas / Reuters
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»Sich für ein paar Stunden als normale Kinder fühlen.« Syrische Flüchtlingskinder in einer Schule in Ankara.
Eine Studie, die jüngst vom »Center for Migration and Political Studies« (HUGO) veröffentlicht wurde, das an der HacettepeUniversität in Ankara angesiedelt ist, stellte fest, dass es nur 3.686 Syrer gibt, die legal arbeiten, aber mindestens 400.000, die sich mit Schwarzarbeit über Wasser halten, unter ihnen viele Kinder. Von den insgesamt 2,5 Millionen syrischen Flüchtlingen lebt nur noch ein Bruchteil im Lager, fast 90 Prozent haben sich über das ganze Land verteilt und schlagen sich mehr schlecht als recht auf eigene Faust durch. Allerdings ist die Mehrheit der Syrer in den Großstädten entlang der syrischen Grenze geblieben. Urfa und Gaziantep, die beiden Millionenstädte nahe der syrischen Grenze, haben sich in den vergangenen Jahren durch den Zuzug aus Syrien völlig verändert. Fast die Hälfte der Einwohner stammt mittlerweile aus dem Nachbarland, was zu erheblichen Problemen sowohl für die Flüchtlinge als auch für die Alteingesessenen führt. Die Mieten haben sich durch die Zuwanderung oft mehr als verdoppelt, die Löhne, speziell für wenig qualifizierte Jobs auf dem Bau und in der Gastronomie, sind dagegen stark gesunken. »Die Syrer nehmen jeden Job zu einem Hungerlohn an und drücken so die Preise«, klagen die türkischen Gewerkschaften. Doch den syrischen Flüchtlingen erlauben, legal zu arbeiten, wollen viele Türken ebenfalls nicht. Nach Angaben der HUGO-Studie sind rund 44 Prozent dagegen, dass Flüchtlinge
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einen legalen Zugang zum hart umkämpften Arbeitsmarkt bekommen. Überhaupt fällt es der türkischen Regierung schwer, die Bevölkerung dazu zu bewegen, die Flüchtlinge als neue Bürger zu akzeptieren. In Kahramanmaras und Gaziantep kam es bereits vereinzelt zu tätlichen Angriffen auf die Neubürger, vor allem auf syrische Läden, die den Einheimischen Konkurrenz machen.
»Wir werden gemobbt« Es gibt aber noch einen weiteren Grund, warum die Syrerinnen und Syrer sich in der Türkei in einer schwierigen Situation befinden. Gerade die Bevölkerungsgruppen, die in Deutschland Flüchtlinge besonders aktiv unterstützen, das linksliberale, weltoffene Bürgertum, die progressive Jugend und Studentenorganisationen, lehnen in der Türkei die syrischen Flüchtlinge zumeist ab. Das liegt daran, dass die islamische AKP-Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan die syrischen Flüchtlinge politisch instrumentalisiert. Syrische Flüchtlinge gelten als Klientel der islamischen Regierung. Nach Ansicht Erdoğans sollen sie mithelfen, den türkischen Einfluss in Syrien auszubauen und außerdem als Rekrutierungsbasis für islamistische AntiAssad-Kämpfer herhalten. Diverse Flüchtlingslager werden mehr oder weniger von islamistischen Gruppen kontrolliert. Nicht zuletzt deshalb lehnen es mehr als 80 Prozent der Türken laut der HUGO-Studie ab, dass den Syrern eine Einbürge-
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rung angeboten wird. Die Flüchtlinge fühlen sich entsprechend oft zurückgewiesen, trotz aller Unterstützung, die ihnen die Regierung im Verhältnis zu Flüchtlingen aus anderen Ländern gewährt. Von vielen eher ärmeren AKP-Anhängern werden sie als Konkurrenz auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt wahrgenommen und vom liberalen Bürgertum werden sie als fünfte Kolonne der islamischen Regierung eingestuft. »Wir werden hier gemobbt«, erzählen denn auch sowohl die syrischen Lehrerinnen und Lehrer in Kahramanmaras als auch Aktivisten einer syrischen NGO in Istanbul. »Wenn ich Geld hätte«, sagt der Aktivist Samir, »würde ich sofort nach Europa gehen«. Der linke Filmemacher aus Damaskus schlägt sich seit ein paar Monaten in Istanbul durch. Obwohl er zusammen mit seiner Freundin im Stadtteil Fatih eine kleine Wohnung gefunden hat und als Lehrer etwas Geld verdient, will er nicht in der Türkei bleiben. »Sobald sich die politische Situation hier ändert«, glaubt er, »werfen sie uns ja doch raus«. Vor allem wegen dieser Unsicherheit will er weg. Mindestens 400.000 Syrer, schätzt Samir, haben sich in der 15-Millionen-Metropole am Bosporus irgendwo verkrochen und warten darauf, nach Europa zu gelangen. Doch seit die EU mit der türkischen Regierung einen Aktionsplan vereinbart hat, mit dem genau das verhindert werden soll, ist es schwieriger geworden, die türkische Grenze Richtung Griechenland oder Bulgarien zu passieren. Nur einen Tag nach dem EU-Türkei-Gipfel Ende November in Brüssel marschierten an der türkischen Ägäisküste, die Lesbos gegenüberliegt, mehr als tausend Soldaten auf und führten die Flüchtlinge ab. Hunderte Familien, die am Strand kampierten und auf eine Gelegenheit warteten, in ein Boot zu steigen, wurden mit vorgehaltener Waffe in Busse getrieben, die sie in sogenannte Aufnahmezentren in der Nähe brachten.
»Syrer arbeiten zu einem Hungerlohn und drücken so die Preise«, klagen die Gewerkschaften. den vergangenen drei Jahren wurden in der Türkei 150.000 syrische Kinder geboren. Die Experten der Hacettepe-Universität schätzen, dass innerhalb der nächsten fünf Jahre die Zahl der Syrer in der Türkei auf 3,5 Millionen steigen wird. Das ist eine enorme Aufgabe für ein doch relativ armes Land wie die Türkei. In den vergangenen drei Jahren hat die Regierung nach offiziellen Angaben umgerechnet rund acht Milliarden US-Dollar für die Versorgung der Flüchtlinge aufgewendet. Gemessen daran sind die drei Milliarden Euro, die die EU jetzt in Aussicht gestellt hat, kein besonders großer Betrag. Soll die Integration der Flüchtlinge in der Türkei gelingen, wird die EU noch weit mehr Geld in die Hand nehmen müssen. Nicht nur für eine menschenwürdige Unterbringung, sondern vor allem für schulische und berufliche Bildung. Nur so werden die Syrer eine Chance haben, denn anders als Deutschland hat die Türkei selbst eine junge Bevölkerung. Jedes Jahr drängen mehr als eine Million junge Menschen in den Arbeitsmarkt. Der Autor ist Mitbegründer der taz und lebt seit 1998 als Korrespondent in Istanbul.
Die EU steht in der Pflicht In der Provinz Canakkale, von wo aus die Boote nach Lesbos starten, befindet sich ein winziges Lager in der Stadt Ayvacik, das gerade einmal Platz für 80 Personen bietet. Plötzlich wurden Tausende hier abgeliefert, die nur völlig unzulänglich versorgt werden konnten, bevor sie dann in andere Städte weitertransportiert wurden. Mitglieder einer Menschenrechtsorganisation aus der Stadt Canakkale, die für die Flüchtlinge in Ayvacik Kleidung und Lebensmittel sammelten, berichteten, man sei wie in Griechenland jetzt auch in der Türkei dazu übergegangen, am Strand aufgegriffene Flüchtlinge ein Papier unterschreiben zu lassen, das sie verpflichtet, innerhalb von vier Wochen aus der Türkei auszureisen und zwar dahin, wo sie hergekommen sind. Ein Teil von ihnen wird deshalb mit Bussen quer durchs Land wieder zurück nach Osten an die syrische, irakische oder iranische Grenze gefahren und dort gezwungen, zurückzugehen. Wie Amnesty International vor Ort herausfand, sind etliche der neu mit EU-Mitteln eingerichteten Aufnahmezentren entlang der syrischen Grenze tatsächlich eher Haftanstalten, in denen die Flüchtlinge festgehalten werden, bis sie sich bereit erklären, freiwillig nach Syrien zurückzukehren. Doch trotz allem wird der größte Teil der Flüchtlinge, die bereits in der Türkei sind, wohl auch dort bleiben. Entweder weil sie keine Möglichkeit haben, weiterzukommen, oder weil sie doch lieber in der Nähe Syriens bleiben wollen, anstatt ganz nach Europa zu verschwinden. Auf mittlere Sicht werden deshalb eher mehr als weniger Syrer in der Türkei leben. Schon in
SyriSche flüchtlinge in Den nachbarStaaten
TüRKEI: 2.500.000 ,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,
SYRIEN LIBANON: 1.070.000 ,,,,,,,,,,,
IRAK: 245.000 ,, JORDANIEN: 633.000 ,,,,,,
äGyPTEN: 118.000 , Quelle: UNHCR, Stand: 31.12.2015
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Willkommenskult Abdul Rahman »Mich von meiner Mutter zu verabschieden, war schlimm«, sagt Abdul Rahman. Als er 2011 zum syrischen Militär einberufen wurde, war für den 30-Jährigen klar, dass er Syrien verlassen musste. »Die einzige Option für mich war Jordanien. Meine Schwester wohnt dort mit ihrer Familie.« Das Königreich Jordanien gehört wie der Libanon und die Türkei zu den wichtigsten Aufnahmeländern. Offiziell sind dort mehr als 630.000 syrische Flüchtlinge registriert, wobei inoffiziell sehr viel mehr dort vermutet werden. Die Mehrheit lebt im Norden des Landes, rund 82.000 Geflüchtete sind in Zaatari untergekommen, einem riesigen Zeltlager des UNHCR nahe der Grenze. Abdul Rahman kennt das Lager gut. In Syrien hat er Kunst studiert, in Jordanien arbeitete er als Journalist, Fotograf und Filmemacher. Über Zaatari und die Situation von Syrerinnen und Syrern in Jordanien hat er oft berichtet. »Oftmals ging es um die Situation der Kinder und um kranke Menschen, die Probleme hatten, medizinische Hilfe zu bekommen.« Staatliche Hilfe gibt es nicht. Da syrische Geflüchtete keine Arbeitserlaubnis bekommen, sind sie auf humanitäre Hilfe angewiesen oder sie versuchen, irregulär Arbeit zu finden. »Es gab viele Probleme«, sagt Abdul Rahman. Je mehr Menschen aus Syrien ankommen, umso angespannter werde außerdem die Stimmung innerhalb der jordanischen Bevölkerung. Abdul Rahman wollte deshalb zuerst nach Ägypten ausreisen, doch sein Plan schlug fehl. Als er 2013 die Möglichkeit be-
kam, für verschiedene syrische Fernseh- und Radiostationen in der Türkei zu arbeiten, machte er sich auf den Weg. Vier Monate wohnte er in Gaziantep, danach zog er nach Istanbul. »Die türkische Regierung hatte damals eine klare Haltung zu Flüchtlingen. Istanbul war ein guter Ort, um zu leben.« Abdul Rahman kritisiert jedoch, dass der jüngste Deal zwischen der EU und der Türkei, die türkischen Grenzen besser zu schützen, auf dem Rücken der Schutzsuchenden gemacht wurde. »In der Politik geht es nur ums Geschäft, nicht um die Menschen. Die Türkei braucht kein Geld für Flüchtlinge. Flüchtlinge sind für sie ein politisches Argument, das sie einsetzen kann.« Im Frühjahr 2015 bekam er das Angebot, bei der Deutschen Welle in Berlin ein Praktikum zu machen. Nach langem Hin und Her hatte er sein Visum in der Hand, um legal nach Deutschland einreisen zu können. Seit Dezember 2015 hat er eine Aufenthaltsgenehmigung. »Europa ist ein besserer Ort als Jordanien oder die Türkei, hier gibt es Sicherheit und Freiheit«, sagt er. Er sei froh, hier zu sein, habe aber manchmal Probleme, sich zurechtzufinden. Er teilt die Sorgen vieler anderer, die neu in Deutschland ankommen und Asyl beantragen. Wo finde ich eine Arbeit? Wo finde ich eine Wohnung? Wie viele andere Asylsuchende musste auch Abdul Rahman monatelang auf seine Aufenthaltsgenehmigung warten – eine Zeit, die er kaum sinnvoll nutzen konnte. Vor allem die Wohnungssuche in Berlin sei eine Herausforderung, sagt er. Erst recht, wenn man die Sprache nicht so gut beherrsche.
Will nach Syrien zurückkehren, wenn der Krieg vorbei ist. Abdul Rahman.
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Viele Syrerinnen und Syrer, die inzwischen in Deutschland leben, flohen zunächst in Syriens Nachbarländer. Zwei Geschichten über das Ankommen in unterschiedlichen Ländern. Von Ralf Rebmann (Text und Fotos)
Was ihm jedoch besonders schwerfalle, sei die Distanz zu seiner Familie. »Diese Trennung ist manchmal schwer zu verkraften. Wir haben unser Land verloren, unsere Freunde und unsere Erinnerungen«, sagt er. Syrien sei ein schönes Land gewesen – wahrscheinlich das schönste auf der Welt. Wenn der Krieg vorbei ist, will Abdul Rahman zurückkehren.
Ebaa Hwijeh Ebaa Hwijeh war kurz davor, ihr Archäologie-Studium in Damaskus abzuschließen. Doch nachdem sie 2011 auf dem Campus ihrer Universität an einer Demonstration gegen die syrische Regierung teilgenommen hatte, wurde ihr Studierendenausweis konfisziert. »Viele wurden bei der Demonstration festgenommen«, erinnert sie sich. Ihr Studium war vorzeitig beendet. »Es gab nichts, was ich tun konnte. Nicht studieren, nicht arbeiten, nicht helfen.« Sie bewarb sich bei ausländischen Universitäten – erhielt jedoch nur Absagen. 2012 entschied sie sich, Syrien in Richtung Beirut zu verlassen. Bekannte halfen ihr dabei, in der libanesischen Hauptstadt eine Bleibe zu finden. Nach offiziellen Zahlen des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) haben rund 1,1 Millionen Syrerinnen und Syrer im Libanon Schutz gesucht. Hinzu kommen Hunderttausende, die nicht registriert sind, sowie rund eine halbe Million palästinensische Geflüchtete, die bereits seit Jahrzehnten im Libanon leben. Lange Zeit konnte man die Grenze zum Libanon problemlos passieren. »Als ich ankam, war kein Visum nötig«, erinnert sich
Ebaa Hwijeh, »Ich erhielt eine Aufenthaltserlaubnis von sechs Monaten, die ich nach Ablauf wieder verlängern konnte.« Seit Januar 2015 gelten jedoch verschärfte Einreisevorschriften. Flüchtende aus Syrien erhalten nur noch unter bestimmten Bedingungen ein Visum. Eine fehlende Aufenthaltsgenehmigung hat für sie weitreichende Konsequenzen. Ebaa Hwijeh kritisiert, dass die libanesische Regierung sich nicht um die Sicherheit der Menschen kümmert: »Flüchtling genannt zu werden und die entsprechenden Rechte zu bekommen, sind zwei unterschiedliche Dinge.« Sie selbst hatte Glück. Schon nach der ersten Woche in Beirut fand sie einen Job. An ihrem politischen Engagement hielt sie fest. Zusammen mit Bekannten startete sie »Syrian Eyes« – eine Initiative, die sich sowohl für syrische als auch für libanesische hilfsbedürftige Menschen im Libanon einsetzt. Die Gruppe organisierte Kleidung, Windeln und Babynahrung und brachte sie säckeweise in die Zeltlager entlang der syrisch-libanesischen Grenze. Im Herbst 2014 konnte Ebaa Hwijeh mit einem Visum nach Deutschland einreisen und danach Asyl beantragen. Sie ist glücklich, endlich die Aufenthaltsbestätigung in ihren Händen zu halten. An die deutsche Bürokratie hat sie sich schon gewöhnt. »Egal was du willst, warte einfach. Das habe ich hier gelernt«, sagt sie und grinst. Es gab jedoch auch schon schwierige Momente. Vor allem als sie ein paar Wochen in der Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge in Eisenhüttenstadt verbringen musste. Sie erinnert sich noch gut an das überfüllte Camp, den Zaun, den Sicherheitsdienst. Auch Kakerlaken habe es gegeben. Ebaa Hwijeh ist froh, in Berlin und in Deutschland zu sein. »In Deutschland hat man das Recht, Flüchtling zu sein. Im Libanon nicht. Wie soll man leben, wenn es kein Gesetz gibt, das einen schützt? Wenn man nicht arbeiten kann?« Für viele ihrer Freunde sei es deshalb unmöglich gewesen, im Libanon zu bleiben. Sie seien jetzt in der Türkei, in Istanbul oder Gaziantep. Vor kurzem hat Ebaa Hwijeh ihren Deutschkurs begonnen und bereits ihr erstes Wintersemester als Gasthörerin an einer Berliner Universität verbracht. Am liebsten würde sie Anthropologie oder Psychologie studieren. »Sobald ich die notwendigen Sprachkenntnisse habe, will ich mich bewerben«, sagt sie selbstbewusst. Ihre Zukunft hat Ebaa Hwijeh jetzt wieder selbst in der Hand. Der Autor ist freier Journalist und lebt in Berlin.
Lernt Deutsch, um bald studieren zu können. Ebaa Hwijeh.
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»Europa ist ein besserer Ort als Jordanien oder die Türkei. Hier gibt es Sicherheit und Freiheit.« 29
»Flüchtling bin ich nicht. Oder doch?« F
amilien picknicken auf einem Rasenstreifen. Vom nahegelegenen Café zieht Schischageruch herüber. Männer mit syrischem Akzent begrüßen sich, scherzen und lachen. Es fühlt sich an wie ein Park in Damaskus oder Homs zu friedlichen Zeiten, ist aber die Uferpromenade von Dschidda in Saudi-Arabien, und wie jeden Donnerstagabend versammeln sich hier arabische Gastarbeiter, vor allem aus Syrien. »Nein, ein Flüchtling bin ich eigentlich nicht. Oder etwa doch?«, sagt eine Frau, die mit ihrer kleinen Tochter auf einer Bank sitzt. Sie stammt aus Homs und lebt seit einem Jahr in Saudi-Arabien. Als ihr Haus 2012 zerstört wurde, kam Umm Mariam, wie sie sich nennt, zunächst bei Verwandten unter. Dann holte sie ihr Mann, der bereits seit 2010 als Ingenieur in Dschidda arbeitete, nach Saudi-Arabien. Mit ihr kam auch ihre Schwiegerfamilie, sechs Personen insgesamt. »Bis zum Krieg war es bei uns wie bei vielen anderen syrischen Familien: Mein Mann arbeitete in Saudi-Arabien und schickte uns Geld. Einmal im Jahr kam er zu Besuch. Mehr erlaubte sein Arbeitsvertrag nicht«, sagt sie. »Als die Gewalt in Syrien immer schlimmer wurde, lockerte die saudische Regierung die Bestimmungen.« Ein Lächeln huscht über ihr ernstes Gesicht. Sie hat ihre Heimat verloren, aber immerhin lebt sie jetzt mit ihrem Mann zusammen. Doch was sind Umm Mariam und die anderen Menschen aus Syrien hier? Flüchtlinge oder Arbeitsmigranten? An dieser Frage hat sich eine hitzige Debatte entzündet. Ausgelöst wurde sie durch eine Grafik, die von der Brookings Institution im September 2015 veröffentlicht wurde. Darin wird dargestellt, wie viele syrische Flüchtlinge die verschiedenen Länder aufgenommen haben. Libanon, Jordanien und die Türkei werden als Spit-
Auch Saudi-Arabien profitiert: Gut ausgebildete Syrer sind für die saudische Wirtschaft ein willkommenes Geschenk. 30
zenreiter genannt, gefolgt von Europa. Bei Saudi-Arabien allerdings ist eine große Null notiert; und ebenso für die anderen Golfstaaten. Das führte zu vorwurfsvollen Fragen: Wie kann es sein, dass sich ausgerechnet die reichen Staaten aus der Verantwortung stehlen? Saudi-Arabien will das nicht auf sich sitzen lassen: »Dies ist eine große Lüge!«, so ein Leitartikel der in Dschidda erscheinenden »Arab News«. »Es ist ein absurder Vorwurf. Wir haben mit offenen Händen auf die Krise reagiert!«, heißt es in dem im September erschienenen Text. Ähnlich sieht es auch Khaled al-Malek, Chefredakteur der Zeitung »al-Dschasira«, und verweist auf die Familienzusammenführung: »Wir haben doch viele Syrer aufgenommen. Es ist aber nicht unsere Art, damit anzugeben«, sagt er. »Statt die armen Menschen mit Booten übers Mittelmeer fahren zu lassen, konnten sie bequem und sicher im Flugzeug anreisen.« Die Ankömmlinge seien schnell mit Aufenthaltsgenehmigungen und Arbeitserlaubnissen ausgestattet worden. Wie viele Syrer aufgenommen wurden, darüber gehen die Zahlen auseinander: Während saudische Zeitungen schreiben, dass bis 2010 rund 500.000 Syrer in Saudi-Arabien lebten und daraus durch den Familiennachzug nun 2,5 Millionen geworden seien, ist in einem Regierungsbericht von nur 100.000 neuen Aufenthaltsgenehmigungen die Rede. Andernorts heißt es, 100.000 syrische Kinder seien kostenfrei in das saudische Schulsystem integriert worden. Der UNHCR unterhält ein Büro in Riad, hat allerdings keine genaueren Erkenntnisse. Schließlich hat Saudi-Arabien die UNO-Flüchtlingskonvention von 1951 nicht unterschrieben und so gelten die Syrerinnen und Syrer offiziell nicht als Flüchtlinge, sondern werden als »Brüder und Schwestern in Not« bezeichnet. Gesonderte Regelungen, Flüchtlinge aufzunehmen und ihnen Asyl zu gewähren, sieht das saudische Recht nicht vor. Ähnlich ist die Situation in den anderen Golfstaaten. Viele gut ausgebildete und viele wohlhabende Syrer haben sich bereits nach Beginn des Konflikts in Syrien nach Ausweichmöglichkeiten umgeschaut: Vor allem Dubai und Abu Dhabi sind beliebte Ziele. Geschätzte 100.000 sollen seit 2011 in die Vereinigten Arabischen Emirate gekommen sein. Gerade im Fall reicher Geschäftsleute ist es oft eine schrittweise Verlagerung: Sie sind noch in Syrien, aber die Familie ist bereits nach Dubai umgezogen. Nicht zuletzt macht sich dieser Zustrom bei den Wohnungspreisen in Dubai bemerkbar, die extrem gestiegen sind.
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Foto: Jumana El Heloueh / Reuters
Es stimmt nicht, dass die reichen Golfstaaten keine Menschen aus Syrien aufnehmen. Viele Syrerinnen und Syrer haben in Saudi-Arabien oder den Vereinigten Arabischen Emiraten ein neues Zuhause gefunden. Allerdings sind sie nicht unbedingt Flüchtlinge – oder zumindest werden sie nicht so genannt. Von Julia Gerlach
Flüchtling oder Arbeitsmigrant? Syrischer Angestellter in einem Supermarkt in Dubai.
Die Golfstaaten wollen also den Vorwurf nicht gelten lassen, dass sie sich aus der Verantwortung stehlen und zu wenige Flüchtlinge aufnehmen. Sie veröffentlichten bereits im September 2015 im Anschluss an ein Treffen der Außenminister eine gemeinsame Erklärung, wonach insgesamt 2,8 Millionen Menschen aus Syrien in den Staaten des Golfkooperationsrates aufgenommen worden seien. Zudem verweisen sie auf ihre großzügige finanzielle Unterstützung. So sollen umgerechnet fünf Milliarden Euro von staatlichen und privaten Gebern in Flüchtlingsprojekte geflossen sein und bei der Geberkonferenz in Kuwait wurden Zusagen für weitere 6,9 Milliarden Euro gemacht. Tatsächlich haben die Golfstaaten vor allem im Libanon und in Jordanien mit ihren Hilfsgeldern Schulen und Unterkünfte für Flüchtlinge gebaut. Warum also der Streit? Man kann sich durchaus auf den Standpunkt stellen, dass die Aufnahmepolitik der Golfstaaten auch ein Weg ist, in Not geratenen Syrern zu helfen. Im Zweifelsfall werden sich Menschen wie Umm Mariam und ihre Familie sogar deutlich schneller in ihrem Zufluchtsland heimisch fühlen als viele Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen. Es gibt allerdings einen entscheidenden Unterschied, was die Großzügigkeit des Gastlandes angeht: Während Staaten wie der Libanon oder auch mehrere europäische Staaten unterschiedslos Flüchtlinge aufnehmen, die Schutz vor Verfolgung und Gewalt suchen, öffnen die Golfstaaten ihre Grenzen nur jenen, die sie für ihren Arbeitsmarkt benötigen und die ihnen Kapital bringen. Vor allem Dubai lebt von reichen Arabern, die hier investieren und
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auch Saudi-Arabien profitiert: Gut ausgebildete und zudem familiär eingebundene Syrer sind für die saudische Wirtschaft ein willkommenes Geschenk. Und die Flüchtlinge? Ganz offensichtlich sehen viele ihre Zukunft eher in Europa als in den reichen Golfländern, zumindest sind Szenen wie aus Ungarn und Österreich, wo viele Syrer oft zu Fuß die Grenzen erreichen, aus den Golfstaaten bisher nicht bekannt. »Das hängt wohl damit zusammen, dass sie bestimmte Träume haben, wie ihre Zukunft aussehen soll«, so Mohammed al-Jefri, stellvertretender Sprecher des saudischen Schura-Rates, vergleichbar einem Abgeordnetenhaus mit beratender Funktion. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass viele Syrer gar nicht auf die Idee kommen, nach Saudi-Arabien zu gehen, da sie wissen, dass sie kaum Chancen haben, aufgenommen zu werden, wenn sie keine Verwandten dort haben. Es fehlen aber nicht nur die Gesetze, auch sind die Grenzen der Golfstaaten und ganz besonders die Saudi-Arabiens extrem gut gesichert, und um sie zu erreichen, müssen Kriegs- oder Wüstengebiete durchquert werden. Schließlich spielt sicherlich eine Rolle, dass die Golfstaaten und allen voran Saudi-Arabien im Syrienkonflikt nicht nur die Rolle eines möglichen Zufluchtslandes spielen: Riads finanzielle Unterstützung bewaffneter Rebellengruppen und militanter Islamisten hat dazu beigetragen, dass der Syrienkonflikt so blutig geworden ist. Julia Gerlach ist Nahost-Korrespondentin und berichtet unter anderem für die Berliner Zeitung, Frankfurter Rundschau, ZEIT und Focus.
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Deutschland: Migranten und Fl端chtlinge
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Willkommener Wissenstransfer. Sprachkurs in Berlin-Neukölln.
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Foto: Susanne Tessa Müller
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Avevan Yusef ist eine von vielen jungen Migrantinnen und Migranten, die Flüchtlinge unterstützen. Der geteilte Erfahrungsschatz erleichtert gerade den Jüngeren das Ankommen. Von Elisabeth Wellershaus (Text) und Susanne Tessa Müller (Fotos) Eigentlich hat Avevan Yusef kaum Zeit. Sie steckt mitten im Studium, das sie ausgesprochen ernst nimmt. Trotzdem kommt sie so oft es geht in ihr kaum beheiztes Büro in Berlin-Neukölln: zwei Schreibtische, eine kleine Küche und ein schmuckloser Raum für den Sprachunterricht. Hier geht es nicht um Gemütlichkeit, das hat sie schnell begriffen. Beim »Kurdischen Kultur- und Hilfsverein« trudeln derzeit täglich Menschen ein, die orientierungslos in Deutschland ankommen. Wenn Yusef nicht an der Uni ist, begleitet sie die Flüchtlinge nach dem Sprachunterricht auf Ämter oder zum Arzt. Sie organisiert Ausflüge ins Museum, geht mit ihnen essen oder in die Kreuzberger Gedenkbibliothek. Als Praktikantin fing sie vor einem Jahr in dem Verein an, mittlerweile hat die 23-Jährige einen Aushilfsjob, in der Freizeit kümmert sie sich sowieso. Zusammen mit ein paar Ehrenamtlichen betreut sie die Initiative »Hilfe für Flüchtlinge«. Das ist nicht einfach irgendein Job für sie. Denn auch Yusef kam vor vielen Jahren neu hier an. Während die Eltern sich politisch für die kurdische Sache engagierten, sauste sie schon mit fünf Jahren durch die Räume, in denen sie auch jetzt viel Zeit verbringt. Seit 1996 lebt sie in Deutschland, an die Flucht aus dem Irak erinnert sie sich nicht. Sie war noch ein kleines Kind, die jüngste von fünf Geschwistern, ihre Eltern sprechen kaum darüber. »Ich weiß nur, dass sie beim ersten Fluchtversuch nichts zu essen hatten und einer meiner Brüder fast gestorben ist«, sagt sie. Sie legt die Kopie einer Aufenthaltsgestattung vor sich ab und runzelt die Stirn. »Bisher habe ich kaum nachgefragt, ich wollte meine Eltern nicht bedrängen.« Doch seitdem sie täglich die Fluchterlebnisse anderer hört, will sie mehr wissen. »Es rückt die eigene Geschichte einfach in ein neues Licht«, sagt sie und sortiert die Akten der neuen Sprachschüler.
Spagat zwischen den Kulturen
Die Netzwerkerin. Avevan Yusef, die als Kind selbst flüchtete, unterstützt Flüchtlinge in Berlin.
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Überhaupt war die Mitarbeit in der kurdischen Gemeinde wohl nur eine Frage der Zeit. Yusefs Eltern sorgten dafür, dass die gut integrierte Tochter ihre Herkunftskul-
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tur nie ganz vergaß. Im Verein ging sie ein und aus, kannte sämtliche Mitarbeiter aus Sprachprogrammen, Frauen- und Jugendarbeit. Sie spricht Kurdisch so gut wie Deutsch, kennt den Spagat zwischen den Kulturen seit Kindergartentagen. Und bald hat sie einen Abschluss in Sozialer Arbeit in der Tasche. Wie viele junge Migrantinnen und Migranten gehört auch sie zu einer Generation, deren Migrationshintergrund heute zum großen Potenzial wird. Denn sie sind bestens geeignet, nun selbst junge Neuankömmlinge an die Hand zu nehmen und etwas zu leisten, was die meisten Helferinnen und Helfer derzeit eben nicht können – Sprache und Kultur der Flüchtlinge wirklich verstehen. Erst seit ein paar Monaten sind Adel Saleh, Ashti Omar und Nidal Ahmad in Deutschland. Im kurdischen Verein haben sie sich kennengelernt. Die drei Kurden sind in ihren Zwanzigern, genau wie Yusef. In der Regel stürmen sie nach dem Sprachunterricht der Flüchtlingsinitiative in ihr kleines Büro. Sie wollen mit zu den Flüchtlingen, die vor dem Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) auf ihre Registrierung warten, um dort als Übersetzer auszuhelfen, sich irgendwie nützlich zu machen. Doch heute nicht. Die Stimmung ist gedrückt, schweigsam stehen Omar und Ahmad neben Saleh. Gerade hat der 29Jährige erfahren, dass sein gleichaltriger Onkel in der Türkei gestorben ist. Ein Herzinfarkt. Noch vor Monaten war er bei ihm in Istanbul, auf dem Weg nach Deutschland. Omar und Ahmad haben Verwandte in Berlin, Saleh nicht. Ein Bruder ist in Bremen, ein Onkel in Hannover, eine Schwester in Dänemark gelandet, die Eltern mit der Jüngsten noch in der syrischen Heimatstadt Kobane. »Dort ist es ja nicht mehr so schlimm«, sagt Saleh leise. Und wenig überzeugend. Er lehnt an der Hauswand vor der Initiative, neben ihm ein abgerissenes Werbeplakat für kostenlose Sprachkurse. Der Lärm aus der Karl-Marx-Straße wabert leise herüber. Normalerweise
Ein Bruder ist in Bremen, ein Onkel in Hannover, eine Schwester in Dänemark gelandet, die Eltern sind mit der Jüngsten noch in Kobane. redet Saleh alle an die Wand. Jetzt starrt er stumm auf die Sperrmüllberge vor dem Nachbarhaus. Verhalten grinst er zurück, als Avevan Yusef ihn anlacht. Es ist gut, dass sie da ist, immerhin sie. Sie inspiriert ihn, er will bald selbst ein Praktikum beim Verein beginnen.
Vertraute Codes Im Spätsommer hatte Saleh sie an einem Beratungsstand vor dem Lageso kennengelernt, wo sie Flyer mit Angeboten der Initiative verteilte. »Er wollte von Anfang an mithelfen, kam immer wieder an und fragte, was zu tun sei«, erzählt Yusef. Es war nicht schwer, ihn einzubeziehen, die beiden verstanden sich gleich – über die gemeinsame Sprache und vertraute kulturelle Codes. »Mittlerweile führt Saleh Beratungsgespräche am Lageso praktisch ohne uns«, sagt sie und lacht. »Er erklärt den Leuten, welche Termine sie wahrnehmen müssen, wie der Familiennachzug
Die Ehrgeizigen. Ashti Omar, Adel Saleh und Nidal Ahmad (v.l.n.r.) sind gerade erst angekommen und von Anfang an für andere engagiert.
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Mindestens 1.000 Jugendliche kommen jede Woche, die ihre Eltern auf der Flucht verloren haben oder allein aufbrachen. funktioniert oder wo es zum nächstgelegenen Deutschkurs geht.« Für ihn scheint es der beste Weg, das zähe Warten während des eigenen Asylverfahrens zu überbrücken – sich nützlich machen. Längst verlässt Yusef sich auf sein Können, Gespräche mit den Behörden führen die beiden oft als Team. Er übersetzt vom Arabischen ins Kurdische, sie vom Kurdischen ins Deutsche. Denn Saleh spricht Arabisch und sämtliche kurdischen Dialekte aus Syrien, Iran, Irak und der Türkei. »Er ist einfach der Typ, der schon immer Freunde von überall her hatte.« In seiner Notunterkunft in Moabit war das anders. Salehs Zimmernachbarn kamen aus Albanien, Afghanistan, ein paar
auch aus Syrien. Doch es waren keine Kurden. »Ich habe mich dort nie wohl gefühlt«, sagt er knapp. Die Stimmung in den Notunterkünften sei angespannt, Gemeinschaftlichkeit gäbe es dort kaum. Täglich fährt Saleh deshalb nach Neukölln, nicht nur, weil er seine Deutschprüfung bestehen will. Die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler sind Kurden aus Syrien und dem Irak, doch es sind auch Flüchtlinge aus Pakistan, Senegal oder Algerien dabei. Sie sitzen im Kreis vor einer zusammengeklappten Tischtennisplatte, reichen einen Ball durch die Runde, wer dran ist, nennt seinen Namen. So gut es geht, geben alle ein paar Sätze ihrer Geschichte preis – für den Moment sitzt man eben in einem Boot. Fast alle sitzen sie täglich hier, die junge Architektin aus Palästina mit ihrer Mutter, die Friseurin aus Homs und auch die drei jungen kurdischen Männer. Die Stimmung ist gut, Reizthemen wie Religion werden ausgeklammert, es geht hier nur ums Lernen. Ums Ankommen. Kulturelle Unterschiede spielen kaum eine Rolle, höchstens die ungleichen Sprachniveaus fallen auf. Einige der syrischen Flüchtlinge sind Vorzeigeschüler. Die meisten von ihnen haben Abitur, je nach Alter auch Hochschulabschluss. Vor ein paar Monaten veröffentlichte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eine Statistik, nach der mehr als 20 Prozent der syrischen Asylsuchenden in Deutschland eine Fachhochschule oder Uni besucht haben. Die wenigsten kommen ohne jegliche Schulbildung. Saleh hat einen Abschluss in Informatik. »In ein paar Monaten spreche ich Deutsch, dann geht es hier für mich los«, sagt er. Trotzig wischt er mögliche Integrationsprobleme beiseite. »Der Ehrgeiz von Leuten wie Saleh ist riesig«, sagt Yusef. Sie sitzt im Nebenzimmer und erinnert sich, wie es bei ihr war. »Ich war sehr schnell integriert, vielleicht, weil ich die Jüngste war.« Die Geschwister mussten härter kämpfen, hatten viel mehr zu verarbeiten. Trotzdem fielen sie einigermaßen weich, hatten immerhin einander. Ein Bruder ist mittlerweile bei der Polizei, eine Schwester ist Grafikdesignerin, die andere Filmemacherin. Nur der Älteste kam nie richtig an und lebt jetzt wieder im Irak. Auch die Eltern bleiben nur der Kinder wegen. Sie wollen zurück, doch der Familienzusammenhalt ist groß.
Flüchtlingshilfe und Freundschaft
Gemeinschaftliches Setting. Yusef bei ihrer Arbeit.
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Avevan Yusef weiß, wie ungewöhnlich ihre heile Familienwelt ist. Sie hat in den vergangenen Jahren genügend unbegleitete minderjährige Flüchtlinge getroffen. Kurz nach der Schule hat sie ein Praktikum in einer betreuten Wohngruppe gemacht. »Ich war 20, als ich bei ›Evin e.V.‹ anfing, ein Verein, der sich um jugendliche Flüchtlinge kümmert. Die waren meist nur etwas jünger als ich.« Sie erzählt von gemeinsamen Spaziergängen im Park, von Geburtstagsfeiern und davon, wie schnell die Grenzen zwischen Flüchtlingshilfe und Freundschaft aufweichten. Dass Abgrenzung und Abschiede schwer fielen und es sich trotz allem gelohnt hat. »Der kulturelle Hintergrund ist schon sehr hilfreich«, sagt auch Andreas Meißner, der pädagogische Leiter bei Evin. »Die Mischung macht’s«, sagt er und meint Integration, die über den deutschen Erfahrungshorizont hinausgeht. Die Situation wird dennoch immer prekärer. Wöchentlich kommen derzeit mehr als 1.000 jugendliche Flüchtlinge nach Deutschland, die ihre Eltern auf dem Weg verloren haben oder deren Familien erst gar nicht das Fluchtgeld für alle aufbringen konnten. Theoretisch sollen sie in besonderen Unterkünften mit entsprechender Betreuung untergebracht werden. Bei den derzeitigen Zahlen ist das faktisch jedoch kaum möglich. So landen auch unbegleitete Minderjährige immer öfter in Notunterkünf-
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ten für Erwachsene, wo sie ambulant durch Sozialarbeiter betreut werden, zum Teil nur eine Stunde am Tag. Zudem greift seit November 2015 ein Gesetz, das die bundesweite Verteilung junger Flüchtlinge neu regelt. Wie Erwachsene werden sie nun über das gesamte Bundesgebiet verteilt. Sie bleiben nicht wie bisher in der Obhut der Jugendämter der Städte, in denen sie ankamen – meist waren es Metropolen wie München, Hamburg oder Berlin. Die Umverteilung soll bestimmte Bundesländer entlasten, könnte jedoch fatale Folgen für die oft traumatisierten Jugendlichen haben. Nicht nur, weil sie in Regionen unterkommen, in denen weder staatliche noch private Einrichtungen Erfahrung im Umgang mit Flüchtlingen haben. In der Provinz haben sie auch kaum Chancen, Anbindung an Menschen mit ähnlichem Erfahrungsschatz oder Hintergrund zu finden.
Ausnahmebiografien – ohne Zweifel Ohne solche Kontakte wäre wohl auch Avevan Yusef heute noch nicht ganz zu Hause in Berlin. Sie hat deutsche Freunde hier, natürlich. Doch viele davon sind in mehreren Kulturen zu Hause. Kaum jemand aus der alten Schulclique hatte keinen Migrationshintergrund. Der Kontakt zur kurdischen Gemeinde ist ohnehin selbstverständlich – erweiterte Familie eben. Mit ihrer Vorgängerin bei der Flüchtlingsinitiative ist sie befreundet. Media Younis hat das Projekt beim »Kurdischen Kultur- und Hilfsverein« vor zwei Jahren gegründet. Am Abend kommt sie auf Stippvisite vorbei. Auch Medias Bruder ist da, ein ehemaliger Kommilitone von Yusef. Er ist mittlerweile fertig mit dem Studium und arbeitet ebenfalls als Sozialarbeiter beim Verein. Auch Mutter Younis kommt später noch dazu, um ehrenamtlich zu unterrichten. Alle invesDie Initiatorin. Media Younis gründetete die erfolgreiche Flüchtlingsinitiative. tieren, was sie können. Sie sind Teil eines außergewöhnlich gut integrierten Netzwerkes. Ausnahmebiografien, ohne Zweifel. schließt sie das Büro ab. Sie ist mit ihrem Vater verabredet, der Doch woran sonst sollten Saleh und die anderen Kursteilnehmer von früher erzählen will. sich orientieren? Mit Menschen wie Avevan Yusef nutzen sie die Adel Saleh hört derzeit unregelmäßig von den Eltern. Eine kurze Zeit in vertrauter Umgebung, bevor neue Sprachschüler Rückkehr kann er sich im Moment trotzdem nicht vorstellen. kommen und die Asylverfahren in die nächste Runde gehen. »Ich bin doch gerade erst angekommen«, sagt er und lächelt. »Manche kommen uns danach noch besuchen, aber zu allen Denn meistens geht es ihm gut hier. lässt sich der Kontakt nicht halten«, sagt sie und fährt den Computer runter. Nur die innigsten Beziehungen blieben – FaceDie Autorin ist Redakteurin beim Kunstmagazin »Comtemporary And« book, WhatsApp und Skype sei dank. So hält sie auch den Konund Mitglied der Redaktion von »10 nach 8« bei Zeit Online. takt zur Familie im Irak. »Für mich wäre das Zurückgehen heute noch nichts«, sagt Yusef. »Aber eines Tages …« Sie blickt auf die Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen: kurdische Wandzeichnung hinter dem Schreibtisch, dann www.amnesty.de/app
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Der Vorkämpfer
Menschenrechtspreisträger Henri Tiphagne. »Ihr müsst selbst die Initiative ergreifen.«
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Seit seiner Jugend kämpft Henri Tiphagne für ein gerechteres Indien. Heute gehört er mit seiner Organisation »People’s Watch« zu den bekanntesten Menschenrechtsverteidigern des Landes. Die deutsche Sektion von Amnesty International ehrt ihn für seinen langjährigen Einsatz mit dem Menschenrechtspreis 2016. Von Andrzej Rybak (Text) und Oliver Wolff (Fotos) Im Hörsaal des Arul Anandar College in Madurai haben sich 120 Studentinnen zu einem Menschenrechts-Workshop eingefunden. Die meisten tragen bunte Saris und haben ihre langen Haare nach indischer Art zu dicken Zöpfen geflochten. Ehrfürchtig lauschen sie den Worten des Redners, der mit einem Mikrofon in der Hand immer wieder ihre Reihen abschreitet. Henri Tiphagne überragt die Anwesenden um einen ganzen Kopf. Der Direktor von »People’s Watch« trägt ein gestreiftes weißes Hemd und eine graue Hose. Sein ergrauter dicker Schnäuzer fällt über die Oberlippe, das kräftige Haupthaar ist kurz geschnitten. Seine Augen funkeln vor Freude, man merkt ihm an, dass er gern zu den Studentinnen spricht. Immer wieder streut er einen Scherz ein, um die Spannung aufzulockern. Er weiß, wie man Zuhörer in den Bann schlägt. Als junger Mann, erzählt Tiphagne, sei er ein kompromissloser Idealist gewesen. Ein Hitzkopf, der mit seinem aufbrausenden Temperament zu kämpfen hatte. Er wollte jede Ungerechtigkeit sofort abschaffen, notfalls im Alleingang. So schlich er sich nachts auf einen katholischen Friedhof und riss eine Mauer ein, die die Gräber der Dalits, der Unberührbaren, vom allgemeinen Teil trennte. Zwei Tage später war die Mauer aber wieder hochgezogen. »Damals habe ich verstanden, dass man die Ursachen der Ungleichheit bekämpfen muss, nicht die Folgen«, sagt Tiphagne. »Das geht nur mit Unterstützung von Millionen Gleichgesinnten, die mit einer mächtigen Waffe ausgestattet sind: Bildung.« An den Menschenrechtskursen, die er fortan organisierte, haben inzwischen fünf Millionen indische Kinder und Erwachsene teilgenommen. »Menschenrechte werden heute in Indien an den Schulen unterrichtet«, sagt Tiphagne. »Was für ein Wandel! Zu meiner Schulzeit wurden Menschenrechtler in einen Topf mit Maoisten geworfen und von der Geheimpolizei verfolgt.« Aber es vergeht kein Tag, an dem nicht neue, schlimme Fälle ans Licht kommen. Diskriminierung der Dalits, Gewalt gegen Frauen, Morde im Namen der »Ehre«, Vergewaltigungen, Polizeifolter, Enteignungen und Vertreibungen. Man könnte meinen, die Zahl der Menschenrechtsverletzungen werde immer höher. »Das täuscht, weil die Resonanz heute viel größer ist«, sagt Tiphagne. »Die Zivilgesellschaft ist inzwischen stark genug, um die Missstände anzuprangern, auch die Opfer haben den Mut, zu sprechen. Früher wurde alles unter den Teppich gekehrt.« Rund um Madurai wurden noch vor 15 Jahren Neugeborene häufig von ihren Familien getötet, wenn sie weiblich waren. Das ist Vergangenheit. Doch noch immer werden 90 Prozent der Ehen in Indien arrangiert und oft wird eine Mitgift gezahlt, die ganze Familien ruiniert. Aber Veränderung ist möglich: »Frauen müssen für ihre Rechte kämpfen, niemand wird sie ihnen freiwillig geben«, doziert Tiphagne vor seinem Publikum. »Ihr müsst selbst die Initiative ergreifen.« Tiphagne, Jahrgang 1956, ist ein Menschenrechtler mit Leib und Seele. »Bei dieser Mutter hatte ich doch gar keine Wahl«, scherzt er und zeigt auf das Porträt einer älteren Frau an der
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Wand seines Wohnzimmers, vor dem nach indischer Sitte eine Blumenkette hängt. »Der Dienst an der Menschheit war in unserem Haus das oberste Gebot.« Seine Mutter, eine französische Ärztin, kam 1934 gleich nach dem Studium nach Indien, um den Armen zu helfen. Sie behandelte vor allem Lepra- und Tuberkulose-Patienten in Missionskrankenhäusern. Sie adoptierte sechs Waisenkinder aus verschiedenen Familien. Henri war ihr zweiter Adoptivsohn. Schon im College war Tiphagne in der katholischen Studentenbewegung aktiv. 1977 brach er mit Kollegen auf, um den Opfern einer verheerenden Überschwemmung im Bundesstaat Tamil Nadu zu helfen. Vor Ort war er täglich Zeuge, wie Dalits diskriminiert wurden, indem man ihnen immer wieder Hilfe verweigerte. Nach der Rückkehr war nichts mehr so wie früher. »Ich war selten in den Vorlesungen, ich lernte Jura auf der Straße und in den Dörfern, wo ich den Opfern von Unrecht und Gewalt zu Hilfe eilte«, sagt der Menschenrechtler. Er protestierte gegen Behördenwillkür und staatlich sanktionierte Gewalt, der Polizei war er schnell ein Dorn im Auge: Bei einem Sit-in kam er nur knapp mit dem Leben davon. 1982 bestand er sein Examen und begann als Menschenrechtsanwalt in der südindischen Großstadt Madurai zu arbeiten. Er verteidigte Aktivisten, die vom Staat verfolgt wurden, organisierte öffentliche Anhörungen und Straßenproteste. Manchmal musste er dabei selbst Prügel einstecken, mehrmals wurde er festgenommen. »Ein Menschenrechtler, der damals nicht im Gefängnis saß, hat seine Berufung verfehlt«, scherzt Tiphagne. »Eine Festnahme hat einem Menschenrechtler erst die Glaubwürdigkeit verliehen!« Ein Wendepunkt in seinem Leben war die UNO-Menschenrechtskonferenz in Wien 1993. Ihm sei damals klar geworden, dass es nicht reiche, die Opfer zu verteidigen, erinnert sich Tiphagne. Gemeinsam mit engsten Freunden gründete er »People’s Watch«, um Menschenrechtsverletzungen landesweit zu dokumentieren und zu versuchen, den Staat dafür zur Verantwortung zu ziehen. »Viele Leute fragten mich damals, wozu man eine weitere Menschenrechtsorganisation brauche, davon gebe es doch genug«, sagt Tiphagne. »Aber keine hatte den Mut, gegen den Staat vorzugehen.« Das war vor 20 Jahren. Seitdem arbeitet Tiphagne unermüdlich an seiner Vision eines gerechteren Indiens. Dabei wird er von seiner Frau Cynthia unterstützt, mit der er seit 35 Jahren
MenSchenrechtSpreiS 2016 Henri Tiphagne erhält in diesem Jahr den Menschenrechtspreis der deutschen Sektion von Amnesty International. Seit 1998 zeichnet Amnesty International Persönlichkeiten aus, die sich unter oftmals schwierigen Bedingungen für die Menschenrechte einsetzen. Mit der Verleihung des Preises will Amnesty International diesen mutigen Einsatz würdigen, die Menschenrechtler in ihrer Arbeit unterstützen und dazu beitragen, sie vor staatlicher Repression zu schützen. Die Preisverleihung soll auch andere Menschen dazu ermutigen, selbst aktiv zu werden. Das Handeln der Preisträgerinnen und Preisträger zeigt, dass durch Engagement Veränderungen möglich sind.
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»Die Zivilgesellschaft ist in Indien inzwischen stark genug, um Missstände anzuprangern.« verheiratet ist. Gemeinsam haben sie »People’s Watch« zu einer der bedeutendsten Menschenrechtsorganisationen Indiens aufgebaut mit mehr als 60 Mitarbeitern. »People’s Watch« hat unzählige Menschenrechtsverstöße dokumentiert, Tausende Opfer von Polizeigewalt und Folter betreut, Aktivisten vor Gericht verteidigt, Korruption und Machtmissbrauch der Staatsorgane aufgedeckt. Tiphagne hat sich viele mächtige Feinde gemacht, doch auch viel Respekt erworben. Seine Integrität stellt niemand in Frage. In Madurai, einer Stadt mit 1,2 Millionen Einwohnern, kennt ihn fast jedes Kind. Der Erfolg hatte seinen Preis. »Unsere Tochter Alina hat uns einmal vorgeworfen, ihre Kinderrechte zu verletzen«, sagt der Vater. »Mama und Papa seien den ganzen Tag im Büro und hät-
ten nie Zeit, um sich mit den eigenen Töchtern zu beschäftigen.« Heute ist Alina 26 und arbeitet als Journalistin für das CNN/IBN-Büro in Delhi. Ihre Schwester Anita, 32, lehrt Soziologie und Menschenrechte an einem College in Madurai. Sie lebt mit ihrem Ehemann, einem Rechtsanwalt, bei den Eltern. »Sie ist ganz der Vater«, sagt Mutter Cynthia. Der pausenlose Einsatz hat Tiphagnes Gesundheit ruiniert. Auf einer Reise nach Bhutan erlitt er im September 2015 einen schweren Herzinfarkt. Er musste operiert werden und bekam mehrere Bypässe. »Die Ärzte sagen, dass ich mich schonen muss«, sagt der Menschenrechtler. »Ich kann aber nicht Nein sagen, wenn jemand meine Hilfe braucht.« Die Jahre des Kampfes haben Tiphagne ansonsten kaum verändert. Er wohnt in einem bescheidenen einstöckigen Haus in einem ruhigen Wohnviertel. In dem kleinen Wohnzimmer, in dem die Familie jeden Abend zusammenkommt, hängen an prominenter Stelle Bilder von Cynthias und Henris Müttern, die das Leben ihrer Kinder so stark geprägt haben. Ein Kreuz neben dem Fernseher zeugt von deren christlichen Wurzeln. »Der Glaube gibt uns Rückhalt«, sagt Tiphagne. »Es gibt so viel zu tun, aber eines Tages werden die Menschenrechte in Indien so respektiert sein wie in Deutschland. Dass müssen wir erreichen.« Der Autor ist freier Journalist und lebt in Hamburg.
Vision eines gerechteren Indiens. »People’s Watch« im südindischen Madurai.
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Foto: Amanda Mustard / Redux / laif
»Sie hatten Spaß daran, Leute zu schlagen.« Ägyptische Polizisten während eines Einsatzes in Kairo.
»Jeder deckt jeden« Staatliche Folter hat in Ägypten eine lange Tradition – doch selten war die Lage so dramatisch wie heute. Von Elisabeth Lehmann Es ist eine unauffällige Tür, die zum El-Nadeem-Center in Kairo führt. Das Wartezimmer ist auch heute voll. Ein Mann kommt auf Krücken hereingehumpelt, ein freundliches Lächeln auf den Lippen. Hinter ihm eine junge Frau, sie ist Psychologin. Die beiden verschwinden in einem Raum, sie schließt die Tür. In der nächsten Stunde wird sie versuchen, ihm zu helfen. Alle, die im El-Nadeem-Center Hilfe suchen, haben Ähnliches erlebt. Geschichten wie diese: »Sie hatten Spaß daran, die Leute zu schlagen, zu beschimpfen. Du wolltest aufs Klo? Du wurdest geschlagen. Du kamst zurück? Du wurdest geschlagen.« Zwanzig Stunden verbrachte Khaled* auf einer Polizeistation. Eigentlich wollten die Sicherheitskräfte seinen Cousin, einen vermeintlichen Islamisten, festnehmen. Doch Khaled war der einzige, den sie zu Hause antrafen. Also nahmen sie ihn mit. »Menschen sitzen als ›politische Häftlinge‹ hinter Gittern, obwohl sie nichts mit Politik zu tun haben. Sie gehören keiner Partei an, sind keine Aktivisten«, sagt Haitham Tareq*. Der Jurist hat in Kairo eine Ausstellung über Gewalt und Folter auf Polizeistationen und in Gefängnissen mitkonzipiert und dafür mit Menschen wie Khaled gesprochen. 42 Fälle von Folter, 75 Fälle von medizinischer Unterversor-
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gung, 40 Fälle von Verschwindenlassen, 13 Todesfälle in Haft. Das ist die Statistik für Ägypten allein im November 2015. »Wir erfassen solche Zahlen, indem wir Medienberichte auswerten. Normalerweise geben wir immer einen Bericht pro Jahr heraus. Doch seit Januar 2015 sind die Zahlen so massiv gestiegen, dass wir nun jeden Monat einen Bericht veröffentlichen«, sagt Daj Rahmy, Mitarbeiterin des El-Nadeem-Centers, eine junge Frau mit tiefschwarzen Haaren und offenem Gesicht, das sich verfinstert, wenn sie über das Ägypten der Gegenwart spricht. Folter ist laut Artikel 52 der neuen Verfassung ein Verbrechen. Doch seit Abdel Fattah Al-Sisi Präsident sei, habe Folter eine neue Qualität bekommen. »Die Regierung behauptet, es handele sich um Einzelfälle. Aber das stimmt nicht. Sie foltern systematisch.« Seit 1993 gibt es das El-Nadeem-Center. Kein einziger Tag verging ohne neue Fälle, erzählt Rahmy. Doch was derzeit in Ägypten passiert, schockiert auch sie. Es sind vor allem die Todesfälle, die sich häufen. Offizielle Zahlen gibt es keine. Doch die Zeitung »El Watan« behauptet, ihr sei im vergangenen Jahr ein Bericht der Gerichtsmedizin des Justizministeriums zugespielt worden. Demnach starben im Jahr 2014 allein 90 Menschen auf Polizeistationen in Kairo und Gizeh. Zum Beispiel: »Ahmed Hussein Ahmed Saleh, gestorben am 20. Januar in der Polizeistation ›Haram‹, Fall Nummer 458/2014, die Staatsanwaltschaft ordnet die Obduktion der Leiche an. Ahmed Abdel Kafy Said Mohammed, gestorben am 20. Februar in der Polizeistation ›Maadi‹, Fall
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Foto: Fredrik Naumann / Panos Pictures
»Gewalt ist allgegenwärtig.« Polizisten verprügeln einen gefesselten Mann mit ihrer Dienstwaffe, Kairo 2011.
Nummer 1081/2014, die Staatsanwaltschaft ordnet die Obduktion der Leiche an.« »El Watan« veröffentlichte 25 dieser Fälle. Juristische Konsequenzen sind nicht bekannt. Die Zeitung zitiert den Sprecher der Gerichtsmedizin, Hisham Abdel Hamid: Der Grund für die vielen Todesfälle in Polizeistationen sei die Verhaftungswelle in den vergangenen Jahren. Vor allem im Sommer seien die Temperaturen in den überfüllten Zellen hoch, deshalb würden manche Häftlinge sterben. Menschenrechtsorganisationen gehen derzeit von 40.000 politischen Gefangen aus. Viele sind Islamisten. Nach dem Sturz von Präsident Mohammed Mursi im Sommer 2013 begann eine Hetzjagd auf Anhänger der Muslimbrüder. »Leider tolerieren die Menschen Folter eher, wenn es Islamisten trifft«, sagt Daj Rahmy. »Das Mitleid mit Anhängern der Muslimbrüder hält sich in Grenzen.« Dabei hätten viele noch nicht verstanden, dass es jeden treffen könne. »Für die Regierung sind wir im Prinzip alle Oppositionelle, die es zu bekämpfen gilt.« Dass da etwas dran sein könnte, weiß auch Mustafa*. Der 16Jährige aus Alexandria war auf dem Weg zum Unterricht, als in der Nähe eine Demonstration der Muslimbrüder stattfand. Alle,
»Die Tür ging auf, einer kam rein. Er schlug alle, dann ging er wieder.« Mustafa, 16 Jahre 44
die sich im Umkreis befanden, wurden festgenommen, auch Mustafa. »Sie haben mich an drei verschiedene Orte gebracht«, erinnert er sich. »Am Ende landete ich in einer Erziehungsanstalt für Jugendliche bei Kairo. Dort ging die Tür auf, einer kam rein. Er schlug alle, dann ging er wieder.« Auch dieses Interview war Teil der Ausstellung, die Haitham Tareq mitkonzipiert hat. Die Organisatoren haben sich jedoch entschieden, die Tonaufnahmen nicht öffentlich zu präsentieren, nachdem die Polizei die Ausstellung vorübergehend geschlossen und die Verantwortlichen angezeigt hat. Tareqs Arbeit ist gefährlich, weil sie dem Staat nicht gefällt. Er will trotzdem weitermachen. »Gewalt hat eine lange Tradition in Ägypten«, sagt er. »Schon die alten Könige haben gefoltert. Auch heute ist Gewalt allgegenwärtig in unserer Gesellschaft – in der Schule, auf den Straßen. Aber ich denke, dass es einen Unterschied macht, wenn man reale Geschichten von Opfern selbst hört.« Nur, wenn Menschen sich persönlich betroffen fühlen, stehen sie auf gegen die Willkür des Staates. Luxor, Ende November 2015: Mehrere hundert Menschen ziehen durch die Straßen. Sie fordern Konsequenzen für den Tod von Talaat Shabeeb. Der vierfache Vater war wegen angeblichen Drogenbesitzes festgenommen worden. Wenige Tage später war er tot. Man hatte ihm das Genick gebrochen. Immerhin hat der öffentliche Druck bewirkt, dass nun neun Polizisten vor Gericht stehen. Daj Rahmy hat wenig Hoffnung, dass sie verurteilt werden. »Jeder deckt jeden. Und am Ende kommen sie gegen Kaution frei.« * Name von der Redaktion geändert Die Autorin lebte bis Ende 2015 in Kairo und berichtete von dort als freie Journalistin für deutsche und Schweizer Rundfunksender.
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»Mein Beruf machte mich verdächtig« Interview: Alexandra Mankarios
Im September 2015 kamen Sie frei – nach 15 Monaten Gefängnis. Wie geht es Ihnen heute? Es fällt mir nicht leicht, in den Alltag zurückzukehren. Seit November arbeite ich wieder. Allerdings bin ich noch immer nicht voll einsatzfähig. Ich war täglich 22 Stunden eingesperrt. Nur zwei Stunden durfte ich ins Freie, sonst gab es nichts zu tun. Jetzt gibt es so viel zu erledigen: Einkaufen gehen, Rechnungen bezahlen, Deadlines einhalten – das ist für mich noch sehr viel. Wie wurden Sie im Gefängnis behandelt? Ich und die sechs anderen im selben Fall verurteilten Frauen wurden nicht gefoltert oder beschimpft – im Gegensatz zu vielen anderen, etwa den inhaftierten Anhängerinnen der Muslimbruderschaft oder den Männern, die mit uns verurteilt wurden. Wie erklären Sie sich, dass Sie besser behandelt wurden? Unser Fall hat viel Aufmerksamkeit erregt. Vor allem weil Sanaa Seif, die mitangeklagt war, eine sehr bekannte Aktivistin ist. Und auch ich arbeite für eine Menschenrechtsorganisation. Die Behörden wollten offensichtlich nicht, dass die Gefängnisse in den Blick der Öffentlichkeit geraten und sie zugeben müssen, dass sie Menschen – vor allem Frauen – misshandeln. War Ihnen während der Haft bekannt, dass sich viele Personen und Initiativen, darunter auch Amnesty, für Ihre Freilassung eingesetzt haben? Freunde und Verwandten haben es bei Besuchen erzählt. Das hat einen großen Unterschied gemacht – zu wissen, dass die Menschen draußen nicht aufgeben. Wir hatten erwartet, dass unser Fall spätestens nach einem Jahr in Vergessenheit geraten würde. Es hat mich aber betroffen gemacht, dass andere Gefangene nicht die gleiche Aufmerksamkeit und Unterstützung erhielten: Viele werden im Gefängnis einfach vergessen. Sie sind wegen der Teilnahme an einer nicht genehmigten Demonstration festgenommen worden, aber nicht auf der Demonstration selbst – wie kann das sein? Eine Gruppe von Personen in Zivil bewarf die Demonstrierenden mit Flaschen. Wir rannten in verschiedene Richtungen. Meine Cousine und ich liefen zu einem Kiosk. Plötzlich standen uns zwei Männer gegenüber. Sie durchsuchten unsere Taschen und fragten, ob wir an dem Protest teilgenommen hätten. Unsere Ausweise belegten, dass wir in der Nähe wohnten, weshalb wir die Angelegenheit zunächst für unproblematisch hielten. Sie kamen ins Gefängnis, Ihre Cousine nicht. Hat das damit zu tun, dass Sie Menschenrechtsanwältin sind? Als die Behörden erfuhren, dass ich für eine Menschenrechtsorganisation arbeite, waren sie sicher, dass ich bei dem Protest mitgelaufen war. Ich wurde also nicht gezielt wegen meiner Arbeit verhaftet, aber mein Beruf machte mich verdächtig.
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Wie lief das Gerichtsverfahren ab? Wir waren in Käfige gesperrt. Es fanden sich keine Zeugen dafür, dass wir etwas zerstört hatten, wie es die Anklage behauptete. Und nur ein einziges Mal sprach der Richter direkt mit uns: Er fragte, ob wir die Personen auf einem vermeintlichen Beweisvideo seien. Was können Anwältinnen und Anwälte in solch unfairen Verfahren ausrichten? Es gibt die Meinung, dass sich Anwältinnen und Anwälte überhaupt nicht darauf einlassen sollten, um nicht den Anschein eines vermeintlich regulären Gerichtsverfahrens mit aufrechtzuerhalten. Trotzdem glaube ich, dass wir politische Gefangene vor Gericht nicht allein lassen dürfen. Selbst wenn es rechtlich wenig nützt, üben Anwälte einen gewissen Druck aus, und ihre Unterstützung ist emotional wichtig. Welche Handlungsoptionen bleiben Menschenrechtsverteidigern in Ägypten? Sie können und müssen sich gegenwärtig vorwiegend auf die Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen konzentrieren und Beweise sichern. So können wir vielleicht in einigen Jahren den Opfern Gerechtigkeit verschaffen, wie es auch in manchen lateinamerikanischen Ländern geschehen ist. Manchmal hilft es schon, wenn ein Rechtsvertreter auftaucht, um jemanden aus dem Polizeigewahrsam zu befreien. Deutlich schwieriger ist es, mit der Regierung zu verhandeln oder Gesetzesänderungen zu bewirken. Das kann bei Gesundheitsfragen gelingen oder bei Frauenrechten, mit denen sich die Regierung gegenüber westlichen Ländern gern als Vorreiterin präsentiert. Aber mit dem Innenministerium etwa können wir zurzeit nicht zusammenarbeiten. Fühlen Sie sich in Gefahr, weil Sie als Menschenrechtsanwältin arbeiten? Ägypten ist kein sicheres Land für Menschenrechtsverteidiger. Organisationen können jederzeit geschlossen, Menschen festgenommen werden. Alle, die in diesem Bereich arbeiten, haben sich bewusst dafür entschieden. Das ständige Risiko ist Teil des Jobs.
interVieW yara SallaM Foto: Amnesty
Die Aktivistin Yara Sallam saß 15 Monate in einem ägyptischen Gefängnis, nachdem sie gegen ein neues Demonstrationsgesetz protestiert hatte.
Yara Sallam, 30, arbeitet für die »Egyptian Initiative for Personal Rights« (EIPR), eine der bekanntesten Menschenrechtsorganisationen in Ägypten. Im Juni 2014 demonstrierte die Juristin gegen ein neues, repressives Demonstrationsgesetz. Dabei wurde sie zusammen mit 23 weiteren Personen festgenommen und zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Im September 2015 kam sie vorzeitig frei – als eine von hundert Personen, die zum islamischen Opferfest von Präsident Al-Sisi begnadigt wurden.
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»Wir haben uns große Freiheiten erkämpft«
Foto: Mads Nissen / laif
Zum Interview kommt sie mit Leibwächter: Die Anwältin Radhia Nasraoui kämpft in ihrer Heimat Tunesien seit vierzig Jahren für Menschenrechte und gegen Folter – und hat sich damit nicht nur unter Islamisten Feinde gemacht.
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Interview: Bernd Beier
Sie sind mit einem Bodyguard zu diesem Interview gekommen. Warum? Weil mein Mann und ich von Islamisten bedroht werden. Vor allem mein Mann. Ihr Mann, Hamma Hammami, ist Sprecher der Partei »Front Populaire«. Er gilt als einer der bekanntesten linken Politiker des Landes. Inzwischen steht er unter Polizeischutz, er wird immer begleitet, manchmal von bis zu zehn Polizisten. Nachts stehen Beamte vor unserem Haus, um uns vor Terroranschlägen zu schützen. Aber ich weiß genau: Den Terroristen wird es irgendwann gelingen, meinen Mann zu töten. Sie kämpfen mit Ihrer Organisation OCTT gegen Folter in Tunesien. Viele arabische Staaten setzen auf Folter, um Terrorismus zu bekämpfen. Sie sind anderer Meinung? Ja! Und deswegen haben meine politischen Gegner in Tunesien sogar eine Verleumdungskampagne gegen mich entfesselt. Sie behaupten, ich würde Terroristen verteidigen. Aber ich verteidige sie nicht als Terroristen. Ich verteidige ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit. Ich verteidige ihr Recht auf einen fairen Prozess, ihre Menschenwürde. Selbst wenn sie meinen Mann töten, darf ich mir nicht erlauben, zu sagen: »Okay, es sind nur Terroristen. Wir dürfen sie foltern …« Im Übrigen gestatten weder das internationale Recht noch unsere nationalen Gesetze eine Ausnahme vom Folterverbot. Es ist übrigens auch nicht intelligent, Menschen zu foltern. Man erfährt dabei nichts über die Wirklichkeit, man kommt der Wahrheit kein Stück näher. Ihre Organisation hat kürzlich Alarm geschlagen: In Tunesien werde immer häufiger gefoltert. Was könnte dagegen unternommen werden? Dass wir in jüngster Zeit eine Zunahme von Folter festgestellt haben, ist hauptsächlich der Straflosigkeit geschuldet. Folterer müssen in Tunesien kaum fürchten, für ihre Taten belangt zu werden. Ich habe im Jahr 2011, nach der Revolution, Anzeige erstattet, weil Jugendliche gefoltert worden waren. Bis heute, fast fünf Jahre später, hat sich nichts getan. Das darf nicht sein. Dieser Straflosigkeit müssen wir ein Ende bereiten. Außerdem müssen Anwälte das Recht bekommen, ihre Mandanten vom ersten Moment der Festnahme an zu sehen. Und man sollte die Zeit des Polizeigewahrsams verkürzen, derzeit dürfen Personen bis zu sechs Tage ohne Anklage festgehalten werden. Zudem müsste man endlich den »Nationalen Präventionsmechanismus zum Schutz vor Folter« ins Leben rufen. Wir haben bereits viel Zeit verloren, schon Ende 2011 hat Tunesien die Antifolterkonvention der UNO ratifiziert und Ende 2012 hätte diese Instanz gegründet werden müssen, aber nichts ist passiert. Es fehlt der politische Wille, die Folter abzuschaffen. Es bewegt sich nichts zum Besseren? Doch, ich habe den Eindruck, dass etwas Bewegung in die Sache kommt. Vor einigen Tagen hat mir der Innenminister gesagt, dass er mit mir zusammenarbeiten wolle. Er fragte mich, ob ich Menschenrechtskurse für Polizisten durchführen könne. Ich sagte: »Mit Vergnügen!« Und auch in der Justiz regt sich etwas. Kürzlich wurde ein Jugendlicher gefoltert und verlor sein Augenlicht. Der Untersuchungsrichter kreuzte meinen Weg und
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raDhia naSraoui
sagte zufrieden, er hätte deshalb zwei Polizisten verhaften lassen. Ich sagte: »Bravo, ich werde das überall weitersagen« – um ihm Mut zu machen. Die Folterpraxis existiert seit Jahrzehnten, es ist also nicht einfach, sie von einem Tag auf den anderen auszurotten. Doch wenn es einen politischen Willen gäbe, wäre es nicht schwierig, zumindest die Anzahl der Gefolterten zu verringern. Ich hoffe, dass wir bald zumindest erreichen werden, dass Folter als Verbrechen angesehen wird. Nach dem Gesetz ist Folter eine Straftat – und wenn ein Mensch an der Folter stirbt, kann das sogar mit der Todesstrafe sanktioniert werden. Sie wurden vor einem Jahr als Sachverständige in den UNOAusschuss gegen Folter gewählt. Was bedeutet das für Sie? Ich sammle in dem Ausschuss Erfahrungen, denn die Mitglieder kommen von überall her, es sind europäische, amerikanische, asiatische, afrikanische Experten. Das hilft mir, besser zu verstehen, wie Folter verhindert werden kann. Trotz aller Kritik scheinen die Verhältnisse in Tunesien besser zu sein als in den anderen Ländern des sogenannten Arabischen Frühlings. Warum? Ich bin mit dem Ausdruck »Arabischer Frühling« nicht einverstanden. In Tunesien sprechen wir von der »Revolution der Würde und Freiheit«, denn um diese beiden Aspekte ging es bei der Revolution. Deswegen müssen wir weiter dafür kämpfen, die Folter abzuschaffen, denn Folter ist ein klarer Verstoß gegen die Menschenwürde. Es stimmt, dass bei uns die Situation besser ist als beispielsweise in Libyen oder in Ägypten – von Syrien ganz zu schweigen. Aber das heißt nicht, dass es in Tunesien keine Probleme gibt. Allerdings haben wir uns tatsächlich große Freiheiten erkämpft. Unter Ben Ali hatten wir nicht das Recht, Menschenrechtsorganisationen oder Parteien zu gründen, zu demonstrieren, Sit-ins zu organisieren … Natürlich müssen wir wachsam bleiben, aber ich bin zuversichtlich: Ich habe nicht den Eindruck, dass die Tunesierinnen und Tunesier bereit sind, diese hart erkämpften Freiheiten wieder aufzugeben. Das beruhigt mich sehr! Welches Verhältnis haben Sie zu Amnesty International? Amnesty International war die Organisation, die mich unter der Herrschaft von Ben Ali am meisten unterstützt hat. Wenn es Amnesty nicht gegeben hätte … nun, gut, zunächst wurde ich auch abgestraft, weil ich Verbindungen zu Amnesty hatte (lacht). Aber danach hat mir die Organisation sehr geholfen. Ich bin dafür sehr dankbar!
interVieW raDhia naSraoui Radhia Nasraoui arbeitet in Tunesien seit den siebziger Jahren als Anwältin in politischen Prozessen. Wegen ihrer Menschenrechtsarbeit war sie jahrelang staatlicher Repression ausgesetzt und trat aus Protest mehrmals in den Hungerstreik. 2003 war sie Mitbegründerin der »Vereinigung des Kampfs gegen Folter in Tunesien«. Diese Arbeit setzt sie seit 2011 in legalisierter Form in der »Organisation gegen Folter in Tunesien« (OCTT) fort. Seit 1981 ist sie mit Hamma Hammami verheiratet, dem Sprecher des »Front Populaire«.
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Tödlicher Schuss vor
Unfall oder Mord? Unterstützer von Tahir Elçi warten am Tag seines Todes vor der Leichenhalle.
Der prominente kurdische Anwalt Tahir Elçi ist in der türkischen Stadt Diyarbakır auf einer Kundgebung erschossen worden. Die Regierung spricht von einem tragischen Versehen. Die Opposition sagt: Es war Mord. Von Amke Dietert Tahir Elçi ist tot. Der kurdische Rechtsanwalt wurde am 28. November 2015 im türkischen Diyarbakır auf einer Kundgebung erschossen. Tahir Elçi war Mitglied des Menschenrechtsvereins und der Menschenrechtsstiftung der Türkei und Mitbegründer der türkischen Sektion von Amnesty International. Seit 2012 war er Vorsitzender der Anwaltskammer von Diyarbakır. Wir verlieren mit ihm nicht nur einen großen Verteidiger der Menschenrechte, sondern auch einen guten Freund. Nach offiziellen Angaben soll Tahir Elçi bei einer Schießerei zwischen PKK-Angehörigen und Polizisten in die Schusslinie geraten und versehentlich getroffen worden sein. Filmaufnahmen, die schon kurz nach Tahirs Tod im Internet kursierten, und Aussagen zum Tathergang lassen aber Zweifel an dieser Darstellung aufkommen. An seinem Todestag hielt die Anwaltskammer Diyarbakır eine Kundgebung für den Schutz der historischen Bauten von Diyarbakir ab. Ort der Kundgebung war ein altes Minarett, das zuvor bei einer Schießerei zwischen PKK und Polizisten beschädigt worden war. Tahir Elçi drückte seine Sorge aus, die bewaff-
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neten Auseinandersetzungen könnten auch in der Türkei zu Zuständen wie in Syrien führen und appellierte an beide Seiten, die Gewalt zu beenden und sowohl das Leben der Menschen als auch das kulturelle Erbe zu schützen. Momente später fiel der tödliche Schuss. Am Tag zuvor war in Diyarbakır bei einer Schießerei zwischen PKK und Polizisten ein PKK-Mitglied getötet worden. Zwei weitere PKK-Anhänger entkamen. Sie nahmen tags drauf an der Beerdigung ihres getöteten Kollegen teil und fuhren anschließend in einem Taxi in die Altstadt. Sie erschossen zwei Polizisten, die das Auto kontrollierten, und flohen in Richtung der Kundgebung der Anwaltskammer. Videoaufnahmen zeigen, wie Zivilpolizisten dort das Feuer eröffneten. Obwohl sie direkt auf die Polizisten zukamen, wurden die Flüchtenden nicht getroffen. Sie selbst schossen offenbar nicht. Nachdem sie an den Polizisten vorbeigelaufen waren, drehten sich die Polzeibeamten um und schossen in die Richtung, in der Tahir Elçi stand. Bemerkenswert ist, dass nur Tahir Elçi getroffen wurde, und zwar von einer einzigen Kugel von hinten in den Kopf. Die einzige Aufnahme einer Überwachungskamera, die möglicherweise den Moment des Schusses auf Tahir Elçi festgehalten hat, war angeblich beschädigt und nicht mehr verwertbar. Tahir Elçi hatte sein Leben dem Kampf für die Menschenrechte gewidmet. Nach seinem Jura-Studium in Diyarbakır kehrte er Anfang der neunziger Jahre in seine Heimatstadt Cizre zu-
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Publikum
Foto: Mert Cakir / Redux / laif
Die bisherigen Ermittlungen geben nicht viel Hoffnung, dass die Tat aufgeklärt wird.
rück – eine der türkischen Regionen, die am schlimmsten von den Kämpfen zwischen Militärpolizei und PKK betroffen war. Er war einer der wenigen Anwälte, die es noch wagten, sich dort für politisch Verfolgte einzusetzen. 1993 wurde er festgenommen und schwer gefoltert. Anschließend war er gezwungen, sein Büro nach Diyarbakır zu verlegen. In den seltenen Fällen, in denen es zu Gerichtsverfahren wegen der schweren Menschenrechtsverletzungen in der Region kam, war es oft die beharrliche Recherche von Tahir Elçi, die zur Eröffnung von Prozessen führte, die aber fast nie mit einem Schuldspruch endeten. Einer der Prozesse, in denen er sich in den vergangenen Jahren engagiert hatte, war das sogenannte »Temizöz-Verfahren« in Eskişehir. Nach jahrelangen Bemühungen Tahir Elçis wurde 2009 gegen sieben Personen – den Oberst der Militärpolizei Cemal Temizöz, »Dorfschützer« und ehemalige Mitglieder der PKK, die mit dem Staat zusammenarbeiteten – Anklage erhoben wegen Mordes in zwanzig Fällen während der neunziger Jahre. Tahir Elçi erhielt wegen seiner führenden Rolle in diesem Prozess mehrfach Morddrohungen. Er fühlte sich ernsthaft gefährdet, insbesondere für den Fall, dass die Angeklagten freigesprochen würden. Genau dies passierte am 5. November 2015. Nach einer ruhigeren Phase war der bewaffnete Konflikt zwischen der PKK und dem Staat nach den Parlamentswahlen vom 7. Juni 2015 wieder heftig aufgeflammt. Die pro-kurdische Partei HDP hatte ein sensationelles Ergebnis von gut 13 Prozent der
türkei
Stimmen erreicht und die regierende AKP ihre absolute Mehrheit verloren. Die AKP verweigerte sich einer Koalitionsbildung und setzte Neuwahlen an. In der Folgezeit kam es zu Bombenanschlägen auf Wahlkundgebungen der HDP und auf eine Solidaritätsaktion mit den Kurden in Syrien. Die Täter waren mutmaßlich IS-Anhänger, Oppositionelle beschuldigten aber die Regierung, die Aktivitäten des IS zu dulden und damit mitverantwortlich für die Anschläge zu sein. Nach dem Mord an zwei Polizisten, denen die PKK Beteiligung an den Anschlägen vorwarf, beendete die türkische Regierung offiziell den Friedensprozess. In kurdischen Städten gab es Ausgangssperren und militärische Operationen mit zahlreichen Todesopfern. Kritiker vermuten, die Regierung habe die Eskalation bewusst herbeigeführt, damit die Menschen sich bei den Neuwahlen für die »Sicherheit«, also eine stabile AKP-Regierung, entscheiden. Bei den Wahlen am 1. November gewann die AKP ihre absolute Mehrheit zurück. Zwei Tage zuvor hatte Ministerpräsident Davutoğlu gedroht, wenn die AKP nicht gewinne, würden wieder die »weißen Toros« fahren. Dieses Automodell wurde in den neunziger Jahren regelmäßig von geheimen Kommandos eingesetzt, um Menschen zu verhaften und zu verschleppen. Tahir Elçi hatte auch Menschenrechtsverletzungen durch die PKK kritisiert und ihr gerade in jüngster Zeit vorgeworfen, das Leben der kurdischen Zivilbevölkerung dadurch zu gefährden, dass sie die Kämpfe in die Städte trug. Deshalb wurde er auch von der PKK bedroht. Gerade weil er sich weigerte, sich auf eine Seite zu stellen, war er besonders gefährdet. Einen Monat vor seinem Tod wurde er in einer Fernsehdiskussion zu einer Stellungnahme genötigt, ob die PKK eine Terrororganisation sei. Er verweigerte sich einer Vereinnahmung und sagte, er würde zwar einzelne Aktionen der PKK als terroristisch bezeichnen, nicht aber die gesamte Organisation, die eine breite politische Bewegung sei und Rückhalt in weiten Teilen der kurdischen Bevölkerung genieße. Daraufhin wurde in verschiedenen Medien eine Hasskampagne gegen ihn eröffnet und die Morddrohungen nahmen weiter zu. Die bisherigen Ermittlungen geben nicht viel Hoffnung, dass der Tod Tahir Elçis aufgeklärt wird. Anwälte, die den Staatsanwalt zu einer Untersuchung des Tatorts begleiteten, berichten, sie seien dort beschossen worden, die Spurensicherung wurde daraufhin abgebrochen. Die Kugel, die Tahir Elçi tötete, wurde nicht gefunden. Das gleiche Szenario wiederholte sich bei späteren Versuchen der Spurensicherung. Schon vor der Beerdigung hatte Türkan Elçi, die Ehefrau von Tahir Elçi, eine Twitter-Nachricht mit dem Text »Du bist die Nächste« erhalten. Ermittlungen ergaben, dass der Absender ein Polizist war. Die Autorin ist Türkei-Expertin und engagiert sich seit 1976 ehrenamtlich für Amnesty International.
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KULTUR
Ein deutsches Folterzentrum Florian Gallenbergers Film »Colonia Dignidad« ist Menschenrechtsfilm und bemerkenswerter Politthriller in einem. Von Jürgen Kiontke
Dramatisch. Daniel (Daniel Brühl) und Lena (Emma Watson) werden vom chilenischen Geheimdienst als Oppositionelle verhaftet.
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schocks scheinbar dahinvegetiert, aber doch bei klarem Bewusstsein ist. Gemeinsam sammeln sie Beweise für die Gesetzlosigkeit in der Kolonie und bereiten ihre Flucht vor. Tiefe Brunnen, verschlossene Tunnel, dunkle Löcher – der Film liefert eine genretypische Verfolgungsjagd, die so nie hätte stattfinden können: Politische Gefangene aus Deutschland hat es in der Kolonie nach Angaben von Amnesty International nicht gegeben. Das historische Geschehen wird verknappt auf den Kampf zwischen Lena und Paul Schäfer, dem diabolischen Oberhaupt der Kolonie (Michael Nykvist). Bei der Premiere auf dem Filmfestival in Toronto zeigte sich die Kritik ungnädig: »Colonia Dignidad« schwanke zwischen Abenteuerfilm und Action-Romanze und tauge dabei weder fürs Popkorn-Kino noch als großes Liebesepos. Einwenden könnte man: Dieser Film richtet sich mit seiner Hauptdarstellerin an ein junges Publikum, das von der Colonia Dignidad noch nie etwas gehört hat. Die prominente Besetzung könnte durchaus dafür sorgen, dass sich die Zuschauer stärker mit dem sehr speziellen Stoff und der Geschichte auseinandersetzen. Und ganz nebenbei wird die zwielichtige Rolle des deutschen Botschafters in Chile beleuchtet, der wie viele deutsche Politfunktionäre seine schützende Hand über die Kolonie gehalten hatte. Und womöglich hat der Film einen ganz konkreten Effekt: Der ehemalige Lagerarzt Hartmut Hopp lebt nach wie vor unbehelligt in Krefeld, obwohl ein rechtsgültiges chilenisches Urteil vorliegt und er von Interpol gesucht wird. Auch die deutschen Behörden ermitteln, bis dato aber ohne Ergebnis: Die Ermittler würden kein Spanisch sprechen, heißt es seit Jahren, deshalb dauere es noch etwas, bis Dokumente und Zeugenaussagen übersetzt seien. Vielleicht bekommt der Fall durch die mediale Aufmerksamkeit ja eine neue Dynamik. »Colonia Dignidad«. D/F/LUX 2015, Regie: Florian Gallenberger, Darsteller: Daniel Brühl, Emma Watson. Kinostart: 18. Februar 2016
Foto: Majestic / Ricardo Vaz Palma
in ernsthaftes Anliegen im Thrillerformat: Mit seinem Film »Colonia Dignidad« setzt Regisseur Florian Gallenberger einen erstaunlichen Schwerpunkt im Kino. Die 1961 von Deutschen in Südchile gegründete Kolonie war während der Diktatur von Augusto Pinochet Haft- und Folterzentrum der chilenischen Geheimpolizei. Mitglieder dieses faschistischen Modellstaates im Kleinformat bekannten, nach dem Putsch Pinochets gegen den gewählten Präsidenten Salvador Allende am 11. September 1973 linke Aktivisten ermordet zu haben. Die Ereignisse rund um diesen Tag bilden auch den Einstieg für die fiktive Handlung des Films: Fotograf Daniel (Daniel Brühl) und Stewardess Lena (Emma Watson) stehen im Zentrum des revolutionären Geschehens, als die Truppen losschlagen und Oppositionelle ins Fußballstadion von Santiago de Chile verfrachten. Ex-Kinderstar Emma Watson (»Harry Potter«) scheint ihre Filmarbeit mit ihrem Auftrag als UNO-Sonderbotschafterin auf Linie zu bringen. Gallenbergers Darsteller arbeiten konzentriert daran, das Flair der siebziger Jahre auferstehen zu lassen – überzeugend: Einerseits spielen sie ein flippiges junges Pärchen voller revolutionärer Ideen. Andererseits werden an ihrem Beispiel die Methoden eines Regimes durchexerziert, das wirtschaftliche Deregulierung mit autoritärer Brutalität durchsetzte. Für diese Politik steht auch die Colonia Dignidad, die »Kolonie der Würde«, so ihr zynischer Name. Sie fungierte als Scharnier für den Rohstoff- und Waffenhandel und etablierte sich gleichzeitig als Folterzentrum des Pinochet-Regimes. Chilenische Militärs und deutsche Folterer sind das Personal, auf das das junge Liebespaar trifft. Während Daniel ins Folterzentrum einfährt, versucht Lena alles Erdenkliche, ihn aus den Händen der Sekte zu befreien. Die einzig echte Option: sich selbst als Glaubensschwester dort einzuliefern. Und so erleben die Zuschauer Gewaltakte und pharmakologische Experimente mit den Augen Lenas, während Daniel infolge von Elektro-
Fiktiv. Lena liefert sich der Kolonie aus.
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Diabolisch. Colonia-Oberhaupt Paul Schäfer (Michael Nyqvist) pflegt Kontakte zum chilenischen Militär.
»Die hatten Erfahrung mit Misshandlungen« Klaus H. Walter war als Mitarbeiter von Amnesty International jahrzehntelang mit dem Fall Colonia Dignidad befasst. Ein Gespräch über den Film von Florian Gallenberger. Interview: Jürgen Kiontke
Wie hat Ihnen der Film gefallen? Überraschend gut! Vieles war ziemlich nah an dem, was Zeitzeugen berichteten. Es gab allerdings kein Büro von Amnesty International in Santiago de Chile, alle Nachrichten gingen erst »nach draußen« und wurden in London beziehungsweise in Frankfurt am Main bei der deutschen Chile-Kogruppe ausgewertet. Die Informationen kamen von einzelnen Amnesty-Mitgliedern – etwa von José Zalaquett, dem Mitbegründer und späteren Direktor der chilenischen Sektion von Amnesty und Mitarbeiter im Internationalen Sekretariat. Auch andere Dinge sind sehr ungenau. Niemand hätte, wie die von Emma Watson dargestellte Lena, einfach so Mitglied in der Colonia werden können, schon gar nicht freiwillig. Wenn, dann hat die Sekte Kinder aus der Nachbarschaft einkassiert, wie etwa auch die sogenannte Tochter des Colonia-Oberhaupts Paul Schäfer. Wie kam es, dass Sie sich mit der Colonia Dignidad beschäftigt haben? Ich war in den siebziger Jahren Assistent der deutschen Amnesty-Geschäftsführung. Die Colonia Dignidad hat damals gegen uns prozessiert – wegen einer Broschüre der Chile-Kogruppe, in der über die Folterungen berichtet wurde. Amnesty hätte 500.000 D-Mark zahlen müssen, hätten wir dies weiterhin behauptet. Die Colonia war damals noch eine juristische Person, ein Verein, der eine Niederlassung in Siegburg hatte. Sie wurde von deutschen Politikern protegiert und hatte gute, teure An-
»colonia DigniDaD«
wälte – unsere arbeiteten dagegen ohne Honorar. Wir haben Widerspruch eingelegt und gesagt, wir können beweisen, dass in der Colonia gefoltert wird. Damit haben wir uns dann 20 Jahre lang beschäftigt: Das ging durch den gesamten juristischen Apparat in Deutschland und in Chile, obwohl es kein Rechtshilfeabkommen gab. 1988 setzten wir sogar eine Ortsbesichtigung durch. Wir hatten Aussagen von ehemaligen Insassen, die Protokolle umfassten 3.000 Seiten. 1998 war dann Schluss: In Chile waren die Organisationen der Colonia schon verboten, der deutsche Verein hat sich dann aufgelöst, der Prozess war damit tot. Welche Funktion hatte die Kolonie? Was ist der Zweck eines Staates im Staat? Die hatten Erfahrung in Sachen Misshandlung – zunächst einmal an den eigenen Leuten: Colonia-Oberhaupt Paul Schäfer wurde wegen pädophiler Vergehen in Deutschland per Haftbefehl gesucht. Im Grunde weiß man bei der Vielzahl von Schweinereien, die da verübt wurden, gar nicht, was denn die Hauptsache war: Da sind nach 30 Jahren Autos von »Verschwundenen« aufgetaucht, es wurden Experimente mit Psychodrogen durchgeführt … Pinochet selbst hat die Kolonie mehrfach besucht – die Colonia-Leute hatten den Auftrag an Land gezogen, ein Amtsgebäude in Santiago zu renovieren, in dem ein Folterzentrum untergebracht war. Sie haben die deutsche Botschaft renoviert und dabei verwanzt, und sie waren auch im internationalen Waffenhandel tätig. Wie steht es heute mit der Colonia Dignidad? In Krefeld wohnt der ehemalige Lagerarzt Hartmut Hopp, er wird mit internationalem Haftbefehl gesucht. Die Staatsanwaltschaft lässt derzeit die Akten übersetzen, und das dürften mehr als 3.000 Seiten sein. Und in Chile? Paul Schäfer ist 2005 in der Haft verstorben. Die Nachfolgegeneration betreibt die Kolonie nun als Hotel weiter, ebenso wie Chiles größte Autobahnraststätte – eine beliebte Tankstelle mit angeschlossenem Vergnügungspark.
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#refugeeswelcome Viele Theater in Deutschland bringen Fluchtgeschichten auf die Bühne und heißen Geflüchtete willkommen. Von Georg Kasch
Bühne des Lebens. Flüchtlingslager Schnackenburgallee in Hamburg.
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achmittags in der Gaußstraße, der Nebenspielstätte des Hamburger Thalia Theaters: Im sogenannten Ballsaal sitzen gut 20 Leute an mehreren Tischen, reden auf Deutsch, Arabisch, trinken Kaffee, lachen. An Spieltagen wie heute dient der Raum als Foyer und Bar, mischen sich Geflüchtete, Freiwillige und das Publikum. An der Wand steht ein improvisiertes Buffet mit Spekulatius und Mandarinen, daneben sitzt eine ältere Dame und übt mit einem Mann um die 40 lateinische Buchstaben. Zwei Männer spielen einander an einer Tischtennisplatte lässig den Ball zu. Die Stimmung ist gelassen, fast heiter. »Embassy of Hope« heißt das Café, das für viele Geflüchtete, die in der Unterkunft Schnackenburgallee leben, der einzige Ort ist, an dem sie dem Lageralltag mal entkommen. Die »Embassy of Hope« ist nur eines von unzähligen Projekten und Initiativen, die Theater in Deutschland derzeit auf die Beine stellen. Vor allem widmen sie sich natürlich ihren Hauptaufgaben, zeigen Repertoire, bereiten neue Produktionen vor, kümmern sich mit Einführungen und Diskussionen um ihr Publikum. Daneben aber mobilisieren Theatermitarbeiter ein erstaunliches, oft ehrenamtliches Engagement, das durch seine flächendeckende Vielzahl und Vielfalt beeindruckt. Mehr als 60 Beispiele hat das Online-Feuilleton »nachtkritik.de« zusammengetragen – eine Liste, die ständig wächst. Das Staatstheater Wiesbaden etwa öffnet einmal wöchentlich das »Café Fluchtpunkt«. Mit dem Projekt »Rede mit« vermittelt es Sprach- und Kulturtandems. Das Theater der Altmark in Stendal engagiert sich in der Bewegung »Refugees Welcome« in unterschiedlichen Arbeitskreisen, hilft bei der Organisation von Fahrrädern, bei Amtsgängen und beim Deutschlernen. Zusammen mit einer Stendaler Migranteninitiative konzipiert das Haus Länder- und Willkommen-Abende im Theater, beteiligt sich an öffentlichen Aktionen wie Flashmobs und spontanen Kundgebungen und plant mit dem interkulturellen Theaterprojekt »Arche 2.0« für die nächsten fünf Jahre ein Demografie- und Migrationsprojekt. Das Theater Meiningen hat Geld für Flüchtlingsinitiativen gesammelt – und nach fremdenfeindlichen Kommentaren auf seiner Facebook-Seite Anfang Dezember den »Bürgersalon« ins Leben gerufen, in dem über mögliche konkrete Hilfe, aber auch über die Vorurteile und Ängste der Meininger gesprochen wird. Zu den ersten Häusern, die sich engagierten, zählte das Hamburger Thalia Theater. Seit es im September 2013 eine Urlesung von Elfriede Jelinks Stück »Die Schutzbefohlenen« organisierte, an der auch 80 Lampedusa-Flüchtlinge beteiligt waren, die in der Hamburger St. Pauli-Kirche Kirchenasyl gefunden hatten, steht das Thema auf der Agenda. 2014 wurde das Stück in einer Inszenierung von Nicolas Stemann, an der Geflüchtete beteiligt waren, beim Festival »Theater der Welt« gezeigt (Amnesty Journal 08-09/2014). Anschließend wurde es ins ThaliaRepertoire übernommen und 2015 zum Berliner Theatertreffen eingeladen. In Hamburg kam – anders als bei der Uraufführung – ein wichtiges Detail hinzu: Nach den Vorstellungen gibt es Tischrunden, an denen sich das Publikum mit Beteiligten und Experten austauschen kann. Oft entstehen so hochemotionale Momente und intensive Diskussionen. Seitdem sammelt das Theater nach allen Vorstellungen Geld für verschiedene Flüchtlingsinitiativen – schon fast 100.000 Euro sind zusammengekommen. Außerdem setzt sich das Thalia in mehreren Produktionen künstlerisch mit dem Thema Flucht und den Flüchtenden auseinander: In »’an,kɔmən. Unbegleitet in Hamburg« etwa erzählt Regisseur Gernot Grünewald die Geschichte von acht jungen Geflüchteten aus Pakistan,
fluchtgeSchichten iM theater
Somalia, Afghanistan und der Elfenbeinküste. In kleinen Kammern bekommt der Besucher fünf Minuten lang Einblick in ein Leben. So gibt das Thalia Theater abstrakten Zahlen und Gruppenbezeichnungen ein Gesicht, ohne diese Gesichter auf einer Bühne vor einem anonymen Publikum auszustellen. Kunst hat auch in der »Embassy of Hope« ihren Platz, die von den Theatermitarbeitern ehrenamtlich betrieben wird. »Vom Kassenmitarbeiter über die Verwaltung bis zum Schauspieler sind alle Bereiche beteiligt«, erzählt Chefdramaturgin Julia Lochte. Neben Sprachunterricht, Rechtsberatung und Kochabenden gibt es Theater- und Kunstworkshops sowie Konzerte von Bands aus Geflüchteten, die in der Gaußstraße proben können. Das Geld dafür stammt aus Spenden. »Wir haben zunächst viele Gespräche mit Geflüchteten in der Schnackenburgallee geführt, um herauszufinden, welche Form von Engagement sinnvoll ist«, erzählt Lochte. »Dann haben wir begriffen: Es braucht einen Ort außerhalb des Lagers, wo die Leute mal was anderes sehen als immer nur die engen Wohncontainer und Zelte.« Für die »Embassy« arbeitet das Theater eng mit den Initiatoren anderer Hilfsprojekte und Geflüchteten zusammen. Wenn man mit den engagierten Theaterleuten spricht, bekommt man den Eindruck, als wären die Theater dankbar dafür, von den Geflüchteten aus ihrer reinen Kunstproduktion gerissen und ins gesellschaftspolitische Engagement geworfen zu werden, mitten hinein in die Realität. Möglich, dass ihre Arbeit auch Werbung für ihr Haus ist. Kritik daran ist allerdings wohlfeil. Der bekannte Regisseur Michael Thalheimer spricht zum Beispiel in einem Interview davon, dass das Theater sich mit solchem Engagement abschaffe: »Es wird niemandem geholfen, es wird nur so getan. Und Theater verliebt sich dann in diese sozialen Projekte, die nichts anderes sind als eitle Pose.« Ein zynischer Vorwurf. Denn die Theater gehen mit ihrem Engagement sehr wohl Risiken ein. Zum Beispiel die in Ostdeutschland. In der Pegida-Stadt Dresden setzt sich das Staatsschauspiel vehement für eine offene Gesellschaft ein. Im Montagscafé bringt das Haus Geflüchtete und Dresdner in Workshops, Filmvorführungen, Diskussions- und Kennenlernrunden zusammen, bietet Deutschkurse an. Im »Club der geflüchteten und nicht geflüchteten Bürger« der Bürgerbühne erarbeiten Geflüchtete und Dresdner unter professioneller Anleitung Werkstattaufführungen. Seitdem erhalten die Theatermitarbeiter Drohmails und auf der Facebook-Seite des Hauses posten Menschen Sätze wie »Wir werden euch ausrotten« – mit ihrem vollen Namen. Im September wurden Schüler des bundesdeutschen Schultheatertreffens der Länder, das im Dresdner Staatsschauspiel stattfand, von Pegida-Demonstranten attackiert. Auch das Hamburger Thalia Theater hat die Folgen seiner Politik zu spüren bekommen: Anfang Dezember sagte der renommierte lettische Regisseur Alvis Hermanis eine für Februar geplante Inszenierung ab, weil das Thalia sich in ein »refugeewelcome-center« verwandelt habe. Er vertrat dagegen die Ansicht, Flüchtlinge seien potenzielle Terroristen. Intendant Lux konterte: »Das Thalia ist kein ›refugee-welcome-center‹, sondern ein Theater, das sich im Zentrum über seine künstlerische Arbeit definiert. Das soziale, humanitäre und gesellschaftspolitische Engagement ergänzt die Arbeit immer wieder. Aber es ersetzt sie nicht. Theater ist beides: ein Ort der künstlerischen Arbeit und ein öffentlicher Ort in der Stadtgesellschaft.« Zum Glück sehen das viele Theater im Land derzeit genauso. Der Autor ist freier Kulturjournalist in Berlin.
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Gezeichnet Gefühle mitteilen. Comic-Workshop für Geflüchtete.
Die Künstlerin Ali Fitzgerald bietet in einer Berliner Notunterkunft Comic-Workshops für Geflüchtete an. Einige der Zeichnungen sollen beim Festival »Comic Invasion Berlin« im Frühjahr 2016 vorgestellt werden. Von Ralf Rebmann (Text und Fotos)
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evor der Zeichenkurs beginnt, werden erst einmal Vokabeln gepaukt. Die Künstlerin Ali Fitzgerald hat gerade mit wenigen Strichen ein Porträt von Khaled* auf eine Tafel gemalt. Khaled steht auf, nimmt einen Stift und schreibt in großen Buchstaben »Ich heiße Khaled« in die Sprechblase. Ali Fitzgerald zeichnet die Grübchen noch ein bisschen breiter und die Augen noch ein bisschen größer, zeigt auf das Porträt und sagt dann in die Runde: »Lachen«. Knapp ein halbes Dutzend junger Männer wiederholt lautstark »Lachen« und schreibt das Gesagte auf. Sie kommen aus Syrien, Afghanistan und Pakistan und wohnen derzeit in einer Notunterkunft für Geflüchtete, die von der Berliner Stadtmission und dem Land Berlin betrieben wird. Seit Juli 2015 gibt die US-amerikanische Künstlerin Ali Fitzgerald dort wöchentlich Zeichenkurse. »Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht, den Comic-Workshop mit Deutschunterricht zu kombinieren«, sagt sie. Jede Woche sei die Gruppe anders zusammengesetzt. Manche könnten schon zeichnen, andere wollten es lernen oder sich die Zeit vertreiben. »Viele sind interessiert und setzen sich einfach dazu.« An diesem Nachmittag ist die Gruppe besonders groß. »Zeichnen ist nicht nur etwas für Mädchen«, sagt Ali Fitzgerald, die seit sieben Jahren in Ber-
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lin lebt. »Von dieser Tatsache muss man junge Männer manchmal überzeugen – vor allem wenn die Alternative Fußball ist.« Die Notunterkunft in der Kruppstraße ist voll belegt. Die Traglufthalle, die aussieht wie ein riesiger, weißer Ballon, bietet 294 Personen Platz. Ursprünglich sollten die Geflüchteten hier nur für wenige Tage Unterschlupf finden, um nach zügiger Registrierung beim Landesamt für Gesundheit und Soziales in Berlin einen Wohnplatz zu bekommen. Doch da die Registrierung derzeit eher Wochen statt Tage dauert und zusätzliche Unterkünfte erst noch geschaffen werden müssen, leben viele Geflüchtete schon etwas länger in der Kruppstraße. Rivan* fühlt sich in der Notunterkunft wohl. Auch er wohnt bereits mehrere Wochen dort. Der 26-Jährige hat sich etwas abseits der Gruppe auf eine Bank gesetzt. »Zeichnen? Wieso nicht?«, sagt er und nimmt Papier und Bleistift in die Hand. Rivan kommt aus Qamischli, einer Stadt im Nordosten Syriens nahe der türkischen Grenze. 2012 ist er in die Türkei geflohen, wo er drei Jahre gelebt hat. »Die Situation in der Türkei war schwierig«, erzählt er. In Syrien habe er vor dem Krieg bei einem Telefonunternehmen gearbeitet. In der Türkei sei die Arbeitssuche kompliziert gewesen. »Wenn man Arbeit findet, reicht der Lohn kaum aus, um eine Familie zu ernähren.« In den großen Städten müssten syrische Kinder auf der Straße betteln. »Was ist das für ein Leben?«, fragt er. Rivan beginnt sein Bild mit langen, waagerechten und senkrechten Strichen. Er zeichnet ein Buch, eine Hand, das Meer. Mittlerweile ist die Gruppe deutlich angewachsen: Rund zwei Dutzend Männer, Frauen und Kinder sitzen an drei langen Tischen und beugen sich über ihre Zeichnungen. Während die Gruppe rund um Khaled sehr konzentriert arbeitet, herrscht am »Kindertisch« lautes Treiben. Gesichter, mal lachend, mal wei-
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nend, sind bei den Kindern hoch im Kurs. Am beliebtesten ist zweifellos die Comic-Figur »Sponge Bob«. »Es entstehen ganz unterschiedliche Motive«, sagt Ali Fitzgerald. »Flaggen und Landschaften sind darunter, Liebesgeschichten, aber auch Zeichnungen, die Flucht und Krieg widerspiegeln. Auch Boote werden oft gezeichnet.« Unzählige Bilder sind in den vergangenen Monaten auf diese Weise zusammengekommen. Auf deren Basis hat Ali Fitzgerald einen eigenen Comic produziert, der im September 2015 auf der US-amerikanischen Nachrichtenseite »Vox.com« veröffentlicht wurde. Die Idee für den Zeichenkurs entstand durch den ComicWorkshop »Heldinnen gesucht«, an dem die Künstlerin ebenfalls beteiligt war. So wurde Mathias Hamann, der Leiter der Notunterkünfte der Berliner Stadtmission, auf sie aufmerksam: »Geflüchtete Menschen können durch Comics ihre eigene Geschichte erzählen, ihre Gefühle mitteilen.« Auf diese Weise lasse man sie selbst ohne Deutschkenntnisse an der Gesellschaft teilhaben, sagt Hamann. Die Berliner Stadtmission versucht, Geflüchteten auch durch Deutschkurse, Sportkurse oder Stadtspaziergänge das lange Warten erträglicher zu machen. Rivan hat seine Zeichnung inzwischen fertiggestellt. Er hat ein Buch gezeichnet, auf dessen Seiten sich eine Waage und die Symbole des Islams, Judentums und Christentums finden. »Das ist das Buch der Welt«, erklärt er. »Gerechtigkeit und Menschenrechte. Das wollen wir alle.« In der Zeichnung lässt er außerdem eine große Hand aus der linken Buchseite herausragen, die nach einem Seil greift. Die Hand gehöre den Syrern, die um Hilfe rufen, sagt Rivan. »Wir wollen nicht sterben. Wir wollen leben.« Ali Fitzgerald ist davon überzeugt, dass Comics und andere Formen visueller Kommunikation Alternativen bieten, sich auszudrücken. »Oft genug packen wir Geflüchtete in eine Kategorie. Ihre Zeichnungen können dabei helfen, sie als Individuen zu
»Die Motive: Liebesgeschichten, aber auch solche, die Flucht und Krieg widerspiegeln.« sehen – mit einem vielschichtigen Leben, mit Hoffnungen und Wünschen.« Sie hofft, dass solche Workshops dazu beitragen, diese Perspektiven sichtbar zu machen. Eine erste Gelegenheit bot sich im Dezember 2015 im Rahmen einer Ausstellung in der »Neuen Schule für Fotografie Berlin«. Organisiert wurde sie von Ali Fitzgerald, Amnesty International und den Organisatoren des Berliner Comicfestivals »Comic Invasion«. Die Macher des Festivals wollen das Konzept erweitern und Comic-Workshops für Geflüchtete auch in anderen Berliner Notunterkünften anbieten. Zwei weitere Workshops starteten im Januar. Es werden dennoch Künstlerinnen und Künstler, Übersetzerinnen und Übersetzer gesucht, die das Projekt unterstützen möchten. Beim nächsten Comicfestival, das vom 1. bis 17. April 2016 stattfinden wird, sollen die Ergebnisse der Workshops präsentiert werden. Vielleicht wird auch Rivans Zeichnung dabei sein. *Name geändert Der Autor ist freier Journalist und lebt in Berlin.
Schwarz auf weiß. Eindrücke der Flucht und Wünsche nebeneinander.
coMic-WorkShopS für flüchtlinge
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Milliardengeschäft Sicherheit Egal ob Geheimdienste und »Heimatschutz« in den USA oder deutsche Waffenexporte in Krisenstaaten: Militär- und Sicherheitsindustrien haben ein lukratives Jahrzehnt hinter sich. Von Maik Söhler
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enn man unter Druck gerät, kann es sinnvoll sein, den Druck an jene zurückzugeben, die ihn erzeugen. Dem US-Journalisten James Risen droht seit Jahren Haft, weil er sich weigert, vor Gericht im Verfahren gegen den ehemaligen CIA-Angestellten und vermeintlichen Whistleblower Jeffrey Sterling als Zeuge auszusagen, Dokumente zu übergeben und eine seiner Informationsquellen zu benennen. Risen beruft sich auf den journalistischen Quellenschutz und weigert sich bis heute, der Anordnung nachzukommen, wobei ihn der ehemalige US-Justizminister Eric Holder stets unterstützte. Wegen Quellenschutz werde »kein Reporter ins Gefängnis kommen, solange er Justizminister sei«, sagte er im Oktober 2014. Nun geht Risen seinerseits in die Offensive. »Dieses Buch ist meine Antwort auf die Frage, wie man den drakonischen Anstrengungen der Regierung, gegen offensiven investigativen Journalismus zu Felde zu ziehen und die Wahrheit im Namen des endlosen Krieges zu unterdrücken, am besten begegnet«, schreibt er im Nachwort seines jüngst auch auf Deutsch erschienenen Buches »Krieg um jeden Preis«. Es handelt sich um eine Sammlung von Recherchen zu den Folgen des »Kriegs gegen den Terror«, den die USA seit 9/11 mit allen verfügbaren Mitteln führen. Risen, der seit 1998 für die »New York Times« zur nationalen Sicherheit und zu Geheimdiensten arbeitet, schildert die Entstehung eines »industriellen Heimatschutzkomplexes«, zuerst unter George W. Bush, dann auch unter Barack Obama. Dabei stehen nicht die US-Kriege in Afghanistan und im Irak im Zentrum, sondern all jene staatlichen und halbstaatlichen Institutionen sowie privaten Firmen und Organisationen, die an diesen Kriegen sowie Mitteln und Methoden teilhaben, die im Kampf gegen den Terror zum Einsatz kommen – »Heimat-
»Beinahe 2.000 Unternehmen sind in Terrorbekämpfung oder Heimatschutz tätig.« 58
schutz«, Überwachungsprogramme und Nachrichtentechnik sowie Militär- und Sicherheitsdienstleistungen. »Amerika hat sich an einen permanenten Kriegszustand gewöhnt«, schreibt Risen. »Nur eine kleine Schicht der Gesellschaft (…) kämpft und stirbt, während eine fest etablierte nationale Sicherheitselite zwischen hohen Posten in Staatsapparat, Auftragsfirmen, Denkfabriken und Fernsehstudios rotiert; Karrierechancen, mit denen es vorbei wäre, wenn die Vereinigten Staaten plötzlich im Frieden lebten.« Allein in der Nähe des CIAHauptquartiers und des Pentagons befänden sich mehr als »1.200 staatliche Stellen, Ämter, Behörden und Ministerien und beinahe 2.000 Privatunternehmen, die in den Bereichen Terrorbekämpfung, Heimatschutz und Geheimdienstprogramme tätig sind«. »Krieg um jeden Preis« versammelt Geschichten rund um solche Ämter, Firmen und Karrieren. Zwei Milliarden Dollar verschwinden spurlos im Irak. Windige Charaktere reüssieren an den Rändern des Militärs oder der Geheimdienste als Videoanalysten. Es entstehen Sicherheitsenklaven in US-Metropolen. Ärzte und Psychologen verdienen Geld, weil sie die Verschleppung und Folter von Verdächtigen in Guantánamo und in Geheimgefängnissen unterstützen. Es ist die Blütezeit von Militär- und Sicherheits-»Thinktanks«, wie Risen ausführt: »Ein Jahrzehnt nach den Attentaten vom 11. September 2001 haben diejenigen, die dem Folterregime den Weg bahnten, Millionen durch Buchveröffentlichungen, Vorträge, staatliche Aufträge und Forschungsstipendien der CIA, des FBI, des Pentagons und des Heimatschutzministeriums verdient.« Und es ist die ideale Zeit für Firmen wie CACI International, einen US-Dienstleister für Militär- und Nachrichtentechnik, dem selbst die nachgewiesene Beteiligung an der Folter in Abu Ghraib nicht schadet. Andere Profiteure sind die Sicherheitsfirma Dyncorp, der Drohnenhersteller General Atomics und KBR, Dienstleister des US-Militärs in Kriegsgebieten. KBR wurde während der Besatzung des Irak von der US-Regierung mit Nachschubaufgaben für die Armee betraut – dem Bau von Stützpunkten, Truppenverpflegung, Stromversorgung und Müllverbrennung. KBR hatte, wenn man Risen folgt, zeitweise um die 50.000 Beschäftigte und Subunternehmer im Irak. Während es die US-Regierung zulässt, dass im Heimatschutzministerium oder in der Transportsicherheitsbehörde Mittel vergeudet werden, kann der Geheimdienst NSA seine Zuständigkeit ausweiten. Neuerdings ist es die sogenannte »Cyber-Security«, also der Diskurs um Sicherheit von Datennetzen und elektronischen Anlagen, der sowohl der NSA als auch privaten Unternehmen neue Befugnisse beziehungsweise Aufträge einbringt. Risen spricht das NSA-Programm »Perfect Citizen« an, das im Rahmen der »Cyber-Security« auch die Überwachung und Bespitzelung weiter verfeinern könne und einen Auftrags-
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Foto: Shawn Baldwin / The New York Times / Redux / laif
Nutznießer des Krieges. KBR-Mitarbeiter in Camp Arifjan, einem US-Stützpunkt in Kuwait, 2004.
wert von 91 Millionen Dollar habe. Realisiert werde es vom Rüstungs- und Elektronikkonzern Raytheon. Ärgerlich an Risens Buch ist zweierlei: Zum einen, dass das Zentrum des »Kriegs gegen den Terror« nur wenig untersucht wird, also der Krieg selbst, die dort eingesetzten Waffen, die Firmen, die sie produzieren, und die Ämter, die solche Aufträge vergeben. Auch der Verzicht auf Fußnoten und einen Anmerkungsapparat ist problematisch. Zahlen, Daten, Behauptungen und Einschätzungen lassen sich so kaum überprüfen. Dies wäre umso wichtiger, da Risen vorab zugibt, dass sein Buch auch auf Aussagen von anonymen Quellen und ungenannten Whistleblowern beruht. Dieses Manko kann man den Autorinnen und Autoren Jürgen Grässlin, Daniel Harrich und Danuta Harrich-Zandberg nicht anlasten. »Netzwerk des Todes« heißt ihr neues Buch. Es hat nichts mit dem »Krieg gegen den Terror« zu tun, umso mehr aber mit deutschen Waffen, die mit oder ohne Erlaubnis von Bundesbehörden in Konfliktgebiete gelangen und dort wohl auch eingesetzt werden. »Netzwerk des Todes« gibt einen profunden Überblick über den internationalen Handel mit Kleinwaffen, zu denen auch Maschinen- und Sturmgewehre gerechnet werden. Vertiefend werden insbesondere die Absatzmärkte deutscher Waffen- und Rüstungsunternehmen wie Sig Sauer, Carl Walther und Heckler & Koch untersucht – Kolumbien, Brasilien, Katar und andere Staaten. Dabei liegt der Schwerpunkt eindeutig auf Waffengeschäften, die Heckler & Koch während der vergangenen zehn Jahre in Mexiko getätigt hat.
geSchäfte Mit DeM krieg
Obwohl Waffenexporte von Heckler & Koch, insbesondere von G36-Sturmgewehren, von deutschen Rüstungskontrollbehörden nur unter der Auflage genehmigt wurden, dass sie nicht in vier klar ausgewiesene Regionen Mexikos gelangen dürfen, kamen sie dort nachweislich zum Einsatz. Das Buch präsentiert Augenzeugenberichte, Interviews und Dokumente, die daran keinen Zweifel lassen. Auch bei der Ermordung von 43 Studenten in der Provinzstadt Iguala im September 2014 wurde aus G36-Sturmgewehren aus deutscher Produktion geschossen. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart hat im November 2015 Anklage gegen sechs ehemalige Mitarbeiter von Heckler & Koch erhoben. Ihnen wird vorgeworfen, zwischen 2006 und 2009 an der illegalen Lieferung von Sturmgewehren des Typs G36 in bestimmte mexikanische Bundesstaaten beteiligt gewesen zu sein. Somit könnten sie gegen das Kriegswaffenkontroll- und das Außenwirtschaftsgesetz verstoßen haben. Die Dokumente in diesem Buch sind durchaus geeignet, diese Anklage zu stützen. James Risen: Krieg um jeden Preis. Gier, Machtmissbrauch und das Milliardengeschäft mit dem Kampf gegen den Terror. Aus dem Amerikanischen von Andreas Simon dos Santos. Westend, Frankfurt/M. 2015. 320 Seiten, 17,99 Euro. Jürgen Grässlin/Daniel Harrich/Danuta Harrich-Zandberg: Netzwerk des Todes. Die kriminellen Verflechtungen von Waffenindustrie und Behörden. Heyne, München 2015. 384 Seiten, 16,99 Euro.
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Foto: Stefan Wermuth / Reuters
Strukturschwach und schlecht legitimiert
Nur nicht verschlucken. Liebesgrüße aus Putins Russland.
Imperialer Alleinherrscher oder Partner des Westens? Weder noch. Die Journalistin Katja Gloger zeichnet die Welt nach, in der Wladimir Putin regiert. Von Maik Söhler
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r hat im Handstreich die Eroberung der Krim angeordnet und damit den Westen brüskiert. Zugleich lässt er Seite an Seite mit dem Westen die Hochburgen der Terrormiliz »Islamischer Staat« in Syrien bombardieren. Zwei Ereignisse – ein Wladimir Putin, der handelt. Widersprüchlich? Konsequent? Einfach nur machtbesessen? Katja Gloger, jahrelang Moskau-Korrespondentin des »Stern« und seit 25 Jahren mit der russischen Innen- und Außenpolitik befasst, gibt Antworten: »Dieses neue Russland – es ist Putins Russland – versteht sich als revisionistische Ordnungsmacht auf einem eigenen, eurasischen Kontinent, als moralischer und politischer Gegenpol mit eigener, zivilisatorischer Mission in Abkehr vom Westen.« Unter Putin sei Russland im Inneren dank Repression und medialer Propaganda zu einer Festung geworden, die sich »von inneren Feinden bedroht, von äußeren Feinden umzingelt wähnt«. Das habe mehrere Gründe, schreibt Gloger. Der Westen, insbesondere die USA, habe nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wenig Gespür für Russlands Interessen und Machtambitionen gezeigt und mit der Nato-Osterweiterung Putins Reich bedrängt. Versprechen seien gebrochen worden, Vertrauen wurde zerstört, Putins Vorgänger Michail Gorbatschow und Boris Jelzin erhielten Geld statt Partnerschaft. Klar sei aber auch, dass »die wesentliche Ursache für den Konflikt zwischen Russland und dem Westen (…) im Legitimationsdefizit des Systems Putin
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zu suchen« sei. Russland habe politisch und ökonomisch strukturelle Schwächen, die seit Jahrzehnten nicht behoben worden seien und die sich nun, angesichts fallender Preise für Öl und Gas, wieder zeigten. Gloger charakterisiert das System Putin als eine Mischung aus »Kapitalismus für Freunde« – ein Selbstbedienungsladen, in dem sich Günstlinge bedienen dürfen, im Gegenzug aber politisch loyal sein müssen und Gefälligkeiten zu erweisen haben –, aus außenpolitischen Großmachtbestrebungen und großer Vorsicht vor Teilen der eigenen Bevölkerung. Protest im eigenen Land werde instrumentalisiert oder rigoros unterbunden. Putin sei kein Ideologe, er handle pragmatisch. Den Krieg in der Ukraine samt Annexion der Krim habe er mal forciert, mal gebremst, je nachdem, wie die EU und insbesondere Deutschland reagierten. In Deutschland war Putin als KGB-Agent bis 1990 stationiert, seither gilt er als germanophil. Seit dem Jahr 2000 hat das System Putin nun Bestand, egal ob er gerade Präsident oder »nur« Ministerpräsident ist (2008 bis 2012). Die Ukraine-Krise sei ihm gelegen gekommen, meint Gloger, um eine russische Ordnung zu etablieren, die der Dominanz des Westens eine eigene Dominanz entgegensetze. Und doch zeige sich auch, dass Putins Russland genau dort an seine Grenzen stoße – politisch und ökonomisch. Gloger findet in »Putins Welt« die richtige Balance zwischen Beschreibung und Analyse. Der Verlag hat das Werk mit einer Chronologie, einem A bis Z der wichtigsten Begriffe und einem gut sortierten Anmerkungsapparat versehen. Ein kenntnisreiches und gut zu lesendes Buch. Katja Gloger: Putins Welt. Das neue Russland, die Ukraine und der Wes ten. Berlin Verlag, Berlin 2015. 352 Seiten, 18 Euro.
aMneSty journal | 02-03/2016
Mexikanische Hölle
Offen und demokratisch
Sie kommen aus El Salvador oder Honduras und wollen in die USA. Ihr Weg führt durch Mexiko. Für zentralamerikanische Migranten ist dies extrem gefährlich – sie müssen »die sieben Kreise der mexikanischen Hölle durchqueren«. Antonio Ortuño beschreibt in seinem Roman »Die Verbrannten« auf drastische Weise, was den Flüchtlingen droht: Sie werden von Schleppern ausgeraubt, vergewaltigt und ermordet. Auf den Schutz durch Polizei und staatliche Stellen können sie nicht hoffen, denn allzu oft stecken die Beamten mit den Banden unter einer Decke. Im Mittelpunkt des Romans steht die Soziologin Irma. Sie wird von der Nationalkommission für Migration in den Süden Mexikos geschickt, um einen Brandanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft zu untersuchen, bei dem zahlreiche Menschen starben. Sie freundet sich mit einer jungen Frau aus El Salvador an, die den Anschlag überlebte. Beide wollen auf ihre Art herausfinden, wer hinter dem Mord an den Flüchtlingen steckt. Doch ihre Nachforschungen sind unerwünscht, schon bald droht den Frauen selbst Gefahr. Eindrucksvoll schildert der mexikanische Schriftsteller den zivilisatorischen Abgrund, der sich auftut, wenn in der Flüchtlingsfrage alle Instanzen versagen: wenn Migranten von der Bevölkerung rassistisch behandelt werden, staatliche Stellen von Korruption zerfressen sind, mafiöse Schlepperbanden die Bedingungen diktieren und Journalisten nichts mehr aufdecken können, weil ihr Leben bedroht ist.
Dieses Mal geht es um Geheimdienste, Whistleblowing, Netzneutralität und Vorratsdatenspeicherung. Jedes Jahr im Dezember veröffentlicht der Verlag iRights.Media einen umfangreichen netzpolitischen Jahresrückblick in Form einer dicken Broschüre. Der Zusammenschluss von Netz- und Bürgerrechtsaktivisten betreibt auch die Webseite iRights.info zu Fragen von digitaler Politik, Ökonomie und Kultur und zum Urheberrecht. In diesem Jahr bilden diverse Formen von Überwachung sowohl durch staatliche Behörden als auch durch datensammelnde Konzerne einen Schwerpunkt von »Das Netz«. Insgesamt scheint das Misstrauen der Herausgeber gegen staatliche Spionage aber größer zu sein. Im Vorwort befürchtet Philipp Otto, dass »die Terrorgefahr als Ausrede gilt, um die feuchten Träume der Nachrichtendienste von neuartigen Überwachungstools für die heimischen IT-Geräte der Bürgerinnen und Bürger zu verwirklichen«. Die Broschüre ist in die Bereiche Politik, Wirtschaft, Alltag und Kultur gegliedert, optisch hervorragend aufbereitet und liefert viele lesenswerte Einschätzungen und Hintergrundanalysen. An manchen Stellen, insbesondere wenn es um die Kreativindustrie geht, fehlt gelegentlich die nötige Distanz. Dennoch: Wer auch im Netz eine offene und demokratische Gesellschaft will, in der Möglichkeiten gefördert werden, Wissen einfach zu teilen, wird hier fündig.
Antonio Ortuño: Die Verbrannten. Aus dem Spanischen von Nora Haller. Antje Kunstmann Verlag, München 2015. 206 Seiten, 19,95 Euro.
iRights.Lab, Philipp Otto (Hg.): Das Netz. Jahresrückblick Netz politik. iRights.Media Berlin 2015. 300 Seiten, 14,90 Euro, E-Book 4,99 Euro.
Gehorsam oder Liebe Schelmenroman über Migration Der Romantitel erinnert an einen Aufdruck auf einer Tasse aus dem Souvenirshop: »Ich war in Lissabon und dachte an dich«. Das neue Buch des brasilianischen Schriftstellers Luiz Ruffato schildert jedoch nicht das Lissabon der Touristen, sondern das der Migranten: Arme-Leute-Viertel und heruntergekommene Etablissements, schäbige Kneipen und Pensionen, Telefonbuden und Western Union-Läden für den Kontakt nach Hause. Sie stammen aus Brasilien, Afrika und Osteuropa. Der Ich-Erzähler Sergio wurde im Landesinneren Brasiliens geboren. In einer Art Lebensbeichte schildert er seine Träume und Missgeschicke: seine gescheiterte Ehe, die Entlassung aus der Fabrik und den Entschluss, nach Portugal aufzubrechen, in der Hoffnung, einst als gemachter Mann in seine Heimat zurückzukehren. In Lissabon findet er zwar schon bald einen Job als Kellner in einem Touristenlokal. Doch dann verliebt er sich in eine brasilianische Prostituierte und kommt mit einer zwielichtigen Szene in Kontakt. Ein großartiger Roman zum Thema Migration: Aus der Perspektive eines tragikomischen Helden aus der Unterschicht macht Ruffato gesellschaftliche Verhältnisse sichtbar. Ein temperamentvoller, einfühlsamer und – bei allem Ernst des Themas – vergnüglicher Schelmenroman. Luiz Ruffato: Ich war in Lissabon und dachte an dich. Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler. Assoziation A Verlag, Hamburg 2015. 96 Seiten, 14 Euro.
»Wir hängen sechs Übeltäter auf einmal, pro Gruppe benötigen wir zirka zwanzig Minuten. Vor dir sind etwa dreißig Personen an der Reihe. Wenn ich jetzt gehe und dich hier stehen lasse – wie lange hast du dann noch zu leben?« Eine grausame Rechenaufgabe. Sie wird der 15-jährigen Farrin von einer Wärterin im Evin-Gefängnis im Iran gestellt. Das Vergehen des Mädchens: Farrin hat sich in ihre Mitschülerin Sadira verliebt. Und Sadira erwidert ihre Liebe. Doch ihre Homosexualität macht Farrin zur Staatsfeindin. Wegen »Unzucht und Zuwiderhandlung gegen Sitte und Anstand« soll sie mit dem Tod durch den Strick bestraft werden. Deborah Ellis’ Jugendroman beruht auf einer wahren Begebenheit und erzählt weit mehr als die Geschichte einer verbotenen Liebe. Er zeichnet ein eindrucksvolles Bild der iranischen Gesellschaft und der politischen Lage im Jahr 1988. Denn auch wenn die aufkeimende Liebe zwischen Farrin und Sadira dem Text eine sanfte, poetische Grundstimmung verleiht, drängt die Realität, die von notwendiger Anpassung und Heimlichkeit, Unterdrückung, Ausbeutung, Korruption, Bespitzelung und Denunziation geprägt ist, immer wieder in den Vordergrund. Mit Farrin und Sadira zeichnet Ellis zwei eindrucksvolle, mutige und kluge Mädchenfiguren, die sich im Glauben an ihre Liebe all dem selbstbewusst entgegenstellen, ohne ihre Wurzeln zu verleugnen. Deborah Ellis: Wenn der Mond am Himmel steht, denk ich an dich. Aus dem Englischen von Edith Beleites. Cbj, München 2015. 252 Seiten, 14,99 Euro. Ab 14 Jahren.
Bücher: Maik Söhler, Wera Reusch, Marlene Zöhrer bücher
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Grönländische Protestsongs
Musikalische Grenzenlosigkeit
Eine der eindrucksvollsten Geschichten in der Geschichte der Rockmusik schrieb wohl die Band Sumé: 1973 gegründet, gilt sie als die bekannteste Formation aus Grönland, die zudem als erste in der Landessprache sang. Den Musikern um die Bandgründer Malik Høegh und Per Berthelsen ging es nicht nur um das reine Klampfen – auch wenn das der Gitarrenverstärker suggeriert, den Inuk Silis Høegh in seinem Dokumentarfilm über Sumé zur Illustration in die Landschaft stellt. Sumé waren eine sozialkritische und vor allem antikoloniale Gruppe. Seit mehr als 250 Jahren gehört Grönland zum dänischen Königreich. Besitz war auf der Insel unbekannt, es herrschte eine Allmende-Kultur. In starkem Kontrast dazu steht die krasse Rohstoffausbeutung durch dänische Firmen. Andererseits bot zu der Zeit, als Sumé sich gründete, nur das Tausende Kilometer entfernte Dänemark formale Bildungswege. Die Lieder über die Missstände in Grönland wurden äußerst populär. Dass die marginalisierte Muttersprache in poetische Texte gegossen wurde, gefiel vor allem der jungen Generation Grönlands. So wurden Sumés Songs zum Soundtrack der ersten Jugendproteste gegen die dänische Verwaltung. Drei Platten veröffentlichte die Band, dann entschieden sich die Mitglieder der äußerst erfolgreichen Band gegen eine Profikarriere. Ein prima Film, der einen Zugang zu einer höchst interessanten Szene findet.
Aufgewachsen in einem der großen Flüchtlingslager in der algerischen Hammada, einer Wüste aus Fels und Stein, lebt die Sängerin Aziza Brahim heute in Barcelona, Spanien. Dort hat sie eine künstlerische Heimat und politisches Exil gefunden. Mit ihrer Musik gibt sie dem Schicksal der Sahrawi, wie die Bewohner der seit fast 40 Jahren von Marokko besetzten Westsahara bezeichnet werden, eine Stimme. Auf ihrem neuen Album »Abbar El Hammada« greift sie verschiedene Einflüsse auf, die ihren Weg säumten, ohne dem Charakter ihrer in den traditionellen Weisen der Sahrawi verwurzelten Musik untreu zu werden. Unverkennbar sind die spanischen Stilelemente, der Klang der spanischen Gitarre und der andalusisch modulierte Gesang in Songs wie »Calles de Dajla«. Subtiler sind die Beigaben der westafrikanischen Percussion-Rhythmen und Gitarrenklänge, die ihren elegant dahinrollenden Wüstenblues auf Stücken wie »La cordillera Negra« umfließen. Die Produktion vermittelt eine mediterrane Leichtigkeit. Doch über allem schwebt ihr leidenschaftlicher, poetischer Gesang auf Arabisch und Spanisch. Die Songs handeln von Heimatlosigkeit und der Suche nach Gerechtigkeit, den Erfahrungen der Flucht und der Emigration und des Lebens in der Diaspora. Der Song »Los Muros« erzählt von den Mauern, welche die Menschen von der Rückkehr in ihre Heimat oder von der Flucht in ein besseres Leben abhalten sollen. Akbar El Hamada ist ein Dokument musikalischer Grenzenlosigkeit.
»Sumé – The Sound of a Revolution«. DK/NOR 2014. Regie: Inuk Silis Høegh. Kinostart: 21. Januar 2016
Aziza Brahim: Abbar El Hamada (Glitterbeat)
Iranische Protestsongs Sara Najafi ist eine junge Komponistin, die in Teheran lebt. Sie schreibt Musik für Frauenstimmen. Und das ist zugleich ihr Problem: Denn die iranischen Gesetze verbieten Soloauftritte von Sängerinnen. Sie dürfen allenfalls als schmückendes Background-Beiwerk von Männern auftreten. Aber Sara ist das egal: Entschlossen probt sie in Frankreich mit befreundeten Musikerinnen. Da trifft es sich gut, dass ihr Bruder Ayat Najafi Regisseur ist – mit nur einem Dokumentarfilm ist er berühmt geworden: »Football Under Cover« (2008) zeigt das erste Fußballspiel von Frauen im Iran. Der Filmemacher mit dem Faible für Frauenthemen folgt seiner Schwester. Er hat in Archiven nach Auftritten iranischer Sängerinnen in der Vergangenheit gesucht und präsentiert schönes Material, zum Beispiel aus den Sechzigerjahren, als Frauen allein auftraten. Was heute undenkbar ist, war damals möglich. Frauen sangen von den Freuden freier Liebe und wie schön es ist, betrunken zu sein. Sara stellt sich in die Tradition der rebellischen Sängerinnen. Der Film zeigt die Musikerinnen bei der Probe ihrer Werke, es sind Melodien, in denen sich traditionelle Weisen und neue Kompositionen mischen. Musik, so der Tenor, ist ein Geschenk für jeden Menschen, unabhängig von Kultur und Geschlecht. Ayat Najafi, der auch schon Mitglied der Amnesty-Jury auf der Berlinale war, hat einen spannenden Dokumentarfilm über coole Frauen gedreht – die ihre Stimme erheben, um mit Musik zu sprechen. »No Land’s Song«. F/IRN 2015. Regie: Ayat Nayafi. Kinostart: 10. März 2016
Überlebensmusik Kroke ist die jiddische Bezeichnung für Krakau, das einst ein Zentrum osteuropäisch-jüdischen Lebens war. Das Instrumental-Trio aus Krakau verbindet traditionelle Klezmer-Musik mit Klassik, Jazz und Avantgarde. Seit gut zwanzig Jahren eröffnet es den Klängen einer verschwundenen Welt, so der Titel eines ihrer von der Kritik gefeierten Alben, damit neue Horizonte. Durch die Zusammenarbeit mit dem Stargeiger Nigel Kennedy auf dem Album »East meets East« sind Kroke international bekannt geworden. Und in ihrer Heimat Polen sind Tomasz Kukurba (Geige, Bratsche, Percussion), Tomasz Latz (Kontrabass) und Jerzy Bawol (Akkordeon), die sich auf der Krakauer Musikakademie kennengelernt haben, längst unbestrittene Größen, die als Studiomusiker und Komponisten für Theaterbühnen und Rundfunk schwer gefragt sind. Ihr neuntes Album »Cabaret of Death« verdankt sich der Zusammenarbeit mit dem polnischen Produzenten Adam Kwiecinski, der sich in seinem gleichnamigen, semidokumentarischen Filmprojekt mit der Unterhaltungsmusik in den NSKonzentrationslagern beschäftigt hat. Der Film erzählt die Geschichte jüdischer Künstler, die in den Ghettos und Todeslagern um ihr Überleben spielten. Das Trio aus Krakau hat die Musik zum Film komponiert, für ihr Album die Stücke aber neu arrangiert und eingespielt. Düster und geheimnisvoll, todtraurig, bewegend, assoziationsreich und mitreißend – Kroke sind eine Klasse für sich. Kroke: Cabaret of Death (Oriente)
Film: Jürgen Kiontke | Musik: Daniel Bax 62
aMneSty journal | 02-03/2016
Ich hab nichts anzuziehen Andrew Morgan untersucht in »The True Cost – Der Preis der Mode« die Bedingungen, unter denen »Fast Fashion« hergestellt wird. Von Jürgen Kiontke
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»The True Cost – Der Preis der Mode«. F u.a. 2015. Regie: Andrew Morgan. Kinostart: 21. Januar 2016 Bis zum 3. Juli 2016 zeigt das Deutsche Hygienemuseum Dresden, unabhängig vom Film, die Ausstellung: »Fast Fashion – Die Schattenseiten der Mode«. Infos: www.dhmd.de
Fotos: Grandfilm
enn einem früher Kleidungsstücke nicht gefielen, tauschte man sie im Laden um. Heute sind sie so billig, dass man sie einfach wegwirft. »Fast Fashion« ist das Zeug, das man etwa bei Handelsketten wie Primark erwirbt. »Jeden Tag hatte ich neue Tüten, aber nie was zum Anziehen«, beschreibt Lucy Siegle dieses Prinzip. Früher sei sie auch ein »Shopping Victim« gewesen, erzählt die englische Journalistin, die seit geraumer Zeit kritisch über die Modeindustrie berichtet. »Gewählte Haut« nennt sie die billigen Stoffstücke. Offensichtlich habe es sich bei großen Teilen der Konsumenten durchgesetzt, genau die mehrmals am Tag zu wechseln. In den Teilen der Welt, in denen die Ware produziert wird, haben die Modetrends tödliche Folgen: Sei es in den vergifteten Gebieten der Lederindustrie am Ganges oder bei den zu traurigem Weltruhm gekommenen Näherinnen in Bangladesch. Dort stürzte vor zwei Jahren eine der Fabriken ein, die auch für viele deutsche Firmen gearbeitet hat: Rana Plaza. 1.129 Menschen starben. Es gab keinen Arbeitsschutz und keine Bauaufsicht. Wer gegen die Arbeitsbedingungen protestierte, wurde verprügelt. 5.000 Fabriken dieser Art soll es im Land geben. Lucy Siegle gehört zu den vielen Stimmen, die Regisseur Andrew Morgan in seinen Film »The True Cost – Der Preis der Mode« zu Wort kommen lässt. Er hat seine umfangreiche und gute Recherche teilweise drastisch aufbereitet. »The True Cost« leuchtet die Hintergründe der Produktion aus, liefert Fakten und Zahlen zu den größten Modehäusern und den Arbeitsbe-
dingungen. Lange widmet er sich der Näherin Shima aus Bangladesch, die ihr Kind nur einmal im Jahr sieht, weil ihr Arbeitsort so weit entfernt ist. »An dieser Kleidung klebt Blut«, sagt sie und meint damit nicht nur die prekären Verhältnisse in ihrem Land. Ein Beleg dafür sind auch Prügelszenen in Kambodscha, wo Arbeiter für den Mindestlohn kämpfen. Drastisch sind die Bilder aus Indien, wo Arbeiterinnen in der Lederindustrie von schweren Vergiftungen berichten. Das verwendete Chrom zerstört die Haut. Eine irrwitzige Analogie zum Modezirkus – es führt zu Pigmentstörungen, die »America’s Next Topmodel«Teilnehmerin Chantelle Brown-Young weltberühmt gemacht haben, bei ihr allerdings Folge einer seltenen Krankheit. Die Inderinnen landen nicht auf dem Laufsteg – ihre »Eltern warten darauf, dass ihre Kinder sterben«, sagt die Expertin Vandana Shiva. Kontrastiert wird das Elend mit Modenschauen und Talkshows sowie Youtube-Videos junger Frauen im »Fast-Fashion«Fieber. »Guckt mal, was ich heute wieder gekauft hab. Ich hatte nichts mehr anzuziehen.« Es werden aber auch Gegenstrategien und Menschenrechtskampagnen vorgestellt – Initiativen wie die »Clean-Clothes-Campaign« finden leider keine Erwähnung. Zu den bemerkenswerten Momenten dieses Films gehört es, dass auch Top-Designerinnen wie Stella McCartney ihre Einschätzung abgeben. Tenor: Wir haben es zwar nicht gleich gemerkt, aber nachhaltige Produktion ist eine Notwendigkeit.
Unschlagbare Preise gegen unsägliche Zustände. Filmszenen aus »The True Cost« über die Produktion von Mode.
filM & MuSik
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Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt oder man lässt sie »verschwinden«. aMneSty international veröffentlicht regelmäßig an dieser Stelle drei Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden. In diesem Monat stellen wir noch einmal drei Fälle aus dem internationalen Briefmarathon vor, um den Druck auf die Behörden aufrechtzuerhalten. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie bitte eine digitale Kopie an: info@amnesty.de
aMneSty international Zinnowitzer Straße 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 Fax: 030 - 42 02 48 - 488 E-Mail: info@amnesty.de www.amnesty.de Spendenkonto Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE 233 702050 0000 8090100 BIC: BFSWDE33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00)
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Foto: Amnesty
briefe gegen DaS VergeSSen
SauDi-arabien WaleeD abu al-khair Waleed Abu al-Khair, der Verteidiger des inhaftierten Bloggers Raif Badawi, wurde zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. »Ich bereue meine Entscheidungen nicht – trotz aller Schikanen. Wenn du ein Ziel im Leben hast, werden die Dinge einfacher. Meine Ziele sind Gerechtigkeit, Meinungsfreiheit und das Recht, aufzustehen und zu sagen, die Regierung ist unfair.« Der Rechtsanwalt Waleed Abu al-Khair wurde im Juli 2014 von einem Sonderstrafgericht in Dschidda unter anderem wegen »Ungehorsams gegenüber dem König« und »Beleidigung der Justiz« zu 15 Jahren Gefängnis, einem anschließenden Reiseverbot und einer hohen Geldstrafe verurteilt. Er hat viele Opfer von Menschenrechtsverletzungen vor Gericht vertreten, unter anderem den bekannten Blogger Raif Badawi, der im Gefängnis sitzt und dem 1.000 Stockschläge drohen, weil er eine kritische Online-Plattform gegründet hat. Jahrelang versuchten die Behörden, Waleed Abu al-Khair einzuschüchtern und zum Schweigen zu bringen. Schließlich wurde der Menschenrechtsverteidiger auf Grundlage des »Antiterrorgesetzes« verurteilt. Im Gefängnis wurde er geschlagen, man entzog ihm den Schlaf und sperrte ihn in eine Einzelzelle. Amnesty fordert die sofortige Freilassung des gewaltlosen politischen Gefangenen. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den saudi-arabischen König, in denen Sie ihn bitten, Waleed Abu al-Khair umgehend und bedingungslos freizulassen, alle Anklagen gegen ihn fallen zu lassen und das Urteil gegen ihn aufzuheben. Bitten Sie den König außerdem, dafür zu sorgen, dass Waleed Abu al-Khair in der Haft nicht gefoltert oder in anderer Weise misshandelt wird. Friedliche Aktivisten und Menschenrechtsverteidiger dürfen nicht länger drangsaliert, eingeschüchtert und inhaftiert werden. Bitten Sie ihn darum, Menschenrechtsverteidiger nicht länger als Terroristen zu behandeln und sie nicht nach dem »Antiterrorgesetz« und nicht vor dem Sonderstrafgericht anzuklagen. Schreiben Sie in gutem Arabisch, Englisch oder auf Deutsch an: King Salman bin Abdul Aziz Al Saud The Custodian of the two Holy Mosques Office of His Majesty the King Royal Court Riyadh, SAUDI-ARABIEN (Anrede: Your Majesty / Majestät) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,90 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft des Königreichs Saudi-Arabien S.E. Herr Awwad Saleh A Alawwad Tiergartenstraße 33–34, 10785 Berlin Fax: 030 - 88 92 51 79 E-Mail: deemb@mofa.gov.sa
aMneSty journal | 02-03/2016
Foto: Amnesty
Foto: Amnesty
Mexiko yecenia arMenta
uSbekiStan MuhaMMaD bekZhanoV
Yecenia Armenta wurde von der mexikanischen Polizei gefoltert und vergewaltigt. Sie sitzt seit drei Jahren im Gefängnis, aber die Täter wurden bis heute nicht verfolgt. »Die Polizisten drohten, meine beiden Kinder zu vergewaltigen und in Stücke zu schneiden. Nachdem sie mich stundenlang gefoltert und vergewaltigt hatten, unterzeichnete ich ein Geständnis – mit verbundenen Augen. Ich konnte nicht einmal lesen, was ich unterschrieb.« Yecenia Armenta wurde im Juli 2012 in Culiacán von Zivilpolizisten angehalten, als sie Verwandte zum Flughafen fuhr. Man brachte sie auf eine Polizeiwache, wo sie 15 Stunden lang gefoltert und vergewaltigt wurde. Sie sollte mit allen Mitteln gezwungen werden, einen Mord zu gestehen, den sie eigenen Angaben zufolge nie begangen hat. Nach der Folter wurde sie von medizinischem Personal untersucht, das zu derselben Abteilung gehörte wie ihre Peiniger. Ihre Verletzungen wurden nicht dokumentiert. Später untersuchten unabhängige medizinische Experten Yecenia Armenta zweimal gemäß internationalen Standards und bestätigten, dass sie gefoltert wurde. Sie sitzt seit 2012 im Gefängnis. Als einziger Beweis für ihre Schuld gilt das unter Folter erpresste »Geständnis«.
Muhammad Bekzhanov ist einer der am längsten inhaftierten Journalisten der Welt. Er befindet sich seit 16 Jahren im Gefängnis – aufgrund eines »Geständnisses«, das unter Folter erpresst wurde. »Ich lag in meinem eigenen Blut, tagelang. Ohne Wasser, ohne Essen. Ich versuchte, mich an all die schönen Dinge in meinem Leben zu erinnern – an meine Kinder, meine Frau – und bereitete mich mental auf meinen Tod vor.« So beschreibt der Journalist Muhammad Bekzhanov die Folter, die er 1999 erlitt. Usbekische Sicherheitskräfte schnürten dem Herausgeber einer verbotenen oppositionellen Zeitung die Luft ab und folterten ihn mit Gummiknüppeln und Elektroschocks, um ihn zu zwingen, »staatsfeindliche« Straftaten zu gestehen. Auf Grundlage dieses erpressten »Geständnisses« wurde er in einem unfairen Verfahren zu 15 Jahren Haft verurteilt. 16 Jahre später ist Muhammad Bekzhanov immer noch im Gefängnis. Kurz vor seiner Freilassung verurteilte man ihn zu einer weiteren Strafe von fast fünf Jahren, weil er angeblich gegen Gefängnisregeln verstoßen haben soll. Seine Ehefrau sagte nach einem Besuch bei ihm, er sei kaum wiederzuerkennen und habe alle Hoffnung verloren. Die Foltervorwürfe wurden bis heute nicht untersucht.
Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den mexikanischen Generalstaatsanwalt, in denen Sie ihn bitten, Yecenia Armenta umgehend freizulassen und die gegen sie erhobene Anklage fallenzulassen. Die von ihr erhobenen Foltervorwürfe müssen umgehend, gründlich und unabhängig untersucht werden und diejenigen vor Gericht gestellt werden, die für die Folter verantwortlich sind.
Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Präsidenten von Usbekistan, in denen Sie ihn darum bitten, Muhammad Bekzhanov umgehend freizulassen und dafür zu sorgen, dass die von ihm erhobenen Foltervorwürfe zügig, gründlich und unabhängig untersucht werden.
Schreiben Sie in gutem Spanisch, Englisch oder auf Deutsch an: Marco Antonio Higuera Gómez Procurador General de Justicia del Estado de Sinaloa Blvd. Enrique Sánchez Alonso No. 1833 Desarrollo Plan Tres Ríos, C.P. 80030 Culiacán, Sinaloa, MEXIKO (Anrede: Dear Attorney General / Sr. Fiscal General / Sehr geehrter Herr Generalstaatsanwalt) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,90 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Vereinigten Mexikanischen Staaten I.E. Patricia Espinosa Cantellano Klingelhöferstraße 3, 10785 Berlin Fax: 030 - 269 323 700 E-Mail: mail@mexale.de
briefe gegen DaS VergeSSen
Schreiben Sie in gutem Usbekisch, Russisch, Englisch oder auf Deutsch an: President Islam Karimov Rezidentsia prezidenta ul. Uzbekistanskaia 43 Tashkent 700163, USBEKISTAN (Anrede: Dear President / Sehr geehrter Herr Präsident) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,90 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Usbekistan S.E. Herrn Durbek Amanov Perleberger Straße 62, 10559 Berlin Fax: 030 - 39 40 98 62 E-Mail: botschaft@uzbekistan.de
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Foto: Henning Schacht / Amnesty
Laut gegen Unrecht. Protest vor der saudi-arabischen Botschaft in Berlin.
nicht Zu ignorieren Der Blogger Raif Badawi wurde am 8. Januar 2015 in SaudiArabien erstmals öffentlich gefoltert. Zum Jahrestag organisierte Amnesty weltweit Protestaktionen und forderte seine sofortige Freilassung. Die internationale Solidarität ist noch immer groß: Der Blogger Raif Badawi sitzt seit dreieinhalb Jahren im Gefängnis, weil er sich im Internet für Meinungsfreiheit und Frauenrechte ausgesprochen hat. Das Urteil: zehn Jahre Haft und 1.000 Stockschläge. Am 8. Januar 2015 gingen erstmals 50 Schläge auf ihn nieder. Zum Jahrestag versammelten sich in rund einem Dutzend Ländern Aktivistinnen und Aktivisten vor den saudiarabischen Botschaften zu Protestaktionen. Auch in Berlin forderten gut 140 Demonstrierende die Freilassung Badawis, seines Anwalts Waleed Abu al-Khair und aller anderen gewaltlosen politischen Häftlinge des Landes, die »in den vergangenen zwei Jahren schikaniert, bedroht, festgenommen, vor Gericht gestellt und in unfairen Verfahren zu langen Haftstrafen verurteilt wurden«, so die Nahost-Expertin von Amnesty International, Ruth Jüttner, auf der Kundgebung. Mehr als 210.000 Unterschriften, die Amnesty International gesammelt hatte, wurden in Anwesenheit von Journalistinnen und Journalisten dem saudisch-arabischen Botschaftspersonal in Berlin übergeben. Zu den Demonstrierenden zählten auch acht Aktivistinnen und Aktivisten aus Tübingen, die seit einem
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Jahr jede Woche eine Mahnwache für Raif Badawi abhalten und eigens für die Protestaktion nach Berlin gereist waren. Amnesty will mit den weltweiten Kundgebungen den öffentlichen Druck auf die saudi-arabische Regierung erhöhen. Sie dürfe mit ihrer brutalen Unterdrückung friedlicher Oppositioneller und Menschenrechtsaktivisten nicht so einfach davonkommen, sagte Ruth Jüttner. »Wir sind davon überzeugt, dass die saudiarabischen Behörden die weltweiten Proteste und die Empörung der Weltöffentlichkeit nicht auf Dauer ignorieren können.« Die weltweiten Proteste im vergangenen Jahr haben bereits Wirkung gezeigt: Badawi wurde bisher kein zweites Mal öffentlich gefoltert – doch jeden Freitag könnte es wieder soweit sein. Die Menschenrechtslage in Saudi-Arabien hat sich unterdessen weiter verschlechtert. Am 2. Januar 2016 wurden an einem Tag 47 Gefangene nach unfairen Prozessen hingerichtet. »Mit den Massenhinrichtungen haben die Machthaber in Saudi-Arabien gezeigt, dass sie die Todesstrafe auch als Instrument einsetzen, um Kritiker zum Schweigen zu bringen und alte Rechnungen zu begleichen«, sagte Ruth Jüttner. So war nicht nur die Meinungsfreiheit Thema der Protestaktion in Berlin, sondern auch die Anwendung der Todesstrafe. Seit dem Amtsantritt von König Salman im Januar 2015 hat die Zahl der Hinrichtungen drastisch zugenommen. Mehr als 151 Menschen wurden im vergangenen Jahr hingerichtet, darunter auch Personen, die zum Tatzeitpunkt noch minderjährig waren. Leila Josua
aMneSty journal | 02-03/2016
»Schreib für freiheit!«
richt ein. Schülerinnen und Schüler schufen an ihren Schulen eigene Räume, um der Aktion mehr Öffentlichkeit und Unterstützung zu verschaffen. Bundesweit wurden an den Schulen etwa 48.000 Briefe geschrieben. Allein an der Düsseldorfer Elly-Heuss-Knapp-Schule waren es 2.280. Schon seit 2002 sind Amnesty-Mitglieder beim Briefmarathon rund um den internationalen Tag der Menschenrechte am 10. Dezember global aktiv. Der polnische Amnesty-Aktivist Witek Hebanowski, einer der ursprünglichen Initiatoren der weltweiten Kampagne, hält den handgeschriebenen Brief für das »wirkmächtigste Instrument«, um Rechte einzufordern und Veränderung zu bewirken. Weltweit kamen beim Briefmarathon erneut weit mehr als drei Millionen Briefe zusammen.
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Durch ganz unterschiedliche Veranstaltungen geben Amnesty-Mitglieder den Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme. Diese Aktionen vor Ort sind ein unentbehrlicher Teil der Arbeit von Amnesty International. Mehr Informationen darüber finden Sie auf http://blog.amnesty.de und www.amnesty.de/kalender
Foto: Amnesty
Mit 250.000 Briefen in nur 14 Tagen setzten sich Menschen in ganz Deutschland beim Amnesty-Briefmarathon 2015 gegen gravierende Menschenrechtsverletzungen ein. Ob auf dem Chemnitzer Kleinkunstmarkt, dem Ravensburger Weihnachtsmarkt, in der Schwerter Stadtbücherei oder der Nürtinger Fußgängerzone – an vielen Orten wurden AmnestyMitglieder zwischen dem 4. und 18. Dezember 2015 aktiv. Auf mehr als 200 Veranstaltungen warben sie dafür, sich mit Briefen an Regierungen dafür einzusetzen, dass gewaltlose politische Gefangene freigelassen und Unrecht beendet wird, oder persönliche Nachrichten an Häftlinge und Menschen in Not zu adressieren. Auch viele Schulen nahmen an der Aktion teil. Lehrerinnen und Lehrer bauten den Briefmarathon in ihren Unter-
Doppelt diskriminiert. Diskussion in Berlin.
Foto: Grzegorz Żukowski / Amnesty Polen
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Mehr als drei Millionen Briefe weltweit. Amnesty-Aktivistin in Warschau.
»Queer Roma – wie lebt es sich als Minderheit in der Minderheit?« Unter diesem Titel schilderten zwei Mitglieder der Initiative »Queer Roma« am 12. Dezember 2015, was es bedeutet, Romni und Rom und zugleich nicht heterosexuell zu sein. Fast immer käme es aufgrund der einen oder der anderen Zugehörigkeit zu Diskriminierung, berichtete Gianni Jovanovic aus seinem Alltag. QueerAmnesty Berlin und die AntirassismusGruppe Berlin hatten die sehr gut besuchte Veranstaltung im temporären Berliner »Aktionsraum für Menschenrechte« organisiert.
iMpreSSuM Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 E-Mail: info@amnesty.de Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redak tion Amnesty Journal, Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, E-Mail: journal@amnesty.de Adressänderungen bitte an: info@amnesty.de Redaktion: Markus N. Beeko, Jessica Böhner, Andreas Koob, Anton Landgraf (V.i.S.d.P.), Ramin M. Nowzad, Katrin Schwarz
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Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit lbrecht, Daniel Bax, Bernd Beier, TheA resa Breuer, Selmin Çalışkan, Amke Dietert, Julia Gerlach, Jürgen Gottschlich, Leila Josua, Wiebke Judith, Georg Kasch, Jürgen Kiontke, Elisabeth Lehmann, Alexandra Mankarios, Ralf Rebmann, Wera Reusch, Andrzej Rybak, Mia-Sophie Scheurmann, Uta von Schrenk, Maik Söhler, Wolf-Dieter Vogel, Elisabeth Wellershaus, Elke Wittich, Marlene Zöhrer Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck: hofmann infocom, Nürnberg Vertrieb: Carnivora Verlagsservice, Berlin
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ISSN: 2199-4587
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