Amnesty Journal Februar/März 2014: "Gefährliche Liebe"

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das magazin fÜr die menschenrechte

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amnesty journal

gefährliche liebe homophobie und diskriminierung in afrika

02/03

2014 februar/ märz


„JEMAND MUSS ES TUN.“ Die Rechtsanwältin Alice Nkom setzt sich trotz massiver Bedrohungen seit Jahren für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender und Intersexuellen in Kamerun ein. Unterstützen Sie ihren Einsatz. Unterschreiben Sie die beiliegende Petition und sammeln Sie drei weitere Unterschriften.

Setzen Sie sich mit uns für die Menschenrechte in Kamerun ein. www.amnesty.de/kamerun

© Amnesty International / Toby Binder

LIEBE IST KEIN VERBRECHEN


Anton Landgraf ist Redakteur des Amnesty Journals

Foto: Mark Bollhorst / Amnesty

editorial

Verlieben Verboten ‌ ‌ eine Geste oder eine Nachricht kann in vielen Ländern schon genĂźgen, um harte Sanktionen zu riskieren. So werden in Staaten wie Kamerun oder Uganda Homosexuelle nicht nur im Alltag verfolgt und diskriminiert, sondern mĂźssen auch die Staatsgewalt fĂźrchten. Ihnen drohen Gefängnisstrafen oder, wie beispielsweise im Sudan, sogar die Todesstrafe. Immer wieder stacheln Medien und Politiker zum Hass auf. Die Folgen sind fatal, wie im Fall des kamerunischen Journalisten und Aktivisten Eric Ohena Lembembe, der im Juli des vergangenen Jahres ermordet wurde. Menschen wie die Anwältin Alice Nkom aus Kamerun kämpfen seit Jahren gegen diese brutale Form der Diskriminierung an. Obwohl auch sie immer wieder bedroht wurde, setzt sie sich erfolgreich vor Gericht fĂźr die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender und Transsexuellen ein und unterstĂźtzt inhaftierte Mandanten im Gefängnis. FĂźr ihren auĂ&#x;ergewĂśhnlichen Einsatz wird sie von der deutschen Sektion von Amnesty International mit dem Menschenrechtspreis 2014 ausgezeichnet. Ein wichtiges Ziel von Alice Nkom ist die Abschaffung des Artikel 347a des kamerunischen Strafgesetzbuchs, der sexuelle Handlungen zwischen gleichgeschlechtlichen Personen mit bis zu fĂźnf Jahre Haft ahndet. Dieser Ausgabe ist eine Petition beigefĂźgt, die die Abschaffung dieses Gesetzes fordert, das auch den internationalen Menschenrechtsverpichtungen sowie der Verfassung Kameruns widerspricht. Auch Sie kĂśnnen Alice Nkoms Einsatz unterstĂźtzen, indem Sie diese Petition unterzeichnen. Eine andere Form der UnterstĂźtzung hat die international renommierte KĂźnstlerin Rosemarie Trockel gewählt: Sie gestaltete das Cover des Amnesty Journals mit zwei unterschiedlichen Motiven, die sich mit dem Recht auf die eigene sexuelle Identität auseinandersetzen. Die KĂźnstlerin stellt beide Arbeiten Amnesty zur VerfĂźgung. Die Cover kĂśnnen als exklusive, limitierte und signierte GraďŹ kedition erworben werden (siehe auch Seite 68). Nicht zuletzt gibt es noch eine schĂśne Nachricht in eigener Sache: Das Amnesty Journal erhielt beim 5. International Corporate Media Award im vergangenen Dezember eine Auszeichnung in Silber fĂźr Âťausgezeichnetes Konzept und DesignÂŤ. In den vergangenen Jahren erhielt das Journal bereits Auszeichnungen in Gold und Bronze.

editorial

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inhalt

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thema 19 ÂťIch liebe Dich!ÂŤ Von Rupert Haag

20 Die Pionierin

Titelbilder: Rosemarie Trockel, ÂťSelf InspectionÂŤ, 2014 / ÂťSixteen CandlesÂŤ, 2014. Siehe auch Seite 68. Copyright: Rosemarie Trockel, VG Bild-Kunst, Bonn 2014 Courtesy SprĂźth Magers Berlin London

rubriken 06 Weltkarte 07 Erfolge 10 Panorama 12 Nachrichten 13 Interview: TomĂĄs GonzĂĄlez 15 Kolumne: Keno Verseck 61 Rezensionen: BĂźcher 62 Rezensionen: Film & Musik 66 Aktiv fĂźr Amnesty 67 Selmin ÇalÄąĹ&#x;kan Ăźber Ermittlungssache Mali

Alice Nkom setzt sich seit Jahren in Kamerun fĂźr die Rechte von Menschen ein, die wegen ihrer sexuellen Orientierung verfolgt werden. DafĂźr wird sie mit dem Menschenrechtspreis der deutschen AmnestySektion ausgezeichnet. Von Uta von Schrenk

24 Gefährliche Liebe Beziehungen von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender und Intersexuellen (LGBTI) stehen in vielen Regionen der Welt unter Strafe. So auch in Kamerun. Von Franziska Ulm-DßsterhÜft und Wiltraud von der Ruhr

27 Mehr Toleranz Die Organisation zur Verteidigung der Rechte homosexueller Menschen fĂźhrt in Kamerun einen schwierigen Kampf. Von Arne Kouker

28 Verlieben verboten In zahlreichen afrikanischen Staaten drohen Homosexuellen harte Strafen.

30 Auf diesem schmalen Grad lebe ich mein Leben Kasha Nabagesera ist Menschenrechtsaktivistin in Uganda. Ihr Engagement bringt sie selbst in Gefahr, denn Homosexualität steht in Uganda unter Strafe.

32 Die Angst vor dem Anderssein Sßdafrika besitzt eine der modernsten Verfassungen der Welt. Dennoch sind Diskriminierung und Gewalt gegen Schwule und Lesben alltäglich. Von Martina Schwikowski

Fotos oben: Toby Binder (2) | Bridgette Auger | Senator Film

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berichte

kultur

38 Flucht in die Krise

54 ÂťMandela war kein HeiligerÂŤ

Wegen des Bßrgerkriegs in Syrien fliehen unzählige Menschen in den Libanon. Die sozialen Spannungen zwischen der BevÜlkerung und den Flßchtlingen nehmen zu. Von Cigdem Akyol

42 FĂźr sich selbst sprechen Israel ist ein Einwanderungsland, doch nicht-jĂźdische Migranten haben es schwer. Amnesty-Aktivisten helfen den FlĂźchtlingen, sich selbst fĂźr ihre Rechte einzusetzen. Von Ferdinand Muggenthaler

44 Albtraum Stadionbau In Katar arbeiten asiatische Migranten unter menschen unwĂźrdigen Bedingungen an den neuen Stadien fĂźr die FuĂ&#x;ball-WM 2022. Von Ali Al-Nasani

46 Ohne Vertrauen geht es nicht Mali befindet sich in der schwersten Menschen rechts krise seit seiner Unabhängigkeit. Ende November reiste eine Amnesty-Delegation in das westafrikanische Land, um der Zivilgesellschaft den RĂźcken zu stärken. Von Selmin ÇalÄąĹ&#x;kan

50 Botschafter des Gewissens Der gemeinsame Kampf fßr Gerechtigkeit und Menschenrechte vereinte Amnesty International und Nelson Mandela. Doch auch die Diskussion um das Thema Gewaltlosigkeit prägte lange Zeit das Verhältnis. Von Ingo Jacobsen

inhalt

Der Film ÂťMandela – Der lange Weg zur FreiheitÂŤ setzt SĂźdafrikas Freiheitshelden ein Denkmal – in Form einer Liebesgeschichte. Ein Gespräch mit dem Regisseur Justin Chadwick

56 Das Who-is-Who der TĂśtungsindustrie Von 9/11 zum Drohnenkrieg: Zwei Neuerscheinungen sichten die drastischen Veränderungen in der bewaffneten US-AuĂ&#x;enpolitik der vergangenen 15 Jahre. Sie kommen zum Ergebnis, dass Geheim dienste und Teile des Militärs auf Menschenjagd sind. Von Maik SĂśhler

58 ZerstĂśrung und Rebellion Die Istanbuler Hip-Hop-Band Tahribad-Äą Isyan singt gegen Gentrifizierung, Vertreibung und neoliberale Politik an. Von Ralf Rebmann

60 ÂťDie Peitsche verstehen sie immerÂŤ Mit ÂťKongoÂŤ liegt Joseph Conrads Imperialismus klassiker ÂťHerz der FinsternisÂŤ nun auch als Graphic Novel vor – famos realisiert in Schwarz-WeiĂ&#x;-Bildern, die an Grausamkeit nicht sparen. Von Maik SĂśhler

63 Revolution der Farben und Formen Der Regisseur Marco Wilms hat die ägyptische Revolution gefilmt. Art War ist das farbenfrohe und zugleich traurige Dokument des Arabischen Frßhlings. Von Jßrgen Kiontke

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usa

syrien

sÜdkorea

Vor zwölf Jahren wurden die ersten Männer im US-Gefangenenlager Guantánamo auf Kuba inhaftiert. Anlässlich des Jahrestags am 11. Januar forderte Amnesty International die US-Behörden auf, alle Häftlinge freizulassen oder sie in einem fairen Verfahren vor ein Zivilgericht zu stellen. Obwohl US-Präsident Barack Obama bereits im Wahlkampf 2008 versprochen hatte, das Lager zu schließen, sind dort noch immer 155 Männer inhaftiert. Die überwältigende Mehrheit der Gefangenen wurde nie eines Verbrechens angeklagt. Aus Verzweiflung über ihre aussichtlose Lage sind im vergangenen Jahr mehr als 100 Häftlinge in den Hungerstreik getreten.

Der syrische Präsident Assad wird für schwere Verbrechen im Bürgerkrieg verantwortlich gemacht. In einem neuen Bericht wirft Amnesty aber auch den Rebellen Gräueltaten vor. Die ultrareligiöse Miliz ISIS (»Islamischer Staat in Irak und Syrien«), die Gebiete im Norden Syriens kontrolliert, setzt ihre Vorstellung von islamischem Recht mit brachialen Mitteln durch: Schon wer öffentlich eine Zigarette raucht oder die Herrschaft der Islamisten in Frage stellt, muss fürchten, von ISIS-Kämpfern verschleppt, gefoltert oder gar hingerichtet zu werden. Die Rebellen halten Dutzende Menschen in geheimen Kerkern gefangen, selbst Kinder werden dort mit Peitschenhieben und Elektroschocks gequält.

Südkorea muss seine Polizeikräfte stärker kontrollieren und die Rechte streikender Arbeiter respektieren. Dies forderte Amnesty International, nachdem Ende Dezember in Südkoreas Hauptstadt Seoul Tausende Polizisten die Zentrale des Gewerkschaftsdachverbands KCTU gestürmt und rund 130 Gewerkschafter festgenommen hatten. Die Polizisten setzten Tränengas ein, mehrere Streikende wurden verletzt. Südkoreas Eisenbahner waren Anfang Dezember für drei Wochen in den Streik getreten, weil sie der Regierung vorwarfen, die staatliche Eisenbahngesellschaft KORAIL privatisieren zu wollen.

Ausgewählte Ereignisse vom 19. Dezember 2013 bis 11. Januar 2014

tunesien Drei Jahre nach dem Sturz von Diktator Ben Ali will Tunesien die Gleichheit von Mann und Frau in seiner neuen Verfassung festschreiben. Anfang Januar beschloss Tunesiens Nationalversammlung mit breiter Mehrheit einen entsprechenden Artikel: »Alle männlichen und weiblichen Staatsbürger haben dieselben Rechte und Pflichten. Vor dem Gesetz sind sie gleich, ohne Benachteiligung«, heißt es in Artikel 20 des Verfassungsentwurfs. Damit hat das Land zum ersten Mal in seiner Geschichte Frauenrechte verfassungsmäßig verankert. Amnesty hatte jedoch vor der Abstimmung kritisiert, dass in der Passage nur von »Staatsbürgern« die Rede sei. Das Gleichheitsprinzip müsse auch für Ausländer gelten.

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indien

malaysia

Ein großer Sieg für einen kleinen Stamm: Auf dem Land der Dongria Kondh, einer indigenen Bevölkerungsgruppe im Osten Indiens, werden keine Rohstoffe abgebaut. Dies hat das indische Umweltministerium Anfang Januar verkündet. Damit geht ein jahrzehntelanger Streit zu Ende: Das britisch-indische Unternehmen »Vedanta« wollte in den Niyamgiri-Hügeln im Bundesstaat Odisha eine Mine zum Abbau des Aluminiumerzes Bauxit errichten. Doch die Indigenen betrachten die Hügel als heiliges Land. Das Oberste Gericht Indiens hatte den Stammesbewohnern bereits im April 2013 den Rücken gestärkt, nun wurde das Minenprojekt offiziell gestoppt. Amnesty hatte sich seit Jahren für die Rechte der Dongria Kondh eingesetzt.

Die malaysische Regierung hat angekündigt, die Menschenrechtskoalition »COMANGO« zu verbieten. »COMANGO« ist ein Netzwerk, dem 54 malaysische Nichtregierungsorganisationen angehören. Das Innenministerium des Landes begründet das Verbot unter anderem damit, dass die Mehrzahl der NGOs »unislamisch« sei. Der Islam ist in dem südostasiatischen Land Staatsreligion. Amnesty International hat das Vorgehen der malaysischen Regierung scharf kritisiert. »Offenbar wollen die Behörden missliebige Stimmen zum Schweigen bringen«, sagte Amnesty-Expertin Hazel Galang-Folli. »Besonders bedenklich ist, dass religiöse Hardliner inzwischen zum Stichwortgeber der Regierung geworden sind.«

amnesty journal | 02-03/2014


Foto: Mugur Vărzariu

erfolge

Leben im Mßll. Jugendliche Roma im Industriegebiet Pata Rât.

Âťsignal fĂœr ganz rumänienÂŤ Seit drei Jahren leben sie am Rande einer MĂźllhalde: Im Dezember 2010 waren in der rumänischen Stadt Cluj-Napoca rund 300 Roma von den BehĂśrden gezwungen worden, ihre Wohnungen zu verlassen und in eine Container-Anlage neben der städtischen MĂźlldeponie zu ziehen. Nun hat ein rumänisches Gericht entschieden, dass diese Zwangsumsiedlung illegal war. Die städtischen BehĂśrden mĂźssen die Betroffenen finanziell entschädigen und ihnen menschenwĂźrdige UnterkĂźnfte zur VerfĂźgung stellen, befanden die Richter. Das Urteil ist allerdings noch nicht rechtskräftig. Amnesty begrĂźĂ&#x;te die Entscheidung. Die Menschenrechtsorganisation hatte sich seit drei Jahren fĂźr die Rechte der zwangsumgesiedelten Roma stark gemacht, weltweit appellierten mehr als 100.000 Amnesty-Aktivisten mit Briefen an die rumänischen BehĂśrden. ÂťDas Urteil sollte in ganz Rumänien als Signal verstanden werden: Es ist nicht hinnehmbar, dass Roma als BĂźrger zweiter Klasse behan-

sĂœdkorea liefert kein tränengas mehr an bahrain

Auf Druck von Amnesty und anderen Menschenrechtsorganisationen hat Sßdkorea angekßndigt, in Zukunft kein Tränengas mehr an den Golfstaat Bahrain zu liefern. Die sßdkoreanischen BehÜrden sollten fßr diesen Schritt gelobt werden, sagte Brian Wood, Waffen- und Rßstungsexperte von Amnesty International. Sßdkorea sendet damit ein klares Signal an die Machthaber Bahrains, dass die gewaltsame Unterdrßckung der friedlichen Protestbewegung nicht hinnehmbar ist. Andere Staaten sollten Sßdkoreas Beispiel folgen. Seit rund drei Jahren gehen in dem

erfolge

delt werdenÂŤ, sagte Amnesty-Expertin Jezerca Tigani. Die zwangs umgesiedelten Roma lebten vor ihrer Vertreibung mitten im Zentrum von Cluj-Napoca, einer der lebendigsten und bevĂślkerungsreichsten Städte Rumäniens. Manche Familien wohnten seit mehr als zwanzig Jahren in ihrem Viertel, sie hatten dort Zugang zu Arbeitsplätzen, Ăśffentlichen Verkehrsmitteln, Schulen und Arztpraxen. Die BehĂśrden hatten die Betroffenen im Voraus nicht Ăźber die Räumungspläne in Kenntnis gesetzt. Den Bewohnern blieb nur ein Tag, um ihr gesamtes Hab und Gut zu packen und auszuziehen. Die Mehrzahl der Familien wurde im Industriegebiet Pata Rât angesiedelt, das bekannt ist fĂźr die städtische MĂźllhalde und eine chemische Abfalldeponie. In den neuen UnterkĂźnften leben bis zu elf Menschen auf 18 Quadratmetern, es gibt weder GasanschlĂźsse noch warmes Wasser. DreiĂ&#x;ig umgesiedelte Familien blieben obdachlos. Sie bauten sich schlieĂ&#x;lich NotunterkĂźnfte aus Abfallmaterial.

autoritär regierten KĂśnigreich Bahrain Menschen auf die StraĂ&#x;e, um fĂźr Freiheitsrechte, politische Mitbestimmung und bessere Lebensbedingungen zu demonstrieren. Die bahrainischen Sicherheitskräfte setzen routinemäĂ&#x;ig Tränengas gegen die Protestierenden ein, dabei kam es bereits zu Todesfällen. Nach Informationen von Amnesty International liefern mindestens zehn Staaten Reizgase und andere RĂźstungsgĂźter an Bahrain, unter anderem Belgien, Brasilien, Frankreich, GroĂ&#x;britannien, Spanien, Schweiz, die USA – und auch Deutschland.

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Foto: Sergey Ponomarev / laif

Endlich in Freiheit. Die beiden ÂťPussy RiotÂŤ-Aktivistinnen Maria Aljochina (links) und Nadeschda Tolokonnikowa vor dem Kreml.

Âťpussy riotÂŤ kämpft weiter Ein 41 Sekunden dauernder Auftritt in einer Moskauer Kirche brachte drei junge Musikerinnen hinter Gitter. Seit Ende vergangenen Jahres sind die Mitglieder der russischen Punkband ÂťPussy RiotÂŤ wieder frei. Amnesty hatte sich zusammen mit vielen Tausenden Menschen weltweit fĂźr sie eingesetzt. Sie werden weiterkämpfen. Daran lieĂ&#x;en die gerade aus dem Straflager entlassenen Musikerinnen Nadeschda Tolokonnikowa und Maria Aljochina bei ihrem ersten Ăśffentlichen Auftritt keinen Zweifel. Sofort nach ihrer Freilassung aus den Arbeitslagern hätten sie sich getroffen, um Ăźber neue Projekte zu sprechen, erklärten die beiden ÂťPussy RiotÂŤ-Sängerinnen auf einer Pressekonferenz in Moskau. KĂźnftig wollen sie vor allem gegen Menschenrechtsverletzungen in russischen Gefängnissen kämpfen. Der Grund fĂźr ihre Verurteilung war ein ÂťPunk-GebetÂŤ gegen den russischen Präsidenten Putin, das Tolokonnikowa und Aljochina gemeinsam mit Jekaterina Samuzewitsch im Februar 2012 in der Moskauer Christ-ErlĂśser-Kathedrale aufgefĂźhrt hatten. Im August 2012 wurden sie daraufhin von einem Moskauer Gericht zu zwei Jahren Haft wegen ÂťRowdytums aus religiĂśsem HassÂŤ verurteilt. Die drei Musikerinnen betrachteten das gesamte Verfahren als politischen Schauprozess. Amnesty stufte sie als gewaltlose politische Gefangene ein, da der Auftritt in der Moskauer Kathedrale eine legitime MeinungsäuĂ&#x;erung war. Während Samuzewitsch etwa zwei Monate nach dem Urteil in einem Berufungsverfahren auf Bewährung entlassen wurde, endete die Zeit im Straflager fĂźr Tolokonnikowa und Aljochina erst am 23. Dezember 2013 und damit lediglich zwei Monate vor dem regulären Entlassungstermin. Sie ÂťprofitiertenÂŤ von einem durch den Kreml initiierten Amnestie-Gesetz, das vom rus-

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sischen Parlament am 18. Dezember verabschiedet wurde. ljochina wertete ihre Entlassung als Ăśffentlichkeitswirksamen A Schachzug von Präsident Putin im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen in Sotschi im Februar 2014. Auch wenn die Amnestie in keiner Weise als positives Signal fĂźr die Entwicklung des russischen Rechtsstaats angesehen werden kann, freut sich Amnesty International, dass die PunkMusikerinnen endlich wieder bei ihren Familien sein kĂśnnen. Amnesty-Aktivisten hatten sich weltweit während der gesamten Haftzeit fĂźr die drei KĂźnstlerinnen eingesetzt. In unzähligen Petitionsschreiben und Solidaritätsaktionen forderten sie eine sofortige Freilassung und Reformen des russischen Rechtssystems. Amnesty war Teil einer globalen Protestbewegung, an der sich Hunderttausende Menschen und viele andere Menschenrechtsorganisationen beteiligten. ÂťAmnesty International dankt den vielen UnterstĂźtzern, die sich Ăźber lange Zeit mit uns beharrlich fĂźr die Haftentlassung eingesetzt haben. Dieses Engagement hat sicher zur vorzeitigen Freilassung beigetragenÂŤ, erklärte Amnesty-Russlandexperte Peter Franck. Auch der zehn Jahre lang inhaftierte Kremlkritiker und ehemalige Ă–lunternehmer Michail Chodorkowski wurde kurz vor Weihnachten freigelassen. Er wurde von Putin begnadigt. Die ÂťPussy RiotÂŤ-Mitglieder äuĂ&#x;erten auf der Pressekonferenz nach ihrer Entlassung sogar die Hoffnung auf eine Âťkonzeptuelle ZusammenarbeitÂŤ mit Chodorkowski. Auch wenn sie, wie sie sagen, das Label ÂťPussy RiotÂŤ aufgeben wollen, wird ihr Kampf gegen Menschenrechtsverletzungen in Russland weitergehen. Text: Thomas Beckmann

amnesty journal | 02-03/2014


einsatz mit erfolg Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen mit Appellschreiben an den ÂťUrgent ActionsÂŤ, den ÂťBriefen gegen das VergessenÂŤ und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz drohende Menschenrechtsverletzungen verhindert und Menschen in Not hilft, zeigen diese Beispiele.

drohende hinrichtung gestoppt saudi-arabien Mabruk bin Ali al-Sai’ari

sollte hingerichtet werden, doch nun darf er wieder hoffen: Der Oberste Gerichtshof Saudi-Arabiens stoppte am 16. Dezember 2013 die Hinrichtung des 41-Jährigen – drei Tage vor dem geplanten Exekutionstermin. Al-Sai’ari war am 14. Januar 2012 wegen Mordes an einem jemenitischen StaatsbĂźrger zum Tode verurteilt worden. Amnesty hatte das Verfahren als unfair bezeichnet. Bis zum heutigen Tag beteuert al-Sai’ari seine Unschuld, obwohl er in VerhĂśren geschlagen und mit Elektroschocks gefoltert wurde. Nachdem al-Sai’aris Anwälte gegen das Urteil Beschwerde eingelegt hatten, ordneten die hĂśchsten Richter des Landes an, dass das Verfahren neu aufgerollt werden mĂźsse. Al-Sai’ari hat seine Freude Ăźber die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs ausgedrĂźckt und den Mitgliedern von Amnesty fĂźr ihren Einsatz gedankt.

deserteurin wieder in freiheit

Weil sie nicht länger fßr ihr Vaterland tÜten wollte, landete Kimberly Rivera im Militärgefängnis. Am 12. Dezember 2013 haben die US-amerikanischen BehÜrden die ehemalige Soldatin vorzeitig

aktiVist auf freiem fuss

Der aus dem SĂźden des Jemen stammende politische Aktivist Khaled alJunaidi ist am 27. November 2013 ohne Anklageerhebung freigelassen worden. Man hatte ihn seit dem 6. November nahezu ohne Kontakt zur AuĂ&#x;enwelt festgehalten. Offenbar brachte ihn sein friedliches politisches Engagement ins Gefängnis. Während seiner Haft durfte er nur einmal fĂźr kurze Zeit einen Verwandten sehen; der Kontakt zu einem Rechtsbeistand wurde ihm gänzlich verwehrt. Khaled al-Junaidi war während seiner Haft in einer kleinen Zelle im Keller des al-Solban-Gefängnisses in Aden untergebracht, in der es weder eine LĂźftung, noch eine Lichtquelle oder eine Toilette gab. Nach-

jemen

Fotos: privat, Keith Beaty / Toronto Star / Getty Images

usa

aus der Haft entlassen. Kimberly Rivera befand sich seit September 2012 in Militärgewahrsam, nachdem sie wegen Fahnenflucht festgenommen worden war. Sie hatte als Obergefreite im Irak-Krieg gedient. Im Jahr 2007 war sie während eines Heimaturlaubs nach Kanada geflßchtet, um dort Asyl zu beantragen. Sie hatte den Entschluss gefasst, aus Gewissensgrßnden nicht länger am Irakkrieg oder an anderen bewaffneten US-Einsätzen teilnehmen zu wollen. In Kanada stellte sie einen Asylantrag, wurde jedoch im September 2012 in die USA abgeschoben, wo man ihr den Prozess machte. Im April 2013 verurteilte sie ein Militärgericht zu zehn Monaten Haft, zudem wurde sie unehrenhaft aus der Armee entlassen. 18 Tage bevor sie freikam, brachte Kimberly Rivera im Gefängnis ihr fßnftes Kind zur Welt.

Darf wieder hoffen. Mabruk bin Ali al-Sai’ari.

erfolge

Aus dem Militärgefängnis entlassen. Kimberly Rivera mit Ehemann und Kindern.

dem sich sein Gesundheitszustand drastisch verschlechtert hatte, wurde seiner Familie gestattet, ihn ins Krankenhaus zu bringen. Dort blieb er zwei Tage lang, um die aus der Haft resultierenden Gesundheitsbeschwerden behandeln zu lassen. Seither befindet er sich wieder bei seiner Familie.

sittlichkeitsVerfahren eingestellt

sudan Weil sie sich in der Ă–ffentlichkeit gekĂźsst haben sollen, mussten zwei sudanesische Menschenrechtsaktivisten Haft und Peitschenhiebe fĂźrchten. Doch nun haben die BehĂśrden die Anklage wegen ÂťanstĂśĂ&#x;igen VerhaltensÂŤ fallengelassen. Die Anwältin Najlaa Mohammed Ali und der Menschenrechtsverteidiger Amin Senada waren am 21. Oktober 2013 in Port Sudan, einer Stadt im Nordosten des Landes, von Sicherheitskräften festgenommen worden. Die bewaffneten Männer beschuldigten Amin Senada, seine Hand auf die Schulter von Najlaa Mohammed Ali gelegt zu haben. Auf der Polizeiwache behaupteten die Polizisten, die beiden Aktivisten beim KĂźssen ÂťgestelltÂŤ zu haben. Amnesty geht davon aus, dass die VorwĂźrfe politisch motiviert waren. Am 2. Dezember stellten die zuständigen Richter das Verfahren aus Mangel an Beweisen ein.

minderjährige gegen kaution frei

bahrain Zwei 13-jährige Jungen sind in Bahrain am 26. Dezember 2013 nach rund drei Wochen Haft gegen Kaution freigelassen worden. Die Cousins Sayed Tameem Majed Ahmad Majed und Sayed Hashim Alwai Ahmad Majed mßssen sich allerdings noch wegen unerlaubter Versammlung und wegen Werfens von Molotowcocktails auf eine Polizeistreife verantworten. Die beiden Jugendlichen waren am 7. Dezember in Bani Jamra, einem Dorf im Nordwesten des Landes, festgenommen und auf die Polizeiwache von al-Budaya in Manama gebracht worden. Beide Jungen sagten aus, sie seien während des VerhÜrs angeschrieen worden. Die Polizisten sollen Sayed Hashim zudem angedroht haben, seinen Kopf mit einer Zigarette zu verbrennen, sollte er den Vorwurf der Unruhestiftung nicht zugeben.

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panorama

Foto: jhphoto / Imaginechina / laif

china: abschaffung der arbeitslager ist reine kosmetik

Die Meldung ging um die Welt: Die Volksrepublik China gab im November bekannt, alle staatlichen Arbeitslager zu schlieĂ&#x;en, in denen seit Jahrzehnten Hunderttausende missliebige Personen ohne Anklage oder Gerichtsurteil willkĂźrlich festgehalten und gefoltert wurden. Doch die ÂťAbschaffungÂŤ der Lager dĂźrfte reine Kosmetik bleiben, denn schon heute gibt es andere Institutionen der Repression. Zu diesem Schluss kommt ein neuer Bericht von Amnesty International. ÂťDie Abschaffung der Lager diente eher dem Zweck, die Ă–ffentlichkeit hinters Licht zu fĂźhrenÂŤ, sagte Amnesty-Expertin Corinna-Barbara Francis. ÂťDie Politik, auf der das Lagersystem beruht, hat sich nicht geändert: eine Politik, die darauf abzielt, Menschen fĂźr ihre politischen Aktivitäten oder religiĂśsen Ăœberzeugungen zu bestrafen.ÂŤ Oft werden bisherige Umerziehungslager lediglich umgerĂźstet oder auch nur umbenannt. Einige werden nun als ÂťDrogenrehabilitationszentrenÂŤ bezeichnet, obwohl sie nahezu identisch mit den alten Lagern sind, in denen Häftlinge oft Ăźber Jahrzehnte schwerste Zwangsarbeit verrichten mussten.

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amnesty journal | 02-03/2014


bulgarien: erschreckende zustände in flĂœchtlingslagern

Weil in ihrer Heimat der BĂźrgerkrieg tobt, haben im vergangenen Jahr Tausende Syrer in Bulgarien Schutz gesucht. Doch die Situation der Asylsuchenden ist in dem osteuropäischen Land erschreckend: Es gibt weder ausreichend Lebensmittel noch genĂźgend Sanitäranlagen oder angemessene medizinische Versorgung. In dem grĂśĂ&#x;ten FlĂźchtlingslager des Landes, einer ehemaligen Militärkaserne in der Stadt Harmanli, mĂźssen sich 1.600 Bewohner acht Duschen teilen. Hinzu kommt, dass die FlĂźchtlinge häufig lang andauernden Asylverfahren ausgesetzt sind und von der Polizei immer wieder willkĂźrlich festgenommen werden. Amnesty International fordert daher gemeinsam mit dem FlĂźchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR), dass vorerst keine FlĂźchtlinge mehr nach Bulgarien rĂźckĂźberstellt werden. Laut der sogenannten ÂťDrittstaatenregelungÂŤ dĂźrfen andere EU-Staaten FlĂźchtlinge nach Bulgarien zurĂźckfĂźhren, wenn diese dort erstmals EU-Boden betreten haben. Bulgarien ist mittlerweile die beliebteste Eingangspforte fĂźr FlĂźchtlinge aus dem Nahen Osten, die die EU auf dem Landweg erreichen wollen. Foto: Dmitry Kostyukov / The New York Times / Redux / laif

panorama

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Foto: Mohammed Al-Shaikh / AFP / Getty Images

nachrichten

Minderjährige im Fadenkreuz. Am Rande einer Protestkundgebung im November 2013 schwenken zwei Kinder die bahrainische Nationalflagge.

kinder inhaftiert und gefoltert Seit drei Jahren gehen im arabischen KĂśnigreich Bahrain Menschen auf die StraĂ&#x;e, um Freiheitsrechte und Mitbestimmung einzufordern. Dass die Herrscherfamilie Al Chalifa den Protest brutal niederschlägt, ist hinlänglich bekannt. Doch wie Amnesty nun dokumentiert, schreckt das Regime auch vor Gewalt an Minderjährigen nicht zurĂźck: Die Sicherheitskräfte verschleppen regelmäĂ&#x;ig Kinder, die im Verdacht stehen, an Protesten teilgenommen zu haben. Im Gefängnis werden die Minderjährigen routinemäĂ&#x;ig gefoltert und misshandelt oder es wird ihnen mit Vergewaltigung gedroht, um Geständnisse zu erpressen. Amnesty hat die BehĂśrden aufgefordert, diese inhumanen

bahrain

Praktiken sofort zu stoppen und alle inhaftierten Kinder unverzĂźglich freizulassen. Mindestens 110 Jugendliche im Alter von 16 bis 18 Jahren werden derzeit im Gefängnis ÂťDry DockÂŤ nĂśrdlich der Hauptstadt Manama festgehalten. Den Minderjährigen wird teilweise nicht einmal zugestanden, ihre Familien zu kontaktieren oder mit einem Anwalt zu sprechen. Kinder unter 15 Jahren werden in einem Jugendgefängnis in Bahrains Hauptstadt inhaftiert. Dort werden die Kinder tagsĂźber von Sozialarbeitern betreut, doch nachts – wenn die meisten Misshandlungen stattfinden – Ăźbernehmen Polizisten das Kommando. ÂťDie BehĂśrden scheinen bei der UnterdrĂźckung

erdbebenopfer in haiti Von zwangsräumungen bedroht Vier Jahre ist es her, dass Haiti von einem verheerenden Erdbeben erschßttert wurde. Bis heute leben rund 170.000 Menschen, deren Heime damals zerstÜrt worden waren, in Zelten und Wellblechhßtten. Und noch immer mßssen Tausende Erdbebenopfer selbst um diese provisorischen Unterkßnfte

haiti

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bangen, weil sie sich auf Üffentlichen Plätzen oder Privatgrundstßcken befinden. Bereits in der Vergangenheit haben die BehÜrden des Karibikstaats Zehntausende aus ihren Notunterkßnften gedrängt. Allein in der Zeltstadt Canaan nÜrdlich der Hauptstadt Port-au-Prince sind derzeit 3.000 Familien von neuen

der Oppositionsbewegung nun ganz gezielt Kinder ins Fadenkreuz zu nehmenÂŤ, sagte Said Boumedouha, Nahost-Experte von Amnesty. Ermuntert vom ÂťArabischen FrĂźhlingÂŤ hatte die schiitische BevĂślkerungsmehrheit im FrĂźhjahr 2011 gegen die sunnitische Herrscherfamilie auf begehrt. Zehntausende Demonstranten forderten demokratische Reformen. Die BehĂśrden des Golfstaats schlugen die Proteste blutig nieder – mit militärischer UnterstĂźtzung Saudi-Arabiens und der Vereinigten Arabischen Emirate. Dutzende friedliche Demonstranten kamen ums Leben. Seither kommt es im Land immer wieder zu kleineren Protestkundgebungen.

Zwangsräumungen bedroht, wie Amnesty International am vierten Jahrestag der Naturkatastrophe berichtete. Am 12. Januar 2010 hatte ein Erdbeben der Stärke 7,0 Haiti heimgesucht. Rund 250.000 Menschen kamen dabei ums Leben, mehr als zwei Millionen Menschen wurden obdachlos.

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ÂťWir lassen uns nicht einschĂźchtern!ÂŤ Sein Einsatz bringt ihm regelmäĂ&#x;ig Morddrohungen ein. Seit drei Jahren leitet der FranziskanermĂśnch Bruder TomĂĄs GonzĂĄlez eine Herberge fĂźr Migranten in der Stadt Tenosique im SĂźden Mexikos.

interView

tomĂĄs gonzĂĄlez

Sie suchen ein besseres Leben und finden die HĂślle auf Erden: Hunderttausende Lateinamerikaner versuchen jedes Jahr, illegal in die USA zu gelangen. Doch auf ihrem Weg durch Mexiko werden viele Opfer des organisierten Verbrechens. Der FranziskanermĂśnch TomĂĄs GonzĂĄlez leitet eine Herberge fĂźr FlĂźchtlinge und gerät dabei selbst ins Visier krimineller Banden. Der Weg der FlĂźchtlinge durch Mexiko in die USA gilt als Âťgefährlichste Route der WeltÂŤ. Warum? Unsere Migrantenherberge ÂťLa 72ÂŤ liegt im SĂźden Mexikos, nahe der Grenze zu Guatemala. Hier ist schon die Natur eine riesige Gefahr: Die FlĂźchtlinge mĂźssen den Dschungel durchqueren. Das ist ungemein strapaziĂśs. Es herrschen häufig Temperaturen von mehr als vierzig Grad im Schatten. AuĂ&#x;erdem gibt es jede Menge giftige Tiere: Spinnen, Schlangen und Skorpione. Ist die Natur der grĂśĂ&#x;te Feind der Migranten? Nein. Der grĂśĂ&#x;te Feind des Menschen ist der Mensch. Die Migranten werden auf ihrer Reise durch Mexiko beschimpft, bedroht, ausgeraubt und vergewaltigt. Zudem werden Tausende entfĂźhrt – jedes Jahr verschwinden rund 20.000 Menschen spurlos. Kriminelle Banden verschleppen die Migranten, um LĂśsegeld von deren Familien in der Heimat zu erpressen. Manche FlĂźchtlinge werden aber auch verschleppt, um fĂźr die Drogenkartelle Sklavenarbeit zu verrichten, andere werden gezwungen, sich zu prostituieren. Die Migranten sind fĂźr das organisierte Verbrechen ein lukratives Geschäft. Wer sich nicht fĂźgt, dem drohen Folter und Tod. Sie versuchen, den Migranten zu helfen. Bringen Sie sich damit nicht selbst in Gefahr? Ja, natĂźrlich! Seit wir vor drei Jahren die FlĂźchtlingsherberge ÂťLa 72ÂŤ ins Leben gerufen haben, werden wir bedroht – und

nachrichten

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Foto: Sarah Eick

Âťder grĂśsste feind des menschen ist der menschÂŤ zwar permanent. In unserer Herberge kĂśnnen die Migranten fĂźr ein paar Tage zu Ruhe kommen, ihre Verletzungen behandeln lassen und mit ihren Verwandten telefonieren. Die katholische Kirche betreibt sechzig solcher Herbergen im ganzen Land. Sie sind fĂźr die FlĂźchtlinge die einzigen sicheren Orte auf ihrer Reise durch Mexiko. Dem organisierten Verbrechen ist das natĂźrlich ein Dorn im Auge. Deswegen versucht man, uns ein zuschĂźchtern. Wir werden ständig mit dem Tode bedroht. In manchen Fällen wissen wir sogar genau, wer hinter den Morddrohungen steckt. Warum schreitet die Polizei nicht ein? Mexiko ist fest im WĂźrgegriff der Korruption. Polizisten und Richter werden vom organisierten Verbrechen geschmiert, manche Beamte sind sogar selbst in schwerste Verbrechen verstrickt. Obwohl wir seit Jahren bedroht werden, haben die BehĂśrden kein einziges Verfahren eingeleitet. Wir haben mehrmals Anzeige erstattet, doch die Polizei geht den Hinweisen nicht nach. Ihre Herberge hat einen ungewĂśhnlichen Namen: ÂťDie 72ÂŤ. Warum? Der Name ist in der Tat sehr ungewĂśhnlich. Eigentlich werden Herbergen in Mexiko nach katholischen Heiligen benannt. Wir haben uns fĂźr die Zahl Âť72ÂŤ entschieden, weil wir damit an eine der vielen TragĂśdien unseres Landes erinnern wollen: Im Sommer 2010 wurden in einer Ranch in San Fernando die Leichen von 72 Migranten aufgefunden. Sie waren von ihren EntfĂźhrern hingerichtet worden, weil sie sich geweigert hatten, als Drogenkuriere zu arbeiten. Dass unsere Herberge nun ÂťLa 72ÂŤ heiĂ&#x;t, ist auch ein Signal an das organisierte Verbrechen: Wir lassen uns von eurer Gewalt nicht einschĂźchtern! Fragen: Ramin M. Nowzad

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Unsere gĂźnstige Kleidung kommt andere teuer zu stehen: In Kambodscha verdienen Beschäftigte in der Textilindustrie, mehrheitlich Frauen, umgerechnet 2,30 Euro pro Tag, wenn sie Schuhe, Hosen und Hemden fĂźr westliche Unternehmen wie H&M oder Nike zusammennähen. Mitte Dezember traten rund zwei Drittel der 650.000 kambodschanischen Textilarbeiter fĂźr bessere LĂśhne in den Streik. Mindestens vier bezahlten diesen Kampf mit ihrem Leben, als die Militärpolizei am 3. Januar in einem Vorort der Hauptstadt Phnom Penh das Feuer auf Demonstranten erĂśffnete. Dutzende wurden bei den Ausschreitungen schwer verletzt. Zuvor sollen die Streikenden eine StraĂ&#x;e blockiert und Flaschen und Steine auf Polizisten geworfen haben. Der Vorfall ereignete sich in dem Industriegebiet ÂťCanadia Industrial ParkÂŤ, wo auch Kleidung fĂźr deutsche Firmen wie Puma und Adidas gefertigt wird. ÂťWir fordern, dass die Gewalt gegen Demonstrierende untersucht und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werdenÂŤ, sagte Amnesty-Experte Rubert Abbott. ÂťDie kambodschanische Regierung steht in der Pflicht, ihre Sicherheitskräfte im Zaum zu halten. Es ist nicht das erste Mal, dass der kambodschanische Staat unverhältnismäĂ&#x;ige Gewalt gegen Demonstranten und unbeteiligte Zivilisten einsetzt.ÂŤ kambodscha

Nur einen Tag nach den tĂśdlichen ZusammenstĂśĂ&#x;en eskalierte der Lohnkampf erneut, als die BehĂśrden ein Protestlager in der Hauptstadt auflĂśsten und dabei mit KnĂźppeln und Metallrohren auf die Streikenden losgingen. Durch die anhaltenden Streiks liegt die wichtigste Exportbranche des Landes praktisch lahm. Die Arbeiterinnen und Arbeiter fordern eine Verdopplung ihres Mindestlohns, die Regierung will ihnen aber nur eine Lohnsteigerung von 25 Prozent zugestehen.

FĂźr Ministerpräsident Hun Sen, der das sĂźdostasiatische Land seit 28 Jahren mit harter Hand regiert, stellt die Streikbewegung eine ernste Gefahr dar. Seit den umstrittenen Parlamentswahlen im Juli 2013 ist die innenpolitische Lage in Kambodscha angespannt. Nun haben sich die groĂ&#x;en Gewerkschaften des Landes mit der wichtigsten Oppositionspartei CNRP verbĂźndet, die der Regierung Wahlbetrug vorwirft und Neuwahlen fordert.

Foto: Heng Sinith / AP / pa

munition statt mindestlohn

TĂśdliche ZusammenstĂśĂ&#x;e. Demonstranten flĂźchten vor der Polizei. Phnom Penh, 4. Januar.

Foto: Joe Penney / Reuters

beVĂślkerung auf der flucht

Verbrechen gegen die Menschlichkeit. FlĂźchtlingscamp in Bossangoa.

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zentralafrikanische republik Es ist neben Syrien die grĂśĂ&#x;te FlĂźchtlingskatastrophe unserer Zeit: Als Folge der anhaltenden Kämpfe sind in der Zentralafrikanischen Republik inzwischen rund eine Million Menschen auf der Flucht, wie das Amt des Hohen FlĂźchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) Anfang Januar berichtete. In der Hauptstadt Bangui sind sechzig Prozent der FlĂźchtlinge minderjährig. In dem zentralafrikanischen Binnenstaat kämpfen christliche Milizen gegen das Ăźberwiegend muslimische RebellenbĂźndnis SĂŠlĂŠka. Amnesty International wirft beiden Konfliktparteien Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor, nachdem drei Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation die Lage vor Ort zwei Wochen lang recherchiert hatten. Nach Amnesty-Erkenntnissen zogen in der Hauptstadt Anfang Dezember christliche Kämpfer von TĂźr zu TĂźr und ermordeten rund sechzig Muslime. Als Vergeltung tĂśteten muslimische Rebellen innerhalb von nur zwei Tage fast tausend Menschen. Seit Anfang Dezember sind 1.600 franzĂśsische Soldaten im Einsatz, um das Land gemeinsam mit 4.000 Soldaten der afrikanischen Truppe MISCA zu befrieden.

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kolumne: keno Verseck

Zeichnung: Oliver Grajewski

Roma gehĂśren seit jeher zu den am meisten verfolgten Volksgruppen Europas. Seit einigen Jahren entwickelt diese speziďŹ sche Roma-Feindlichkeit zunehmend neue Ausformungen: Roma aus Osteuropa werden in nie da gewesenem MaĂ&#x;e zum Objekt populistischer Kampagnen etablierter Parteien und Politiker. In Deutschland lauten die Stichworte ÂťArmutsmigrationÂŤ und ÂťSozialmissbrauchÂŤ. Wenn deutsche Politiker diese Termini benutzen, dann mĂźssen sie nicht mehr sagen, wen sie meinen, weil jeder weiĂ&#x;, um wen es geht: in erster Linie um bulgarische und rumänische Roma, die das deutsche Sozialsystem missbrauchen.

populistische kampagne

Zwischen der Stimmungsmache gegen Sozialmissbrauch und der Realität liegen Welten. Tatsächlich existiert das Problem der sogenannten Armutsmigration in westeuropäischen Ländern und auch in Deutschland – allerdings nicht ächendeckend, sondern lediglich in einzelnen Bezirken einiger weniger GroĂ&#x;städte und bei weitem nicht so dramatisch, wie Politiker es ausmalen. Rumänische und bulgarische StaatsbĂźrger – es sind keineswegs nur Roma, die vor der Armut in ihren Heimatländern iehen – beziehen in Deutschland unterdurchschnittlich wenig Hartz-IV-Leistungen und auch unterdurchschnittlich wenig Kindergeld, in den wenigsten Fällen missbräuchlich. In den sogenannten Brennpunkten, darunter Bezirke in Berlin, Dortmund und Duisburg, ist weniger dieser Missbrauch ein Problem als vielmehr die Lebenssituation der Menschen aus Rumänien und Bulgarien: Sie arbeiten zu niedrigsten LĂśhnen, wohnen unter prekärsten Bedingungen, haben meist nur extrem wenig Bildung, meistens keine Krankenversicherung und sprechen kaum Deutsch. Während in solchen Brennpunkten Ăśffentliche Dienste und BehĂśrden oft vĂśllig Ăźberfordert sind und zu Recht mehr UnterstĂźtzung fordern, ist den Initiatoren der Debatte um Armutsmigration jegliche VerhältnismäĂ&#x;igkeit abhanden gekommen: Zehntausende Rumänen und Bulgaren zahlen Beiträge in das deutsche Sozialversicherungssystem ein und Deutschland hat in den vergangenen Jahren in besonderem MaĂ&#x;e von Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien proďŹ tiert. Beispielsweise arbeiten in keinem anderen westeuropäischen Land mehr rumänische Ă„rzte – fĂźr ihre Aus bildung musste Deutschland meistens wenig oder nichts zahlen. Ăœberhaupt gehĂśrt Deutschland zu den groĂ&#x;en Gewinnern des europäischen Erweite rungsprozesses: Deutsche Unternehmen konnten sich im Zuge der EU-Erweiterung lukrative Absatzmärkte in osteuropäischen Ländern, gerade auch in Rumänien und Bulgarien erschlieĂ&#x;en, Rumänien ist angesichts niedriger Lohnkosten zu einem Lieblingsstandort deutscher Branchen wie der Automobilzulieferer geworden und Tausende Rumänen und Bulgaren arbeiten hierzulande auf Feldern, in Schlachtereien oder auf dem Bau zu miserablen StundenlĂśhnen. Dass Deutschland in diesem MaĂ&#x;e von der EU-Erweiterung proďŹ tieren konnte, hat seinen Ursprung in dem bisher vielleicht glĂźcklichsten Jahr der europäischen Geschichte: im Jahr 1989, in dem der Eiserne Vorhang und die Mauer ďŹ elen. Genau ein Vierteljahrhundert ist seitdem vergangen. Aus Anlass dieses Jubiläums wird in den kommenden Monaten mit vielen Festakten daran erinnert werden. Es wird auch daran erinnert werden, im Zeichen welcher Grundwerte Europa zusammenfand: Freiheit und Solidarität – auch heute noch die hĂśchsten Werte der EU. Dass nun dieses Jubiläumsjahr ausgerechnet mit einer populistischen Debatte Ăźber Armutsmigration beginnt, dass die Forderung erhoben wird, die FingerabdrĂźcke angeblicher Sozial betrĂźger zu registrieren und Einreisesperren fĂźr sie zu errichten, dass die Roma, Europas grĂśĂ&#x;te Minderheit, zu einem Synonym fĂźr Sozialmissbrauch und Kriminalität geworden sind, ist traurig, unwĂźrdig, schäbig und zynisch. Keno Verseck lebt als freier Journalist und Osteuropa-Spezialist in Berlin. 2012 arbeitete er in Berlin in einem Projekt zur UnterstĂźtzung hilfsbedĂźrftiger Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien.

nachrichten

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kolumne

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Thema: LGBTI in Afrika

In zahlreichen Ländern werden Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Intersexuelle verfolgt, bedroht und misshandelt. Einige afrikanische Staaten ahnden die gleichgeschlechtliche Liebe mit langjährigen Haftstrafen oder sogar mit Schlimmerem. Doch es gibt auch Zeichen der Hoffnung: So kämpft in Kamerun die Anwältin Alice Nkom mutig und erfolgreich gegen Intoleranz und Diskriminierung.

Zeichen der Hoffnung. LGBTI-Aktivist, der anonym bleiben will. Foto: Toby Binder

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Öffentliche Bekenntnisse sind gefährlich. Straßenszene in Douala, Kamerun.

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Foto: Toby Binder

»Ich liebe Dich!«

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Ein Satz, der für die meisten von uns mit Gefühlen wie Freude, Glück und Hoffnung verbunden ist. Für viele Menschen bedeutet er aber Angst, Schrecken und Scham. Wegen einer SMS an einen Bekannten, in der dieser Satz stand, wurde der kamerunische Student Jean-Claude Roger Mbede zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Seit Jahren nimmt die Verfolgung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender und Intersexuellen (LGBTI) in Kamerun, aber auch in anderen afrikanischen Ländern zu. Die Atmosphäre ist geprägt von Hasskampagnen in den Medien, Diskriminierung durch Regierungen und Behörden und Ausgrenzung durch das alltägliche Umfeld. Die Betroffenen fühlen sich gehetzt und allein gelassen, oft werden sie von ihren Familien verstoßen. Doch gibt es auch Zeichen der Hoffnung. In Kamerun ist die Rechtsanwältin Alice Nkom eine der wenigen, die sich unermüdlich und aufopferungsvoll für die Rechte von LGBTI einsetzen. Dafür erhält sie im März den 7. Menschenrechtspreis von Amnesty International in Deutschland. Auch in anderen Ländern des afrikanischen Kontinents engagieren sich mutige Menschen für die Einhaltung der Menschenrechte von Homosexuellen. In Uganda kämpft die Aktivistin Kasha Nabagesera unter Einsatz ihres Lebens gegen die Diskriminierung von LGBTI. Dort soll ein Gesetz in Kraft treten, mit dem Homosexuelle noch massiver verfolgt würden. In Südafrika nimmt der Hass auf Schwule und Lesben drastisch zu und gipfelt in sogenannten Hassmorden – dabei hat das Land die modernste Verfassung der Welt. Doch auch in Europa werden Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Intersexuelle noch immer verfolgt und diskriminiert. In Bulgarien beispielsweise steigt die hassmotivierte Gewalt an. So wurde in Sofia der Medizinstudent Mihail Stoyanov ermordet, weil er für schwul gehalten wurde. Und selbst in Deutschland werden Transgender und Intersexuelle durch die Gesetzgebung diskriminiert. Weltweit setzen sich Einzelpersonen und NGOs gegen Diskriminierung und Verfolgung von LGBTI ein. Sie zu unterstützen und in ihrem Kampf zu begleiten, ist eine Herausforderung für uns alle. Rupert Haag ist Sprecher der Sektionsgruppe Queeramnesty.

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Die Pionierin Alice Nkom setzt sich seit Jahren in Kamerun für die Rechte von Menschen ein, die wegen ihrer sexuellen Orientierung verfolgt werden. Für ihren außergewöhnlichen Einsatz und ihren Mut wird sie mit dem Menschenrechtspreis der deutschen Sektion von Amnesty International ausgezeichnet. Von Uta von Schrenk (Text) und Toby Binder (Fotos)

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in weiß gekacheltes Bürogebäude in Bonanjo, dem ältesten Stadtteil von Douala, Kamerun. Von hier aus, an dem Delta des Flusses Wouri, wurde das Land kolonisiert, in der Nähe liegt der Hafen und das Gerichtsgebäude der Provinz Littoral, im zuckrigen Kolonialstil. Das Gebäude, in dem Alice Nkoms Anwaltskanzlei liegt, ist eher nüchtern, modern, schnörkellos. Wer nun ein aufgeräumtes, sachliches Büro erwartet, sieht sich enttäuscht. Auf Alice Nkoms Schreibtisch herrscht kreatives Chaos. Papierstapel, Fotos von ihr und ihren Klienten, Fachbücher – kein Fleckchen ist ungenutzt. Hier wird gearbeitet und es gibt offensichtlich genug zu tun. Alice Nkom ist 68 Jahre alt, ein erstaunliches Alter in einem Land, in dem die Lebenserwartung für Frauen bei 52 Jahren liegt. Ihre Haut aufzuhellen, wie es bei Kameruner Upper-Class-Frauen en vogue ist, würde ihr nicht einfallen. Im Gegenteil, sie trägt die traditionelle Kameruner Robe, die Kaba Ngondo, mit passend gemustertem Kopfschmuck und landestypischen Glasperlenarmreifen, dazu Perlenkette und dezentes Make-up. Alles in allem eine Dame, Respekt gebietend, was ihr bei Auftritten vor Gericht sicherlich von Nutzen sein dürfte. Die Anwältin residiert zwischen ihren Papierbergen, sie ist hier die Autorität, dabei jedoch ausgesprochen vergnügt und zugewandt, umgeben von einem halben Dutzend junger Mitarbeiter, die sie ehrerbietig mit »Mom« ansprechen und ihr die Tür aufhalten, wenn sie mit dem Auto vorfährt. Diese wenigen Quadratmeter voller Akten, Fällen, Rechtstexten und den Geschichten ihrer Mandanten sind ihr Terrain. Ein düsteres Terrain, leider. Und eines, das Alice Nkom gründlich aufzuhellen sich vorgenommen hat. Dazu gehört derzeit auch die Bearbeitung folgenden Falles: Zwei junge Männer gehen in einer Kneipe in Yaoundé etwas trinken. Nun sitzen sie im Zentralgefängnis und ein Polizeiarzt hat ihnen seinen Finger in den Anus eingeführt, um zu »prüfen«, ob die Körperöffnung für sexuelle Praktiken genutzt wurde. Seit nunmehr einem Jahrzehnt setzt sich Alice Nkom für das Recht lesbischer, homosexueller, bisexueller, transsexueller und intersexueller Menschen (kurz LGBTI) in Kamerun ein, ihr Intimleben so leben zu dürfen, wie sie es für gut halten. Doch es gibt eine Kennziffer, die ein solches Leben im Einklang mit der

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Die andere Stimme Kameruns. Alice Nkom unterwegs zu einem Arbeitstermin

eigenen sexuellen Orientierung in diesem Land unmöglich macht: 347 a. Dieser Artikel des kamerunischen Strafgesetzbuches von 1972 sorgt dafür, dass jeder, der sexuelle Beziehungen zu Personen des eigenen Geschlechts unterhält, zu »einer Gefängnisstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren und einer Geldstrafe von 20.000 bis zu 200.000 CFA-Franc« verurteilt wird. 347 a sorgt dafür, dass mehr als hundert Menschen in fast zehn Städten Kameruns derzeit in Haft sind. 347 a sorgt dafür, dass unzählige Familien ihre Töchter und Söhne verstoßen, sobald deren sexuelle Orientierung bekannt wird. 347 a sorgt dafür, dass Männer aufgrund ihres vermeintlich femininen Äußeren oder Frauen aufgrund ihres vermeintlich maskulinen Auftretens von Nachbarn denunziert und von der Polizei festgenommen werden. Dieser Artikel sorgt dafür, dass »Gewalt gegen Homosexuelle als Akt der Tapferkeit betrachtet wird, der eine heilsame Wirkung für das Gemeinwohl hat«, wie Alice Nkom

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in Douala.

sagt. »Kurz gesagt, die Situation von LGBTI in Kamerun ist geradezu hoffnungslos«, sagt die Anwältin. Der Artikel ist mit den Menschenrechten definitiv nicht vereinbar. Und er ist nicht mit regionalen und internationalen Menschenrechtsabkommen vereinbar, die Kamerun jedoch unterzeichnet hat, darunter den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und die Afrikanische Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker. 347 a muss weg, soviel ist klar, und Alice Nkom sieht ihren Auftrag darin, »dass die Menschenrechte auch für Homosexuelle gelten und dass diese deshalb genauso ein Anrecht auf Schutz haben wie alle anderen Menschen auch und dass ihre Diskriminierung ein Staatsverbrechen ist, ebenso wie Apartheid«. Alice Nkom ist eloquent und gebildet. Wer ihr ein Mikrofon entgegenhält, erhält aus dem Stand ein druckreifes Statement zur politischen und rechtlichen Lage von LGBTI in Kamerun.

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Wer ihr eine Mail schickt, erhält prompt eine elaborierte Analyse der juristischen Situation im Land – auf Französisch, auf Englisch – comme tu veux. Ihre Plädoyers vor Gericht hält sie frei. Keine Selbstverständlichkeit für eine Frau, die mit zehn Geschwistern in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen ist. Aber Selbstverständlichkeiten haben im Leben von Alice Nkom ohnehin nur wenig Platz. Vielleicht ist das auch einer der Gründe dafür, warum sie mit 68 Jahren, in einem Alter, in dem sie sich längst gemächlich ihren zwei Kindern und acht Enkeln widmen könnte, immer noch für die Rechte von Menschen streitet, deren Schicksale nichts mit ihrem eigenen Leben zu tun haben. Alice Nkom, geboren 1945 in Poutkak, einem Dorf 95 Kilometer landeinwärts von Douala entfernt, ist in einer Zeit aufgewachsen, in der noch die Franzosen die Kolonialherren in diesem Teil des Landes waren. Alice, eine außerordentlich gute Schülerin, geht mit einem Jura-Stipendium nach Frankreich

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Mit makellosem Beispiel vorangehen. Morgendlicher Spaziergang in der Nachbarschaft, Alice Nkom in ihrer Wohnung und in Robe vor dem Gerichtsgebäude in Douala.

und beendet ihr Studium in Kamerun. 1969, mit 24 Jahren, wird sie die erste Anwältin ihres Landes. »Als Pionierin muss man alle Herausforderungen annehmen, aber gleichzeitig auch viel Verantwortung übernehmen. Das habe ich schnell gemerkt«, sagt Alice Nkom über die folgenden Jahre. »Sie müssen mit makellosem Beispiel vorangehen, dürfen keinen Fehler machen, null Toleranz, denn von Ihrem Erfolg hängt die Zukunft kommender Generationen ab und ob sie sich von Ihrem Vorbild anstecken lassen.« Sie wird Mitglied einer der renommiertesten Kanzleien des Landes, verteidigt politische und wirtschaftliche Eliten. Aber einfach nur so ihr berufliches Fortkommen zu verfolgen, das kommt für Alice Nkom nicht in Frage. Sie setzt sich für politische Gefangene, Straßenkinder und benachteiligte Frauen ein, gründet »Lady Justice«, ein Projekt, das die Rechte der Frau stärken soll, und RISJI, ein internationales Netzwerk zur Unterstützung unbestechlicher Richter. In mehr als sechzig Fällen hat Alice Nkom bislang Kameruner verteidigt, die der Homosexualität bezichtigt wurden, und in rund fünfzig Fällen konnte sie eine außergerichtliche Lösung für ihre Klienten finden. Und sie wird oft gefragt, was denn der Grund für dieses unermüdliche Engagement sei, ob sie denn selbst lesbisch sei. Eine mehr als schlichte Frage. Als ob ein Arzt selbst krank sein muss, um Menschen heilen zu wollen. Alice Nkom antwortet, wie sie es ihr Berufsleben lang verinnerlicht hat, juristisch formvollendet: Erstens sei es unerheblich, ob sie selbst betroffen sei. Und zweitens bleibe Recht immer Recht, ohne Ansehen der Person. Tatsächlich war es der Besuch von jungen Bekannten aus Frankreich, gebürtigen Kamerunern, der Alice Nkom 2003 zu ihrem ungewöhnlichen Engagement verhalf. Die jungen Männer waren homosexuell, und Alice Nkom hatte die unangenehme Aufgabe, sie eindringlich warnen zu müssen, ihre sexuelle Orientierung nicht auf den Straßen oder in den Clubs Kameruns und auch nicht vor Bekannten und schon gar nicht vor Fremden auszuleben. »Ihre joie de vivre, ihre Lebensfreude, verwandelte sich in Melancholie«, erinnert sich Alice Nkom. »Das traf mich.« Die Betroffenheit wandelt sie jedoch in Engagement, wie sie es schon bei ihrem Einsatz für Frauen getan hatte. Noch im gleichen Jahr gründet sie ADEFHO, die Organisation zur Verteidigung der Rechte homosexueller Menschen. »Als 2005 in einer Kneipe in Yaoundé dreißig Männer festgenommen wurden, habe ich die Gelegenheit ergriffen und verfolgte ihren Prozess. Damit hat meine Arbeit für die Rechte von LGBTI begonnen«, sagt Alice Nkom. Das ist bescheiden ausgedrückt: Schließlich hat sie damals die Vertretung von neun Männern übernommen, die sich einen Anwalt nicht leisten und sich schon gar nicht freikaufen konnten. Ihre bekanntesten Fälle sind die von Jean-Clau-

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de Roger Mbede, der 2011 zu 36 Monaten Gefängnis verurteilt wurde, weil er einem Mann eine SMS geschickt hatte, und der auch von Amnesty unterstützt wurde, sowie der Fall von Jonas Kimie und Franky Ndome Ndome, zwei jungen Transsexuellen, die aufgrund ihrer Erscheinung zunächst zu je fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden waren und im Januar 2013 schließlich freigesprochen wurden – Alice Nkoms erster Erfolg vor dem Kameruner Berufungsgericht übrigens. Bloß keine Fehler. Was Alice Nkom als junge Anwältin in einer Welt von selbstbewussten Männern in schwarzen Roben verinnerlicht hat, ist bei der Arbeit für LGBTI überlebenswichtig. Denn es geht darum, für die Klienten, egal wie, ob durch Kaution oder nur energisches anwaltliches Auftreten, Haft zu vermeiden. In den Gefängnissen ist die Homophobie »hundert Mal stärker als auf der Straße«, weiß Alice Nkom aus den Schilderungen ihrer Klienten. Das musste sie auch gleich bei ihrem ersten Fall lernen. Alim Mongoche, der zusammen mit den dreißig Männern

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»Ich nehme an, dass ich verhaftet werde, aber das wird mich nicht schlaflos machen.« 2011 droht ein Regierungsvertreter Alice Nkom öffentlich mit Verhaftung, nachdem sie Gelder von der EU für ihre Arbeit mit LGBTI angenommen hatte. »Macht euch keine Sorgen um mich«, mailt sie damals ihren Mitstreitern. »Ich nehme an, dass ich in den nächsten Tagen verhaftet werde, aber das wird mich nicht schlaflos machen und in keinem Fall wird es mich von dem abbringen, was wir zusammen begonnen haben. Solche Drohungen zeigen nur, dass unser Kampf weitergehen muss.« Der Justizminister ruft den Rat der Anwaltskammer an, um ihren Ausschluss zu fordern. Alice Nkom erhält Morddrohungen, wahlweise per Mail oder als SMS, am Telefon und selbst schon im Fernsehen, auf dem größten Privatsender des Landes, hat ein Anwaltskollege mit der Bibel in der Hand ihren Tod gefordert. Erst im Juli wurde der Journalist und LGBTI-Aktivist Eric Ohena Lembembe ermordet. »Ich bin mir der Gefahr und der Drohungen bewusst«, sagt Alice Nkom. »Sie belasten mich und ich tue alles, um meine Sicherheit zu gewährleisten.« Was das alles ist? Die internationale Aufmerksamkeit, dass Organisationen wie Amnesty oder Anwälte ohne Grenzen »ein Auge« auf ihre Situation haben, das helfe, und noch so einiges mehr. Wer gefährdet ist, lernt, nicht immer alles zu sagen. in Yaoundé verhaftet worden war, wurde im Gefängnis mehrmals vergewaltigt und dabei mit HIV infiziert. Eine medizinische Behandlung wurde ihm verweigert. Er starb 2006 – nur wenige Tage, nachdem er aus der Haft entlassen worden war. Seither unterstützt Alice Nkom mit ihrer Organisation LGBTI-Häftlinge auch finanziell, damit sie im Gefängnis überleben können. »Sobald sie im Gefängnis sind, bin ich die Einzige, denen sie ihre Probleme anvertrauen können«, sagt Alice Nkom. Damit wurde aus der Anwältin eine Art Handlungsreisende in Sachen LGBTI – die Klienten sind über das ganze Land verteilt. Also reist Alice Nkom mit ihren schmerzenden Füßen, denen zuliebe sie selbst zur Kaba Ngondo nur noch Turnschuhe trägt, dem tropischen Klima und den Unbequemlichkeiten kamerunischer Straßen zum Trotz von Gefängnis zu Gefängnis, um Kontakt zu ihren derzeit elf inhaftierten Mandanten zu halten. Bloß keine Fehler, das gilt seit zehn Jahren nun auch für ihr eigenes Leben. Wer Alice Nkom auf ihrem täglichen Spaziergang durch ihr Wohnviertel begegnet, würde sie kaum erkennen. Das traditionelle Gewand weicht dann einem Jogginganzug, dazu eine Sonnenbrille und ein geflochtener Hut mit tiefer Krempe. Ein junger Mann begleitet sie. Wer sie in ihrer Wohnung mit den schweren Ledermöbeln, der modernen Kunst an den Wänden und den drei Fernsehern – einer für die inländischen Programme, einer für die internationalen Nachrichten und einer fürs Vergnügen – besuchen will, muss erst ein Restaurant passieren. Einen direkten Zugang gibt es nicht. Ist besser so.

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Die Autorin ist Journalistin und lebt in Berlin. Mitarbeit: Toby Binder Diesen Artikel können Sie sich in unserer iPad-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app

menschenrechtspreis 2014 Alice Nkom hat ihr Leben dem Kampf gegen Diskriminierung gewidmet und erhält dafür 2014 den 7. Menschenrechtspreis der deutschen Amnesty-Sektion. Mit dem Preis will die deutsche Sektion von Amnesty International diesen mutigen Einsatz würdigen, die Menschenrechtlerin in ihrer Arbeit unterstützen und besser schützen. Seit 1998 zeichnet Amnesty Persönlichkeiten aus, die sich unter oftmals schwierigen Bedingungen für die Menschenrechte einsetzen. Die Preisverleihung soll nicht nur verschiedene Problemfelder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rücken, sondern auch den Einzelnen dazu anregen, selbst aktiv zu werden. Das Handeln der bisherigen Preisträgerinnen und Preisträger zeigt, dass durch das Engagement eines Einzelnen Veränderungen möglich sind.

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Oft genügt ein bloßer Verdacht, um angeklagt und verurteilt zu werden. Aktivist im Büro von ADEFHO.

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Gefährliche Liebe Beziehungen von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender und Intersexuellen (LGBTI) stehen in vielen Regionen der Welt unter Strafe. Allein in 36 afrikanischen Ländern sind gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen verboten. So auch in Kamerun. Von Franziska Ulm-Düsterhöft und Wiltraud von der Ruhr (Text) und Toby Binder (Fotos)

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ch liebe dich!«, schrieb Jean-Claude Roger Mbede im März 2011 per SMS an einen Freund. Er freute sich über die anschließende Einladung seines Freundes, sich zu treffen. Doch als Jean-Claude bei ihm ankam, wartete schon die Polizei auf ihn, um ihn mitzunehmen. Mehrere Tage lang prügelten Polizisten auf ihn ein und zwangen ihn, sich nackt auszuziehen. Im April 2011 sprach ihn ein Gericht schuldig, gleichgeschlechtliche Beziehungen unterhalten zu haben und verurteilte ihn zu drei Jahren Gefängnis. Der Fall von Jean-Claude Roger Mbede ist kein Einzelfall. Seit 2005 gibt es in Kamerun vermehrt gewalttätige Angriffe auf Personen, die verdächtigt werden, homosexuell zu sein. Sexuelle Minderheiten werden verfolgt und diskriminiert, willkürlich festgenommen und angeklagt. Von der Polizei werden sie misshandelt und ausspioniert und von ihren Familien verstoßen. In den Medien als mutmaßliche Homosexuelle denunziert, sind sie Zielscheiben für Übergriffe. Kameruns Strafgesetzbuch verbietet sexuelle Handlungen mit einer Person des gleichen Geschlechts und sieht bei Verstößen eine Gefängnisstrafe von bis zu fünf Jahren und eine Geldstrafe von umgerechnet etwa 300 Euro vor. In der Praxis wird das Gesetz jedoch wesentlich weiter ausgelegt: Die meisten Personen werden aufgrund eines bloßen Verdachts festgenommen, angeklagt und verurteilt. In kaum einem Fall gibt es Zeugen für die angeblichen sexuellen Handlungen. Derzeit diskutiert die Regierung über eine weitere Verschärfung des Strafmaßes. In den vergangenen zehn Jahren haben Politiker und andere einflussreiche Personen des öffentlichen Lebens Vorurteile gegen sexuelle Minderheiten durch Erklärungen geschürt, in denen sie Homosexualität mit Neokolonialisierung und Kindesmissbrauch gleichsetzten. So teilte das kamerunische Justizministerium Amnesty International 2012 mit, Homosexualität sei »eine unnatürliche Aktivität, mit der die menschliche Fortpflanzung unterbunden werden soll«. Die Kriminalisierung von Homosexuellen und die fortwährenden Hassreden gegen sexuelle Minderheiten, die durch Politik und Medien transportiert werden, sorgen für ein Klima der Angst und dienen der Polizei als Rechtfertigung, um Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Intersexuelle zu inhaftieren, zu demütigen und zu foltern. Personen, die Opfer von Übergriffen werden, sind viel zu verängstigt, um bei der Polizei Schutz zu suchen, da diese selbst an gewaltsamen Angriffen auf sexuelle Minderheiten beteiligt ist. Im Juli 2011 wurden Jonas Singa Kimie und Franky Ndome Ndome vor einem Nachtclub in der kamerunischen Hauptstadt Yaoundé festgenommen. Einige Monate später erhielten sie die

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Höchststrafe für gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen. Fünf Jahre sollten sie im Gefängnis verbringen. Dort waren beide permanent Schikanen durch andere Häftlinge und Gefängniswärter ausgesetzt. Eines Morgens näherte sich eine Gefängniswärterin Franky. Sie nannte ihn »Schwuchtel«. Drei männliche Gefängniswärter kamen dazu und warfen ihn zu Boden. Sie schlugen und traten auf ihn ein. Schließlich zogen sie ihn an den Haaren, die er zu Zöpfen gebunden hatte, und schnitten sie ihm ab. Dann holten die Wärter eine Kette und fesselten seine Hände und Füße aneinander. So setzen sie ihn in die offene Kanalisation des Gefängnisses, wo er mehrere Stunden zwischen Exkrementen in der Sonne ausharren musste. Verzweifelt erzählten Jonas und Franky Amnesty International, dass sie nur festgenommen worden seien, weil sie die falsche Kleidung getragen hatten, nämlich Frauenkleider. Nachdem ihr Berufungsverfahren viermal vertagt wurde, erreichte ihre Anwältin, Alice Nkom, im Januar 2013 den ersten Freispruch in Bezug auf Homosexualität in Kamerun. Kurz nach ihrer Freilassung wurden die beiden jedoch erneut angegriffen, sodass sie sich seither versteckt halten. Die Staatsanwaltschaft hat inzwischen Rechtsmittel gegen den Freispruch eingelegt. Politik und Sicherheitskräfte sind nicht die einzigen, die sich auf einem Kreuzzug gegen sexuelle Minderheiten befinden. Auch die Medien, allen voran die Zeitungen, schüren Vorurteile und Hass gegen Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender oder Intersexuelle. So publizierten die Zeitungen »L’Anecdote« und »Nouvelle Afrique« im Januar 2006 eine Liste mit Namen angeblicher Homosexueller. Obwohl die Herausgeber beider Zeitungen damals wegen Verleumdung zu jeweils vier und sechs Monaten Gefängnis verurteilt wurden, veröffentlichte »L’Anecdote« im Jahr 2012 abermals eine Liste mit Personen in öffentlichen Ämtern, die als homosexuell bezeichnet wurden.

Die Kriminalisierung von Homosexuellen und die Hassreden sorgen für ein Klima der Angst. 25


Angestachelt von Politik und Medien finden immer wieder Übergriffe auf LGBTI statt. Höhepunkt der Verfolgung war der Tod des bekannten kamerunischen Journalisten und LGBTI-Aktivisten Eric Ohena Lembembe, dem Leiter der »Cameroon Foundation for AIDS«. Er wurde am 15. Juli 2013 tot in seinem Haus in Yaoundé aufgefunden. Bekannte Lembembes gaben an, man habe ihm das Genick und die Beine gebrochen. Außerdem wies er Brandmale im Gesicht, auf den Händen und Füßen auf. Bisher wurde niemand für dieses Verbrechen zur Rechenschaft gezogen. Unlängst lehnte der Vertreter Kameruns bei den Vereinten Nationen es ab, für diesen Fall Verantwortung zu übernehmen und erwiderte: »Schauen Sie sich das Leben dieser Person an, und Sie werden verstehen, warum er starb.« Bei den meisten Personen, die wegen homosexueller Beziehungen festgenommen, inhaftiert und strafrechtlich verfolgt werden, handelt es sich um Männer, doch auch Frauen sind von Verfolgung betroffen. Mädchen und Frauen sind in Kamerun völlig unzureichend vor gesellschaftlicher und staatlicher Diskriminierung und Gewalt geschützt. Nach einer Untersuchung des Ministeriums für Frauen- und Familienförderung war im Jahr 2010 ein Fünftel aller Mädchen in Kamerun Opfer von Genitalverstümmelung. Diese ist in Kamerun nicht strafbar. Die Täter – meist Frauen – werden juristisch nicht verfolgt. 2007 kündigte der Justizminister ein Gesetzesvorhaben an, das Genitalverstümmelung verbieten sollte. Bis zum heutigen Tag ist es bei der Ankündigung geblieben. Betroffen sind für gewöhnlich fünf- bis neunjährige Mädchen, aber auch Frauen vor der Hochzeit oder nach der Geburt des ersten Kindes in abgelegenen Gebieten Kameruns.

Die noch weiter verbreitete und nicht strafbare Brustverstümmelung, das sogenannte »Brustbügeln«, bei dem erhitzte Steine über die Brüste von Mädchen gerieben werden, um das Wachstum zu begrenzen und die Mädchen so für Männer unattraktiv zu machen, ist in den großen Städten üblicher. Sie findet meist innerhalb der Familien statt, um die Mädchen vor Vergewaltigungen und sexuellen Kontakten zu schützen. Im Februar 2012 wurden Martine Solange Abessolo und Esther Aboa Belinga unter dem Verdacht festgenommen, lesbisch zu sein. Das Gerichtsverfahren wurde vertagt. Gleichzeitig entschieden die Richter, die beiden Frauen vorläufig freizulassen. Von der Familie geächtet und aus Angst vor Verfolgung entschlossen sich die beiden Frauen, nach Yaoundé zu ziehen. Die Kinder der beiden Frauen wurden jedoch in der Schule immer wieder beschimpft und beleidigt, sodass ihre Mütter sich gezwungen sahen, sie auf eine andere Schule zu schicken. Doch es existieren auch andere Stimmen in Kamerun. Dazu gehört die kamerunische Anwältin Alice Nkom. Die 68-Jährige war die erste schwarze Frau, die in Kamerun als Rechtsanwältin zugelassen wurde. Ursprünglich erlangte sie durch ihren Einsatz gegen die Diskriminierung von Frauen und ihr Engagement in politischen Prozessen Bekanntheit. Ein Treffen mit homosexuellen Kamerunern, die in Frankreich leben, führte im Jahr 2003 zu ihrem Engagement für LGBTI. Sie gründete mit ADEFHO (Organisation zur Verteidigung der Rechte homosexueller Menschen) die erste Nichtregierungsorganisation, die sich um die Rechte sexueller Minderheiten kümmert. Das Team von ADEFHO bietet Opfern von Verfolgung medizinische Behandlung und psychologische Beratung sowie sexuelle Aufklärung und Sicherheitstrainings an. Im Jahr 2006 begann Alice Nkom, gemeinsam mit ihrem Kollegen, Michel Togue, LGBTI vor Gericht zu vertreten. Bis heute hat sie in mehr als fünfzig Gerichtsverfahren Personen verteidigt, denen Homosexualität vorgeworfen wurde. Dabei arbeitet sie in einem Land, in dem die Rechte auf freie Meinungsäußerung und auf Versammlungsfreiheit für Kritiker und Gegner der Regierung stark eingeschränkt sind. Männer und Frauen sind zwar laut Verfassung, nicht aber nach den Gesetzen gleichgestellt. Die Bedingungen in den Gefängnissen des Landes sind häufig lebensbedrohlich. Zudem lässt die Abschaffung der Todesstrafe nach wie vor auf sich warten. Außerdem begünstigt eine generelle Straflosigkeit für Angehörige der Polizei, Gendarmerie und Armee sowie Vertreter der Regierung und Eliten die ständige Verletzung von Menschenrechten. Vor allem Journalisten, Menschenrechtler, Gewerkschaftsmitglieder, Studierende, Oppositionelle und Angehörige der englischsprachigen Minderheit sollen durch willkürliche Festnahmen, unfaire Gerichtsverfahren, Einschüchterung und Schikanen bis hin zu Todesdrohungen und schweren Misshandlungen zum Schweigen gebracht werden. Seit Jahren ignoriert die Regierung die immer wieder gestellte Forderung nach Untersuchungen schwerer Menschenrechtsverletzungen, die zum Beispiel im Februar 2008 bei blutig unterdrückten Unruhen von Sicherheitskräften begangen wurden und deren Opfer vorwiegend Kinder und Jugendliche waren. Auch Alice Nkom erhält aus Politik und Gesellschaft immer wieder Drohungen, die sich ebenso gegen ihre Familie richten. Doch ein Rückzug kommt für die Rechtsanwältin nicht in Frage.

Drohungen aus Politik und Gesellschaft. Straßenszene in Douala.

Franziska Ulm-Düsterhöft ist Afrika-Expertin, Wiltraud von der Ruhr ist Kamerun-Expertin der deutschen Sektion von Amnesty International.

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Mehr Toleranz Foto: Toby Binder

Die Organisation zur Verteidigung der Rechte homosexueller Menschen führt in Kamerun einen schwierigen Kampf. Von Arne Kouker Rückzug kommt nicht in Frage. Im Büro von Alice Nkom.

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m Januar 2013 kam es zu einem Novum in der kamerunischen Geschichte: Erstmals wurden Personen, die homosexueller Handlungen bezichtigt worden waren, vor Gericht freigesprochen. Einen großen Anteil daran hatte die Organisation ADEFHO (Organisation zur Verteidigung der Rechte homosexueller Menschen), die die beiden Angeklagten in ihrem Gerichtsverfahren unterstützt hatte, nachdem sie – wie viele andere Betroffene in dem Land – in Haft schweren Misshandlungen ausgesetzt waren. ADEFHO wurde 2003 von der Rechtsanwältin Alice Nkom als erste kamerunische Organisation zur Unterstützung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender und Intersexuellen (LGBTI) gegründet. Inzwischen besteht sie aus einem Vorstand mit sechs Mitgliedern, einem Büro mit vier festangestellten Mitarbeitern und 16 Mitgliedern, die ehrenamtlich tätig sind. Die Organisation bietet LGBTI nicht nur Rechtsberatung und Verteidigung vor Gericht an, sondern auch medizinische Behandlung, psychologische Beratung, sexuelle Aufklärung, Mediation und Sicherheitstrainings. Grundsätzlich hilft ADEFHO jeder betroffenen Person, unabhängig davon, ob sie für das Angebot etwas bezahlen kann und wo im Land sie lebt. Deshalb nehmen die Mitarbeiter oft lange Reisen auf sich. Häufig gelingt es ihnen, die Beschuldigten bereits aus dem Polizeigewahrsam zu befreien, bevor sie überhaupt vor Gericht gestellt werden. ADEFHO konnte bereits mehr als siebzig Personen helfen, die aufgrund der Vorwürfe in vielen Fällen von ih-

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lgbti in afrika

ren Familien verstoßen wurden. ADEFHO setzt sich für eine tolerantere Gesellschaft ein, weil die Diskriminierung von LGBTI in Kamerun alltäglich ist. Die Betroffenen müssen stets in der Angst leben, nicht nur strafrechtlich verfolgt, sondern auch von ihren Familien getrennt, auf offener Straße beleidigt, erpresst und tätlich angegriffen zu werden. Zur Vorbeugung finden Veranstaltungen innerhalb der LGBTI-Gemeinschaft statt, um die Betroffenen über ihre Rechte aufzuklären. Zusätzlich organisiert ADEFHO Konferenzen, Debatten, Seminare sowie Radio- und Fernsehprogramme, um die Gesellschaft für das Thema zu sensibilisieren. Um gegen die geltenden gesetzlichen Bestimmungen vorzugehen, versucht ADEFHO, einen Fall bis vor den Obersten Gerichtshof zu bringen. Auf diesem Weg will die Organisation die Verfassungsmäßigkeit des Artikels 347 a des kamerunischen Strafgesetzbuches prüfen lassen. Ein solches Verfahren kann sich allerdings über mehrere Jahre hinziehen. Mit ihrer Arbeit schafft sich ADEFHO in Kamerun allerdings nicht nur Freunde. Die Organisation muss in der Öffentlichkeit ihre Worte stets sorgfältig wählen. Vor allem Alice Nkom erhält immer wieder Morddrohungen. Der ehemalige Vizepräsident von ADEFHO wurde bereits auf offener Straße angegriffen, die Rechtsanwaltskanzlei von Nkoms Kollegen verwüstet und ausgeraubt. Der Autor ist Mitarbeiter der deutschen Amnesty-Sektion.

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Verlieben verboten

Tunesien

Marokko

Algerien

Westsahara

In zahlreichen afrikanischen Staaten drohen Homosexuellen langjährige Haftstrafen oder noch Schlimmeres. Mauretanien Mali Niger

Senegal Gambia Burkina Faso GuineaBissau

Guinea Benin Sierra Leone

Côte d’Ivoire Liberia

Ghana

Togo

Im westafrikanischen Senegal drohen Schwulen und Lesben Gefängnisstrafen von bis zu fßnf Jahren. Aber nicht nur die senegalesische Justiz begreift Homosexualität als Unzucht. Wie eine Meinungsumfrage ergab, halten 97 Prozent der Senegalesen gleichgeschlechtliche Liebe fßr inakzeptabel. Schwule und Lesben sind daher auch im Alltag immer wieder Gewalt und Diskriminierung ausgesetzt. Es gibt auch kaum Hoffnung, dass sich die Gesetzeslage in absehbarer Zeit ändert. Erst im vergangenen Jahr bekräftigte Staatspräsident Macky Sall Üffentlich, dass Senegal an der diskriminierenden Gesetzgebung festhalten werde, da die islamisch geprägte Gesellschaft fßr eine Entkriminalisierung noch nicht bereit sei. senegal

Kap Verde

Nigeria

Kamerun

Ă„quatorialguinea Gabun SĂŁo TomĂŠ und PrĂ­ncipe Republik Kongo

nigeria Wer in Nigeria homosexuell ist, muss langjährige Haftstrafen oder Schlimmeres befĂźrchten. Laut Strafgesetzbuch wird gleichgeschlechtlicher Sex mit 14 Jahren Gefängnis bestraft. In der Praxis mĂźssen allerdings homosexuelle Paare bereits mit Konsequenzen rechnen, wenn sie in der Ă–ffentlichkeit ihre Zuneigung zeigen. Nach einem neuen Gesetz machen sich nun auch alle strafbar, die sich fĂźr die Rechte Homosexueller einsetzen – ihnen drohen bis zu zehn Jahre Haft. Im bevĂślkerungsreichsten Land Afrikas sind etwa die Hälfte der Menschen Christen, die andere Hälfte Muslime. In den zwĂślf nĂśrdlichen Bundesstaaten herrscht die Scharia. Männer, die gleichgeschlechtlichen Sex hatten, kĂśnnen dort zum Tod durch Steinigung verurteilt werden.

legende Homosexualität ist legal Homosexualität ist illegal Todesstrafe fßr Homosexuelle

ruanda Das ostafrikanische Ruanda ist eines der wenigen Länder des Kontinents, in denen Homosexualität nicht strafbar ist. Allerdings berichten Schwule und Lesben, dass sie im Alltag häufig belästigt und diskriminiert werden. Zudem kommt es vor, dass Homosexuelle von Polizisten willkßrlich festgenommen werden. Homosexualität ist in dem katholisch geprägten Land gesellschaftlich stark tabuisiert. Sie gilt vielen als Sßnde, andere sehen in ihr eine Krankheit, die aus Europa und den USA importiert wurde und die heimische Gesellschaft korrumpiere. Im Jahr 2009 lehnte das ruandische Parlament eine Gesetzesvorlage ab, die gleichgeschlechtliche Liebe strafbar gemacht hätte. Zuvor hatte der Justizminister Üffentlich erklärt, dass die sexuelle Orientierung Privatangelegenheit jedes Einzelnen sei. Der Gesetzentwurf sah Haftstrafen von fßnf bis zehn Jahren vor.

Quelle: Amnesty International

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sudan Weltweit gibt es sieben Staaten, in denen Homosexuelle die Todesstrafe zu fßrchten haben. Die Republik Sudan ist einer von ihnen. In dem nordostafrikanischen Land ist der Islam Staatsreligion, es herrscht die Scharia. Wer im Sudan als Homosexueller zum ersten Mal mit dem Gesetz in Konflikt gerät, wird in der Regel zu Peitschenhieben und Gefängnisstrafen verurteilt. Bei mehrmaliger Wiederholung droht eine besonders barbarische Strafe: der Tod durch Steinigung. Doch im Sudan fßhlen sich viele Schwule und Lesben vor allem von der Gesellschaft bedroht. Viele Homosexuelle reden mit Freunden und Familienmitgliedern nicht ßber ihre sexuelle Orientierung. Sie fßrchten, stigmatisiert und ausgegrenzt sowie Opfer von Gewalt zu werden.

Libyen Ă„gypten

Sudan Eritrea

Tschad

Dschibuti

Somalia Ă„thiopien

kenia In Kenias Hauptstadt Nairobi hat sich in den vergangenen Jahren eine rege Homosexuellenszene entwickelt. Gleichgeschlechtliche Liebe bleibt dennoch in weiten Teilen des Landes ein gesellschaftliches Tabu. Homosexuellen drohen Haftstrafen zwischen fĂźnf und 21 Jahren. Die homophobe Gesetzgebung ist eine Hinterlassenschaft der britischen Kolonialzeit. In der Praxis wird sie kaum angewendet. Allerdings kommt es vor, dass Polizisten Schwule und Lesben unter vorgeschobenen GrĂźnden festnehmen, um Schutzgeld zu erpressen. Zudem gibt es gewaltsame Ăœbergriffe aus der Gesellschaft: So wurden im Mai 2012 zwei homosexuelle Männer in einem Slum Nairobis zu Tode gesteinigt.

SĂźdsudan

Zentralafrikanische Republik

Uganda Kenia Ruanda DR Kongo Burundi

Tansania Seychellen

Komoren

Angola Malawi

Sambia

Mosambik Simbabwe

uganda Uganda gilt als eines der homosexuellenfeindlichsten Länder Afrikas. Mehr als 90 Prozent der BevÜlkerung halten gleichgeschlechtliche Liebe fßr inakzeptabel. Doch Schwule und Lesben werden nicht nur im Alltag diskriminiert, sondern mßssen auch die Staatsgewalt fßrchten: Homosexuellen droht Freiheitsentzug von bis zu 14 Jahren. Das Gesetz ist ein Relikt der britischen Kolonialzeit. Bis ins Jahr 2000 machten sich nur homosexuelle Männer strafbar, seither mßssen auch Lesben mit langen Haftstrafen rechnen. Ende 2013 verabschiedete das Parlament ein verschärftes Gesetz, das auch die FÜrderung von Homosexualität verbieten will. Dies beträfe NGOs, aber auch AngehÜrige von Homosexuellen. Ursprßnglich hatte die Parlamentsmehrheit sogar die Todesstrafe fßr besonders schwere Homosexualität gefordert. Präsident Museveni muss das Gesetz noch unterzeichnen, bevor es in Kraft treten kann.

Madagaskar Mauritius

Namibia Botswana

Swasiland

Lesotho SĂźdafrika

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lgbti in afrika

mosambik Der sĂźdostafrikanische Staat Mosambik gilt in Sachen Homosexualität als eines der toleranteren Länder des Kontinents. Dabei ist die Gesetzeslage keineswegs eindeutig. Zwar gibt es einen Paragrafen, der sexuelle Praktiken, die Âťder Natur widersprechenÂŤ, verbietet. Doch wird er in der Praxis nicht angewandt, um Homosexuelle zu verfolgen. Mosambik ist sogar eines der wenigen afrikanischen Länder, das sexuelle Minderheiten per Gesetz vor Diskriminierung im Berufsleben schĂźtzt. Das tolerantere Klima gegenĂźber Schwulen und Lesben wurde begĂźnstigt durch die ZurĂźckhaltung der portugiesischen Kolonialregierung: Während Frankreich und GroĂ&#x;britannien ihre restriktive Haltung gegenĂźber Homosexualität in ihre Kolonien exportierten, erlieĂ&#x;en die Portugiesen im heutigen Mosambik keine homosexuellenfeindlichen Gesetze.

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Berichte

38 Libanon: Syrische FlĂźchtlinge im Zedernstaat 42 Israel: Menschenrechtskurse fĂźr Migranten 44 Katar: Zwangsarbeit beim Stadienbau 46 Mali: Amnesty-Delegation auf ÂťMissionÂŤ 50 Nelson Mandela: Abschied von einer Ikone

Kinderarbeit im Exil. Syrisches FlĂźchtlingskind hilft im Libanon bei der Ernte. Foto: Bridgette Auger

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»Bitte, bitte, helft uns!« Mit einem Sammeltaxi flüchteten Filla (Mitte) und ihre Familie aus Syrien, doch auch im Libanon kämpfen sie ums Überleben.

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Flucht in die Krise Wegen des Bürgerkriegs in Syrien fliehen unzählige Menschen in den Libanon. Die sozialen Spannungen zwischen der Bevölkerung und den Flüchtlingen nehmen zu. Von Cigdem Akyol (Text) und Bridgette Auger (Fotos) Mit zitternden Fingern zieht Filla ihrem Baby den Schnuller aus dem Mund, hält diesen hoch und sagt: »Selbst den hier können wir uns kaum leisten.« Sie sitzt auf einem wackeligen Plastikstuhl und drückt ihre sieben Monate alte Tochter an sich. An einem Ende ihres Schleiers hält sich ihr zweijähriger Sohn fest, dessen Kleidung vor Schmutz auseinanderfällt. Filla will ihren Nachnamen nicht nennen, sie fürchtet um die Sicherheit ihrer in Syrien zurückgebliebenen Angehörigen. Vor zwei Jahren ist die 21-Jährige mit ihrem Mann und ihren Schwiegereltern aus der syrischen Stadt Homs geflohen, der einstigen Hochburg der Rebellen. Die Freie Syrische Armee kontrolliert mittlerweile nur noch einen Teil der Stadt und ist von der syrischen Armee eingekreist. In der Stadt kursiert ein Witz: »In Homs kannst du eine Frau nur noch heiraten, wenn du ihr statt Gold eine Gasmaske als Mitgift geben kannst.« Filla erlebte, wie immer mehr Menschen aus ihrem Umfeld ihr Leben verloren. Als die Bombeneinschläge näher kamen musste sie schließlich erkennen, dass sie keine Zukunft mehr in ihrer Heimat haben würde: »Regierungstruppen haben auf friedliche Demonstranten geschossen, sie haben unsere Häuser gestürmt, sie haben Frauen vergewaltigt und Kinder ermordet.« Mit einem Sammeltaxi fuhr sie mit ihrer Familie an die libanesische Grenze, dann ging es zu Fuß weiter. Sie muss weinen, als sie sich daran erinnert – es ist ihr unangenehm. Seitdem lebt sie in Bar Elias, einem Dorf mit 25.000 Einwohnern in der Bekaa-Ebene im Ostlibanon. Die Region liegt 50 Kilometer von der libanesischen Hauptstadt Beirut entfernt und ist eines der Hauptaufnahmegebiete für syrische Flüchtlinge. Nach Angaben des UNHCR leben mehr als 270.000 registrierte Flüchtlinge in der ärmlichen, von der Landwirtschaft geprägten Ebene. Hinzu kommen Tausende nicht registrierte Syrer, die meist in Zelten leben. Ein baufälliges, einstöckiges Häuschen ohne Fensterscheiben und Türen, wie es Filla und ihre Verwandten bewohnen, können sich die wenigsten leisten. Die junge Frau trocknet mit dem Kopftuch ihre Tränen, steht auf, geht in ihr zugiges Haus und legt die schlafende Tochter auf eine zerschlissene Matratze – das einzige Möbelstück neben den

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libanon

Plastikstühlen. Es gibt keinen Strom, kein Gas, nur manchmal fließendes Wasser. Ein Camping-Kocher dient als Kochstelle. Vor den Häusern laufen Ratten herum, der Gestank von brennendem Müll liegt in der Luft. Von irgendwoher schallt der Gesang eines Imams. Seit Beginn des Bürgerkriegs in Syrien haben sich die Mieten im Libanon teilweise verdreifacht, weil die Hausbesitzer von der Not profitieren können. So ist auch eine Klassengesellschaft der Flüchtlinge entstanden. Wer es sich leisten kann, zieht in ein Hotel nach Beirut oder zumindest in eine Unterkunft mit Zementwänden, die Zelte sind das Zuhause der Ärmsten. Fillas Familie zahlt 500.000 libanesische Pfund (etwa 240 Euro) monatlich, um hier zu wohnen. Wie die meisten Flüchtlinge muss sie sich mit Gelegenheitsjobs durchschlagen, für sieben Euro pro Tag. Fragt man Filla, ob sie es bereue, Syrien verlassen zu haben, sagt sie: »Manchmal schon. Aber zu bleiben, hätte den Tod bedeutet.« Ihre ohnehin schon katastrophale Lage hat sich durch den Wintereinbruch noch weiter verschärft. Nachts sinken die Temperaturen auf unter Null Grad, der Betonboden, auf dem Fillas Familie schläft, speichert die Kälte, ein eisiger Wind weht durch die Räume. Es fehlt an Brennmaterial, Decken und warmer Kleidung. Keiner weiß, wie es weitergehen soll und ob sie diesen Winter überleben werden. »Wie soll ich meine Kinder schützen?«, fragt Filla und zeigt auf das schlummernde Baby. »Wir haben ja nicht einmal Streichhölzer, um ein Feuer anzuzünden.« Die Verzweiflung ist ihr anzusehen. »Bitte, bitte helft uns! Europa darf nicht einfach zuschauen, wie wir hier sterben.« Mitte Dezember fegte ein Schneesturm durch die Bekaa-Ebene. Die internationale Gemeinschaft äußert zwar gern Mitleid und Kritik an der syrischen Regierung, ist aber äußerst zurückhaltend, wenn es um tatsächliche Hilfe geht. Innerhalb der EU nehmen Schweden und Deutschland die meisten Syrer auf. Die Regierung in Stockholm änderte im September 2013 sogar die Asylpraxis: Rund 8.000 syrische Flüchtlinge, die bisher nur drei Jahre bleiben durften, erhalten eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis und können ihre Familien nachholen. Deutschland sagte im Dezember 2013 zu, weitere 5.000 Syrer aufnehmen zu wollen. Seit September 2013 sollte bereits ein erstes Kontingent Aufnahme in Deutschland finden. Ende vergangenen Jahres waren davon jedoch erst 2.000 Menschen angekommen, das komplizierte Auswahlverfahren verzögert den Prozess. Mehr als 2,3 Millionen Menschen sind seit Ausbruch des Bürgerkrieges im März 2011 aus Syrien geflohen, die meisten

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Fern der Heimat. Manche Flüchtlingskinder verdingen sich als Erntehelfer (oben links), andere betteln auf Beiruts Straßen (unten). Wer Glück hat, erhält im Flüchtlingslager Unterricht (oben rechts).

von ihnen in den Libanon, nach Jordanien, in die Türkei, in den Irak und nach Ägypten. Mindestens weitere 6,5 Millionen Menschen sind Vertriebene innerhalb Syriens. Durch die Flüchtlingskatastrophe gerät der Libanon zunehmend selbst aus dem Gleichgewicht. Denn der Zedernstaat mit einer Bevölkerung von 4,3 Millionen Menschen hat nach Schätzungen der Behörden eine Million Syrer aufgenommen – sie machen mehr als 20 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Mittlerweile haben einige Orte doppelt so viele Einwohner wie vor einem Jahr, was den Druck auf das Gesundheitssystem, das Bildungswesen und die Energieversorgung stark erhöht. Immer mehr Menschen fühlen sich von den zahlreichen Flüchtlingen schlicht überrollt. Syrern wird vorge-

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worfen, Einbrüche zu begehen und Einheimischen die Arbeit wegzunehmen. So begannen 2012 einige Städte und Dörfer, nächtliche Ausgangssperren einzuführen und warnten Immigranten, sie sollten sich fernhalten. Die Spannungen riefen Menschenrechtsaktivisten auf den Plan, die im Sommer 2013 ein Transparent von einer Brücke in Beirut entrollten, auf dem zu lesen war: »Entschuldigt das Verhalten der Rassisten unter uns«. Doch gibt es auch Profiteure. So stellen viele libanesische Geschäftsleute gern Syrer ein, denn die arbeiten notgedrungen für fast jeden Lohn: »Die Syrer stehen in direktem Wettbewerb mit den Libanesen und sie zahlen keine Steuern. Sie eröffnen illegal Geschäfte und arbeiten für den halben Lohn, den ein Libanese bekommt«, sagt Kamel Wasne, Ökonom an der Amerikanischen Universität Beirut. »Das ist eine Zeitbombe.« Der Libanon befindet sich derzeit in einer Regierungs- und Wirtschaftskrise. Seit März 2013 wird das Land von einer Übergangsregierung gelenkt, nach Angaben der Weltbank ist jeder dritte Libanese zwischen 15 und 24 Jahren arbeitslos. Und in dieser Situation drängen auch noch Hunderttausende Syrer auf den libanesischen Arbeitsmarkt.

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»Selbst die Kleinsten müssen arbeiten: Wer durch Beirut läuft, sieht überall Flüchtlingskinder, die Essen, Blumen oder Spielzeug verkaufen.« Da der Libanon keine Flüchtlingslager oder sonstige Versorgungsleistungen für die Syrer anbietet, müssen sich die Menschen selbst um Unterkunft, Essen und Trinkwasser kümmern. Das bedeutet, dass selbst die Kleinsten arbeiten müssen: Wer durch Beirut läuft, sieht überall Flüchtlingskinder, die als fliegende Händler Essen, Blumen oder Spielzeug verkaufen. Einige von ihnen sind ganz auf sich allein gestellt. Zum Beispiel der dreijährige Ahmed. Seine Eltern flohen mit ihm und seinen zwei älteren Geschwistern aus Syrien nach Beirut, dann verließ der Vater die Familie. Weil seine Mutter nicht mehr wusste, wie sie die Kinder allein ernähren sollte, setzte sie diese im Sommer 2013 in ein Taxi und drückte der Ältesten Geld und einen Brief in die Hand. Darin erklärte sie ihre Not und entschuldigte sich. Der Fahrer brachte die Geschwister in das »Home of Hope«, das einzige Kinderheim in Beirut, das auch Kinder ohne Papiere aufnimmt – Kinder, die durch alle Raster fallen, die niemand haben will. »Bisher hat Ahmed kaum gesprochen«, erzählt die Sozialarbeiterin Rita Makhlauf und streicht dem Jungen über sein schwarzes Haar. Seit dem Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges sei das Kinderheim zu einem Flüchtlingsheim geworden, sagt die Sozialarbeiterin, die seit 14 Jahren im »Haus der Hoffnung« arbeitet. Von den 70 Kindern die hier leben, sind 38 syrische Flüchtlinge. Die Räume sind spärlich möbliert, die Wände sind mit bunten Bildern dekoriert oder bemalt, die Möbel karg und meist kaputt. Von der Decke hängen Kabel, die auf abenteuerliche Weise miteinander verlötet wurden. Aber all das ist nicht so wichtig: Entscheidend ist, dass die Kinder hier vor dem Krieg in ihrer Heimat und dem Hass auf den Straßen Beiruts sicher sind, dass sie Würde und Geborgenheit finden. »Fast alle Flüchtlinge, die wir hier betreuen, haben selbst Gewalt erlebt oder gesehen, wie ihre Eltern und Bekannten Gewalt ausgesetzt waren. Sie können kaum darüber reden und versuchen, vieles zu vergessen«, sagt Makhlauf. Aber das gelingt oft nicht. Es gibt Schlafsäle, in denen nachts Panik ausbricht. Wenn in den Albträumen die Erinnerungen an Krieg und Flucht auf-

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tauchen und Angst vor der ungewissen Zukunft, dann wachen manche Kinder schreiend auf und beunruhigen auch die anderen Kinder. Es sind Träume von Leichen, Dreck und Hunger. Es sind Bilder vom Horror, den diese Kinder durchlebt haben. Rita Makhlauf geht über den Fußballplatz des »Home of Hope« und zeigt auf den Zaun, den sie kürzlich bauen lassen mussten. Das Heim steht in einem christlichen Viertel, die meisten syrischen Kinder sind Muslime. »Nachbarn werfen uns vor, wir würden ihre Mörder und die Terroristen der Zukunft hier erziehen«, erzählt sie. Die Anwohner fürchten sich vor Kindern wie dem ausgesetzten Ahmed. Um Konflikten aus dem Weg zu gehen und die Kinder zu schützen, haben sie sich nun abgegrenzt. Nur 90 Kilometer entfernt, hinter den Gipfeln des Libanongebirges, tobt der syrische Bürgerkrieg weiter, und kaum einer in der Region glaubt daran, dass das Land bald zur Ruhe kommen wird. Trotz anhaltender Kämpfe hat die syrische Regierung geflohene Bürger zur Rückkehr aufgerufen. Damaskus werde ihnen dabei helfen, nach Hause zurückzukehren, egal ob sie auf »legalem oder illegalem« Weg das Land verlassen hätten, teilte das Innenministerium mit. Filla, die keine Schule abgeschlossen hat, möchte ein besseres Leben für ihre Kinder – mehr als Flucht und illegale Jobs. Sie weiß nicht, ob sie zurück will in ihre Heimat, wenn der Krieg eines Tages vorbei sein wird. »Was wird mit uns passieren? Wir haben nichts mehr, kein Zuhause und kein Geld«, sagt sie und muss wieder weinen. Niemand weiß, ob die Eltern von Ahmed noch leben oder ob er noch andere Verwandte hat. Die Sozialarbeiterin Makhlauf beißt sich auf die Unterlippe. »Wohin sollen wir unsere Kinder nach dem Krieg schicken, wenn sie niemand abholt?«, fragt sie und dreht sich weg, um ihre Tränen zu verstecken. Die Autorin ist Journalistin und lebt in Berlin. Diesen Artikel können Sie sich in unserer iPad-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app

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Ohne Vertrauen geht es nicht Mali befindet sich in der schwersten Menschenrechtskrise seit seiner Unabhängigkeit. Eine Amnesty-Delegation reiste im November in das westafrikanische Land, um der Zivilgesellschaft den Rücken zu stärken. Von Selmin Çalıs¸kan Das Kampfflugzeug, das das Leben des Mannes zerstörte, der mir in der malischen Hauptstadt Bamako gegenübersaß und mir seine Geschichte erzählte, flog tief. Sehr tief. So tief, dass der Mann erkennen konnte, dass die Piloten Weiße waren. Vermutlich Soldaten der französischen Armee, die Anfang 2013 im Norden des Landes eine Offensive gegen vorrückende islamistische Gruppierungen gestartet hatte. Der Mann hatte mit den Kämpfen nichts zu tun. Trotzdem bombardierten die Piloten sein Haus. Sie töteten seine Frau, seine Kinder, sein Vieh, zerstörten sein Zuhause und das seiner Verwandten nebenan. Als ich mit dem Mann sprach, saß sein Neffe neben ihm. Er ist das einzige, was dem Mann von seinem alten Leben geblieben ist. Für das Bombardement wurde bisher niemand zur Rechenschaft gezogen, obwohl die Überlebenden sowohl bei den malischen Behörden als auch beim französischen Militär vorstellig wurden. Die kalte Sprache des Militärs und der Politik bezeichnet die getöteten Zivilisten als »Kollateralschäden«. Ein bürokratisches Wort, hinter dem sich die Verantwortlichen verstecken können. Es macht das Leid der Betroffenen unsichtbar und

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spricht ihnen ihr Recht auf Entschädigung und Gerechtigkeit von vornherein ab. Damit solches Leid sichtbar wird und nicht in Vergessenheit gerät, führt Amnesty regelmäßig Ermittlungsreisen in verschiedene Länder durch, um Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren. Auf solche Ermittlungen folgen häufig sogenannte »Missions«: Internationale Amnesty-Delegationen reisen erneut in das Land, um auf Grundlage der eigenen Recherchen mit Empfehlungen an Regierungsvertreter und Behörden heranzutreten und in persönlichen Treffen mit den Verantwortlichen den Schutz der Menschenrechte einzufordern und konkrete Fälle von Menschenrechtsverletzungen anzumahnen. An einer solchen siebentägigen »Mission« nach Mali nahm ich Ende November teil, gemeinsam mit Salil Shetty, dem internationalen Amnesty-Generalsekretär, sowie den beiden Amnesty-Ermittlern Gaëtan Mootoo und Salvatore Sagues. Das westafrikanische Land befindet sich in der tiefsten Krise seit seiner Unabhängigkeit. Im März 2012 hatten Angehörige des Militärs unter der Führung von General Sanago den damaligen Präsidenten Amadou Toumani Touré gestürzt. Bewaffnete islamistische Gruppen nutzten das entstandene Machtvakuum, um den Norden des Landes zu besetzen und dort die Scharia einzuführen. Sowohl das Militär als auch die Islamisten sind für schwere Menschenrechtsverletzungen verantwortlich. Dazu gehören unter anderem außergerichtliche Hinrichtungen, Vergewaltigungen bei Hausdurchsuchungen durch das Militär, Am-

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Foto: Jerome Delay / AP

Das unsichtbare Leid der Opfer. Militärpatrouille in Gao.

putationen, Verschwindenlassen, der Einsatz von Kindersoldaten und Folter, die sich gegen mutmaßliche Feinde, aber auch gegen Zivilisten richtet. Auch werden einfache Menschen vom Militär festgenommen, die arabisch aussehen oder das Aussehen von Tuaregs haben. Die Reise wurde monatelang vorbereitet, sowohl von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Internationalen Sekretariat in London und im deutschen Sekretariat in Berlin, als auch von Mitgliedern der malischen Amnesty-Sektion und dem Brüsseler Büro. In Mali trafen wir uns unter anderem mit hochrangigen Diplomaten der Afrikanischen und der Europäischen Union, dem malischen Minister für Versöhnung und dem Oberstaatsanwalt des Landes, der unseren Anliegen sehr offen gegenüberstand und uns Zugang zu Gefängnissen gewährte. Bei einer »Mission« geht es aber nicht nur darum, Vertreter der Behörden zu treffen, sondern vor allem darum, mit Betroffenen und deren Familienangehörigen in Kontakt zu kommen. Viele dieser Menschen sind traumatisiert, und es hilft ihnen, zu wissen, dass andere ihre Anliegen ernst nehmen und sich für sie einsetzen. Sie wollen, dass ihr Leid anerkannt wird und dass ihnen Gerechtigkeit widerfährt. Das sind wichtige Schritte auf dem Weg zur Heilung. So wie im Fall des Mannes, der mir erzählte, wie er bei dem Bombenangriff alles verlor. Oder wie die zwei Frauen, die wir trafen: Mutter und Tochter, die beide vergewaltigt worden waren. Sie saßen mit versteinerten Mienen inmitten einer Gruppe

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von Menschen aus dem Norden, die extra den weiten Weg nach Bamako auf sich genommen hatten, um uns ihre Geschichten zu erzählen. Die beiden Frauen erzählten nur einen Teil ihres Leids – die Vergewaltigungen verschwiegen sie. In der malischen Hauptstadt Bamako besuchten wir auch fünf inhaftierte Jungen, klein und schmächtig, im Alter von 15 bis 17 Jahren, die rechtswidrig in einem Militärgefängnis inhaftiert sind, wo wir sie besuchen konnten und ihre Aussage gefilmt haben. Ich konnte Folterspuren sehen: Man hatte auf ihren Armen Zigaretten ausgedrückt, um von ihnen das »Geständnis« zu erpressen, sie hätten auf Seiten der Aufständischen im Norden gekämpft. Ihre Scheu und ihr »Immer-noch-Kind-Sein« haben mich sehr berührt, und auch das Vertrauen in uns, dass wir uns für ihre sofortige Freilassung einsetzen würden. Wir fragten sie, was sie für die Zeit nach ihrer Freilassung planten. Ein Junge antwortete, er wolle zu seiner Mutter, ein anderer sagte, dass er studieren wolle. An einem anderen Tag besuchten wir eine weitere Haftanstalt. Dort war ich nur mit Gaëtan Mootoo, der für Amnesty International als Researcher und Mali-Experte arbeitet und schon mehrmals in Mali ermittelt hatte. Als wir eine überfüllte Zelle betraten, in der über dreißig Gefangene inhaftiert waren, begrüßten sie Gaëtan wie einen alten Freund. Als die Tür hinter uns geschlossen wurde, war mir mulmig zumute: als einzige Frau mit dreißig gefangenen Männern. Doch die Gefangenen freuten sich, Gaëtan zu sehen, und berichteten ihm, was seit sei-

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»Nur wenn die Täter zur Rechenschaft gezogen und die Opfer und ihre Angehörigen entschädigt werden, können in Mali wieder demokratische Strukturen entstehen.«

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Ebenfalls sehr beeindruckt hat mich das Engagement der Aktivistinnen und Aktivisten der malischen Amnesty-Sektion. Sie betreiben unter anderem ehrenamtlich eine Einrichtung, in der vergewaltigte Frauen medizinisch betreut werden, und sie versorgen Flüchtlinge mit humanitären Gütern. Auch Debattierclubs für die Jugend des Landes werden veranstaltet. In Mali gibt es eine sehr aktive Zivilgesellschaft, es ist eine Aufbruchsstimmung zu spüren, die durch die Parlamentswahlen Mitte Dezember noch verstärkt wurde. Ob in dem Land wieder Stabilität einkehrt, liegt jedoch vor allem an den Entscheidungen der Regierung, und daran, ob sie es mit der Gerechtigkeit wirklich ernst meint. Am letzten Tag unserer Reise stellten wir auf einer sehr gut besuchten Pressekonferenz eine »Agenda für die Menschenrechte in Mali« vor. Der fünfzigseitige Bericht dokumentiert zahlreiche Menschenrechtsverletzungen der vergangenen zwei Jahre und fordert Regierung und Behörden auf, diese zu untersuchen und die Verantwortlichen gemäß internationaler Standards vor Gericht zu bringen – und zwar unabhängig davon, welcher Konfliktpartei sie angehören. Nur wenn die Täter zur Rechenschaft gezogen und die Opfer und Angehörigen entschädigt werden, können in Mali wieder demokratische Strukturen entstehen. Nur so kann verhindert werden, dass das Land in zwei Teile zerfällt. Dies ist nämlich die größte Herausforderung: Nord und Süd zu vereinen und zu versöhnen. Selmin Çalışkan ist Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland.

Foto: Jerome Delay / AP

nem letzten Besuch alles geschehen war und welche Probleme sie hatten. Gaëtan hatte seine Schuhe an der Tür ausgezogen, um sich auf den Teppich zu setzen. Einer der Männer nahm später die Schuhe und brachte sie Gaëtan, damit sie nicht »verschwanden«. Ich spürte, wie sehr diese Männer ihm vertrauten, und dieses Vertrauen ist entscheidend für die Ermittlungsarbeit von Amnesty. Es war der Türöffner für fast jedes Gespräch, das wir führten. Denn nur, wenn Menschen erkennen, dass wir sie ernst nehmen und uns für sie einsetzen, erhalten wir genügend Informationen und Beweise, um Menschenrechtsverletzungen belegen zu können. Gaëtan fand heraus, dass auch in dieser Haftanstalt Jugendliche inhaftiert waren. Er informierte den Oberstaatsanwalt, der zusagte, die Jugendlichen in die Obhut von UNICEF, dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, zu geben. Gaëtan wird prüfen, ob der Staatsanwalt sein Wort gehalten hat. Er wird sich an den Minister für Versöhnung wenden, der uns dies ebenfalls zusagte. Der Minister versprach zudem, alle Täter vor Gericht zu bringen – auch Militärs. Das ist ein neuer Ton, denn zuvor hatte nur Amnesty die Militärs beschuldigt, Menschenrechte verletzt zu haben. Woraufhin Saloum Traoré, unser Amnesty-Direktor, nach Europa floh, weil er bedroht wurde. Was mich auf unserer Reise besonders beeindruckte, war die Entschlossenheit der Menschen, sich zu wehren und ihre Rechte einzufordern. So beispielsweise die Angehörigen von 22 Soldaten, die seit April 2013 verschwunden waren – vermutlich verschleppt, weil sie der Meuterei gegen den putschenden General Sanago beschuldigt worden waren. Nur einen Tag nach meiner Rückkehr nach Deutschland erreichte mich die traurige Nachricht, dass man in der Nähe des Militärcamps, aus dem die Soldaten verschwunden waren, ein Massengrab mit 22 Leichen gefunden hatte. In den Wochen zuvor hatten sich die Ehefrauen, Eltern und Großeltern der Männer zusammengeschlossen, um endlich zu erfahren, was mit ihnen passiert war. Sie waren sogar bis zum Verteidigungsminister gegangen und hatten ihm gedroht, eine Großdemonstration zu organisieren, auf der sie nackt marschieren würden, wenn er ihnen nicht helfen würde. Ihr Mut beeindruckte mich, ihre Trauer schmerzte mich. Während unseres Besuchs in Mali kam eine Frau auf mich zu und sprach mich auf Deutsch an. Sie ist mit einem Bundeswehrsoldaten verheiratet. Ihr Sohn aus erster Ehe war einer der 22 verschwundenen Soldaten. Ihr Mann besuchte mich später im Hotel, um mir den Hergang des Verschwindens zu schildern. Er sagte auch, dass der deutsche Privatsender RTL ein Interview mit ihm habe führen wollen, er aber abgelehnt habe. Viele Menschen reden hier nicht. Sie haben Angst. Jetzt wissen wir mit Gewissheit: Das sind die Männer und Söhne dieser Familie.

Auch Zivilisten gehören zu den Opfern. Französischer Soldat in Mali.

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Illustration: AndrĂŠ Gottschalk

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Foto: Jurgen Schadeberg

Botschafter des Gewissens

Revolutionär und Versöhner. Sein Kampf gegen die Apartheid brachte ihn für 27 Jahre ins Gefängnis. Doch auf Rache sann Nelson Mandela nie.

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Der gemeinsame Kampf für Gerechtigkeit und Menschenrechte vereinte Amnesty International und Nelson Mandela. Doch auch die Diskussion um das Thema Gewaltlosigkeit prägte lange Zeit das Verhältnis. Von Ingo Jacobsen So viel wie Nelson Mandela ist in der jüngsten Vergangenheit kein anderer gelobt worden – und das zu Recht: Mandela zählte zu den bedeutendsten Zeitgenossen. Ein Mensch, der sich ohne Hass nach mehr als 27 Jahren Haft daran machte, eine tief gespaltene Nation zu versöhnen. Er wurde deshalb oft mit Gandhi verglichen, der 20 Jahre im Gefängnis verbrachte und dort den politischen Widerstand organisierte. Doch meldeten sich auch Stimmen, die darauf hinwiesen, dass Mandela – im Gegensatz zu Gandhi – früher Gewalt befürwortet habe und dafür verurteilt worden sei. In vielen Fällen wird dieser Einwand nur erhoben, um die frühere Diffamierung von Mandela als gewalttätigen Kommunisten oder Terroristen zu rechtfertigen. Wer es genauer wissen will, muss nur seine berühmte Verteidigungsrede nachlesen, die er im »Rivionia«-Prozess 1964 hielt. Darin beschreibt er die grausame Behandlung aller nicht-weißen Südafrikaner: Vom Raub ihres Landes und ihrer Rechte über die Unterdrückung des Widerstandes bis hin zu Massakern wie dem von Sharpeville am 21. März 1960, als 69 friedliche Demonstranten von der Polizei erschossen wurden. Sharpeville war eine Wende für Südafrika: Es folgten der Ausnahmezustand, ein Verbot des ANC und die Abkehr des ANC vom Prinzip der Gewaltlosigkeit. Für Nelson Mandela gab es zwei Grundprinzipien, die er in seiner Verteidigungsrede ausführte: Südafrika gehöre allen, die dort lebten, Schwarzen wie Weißen, gemäß der Freiheitscharta des ANC von 1955. Und: Ein Bürgerkrieg müsse auf jeden Fall verhindert werden. Nur für diese Ziele solle sorgfältig kontrollierte Gewalt eingesetzt werden. Mandela drückte seine Hoffnung aus, dass dafür Sabotageakte ausreichten. »Ich habe gegen weiße Vorherrschaft und ich habe auch gegen schwarze Vorherrschaft gekämpft«, sagte er am Schluss seiner Rede. »Ich bin stets dem Ideal einer demokratischen und freien Gesellschaft gefolgt, in der alle Menschen friedlich und mit gleichen Möglichkeiten zusammenleben. Für dieses Ideal lebe ich. Aber wenn es sein muss, bin ich bereit, dafür zu sterben.« Aufgrund seiner Befürwortung von Gewalt konnte Amnesty International Nelson Mandela ab 1964 nicht länger als gewaltlosen politischen Gefangen betreuen und seine bedingungslose und sofortige Freilassung fordern. Dieser Schritt fiel Amnesty sehr schwer – es gab eine lange Debatte und sogar eine Mitgliederbefragung mit dem Ergebnis, dass die Organisation mit Blick auf ihre Glaubwürdigkeit und die Wirksamkeit ihrer Arbeit zugunsten von vielen gewaltlosen politischen Gefangenen in aller Welt – einschließlich Südafrika – schweren Herzens auf die Betreuung von Nelson Mandela verzichtete. Die Arbeit der Amnesty-Gruppen wurde dadurch nicht gerade erleichtert, denn »Free Nelson Mandela« war das gemeinsame Motto vieler Gruppen und Nelson Mandela war der berühmteste politische Gefangene. Dennoch blieben die Amnesty-Gruppen anerkannte Partner in der Südafrika-Arbeit. »Bei jeder Schweinerei ist Südafrika dabei« lautete ein Slogan von Südafrika-Demonstrationen und bei Amnesty war Südafrika Schwerpunktland bei allen Themenkampagnen (gegen Folter, Todesstrafe, »Verschwindenlassen« und staatlichen Mord). Die gut recherchierten und glaubwürdigen Informationen von Amnesty wurden von allen zu Südafrika arbeitenden Organisationen gemeinsam genutzt.

nachruf

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nelson mandela

Aber die Nichtbetreuung von Nelson Mandela durch Amnesty und das Thema Gewaltlosigkeit wurden weiter diskutiert. Auf die unzähligen Briefe zu diesem Thema haben wir als Länderkoordinationsgruppe Südafrika stets geantwortet, indem wir nicht nur die Amnesty-Haltung erläuterten, sondern auch Kopien der Freiheitscharta und Auszüge aus seiner prophetischen Verteidigungsrede beilegten. Die Gewalt ging weiterhin fast ausschließlich von der Apartheid-Regierung aus und kostete allein bei den Soweto-Unruhen 1976 Hunderte von Kindern und Jugendlichen das Leben. Manch einer der früheren Gegner Mandelas wollte uns weismachen, Mandela habe sich in der Haft gewandelt. Das ist falsch. Mandela ist bei seinen Grundauffassungen geblieben. So hat er auch eine frühere Haftentlassung abgelehnt, weil er dafür eine Gewaltverzichtserklärung hätte unterzeichnen müssen. Die ersten vier Jahre nach seiner Freilassung 1990 müssen für ihn besonders hart gewesen sein, weil nach dem Ende der Apartheid ein blutiger Kampf um die Macht in Südafrika einsetzte. Durch eine unheilige Allianz der weißen Regierung mit der Organisation Inkatha des Zulu-Führers Mangosuthu Buthelezi wurden regionale Konflikte ins wirtschaftliche Zentrum Südafrikas getragen und grausam verschärft. Durch diese Gewalt geriet Nelson Mandela unter Druck. Um dem Morden ein Ende zu bereiten, musste er schließlich schmerzhafte Kompromisse eingehen. Eine gerichtliche Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen, die während der Apartheid verübt worden waren, war nicht durchsetzbar, stattdessen wurde eine »Kommission für Wahrheit und Versöhnung« eingesetzt. Amnesty öffnete seine Archive, um die Arbeit der Kommission zu unterstützen. Gleiches Recht für Schwarz und Weiß blieb eine Grundmaxime Mandelas. Daher sorgte er dafür, dass sich auch der ANC für seine Menschenrechtsverletzungen vor der Wahrheitskommission verantworten musste. Und die Verfassung, die Mandela aushandelte, ist mustergültig hinsichtlich der Menschenrechte. Doch die Tatsache, dass Amnesty Nelson Mandela nicht betreut hatte und nicht seine Freilassung gefordert hatte, wurde nicht vergessen. Nelson Mandela ging darauf auch in seiner Autobiografie »Ein langer Weg zur Freiheit« ein. Der erste Schritt zur »Versöhnung« war, dass zum 50. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1988 die Internationale Ratstagung von Amnesty International in Kapstadt stattfand. Im Jahr 2006 akzeptierte Nelson Mandela, von Amnesty International als »Botschafter des Gewissens« geehrt zu werden. In seiner Dankesrede betonte er die gemeinsamen Werte, den Kampf für Gerechtigkeit und Menschenrechte. Dann beschrieb er die Aufgaben, die er nach seinem Abschied von der politischen Bühne vor allem verfolgte: Den Kampf gegen HIV/AIDS sowie gegen die Armut. Seine Worte »Solange es Armut gibt, gibt es keine wahre Freiheit« teilt auch Amnesty International. Aus Nelson Mandela wurde im Alter nicht der milde Landesvater, wie es die immer wieder gezeigten Bilder von der RugbyWeltmeisterschaft 1995 suggerieren sollen. Er ist ein wahrer Kämpfer für die Menschenrechte geblieben. Das Ziel der Freiheitscharta hat er erreicht. Aber »ubuntu« (Menschlichkeit), wie es in der Verfassung des neuen Südafrika heißt, forderte noch viel mehr – von ihm und auch von Amnesty International. Der Autor ist Sprecher der Sektionsgruppe MenschenrechtsverteidigerInnen der deutschen Amnesty-Sektion.

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Kultur

54 Interview: Justin Chadwick 56 SachbĂźcher: Der geheime Krieg der USA 58 Tahribad-Äą Isyan: Hip-Hop aus Istanbul 60 BĂźcher: Von ÂťKongoÂŤ bis ÂťNanking RoadÂŤ 62 Film & Musik: Von ÂťArt WarÂŤ bis ÂťGipsy ManifestoÂŤ

Auf dem Weg zur Freiheit. Filmszene aus ÂťMandelaÂŤ. Foto: Senator Film

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In den Fesseln der Apartheid. Filmszene aus »Mandela«.

»Mandela war kein Heiliger« Der Film »Mandela – Der lange Weg zur Freiheit« setzt Südafrikas Freiheitshelden ein Denkmal – in Form einer Liebesgeschichte. Ein Gespräch mit dem Regisseur Justin Chadwick Wie haben Sie sich auf den Dreh von »Mandela« vorbereitet? Ich komme aus Manchester in Großbritannien. Deshalb war mir von Anfang an klar, dass ich, um eine einseitige Perspektive zu vermeiden, nach Südafrika gehen musste: um zuzuhören, zu beobachten und zu verstehen. Ich habe dort über ein Jahr verbracht und die Stationen in Mandelas Leben nachverfolgt. Ich konnte mich mit Menschen aller Konfliktparteien treffen, konnte Zeit mit Winnie Mandela und ihren Kindern verbringen, traf Kameraden, die mit ihm auf der Gefängnisinsel Robben Island waren, und Wärter. Ich sprach mit denen, die die Verhöre führten, mit Politikern und mit Männern und Frauen, die Mandela als jungen Mann kannten, der mit ihnen als Boxer trainiert hat-

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te. Mein Team und ich haben viel gelesen, eine Menge gesichtet und in der Mandela-Stiftung ungezeigtes Filmmaterial entdeckt. Damit konnten wir Nähe und Details ins Drehbuch bringen. Die eigentliche Offenbarung waren jedoch die Erinnerungen Winnie Mandelas. Die Liebesgeschichte der beiden und die Konsequenzen für sie und ihre Familien bilden die zentrale Perspektive des Films. Hatten Sie Gelegenheit, mit Mandela persönlich zu sprechen? Ja, kurz vor Drehbeginn. Diesen Nachmittag werde ich wohl nicht vergessen. Alle reden von seiner Energie – diese Energie strahlte er noch mit 94 Jahren aus. Worauf muss man achten, wenn man die Biografie eines der interessantesten Protagonisten der Menschenrechtsbewegung verfilmt? Mandela wollte nicht als Heiliger erinnert werden. Er war ein Mensch und hat Außergewöhnliches erreicht. Ich glaube, sein Beispiel als jemand, der mit friedlichen Mitteln gegen alle

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Widerstände der Demokratie den Weg bereitet hat, ist in der Geschichte einmalig. Das Land stand damals kurz vor einem Blutbad. Wir wollten und mussten wahrheitsgetreu sein. Außerdem geht es hier um Menschen, von denen viele noch leben. Wir mussten ihnen und ihrem Vermächtnis gegenüber loyal sein.

Fotos: Senator Film

An wen haben Sie gedacht, als Sie den Film machten? An ein modernes Publikum. Es ist ein unabhängiger afrikanischer Film, der dort finanziert wurde – mit dem größten Budget, das auf diesem Kontinent je aufgebracht wurde. Das Geld sollte vollständig in den Film einfließen. Wir haben ihn auf 35 Millimeter gedreht, um die gewaltige Schönheit des Landes einzufangen. Es gibt großartige Verfolgungsjagden und Actionszenen, weil wir wollten, dass dieser Film in den Multiplex-Kinos gezeigt und ein emotionales Erlebnis für Jung und Alt in allen Teilen der Gesellschaft wird. Es muss im modernen Kino Platz für wirklich spannende Geschichten mit Aussage geben, auch ohne computeranimierte Bilder. »Mandela« dauert fast drei Stunden, ist sehr nah an den Fakten. Vielleicht wirkt er deswegen ein bisschen didaktisch … Der Film dauert zwei Stunden und 20 Minuten und ist so schnell wie Mandelas Leben – er hat Energie und Tempo! Ich habe vor Mandelas Tod fast eine Woche mit der Endbearbeitung verbracht. Wir haben ihn in Johannesburg Winnie und ihren Töchtern gezeigt, den Männern von Robben Island, den Anwälten, die Mandela bei der Verhandlung vertreten haben. Ihr einhelliges Urteil: Der Film wird den Männern und Frauen, die er darstellt, und ihrem Kampf gerecht. In Südafrika hat er alle Kassenrekorde gebrochen. Die Leute finden sich in dem Film wieder. Außerdem glaube ich, dass er der neuen Generation, die frei

nelson mandelas geschichte als film Die Geschichte Südafrikas und das Leben des weltberühmten Freiheitskämpfers und ersten schwarzen Präsidenten des Landes auf eine kinokompatible Form komprimiert: Das ist der Film »Mandela: Der lange Weg zur Freiheit« von Regisseur Justin Chadwick. Just während der Filmpremiere in London im Dezember 2013 ging die Nachricht um die Welt, dass Mandela im Alter von 95 Jahren gestorben war. Chadwick hat mit seinem Film den wohl eindrucksvollsten Nachruf auf Nelson Mandela geschaffen. Er erinnert an dessen Zeit als junger Anwalt und politischer Aktivist sowie an seine 27-jährige Haft, während der ihm jegliche politische Tätigkeit untersagt war. »That’s not politics, that’s my life«, entgegnete Mandela seinen Wärtern. Wichtigster Bezugspunkt des Films ist jedoch die Liebesgeschichte zwischen Mandela und seiner zweiten Frau Winnie. Ob man »Mandela« nun als Kostüm-, Liebes- oder gar Kriegsfilm betrachtet: Das imponierende Bildwerk wartet mit exzellenten Schauspielern, erzählerischer Genauigkeit und schönen Bildern auf. Amnesty International wird Chadwicks Film mit Sonderveranstaltungen begleiten. »Mandela. Der lange Weg zur Freiheit«. USA 2013. Regie: Justin Chadwick. Darsteller: Idris Elba, Naomie Harris. Kinostart: 30. Januar 2014

interView

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justin chadwick

geboren wurde, noch einmal genauer vermittelt, was die politische Führung und ihr Land durchgemacht haben. Der Kampf gehört auch heute noch fest zum modernen Südafrika. Wie Mandela schon sagte: Die Arbeit geht weiter. Ein wichtiger Punkt im Leben Mandelas ist seine Einstellung zur Gewalt. Ist es legitim, Gewalt einzusetzen, wenn man gegen ein gewalttätiges Regime kämpft? Mandelas Einstellung zu Gewalt war schon immer Anlass zu kontroversen Diskussionen. Zu Beginn betrachtete er sich selbst als Pazifisten. Nach dem Massaker von Sharpeville jedoch, als Tausende unbewaffneter Demonstrierender erschossen wurden (siehe S. 51), sowie nach dem Verbot des ANC änderte er seine Meinung. Seine Haltung war: Es gibt keine Alternative dazu, sich zu bewaffnen bzw. auf eine gewalttätigere Form des Widerstands zurückzugreifen. Dieser Wendepunkt ist sehr wichtig, wenn man seine Geschichte erzählt. Andererseits bereitete Mandela den Weg für einen relativ friedlichen Übergang zur Demokratie, als das Land kurz vor einem blutigen Bürgerkrieg stand. Anders als seine Vertrauten und seine Frau sprach er mit dem Feind. Er sah, dass es einen Weg für den Frieden gab. Dass er dazu fähig war, nach allem, was man ihm angetan hatte, ist außergewöhnlich. Was bedeutet Mandelas Tod für Südafrika und die Menschenrechtsbewegung? Sein Vermächtnis ist immens wichtig und wird in der ganzen Welt dringend gebraucht. Wenn unser Film einen kleinen Beitrag dazu leisten kann, sein Erbe fortzusetzen, dann bedeutet uns das viel. Fragen: Jürgen Kiontke

interView justin chadwick Der britische Regisseur Justin Chadwick wurde 1968 in Manchester geboren und begann bereits mit elf Jahren eine Karriere als Schauspieler. Später studierte er an der Universität Leicester, bevor er 1991 mit »London Kills Me« sein Regie-Debüt gab. Durch seinen wunderschönen Film »Die Schwester der Königin« (2008) mit den recht ungeschminkten Hollywood-Diven Scarlett Johansson und Natalie Portman erlangte er einige Berühmtheit. Der Film schaffte es ins Wettbewerbsprogramm der Berlinale. Es folgte das preisgekrönte Werk »Der älteste Schüler der Welt«. Chadwick lebt mit Ehefrau Michelle und Kindern in England.

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Das Who-is-Who der Tötungsindustrie Von 9/11 zum Drohnenkrieg: Zwei Neuerscheinungen sichten die drastischen Veränderungen in der bewaffneten US-Außenpolitik der vergangenen 15 Jahre. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass Geheimdienste und Teile des Militärs auf Menschenjagd sind. Von Maik Söhler

wiedergibt, liefert die offizielle Begründung zum Mord an islamistischen Kämpfern und Verdächtigen in Afghanistan, Pakistan, Irak, Jemen, Somalia und einmal auch auf den Philippinen: »Die gezielte Tötung erfülle den Tatbestand ›eines legalen Aktes der Selbstverteidigung‹ und sei kein Mord.« Obwohl die USA nur im Irak und in Afghanistan einen mal mehr, mal weniger regulären Krieg führten, werden alle genannten Länder einem nicht näher definierten »Kriegszustand« zugeordnet.

»Das falsche Haus getroffen«

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al angenommen, die Welt käme an den Punkt, an dem der US-Präsident als Oberbefehlshaber der USStreitkräfte keinen Friedensnobelpreis bekäme, sondern samt seiner mitverantwortlichen Minister, Generäle und Geheimdienstleiter wegen einer Mordanklage vor Gericht erscheinen müsste. Dann könnte sich die Anklage in wesentlichen Punkten auf die neuen Sachbücher »Schmutzige Kriege« und »Killing Business« der US-Autoren Jeremy Scahill und Mark Mazzetti stützen. Obama, das Pentagon und die CIA führen laut den Recherchen von Scahill und Mazzetti mit nur wenigen Änderungen fort, was unter der Präsidentschaft George W. Bushs nach den Anschlägen von 9/11 begann: einen Krieg gegen al-Qaida, ihre Unterstützer und jene, die dafür gehalten werden. Die Grundlage für diesen Krieg, der mit militärischen Sondereinsätzen, Raketenangriffen und Drohnenattacken geführt wird, bilden im »Oval Office« erstellte Tötungslisten, die auf Anordnung Obamas wahlweise von der CIA oder den dem Verteidigungsministerium unterstehenden JSOC-Sondermilitäreinheiten (Joint Special Operations Command) abgearbeitet werden. »Nach dem 11. September standen nicht mehr als zwei Dutzend Personen auf der Tötungsliste der USA«, schreibt Scahill und skizziert, wie sich die US-Strategie von Bush – bei dem die Gefangennahme, Verschleppung und Folter von Islamisten zur Informationsbeschaffung im »Krieg gegen den Terror« im Vordergrund stand – zu Obama wandelte, dem Anordnungen zur Folter von Kriegsgefangenen nicht nachzuweisen sind, der aber Drohnenangriffe enorm intensiviert hat. Ein Weißbuch der US-Regierung von Anfang 2013, das Scahill

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Scahill schreibt über die erste Zeit nach Bush: »Obama hatte innerhalb von zehn Monaten bereits ebenso viele Drohnenschläge genehmigt wie Bush in den acht Jahren seiner Amtszeit.« Darunter auch einen Angriff in Afghanistan im Jahr 2009 mit mehreren toten Zivilisten. Militärs gaben später zu, »das falsche Haus getroffen« zu haben. Einem Beschuss des Dorfes alMajalah im Jemen im Dezember 2009 mit Marschflugkörpern, zumindest teilweise bestückt mit international geächteter Streumunition, fielen 21 Kinder zum Opfer. Mazzetti wiederum untersucht die Tötung Anwar al-Awlakis im Jahr 2011, eines US-Staatsbürgers, der als islamistischer Hassprediger im Jemen auf die Tötungsliste geriet, und führt aus: »Da al-Awlaki eine führende Rolle in der Terrororganisation alQaida auf der arabischen Halbinsel spiele und da die Gruppierung den Vereinigten Staaten den Krieg erklärt habe, habe er, schrieben die Rechtsexperten des Justizministeriums, seine verfassungsmäßig garantierten Rechte auf einen ordentlichen rechtsstaatlichen Prozess verwirkt.« Um es mit den Worten des Journalisten Glenn Greenwald im »Guardian« zu sagen: Die Tötungen, die bis heute anhalten, erfolgen allesamt ohne Offenlegung von Beweisen und ohne richterliche Prüfung von einer Regierung, die »sich das Recht herausnimmt, ihre eigenen Mitbürger umzubringen, weitab von jedem Kriegsgebiet und ohne jegliches ordentliches Gerichtsverfahren«. Der US-Demokrat Dennis Kucinich meint in »Schmutzige Kriege«: »Das Recht auf einen fairen Prozess? Gestrichen. Das Recht, denjenigen gegenüberzutreten, die einen anklagen? Gestrichen. Das Recht, vor grausamer und unüblicher Bestrafung geschützt zu sein? Gestrichen.«

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Foto: Ola Torkelsson / Kontinent / laif

Drohnen sehen alles. Drohnen-Training in der Holloman Air Force Basis in Alamgordo, New Mexico, USA.

Scahill betont, Obama habe im Jahr 2010 darauf bestanden, die Tötungsbefehle selbst zu unterzeichnen. Die Todeslisten seien immer länger geworden, weil sie auch Angriffe gegen Personen umfassen, »die nicht namentlich bekannt sind und aufgrund von verdächtig erachteten Verhaltensmustern« (Mazzetti) ausgewählt wurden. Diese »Signature Strikes« basieren auf zufälligen Merkmalen, die von Geheimdienstanalytikern in Datenbanken eingegeben werden – etwa junge Männer im wehrfähigen Alter, die in einer Taliban-Hochburg in Afghanistan leben (Scahill). Außerdem habe die politisch geförderte Konkurrenz zwischen dem Pentagon und der CIA zu einem Wettbewerb der Menschenjagd geführt, an deren Ende der US-Präsident »zum letzten Richter darüber erhoben« werde, »ob bestimmte Menschen in weit entfernten Ländern leben dürfen oder sterben müssen« (Mazzetti). Wo militärische Sondereinheiten kurzerhand der CIA unterstellt werden, wie zwei JSOC-Teams während der Tötung Bin Ladens, da sieht Mazzetti »das logische Ende eines Jahrzehnts, in dem die Tätigkeit von Soldaten und die von Agenten kaum noch zu unterscheiden waren«. Der CIA-Jurist George Jameson sagt in »Killing Business«: »Wir haben einen Geheimdienst, der einen Krieg führt, und Streitkräfte, die vor Ort geheimdienstliche Nachrichtenbeschaffung betreiben.«

Aktionen gut lesbar darzustellen. Beiden Journalisten ist eine herausragende Recherche zu einem Thema gelungen, das vielen geheimdienstlichen Einschränkungen unterliegt. Wo Scahill mit extremen Zuspitzungen polarisiert, wählt Mazzetti einen nüchternen Stil. Scahills Quellenapparat ist profunder, Mazzettis Verzicht auf Skandalisierung ist seriöser. »Diejenigen, deren Angehörige und Freunde Opfer solcher Angriffe wurden, haben einen legitimen Grund, Vergeltung zu üben«, lautet Scahills Fazit. Wer so schreibt, riskiert weitere Tote. Es gibt stattdessen viele legitime Gründe, vor alle Gerichte der Welt zu ziehen. Wer nach der Lektüre zu dem Schluss kommt, dass die USA beim Kampf gegen den Terror jenseits von internationaler Justiz, Menschenrechten und parlamentarischer Kontrolle jegliches Maß verloren haben, der liegt wohl nicht falsch. Ein Anlass, den alten Antiamerikanismus wiederzubeleben oder einen neuen zu formulieren, ist das nicht. Ein Land, in dem Journalisten so umfangreich und präzise wie Scahill und Mazzetti über die neuen Menschenjäger informieren, kann nach dem Antiterrorkampf auch den Kampf um die Wahrheit aufnehmen. Jeremy Scahill: Schmutzige Kriege. Amerikas geheime Kommandoaktionen. Aus dem Englischen von Gabriele Gockel, Bernhard Jendricke, Sonja Schuhmacher und Maria Zybak. Verlag Antje Kunstmann, München 2013. 720 Seiten, 29,95 Euro.

Legitimer Grund für Vergeltung? Beide Bücher haben nicht nur für Menschenrechtler einen hohen Informationswert. Beide Autoren verfügen über die Fähigkeit, komplexe und teils widersprüchliche staatliche Pläne und

kultur

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»killing business«

Mark Mazzetti: Killing Business. Der geheime Krieg der CIA. Aus dem Amerikanischen von Helmut Dierlamm und Thomas Pfeiffer. Berlin Verlag, Berlin 2013. 416 Seiten, 22,99 Euro.

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»Die Peitsche verstehen sie immer« Mit »Kongo« liegt Joseph Conrads Imperialismusklassiker »Reise ins Herz der Finsternis« nun auch als Graphic Novel vor – famos realisiert in SchwarzWeiß-Bildern, die an Grausamkeit nicht sparen. Von Maik Söhler

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Zeichnung: Tom Tirabosco / Avant-Verlag

chtzig Mal so groß wie Belgien war das Gebiet, das sich der damalige belgische Kaiser Leopold II. unter großer Belastung seines Privatvermögens während der Kongokonferenz im Jahr 1885 unter den Nagel riss. Zuerst Erlöse aus Elfenbein, später aus Kautschuk sollten die anfäng-

lichen Kosten schnell in Vergessenheit geraten lassen. Die Grausamkeit des belgischen Kolonialismus in Afrika, der wegen Kanonenbooten und Maschinengewehren von Historikern zur Ära des Imperialismus gezählt wird und dem nach Schätzungen um die sechs Millionen Kongolesen zum Opfer fielen, wurde kaschiert mit einer Rhetorik, die Zivilisation, Moral und Rechtsstaatlichkeit versprach; ähnlich, wie sie uns auch heute im Gepäck so mancher westlicher »Intervention« in andere Staaten begegnet. Insofern ist Joseph Conrads »Herz der Finsternis« und damit auch die neue Graphic Novel »Kongo« von Tom Tirabosco und Christian Perrissin erstaunlich aktuell. Wo in »Kongo« regelmäßig die Peitsche zum Einsatz kommt –«die Peitsche verstehen sie immer«, sagt ein schwarzer Gehilfe des Kapitäns über seine Landsleute –, waren es vor wenigen Jahren im Irak und in Afghanistan noch Extrembeschallung und Waterboarding. Tirabosco zeichnet die Geschichte um Kapitän Korzeniowski, den es wegen eines Jugendtraums und mangels Alternativen im Auftrag Leopolds II. in den Kongo verschlägt, wo er die Wasserhandelsrouten beschiffen und sichern soll, in Schwarz-Weiß. So kann sich der historische Charakter dieser literarischen Geschichte gut entfalten. Gleichzeitig ermöglicht der Verzicht auf Farbe auch, alle Nuancen von Grau und Schwarz deutlich hervorstechen zu lassen. So wird das »Herz der Finsternis« in der Graphic Novel schon rein optisch zu einer dunklen Angelegenheit. Optik und Handlung harmonieren vortrefflich. Sehr früh seiner Illusionen ob des zivilisatorischen Auftrags beraubt, sieht Kapitän Korzeniowski die dunkle Realität des belgischen Imperialismus im Kongo: Schwarze, die nach Belieben von den weißen Kolonisatoren misshandelt und getötet werden; eine unfassbare Raffgier, die jeden befällt, der im Auftrag Belgiens im größten Land Afrikas unterwegs ist; eine Herrenmenschenmentalität, die sich dank reichlich Alkohols selbst angesichts abgeschnittener Gliedmaßen noch eines robusten Humors bedient. Ein kenntnisreiches Nachwort von Christian Perrissin ordnet das Geschehen schließlich literarisch, historisch und personell ein. »Kongo«, der Stoff Joseph Conrads, war die wohl beste Neuerscheinung des Jahres 2013 auf dem Markt der Graphic Novels in Deutschland. Tom Tirabosco/Christian Perrissin: Kongo. Joseph Conrads Reise ins Herz der Finsternis. Übersetzung: Annika Wisniewski. Avant-Verlag, Berlin 2013.

Eine Welt in Schwarz-Weiß. Szene aus der Graphic Novel »Kongo«.

60

176 Seiten, 24,95 Euro.

amnesty journal | 02-03/2014


Lernen und Schreiben in Kenia

Lager in aller Welt

Ein Schriftsteller schaut zurück auf seine Schul- und Universitätsjahre und was er entdeckt, ist internationale Krisenökonomie: »Seit den 1950er Jahren musste sich kein Kenianer, der bei den Prüfungen gut abgeschnitten hatte, irgendwelche Sorgen ums Geld machen. (…) Jetzt besteht der IWF darauf, dass wir nicht mehr so viel Staatsgeld für die Bildung ausgeben.« Binyavanga Wainaina, der diesen Satz in seinem autobiografischen Roman »Eines Tages werde ich über diesen Ort schreiben« notiert, hat viel zu sagen über die Entwicklung Kenias von den siebziger Jahren bis in die Gegenwart – kulturell, ökonomisch, gesellschaftlich und politisch. Seine Sicht auf die vielen Veränderungen des ostafrikanischen Landes ist einerseits die eines gut gebildeten Bürgers, der nationale Fortschritte erhofft und allzu oft nur Tribalismus und Vetternwirtschaft entdeckt. Zum anderen beherrscht er, der in Südafrika studiert und dank Literaturstipendien andere Staaten Afrikas bereist hat, auch die Perspektive eines Panafrikaners, der das Gemeinsame auf dem gesamten Kontinent sucht und dem das Spezifische Kenias deshalb umso konturierter in den Blick gerät. Das Ergebnis ist ein kurzweiliges Buch, in dem aus gut skizzierten Widersprüchen und feinsinnigen Beobachtungen moderne afrikanische Literatur entsteht.

Von den ersten Lagern in der Neuzeit bis zum immer noch nicht geschlossenen US-Gefangenenlager in Guantánamo reicht die Geschichte der Lager, in die Staaten missliebige Menschen sperren. »Welt der Lager«, ein Sammelband von Bettina Greiner und Alan Kramer, widmet sich den Unterschieden und Gemeinsamkeiten von Lagersystemen in Geschichte und Gegenwart, der Entrechtung von Häftlingen und der Funktionsweise von Lagern für die politische Macht. Im Vorwort schreibt Kramer: »Lager sind ein weltumspannendes Phänomen, dessen sich alle politischen Systeme bedienen, Diktaturen ebenso wie Demokratien – bis zum heutigen Tag.« Entrechtete Menschen würden im Lager – anders als im Gefängnis – »nicht dafür festgehalten, was sie getan hatten, sondern dafür, was sie sind«. Folgt man dem Sachbuch, so entstanden Lagersysteme in der imperialistischen Ära, vor allem der Erste Weltkrieg beschleunigte ihr Entstehen, sodass der moderne Staat ein Mittel fand, um »Andere« gut sichtbar auszuschließen. Auch der Nationalismus habe dazu beigetragen, dass aus Lagern leider eine »Erfolgsgeschichte« geworden sei. Die Autoren unterscheiden zwischen Internierungslagern, Konzentrationslagern und Vernichtungslagern. Ein Kapitel über Guantánamo zeigt die Aktualität des Buches, ohne die Schrecken der nationalsozialistischen Vernichtungslager zu relativieren. Schade, dass den derzeit in Europa am weitesten verbreiteten Lagern keine Aufmerksamkeit zukommt: den Flüchtlingslagern.

Binyavanga Wainaina: Eines Tages werde ich über diesen Ort schreiben. Aus dem Englischen von Thomas Brückner. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2013. 320 Seiten, 24,80 Euro.

Bettina Greiner/Alan Kramer: Welt der Lager. Zur »Erfolgsgeschichte« einer Institution. Hamburger Edition, Ham-

Doppelmoral in Tunesien Die eigene sexuelle Lust lebt Ibrahîm auch schon mal bei einer Prostituierten aus, doch wenn die geschiedene Nachbarin Naîma Herrenbesuch hat, sieht er die islamische Moral verletzt und ruft die Polizei. Habib Selmi, tunesischer und seit zwei Jahrzehnten in Frankreich lebender Schriftsteller, legt mit »Die Frauen von al-Bassatîn« einen Roman vor, der sich dem städtischen Leben unter der Herrschaft Ben Alis in Tunesien zuwendet. Die Unzufriedenheit im Land ist groß, die Religiosität nimmt zu, Polizei und Spitzel der Regierung sind allgegenwärtig. Selmis Roman liest sich wie ein Protokoll der letzten Monate eines sterbenden Regimes, ein Protokoll allerdings, das aus der Alltagssicht der Bürger geschrieben ist, die mal zur unteren, mal zur oberen Mittelschicht gehören. Sein Protagonist Taufik ist für einige Wochen auf Verwandtenbesuch im Stadtviertel al-Bassatîn in Tunis. Ihm, dem Exiltunesier, vertrauen sich die Romanfiguren an: »In Tunesien habe ich das Gefühl, ersticken zu müssen. (…) Alle Leute kontrollieren sich gegenseitig. Tunesien ist die reine Hölle!« Die Übersetzerin Regina Karachouli verweist in ihrem Nachwort zu Selmis drittem Roman auf die Fähigkeit des Autors, hinter »die Fassade opportunistischer Wohlanständigkeit« zu schauen. Sie werde von vielen aus Angst vor der Staatsmacht aufrechterhalten. Diese Staatsmacht aber hat sich verändert. Auch der nächste Roman Selmis könnte interessant werden.

burg 2013. 359 Seiten, 32 Euro.

Straße ins Exil Berlin 1938: Die Eltern der zehnjährigen Ziska Mangold hoffen, nach Shanghai auswandern zu können. Die Millionenstadt ist zum damaligen Zeitpunkt das einzig mögliche Ziel für deutsche und österreichische Juden ohne Papiere. Während Anne C. Voorhoeve in ihrem Vorgängerroman »Liverpool Street« das Scheitern der Fluchtpläne der jüdischen Familie schildert, glückt den Mangolds in »Nanking Road« die Flucht ins chinesische Exil. Angelegt als Alternativ-Version der Familiengeschichte rückt die Autorin ein kaum beachtetes Kapitel europäischer Flüchtlingsgeschichte in den Fokus: Exilanten durften auch noch 1938 ohne Bürgschaft, Visum oder Restriktionen nach China einwandern. Voorhoeves eindringliche Sprache, die präzise geschilderten Lebensumstände und Emotionen des Mädchens fesseln: Die abenteuerliche Flucht von Ziska und ihrer Familie droht immer wieder zu scheitern. Endlich auf dem rettenden Ozeandampfer angekommen, sieht sich das Mädchen mit dem Aufeinanderprallen unterschiedlicher sozialer Klassen und unterschwelligen Diskriminierungen konfrontiert. Und auch das Leben im Exil wird von bitterer Armut, Ablehnung, Kriegsgeschehen und Überlebenskampf dominiert. Ein beeindruckendes fiktives Stück Zeitgeschichte.

Habib Selmi: Die Frauen von al-Bassatîn. Aus dem Arabi-

Anne C. Voorhoeve: Nanking Road. Ravensburger

schen von Regina Karachouli. Lenos, Basel 2013. 220 Seiten,

Buchverlag, Ravensburg 2013, 478 Seiten, 16,99 Euro.

19,90 Euro.

Ab 13 Jahren.

Bücher: Maik Söhler, Marlene Zöhrer kultur

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bÜcher

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Ein angeblicher Einzeltäter

Hüter der Tradition

»Man postiert den Einzeltäter wie eine Marionette. Anschließend schneidet man die Fäden ab ...« Staatsschützer Hans Langemann weiß gleich zu Beginn von Daniel Harrichs engagiertem Film »Der blinde Fleck« ganz genau, wie man Attentate begeht und trotzdem vermeidet, Spuren zu hinterlassen. Gerade hat er seine Theorie den staunenden Polizeischülern vorgetragen. Kurze Zeit später passiert, wovon er geredet hat. Der 21-jährige Gundolf Köhler soll eine Bombe am Eingang des Oktoberfest-Areals in München gezündet haben. 13 Menschen werden getötet, 211 zum Teil schwer verletzt. Der 16. September 1980 geht in die Geschichte ein. Benno Fürmann spielt den Radiojournalisten Ulrich Chaussy, der im Umfeld des Anschlags recherchierte und auf dessen Aufzeichnungen dieser Film basiert. Die Behörden präsentierten Köhler damals als Wirrkopf, der die Bombe völlig ohne Unterstützung gebastelt, platziert und gezündet haben soll. Auch wenn Zeugen bisweilen das komplette Gegenteil aussagten und die Spuren augenfällig ins rechtsradikale Milieu führten. Sehr deutlich weist der Film auf die Parallelen zum aktuellen NSUSkandal hin. Bis heute fordern Initiativen die Wiederaufnahme der Ermittlungen, die damals sehr schnell eingestellt wurden. 1997 hat die Generalbundesanwaltschaft die gesicherten Beweisstücke vernichten lassen – im Keller soll kein Platz mehr gewesen sein. Auch wenn die Darsteller – durchaus ein deutsches Starensemble – und die Dramaturgie nicht immer ganz stilsicher wirken: Dies ist ein eminent wichtiger Film.

Unter den namhaften Musikern des Balkans finden sich auffällig viele Roma. Weil es für Roma sonst nur wenig Möglichkeiten zum gesellschaftlichen Aufstieg gab und gibt, müssen sie einfach besser sein als alle anderen, um im Musikgeschäft zu überleben. Die Musik ist eines der wenigen Gebiete, auf denen diese diskriminierte Minderheit seit jeher Anerkennung erfährt – als Hochzeitsmusiker und zu anderen Festlichkeiten wurden sie schon immer gern gebucht. Mit den regionalen Traditionen und Volksweisen sind sie deshalb so gut vertraut, dass sie heute zu deren eigentlichen Hütern gehören. Boban Markovic aus Belgrad ist der unbestrittene King der Balkan-Blaskapellen. Mit seinem Orchester hat er den Trompeterwettbewerb beim legendären Festival im südserbischen Guca schon so oft gewonnen, dass er dort als Rekordmeister den Ehrenvorsitz führt, vor einigen Jahren hat er das Zepter an seinen Sohn Marko weitergegeben. Auf ihrem gemeinsamen Album »Gipsy Manifesto« ziehen Vater und Sohn nun selbstbewusst Bilanz: mit klassischen Gassenhauern wie »Caje Sukarije« im neuen Gewand und mit poppigen Neukompositionen im Shantel-Stil (»Turbo Dizel«), mit gewohnt messerscharfen High-Speed-Bläsersätzen zwischen Funk, Folklore und Jazz, aber auch mit einer um Gitarre, Akkordeon und Klavier erweiterten Big-BandBesetzung und pumpenden Beats, die mit Karacho auf den Disco-Dancefloor drängen. Diese swingende »Balkan-Karavan«, so der Titel des dritten Stücks, widerlegt das Bild von der Armutsmigration, schöpft aus dem Vollen und macht viel Spaß.

»Der blinde Fleck«. D 2013. Regie: Daniel Harrich, Darsteller: Benno Fürmann, Heiner Lauterbach. Gerade angelaufen

Boban & Marko Markovic: Gipsy Manifesto (Piranha)

Die Biene als Symbol

Sampler für Pussy Riot

Bienenfilme (»Honig«, »More than Honey«) gab es zuletzt einige – gut geht es den fleißigen Gesellinnen im AmnestyOutfit Schwarz-Gelb nicht. Sie sind durch Pestizide vom Aussterben bedroht. Für die Illusionsmaschine Kino ist es da nur logisch, die Analogie herzustellen zwischen gefährdeter Tierart und bedrängtem Menschen. In Mano Khalils Dokumentarfilm »Der Imker« finden sie mustergültig zusammen. Ibrahim Gezer war einst erfolgreicher Bienenzüchter in der Türkei mit wirtschaftlicher Perspektive und großer Familie. Dann musste er aufgrund seiner kurdischen Herkunft bis in die Schweiz fliehen. Dort gilt seine Profession aber nur als Hobby – die Arbeitsgesetze verpflichten ihn, in der Fabrik Bonbons zu verpacken. Gezers Ausweis ist jünger datiert – nun kämpft er darum, fünf Jahre älter zu sein, damit er in Rente gehen kann. Gezer gibt Auskunft über das Leben eines alten Asylbewerbers – ein Thema, das selten beleuchtet wird. Seine Kinder sterben im türkisch-kurdischen Krieg, er liest es in der Zeitung, die Kamera ist dabei. Die Ehefrau hat vor langer Zeit Selbstmord begangen. Khalils Film leuchtet die Existenz des 60-jährigen Flüchtlings aus. Manchmal etwas langatmig , fällt dieser Film durch seine neuartige Perspektive aus dem Rahmen.

Von März 2012 bis Dezember 2013 saßen Nadeschda Tolokonnikowa und Maria Aljochina in Haft. Dass die beiden Musikerinnen der feministischen Punkrock-Band Pussy Riot für ihren kurzen Skandal-Auftritt in der Moskauer Christ-ErlöserKathedrale zu zwei Jahren Haft im Straflager verurteilt wurden, sorgte weltweit für Empörung und führte zu Solidaritätsaktionen von Musikern. »Freedom for Pussy Riot« forderte auch »Female Pressure«, ein weltweites Online-Netzwerk von Frauen, die sich auf dem Gebiet der elektronischen Musik und der digitalen Kunst bewegen. Mit einer Compilation, die im Internet auf »Soundcloud« zu hören ist, solidarisieren sie sich mit den beiden Russinnen. Der Sampler streift durch diverse Spielarten der elektronischen Musik, von Elektro über Ambient und Minimal Techno bis zu Industrial und Noise. So manche der Sound-Collagen haben den Charakter von düsteren Mini-Hörspielen – etwa bei Skr3amy aus Frankreich, die auf ihrem Track »Keeping you there« ein bedrohliches Szenario entwirft, oder das Stück der Italienerin Antonella Pintus alias »Anna Bolena«, die russische Chöre wie Interferenzen aus dem Äther in ihr wütendes Beat-Geballer mischt. Der Erlös der »Freedom Compilation« soll den Pussy-Riot-Musikerinnen zugute kommen.

»Der Imker«. CHE 2013. Regie: Mano Khalil. Kinostart: 30. Januar 2014

Female Pressure: Pussy Riot (Freedom Compilation)

Film: Jürgen Kiontke | Musik: Daniel Bax 62

amnesty journal | 02-03/2014


Fotos: Heldenfilm

Revolution der Farben und Formen Sichtbarer Aufstand. Regisseur Marco Wilms mit der Kamera während der Proteste.

Der Regisseur Marco Wilms hat die ägyptische Revolution gefilmt. »Art War« ist das farbenfrohe und zugleich traurige Dokument des Arabischen Frühlings. Von Jürgen Kiontke

K

nallbunt, riesengroß, hochpolitisch, öffentlich: Die Kunst junger Ägypter ist voller Farben, ziert die Hauswände, handelt von der arabischen Revolte gegen Militär und Islamismus und ist für jedermann zugänglich. Ihr Ort ist der Tahrir-Platz, ihr Material sind die Kämpfe für Freiheit und Demokratie und ihr dramatisches Personal die Toten, die diese fordern. Der Regisseur Marco Wilms hat den ägyptischen Widerstand in und um Kairo mehr als drei Jahre lang gefilmt und ihm nun in dem Film »Art War« ein beeindruckendes Denkmal gesetzt. Der Film zeigt die explosive Kreativität, mit der die Künstler ihr Können als wirkungsvolle Waffe im Kampf für ihre Rechte nutzen. Der Schriftsteller Hamed Abdel-Samad führt durch Kairos neue Kunstszene: Elektropunk, Hip-Hop und Graffiti sind die künstlerischen Mittel von Ganzeer, Aliaa und Bosaina. Die jungen Künstler sagen: Der persönliche Ausdruck ist unsere Politik. Es ist das Jahr 2011, der arabische Aufbruch ist in vollem Gange, die Ägypter jagen den langjährigen Präsidenten Hosni Mubarak aus dem Amt. In das Machtvakuum stoßen jedoch Kräfte, die den Aktivisten auf dem Tahrir-Platz auch nicht recht sein können: Militär und fundamentalistische Gruppen. Hatte man sich nicht Freiheit und Demokratie auf die Fahnen geschrieben? Es wird scharf geschossen, es gibt Tote. Die GraffitiGalerie »Straße der Märtyrer« zeugt davon. Ein Kameramann schmuggelt sich in die Polizeiketten ein – und filmt einen Scharfschützen, wie er gezielt Demonstranten ins Visier nimmt. Alaa, der Sprayer, entwirft eine Schablone vom Gesicht des Mörders. Sein Bild klebt bald an jeder Straßenecke. Und tatsächlich soll der Schütze vor Gericht gestellt werden – 19 Menschen soll er ermordet haben.

kultur

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film & musik

Sprechende Wände. Street Art in Kairo.

Die Sprayer nehmen sich ebenso die Islamisten vor mit ihrer zwiespältigen, aber rigiden Moral. Die künstlerischen Formen sind Nacktheit und öffentliche Debatten: Über die Darstellung unbekleideter Frauen regt sich die Gesellschaft auf, nicht aber, dass Soldaten vor aller Augen einen »Jungfräulichkeitstest« an einem Mädchen durchführen. Wilms begibt sich in seinem sehr kompakten und schnell geschnittenen Film auf die Suche nach der Tradition bildender Künste in Ägypten. Gemalt wurde dort immer, und zwar auf die Hauswand. Farben- und Formenvielfalt bestimmen die Bilder. Gedreht wird oft genug in Tränengas und Anarchie – dieser Film ist selbst eine Kunstinstallation, wie die ganze ägyptische Revolte. Die ist nun schon mehrmals niedergeschlagen worden – die alte Ordnung will nicht weichen. Aber wie Abdel-Samad sagt, soll man die Hoffnung nicht aufgeben: »Revolutionen bewegen langfristig. Und das hier wird ein langes Theaterstück.« »Art War«. D 2013. Regie: Marco Wilms. Gerade angelaufen

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Tag fĂźr Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt oder man lässt sie ÂťverschwindenÂŤ. amnesty international verĂśffentlicht regelmäĂ&#x;ig an dieser Stelle drei Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzu pran gern und zu beenden. Sie kĂśnnen mit Ihrem persĂśnlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, hĂśflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen BehĂśrden des Landes. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie bitte eine digitale Kopie an amnesty international.

amnesty international Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 Fax: 030 - 42 02 48 - 488 E-Mail: info@amnesty.de, www.amnesty.de Spendenkonto Bank fĂźr Sozialwirtschaft (BfS), KĂśln Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00 oder Postbank KĂśln Konto: 22 40 46 - 502, BLZ: 370 100 50 BIC: BFSWDE33XXX IBAN: DE23370205000008090100

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Foto: privat

briefe gegen das Vergessen

usbekistan dilorom abdukadiroVa Die 48-jährige Dilorom Abdukadirova verbĂźĂ&#x;t derzeit in Usbe kis tan eine 18-jährige Haftstrafe. Die vierfache Mutter befand sich am 13. Mai 2005 auf dem Babur-Platz in Andischan, einer Stadt im SĂźdosten Usbekistans, wo sich Hunderte versammelt hatten, um ihrer Sorge um die Wirtschaft des Landes Ausdruck zu verleihen. Sicherheitskräfte erĂśffneten das Feuer auf die zumeist unbewaffneten Demonstrierenden. Dabei wurden Hunderte Personen getĂśtet, auch Frauen und Kinder. In Todesangst floh Dilorom Abdukadirova mit etwa 500 weiteren Demonstrierenden zu FuĂ&#x; nach Kirgisistan und wurde so von ihrer Familie getrennt. Später wurde sie in ein FlĂźchtlingslager nach Rumänien gebracht und erhielt ein australisches FlĂźchtlingsvisum. Im Februar 2006 gelangte Dilorom Abdukadirova nach Australien, wurde dort als FlĂźchtling anerkannt und erhielt eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung. Aber sie wollte zurĂźck nach Hause. Obwohl ihr die usbekischen BehĂśrden zugesichert hatten, dass sie getrost zurĂźckkehren kĂśnne, wurde sie im Januar 2010 bei ihrer Ankunft in Usbekistan am Flughafen vier Tage lang in Gewahrsam genommen. Im März 2010 wurde sie erneut festgenommen und mehrerer Vergehen angeklagt, unter anderem des Versuchs, die verfassungsgemäĂ&#x;e Ordnung zu stĂźrzen. Sie wurde nach einem unfairen Verfahren verurteilt. Zu den Verhandlungen erschien sie abgemagert und mit BlutergĂźssen im Gesicht. Amnesty International betrachtet Dilorom Abdukadirova als gewaltlose politische Gefangene, die nur deshalb verurteilt wurde, um sie fĂźr die friedliche Wahrnehmung ihrer Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu bestrafen. Bitte schreiben Sie hÜich formulierte Briefe an den usbekischen Generalstaatsanwalt und fordern Sie darin die umgehende und bedingungslose Freilassung von Dilorom Abdukadirova sowie eine umgehende und unparteiische Untersuchung der VorwĂźrfe, sie sei in der Haft gefoltert worden. Bitten Sie zudem darum, die fĂźr Folter oder Misshandlungen Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Schreiben Sie in gutem Usbekisch, Russisch, Englisch oder auf Deutsch an: Prosecutor General Rashidzhon Kodirov Prosecutor General’s Office of Uzbekistan ul. Gulyamova 66 Tashkent 700047, USBEKISTAN (Anrede: Sehr geehrter Herr Generalstaatsanwalt / Dear Prosecutor General) Tel.: 009 98 - 71 - 133 39 17 E-Mail: prokuratura@lawyer.uz (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,75 â‚Ź) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Usbekistan S. E. Herrn Durbek Amanov Perleberger StraĂ&#x;e 62, 10559 Berlin Fax: 030 - 39 40 98 62 E-Mail: botschaft@uzbekistan.de

amnesty journal | 02-03/2014


Mohamed ’Abdullah al-Roken ist ein bekannter Menschenrechtsanwalt in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) und ein langjähriger UnterstĂźtzer von Amnesty International. Er wurde im Juli 2013 in einem Gerichtsverfahren, das bei Weitem nicht den internationalen Standards fĂźr ein faires Verfahren entsprach, zu zehn Jahren Haft verurteilt. Mohamed ’Abdullah al-Roken wurde 2012 festgenommen, als die Regierung mit groĂ&#x;er Härte gegen Personen vorging, die sich fĂźr politische Reformen in den VAE einsetzten. Dabei wurden unter anderem Menschenrechtsverteidiger, Richter, politische Aktivisten, Universitätsdozenten und Studierende ins Visier genommen. Al-Roken hat in der Vergangenheit Personen in prominenten Menschenrechtsfällen vor Gericht vertreten und war zum Zeitpunkt seiner Festnahme als Rechtsbeistand fĂźr einige ReformbefĂźrworter tätig, denen man die StaatsangehĂśrigkeit entzogen hatte. Viele der 94 Personen, die im Juli 2013 in einem Massenverfahren angeklagt wurden, berichteten Ăźber Misshandlungen in Haft. Demnach wurden sie Ăźber längere Zeit in Einzelhaft gehalten, brutal geschlagen und mit Schlafentzug gefoltert. Mohamed ’Abdullah al-Roken und 68 weitere Personen – darunter auch sein Schwiegersohn – wurden in einem unfairen Verfahren, bei dem viele UnregelmäĂ&#x;igkeiten auftraten, wegen ÂťPlanung eines StaatsstreichsÂŤ zu Haftstrafen zwischen sieben und 15 Jahren verurteilt. Seit VerkĂźndung des Urteils durfte sein Rechtsbeistand ihn erst einmal besuchen. Amnesty International betrachtet Mohamed ’Abdullah al-Roken als gewaltlosen politischen Gefangenen, der nur aufgrund der friedlichen Wahrnehmung seiner Rechte und seiner Arbeit als Verteidiger inhaftiert ist. Bitte schreiben Sie hÜich formulierte Briefe an den Präsidenten der Vereinigten Arabischen Emirate und fordern Sie ihn auf, Mohamed ’Abdullah al-Roken unverzĂźglich und bedingungslos freizulassen und das gegen ihn verhängte Urteil aufzuheben. Bitten Sie zudem hĂśflich darum, Mohamed ’Abdullah al-Roken vor Folter und anderer Misshandlung zu schĂźtzen und ihm regelmäĂ&#x;igen Zugang zu seinem Rechtsbeistand und seiner Familie zu gewähren. Schreiben Sie in gutem Arabisch, Englisch oder auf Deutsch an: President Sheikh Khalifa bin Zayed Al Nahyan Ministry of Presidential Affairs Corniche Road Abu Dhabi, P.O. Box 280, VEREINIGTE ARABISCHE EMIRATE (Anrede: Your Highness / Sehr geehrter Herr Präsident) Fax: 009 71 - 2 - 622 22 28 E-Mail: ihtimam@mopa.ae (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,75 â‚Ź) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Vereinigten Arabischen Emirate S. E. Herrn Jumaa Mubarak Jumaa Salem Aljunaibi HiroshimastraĂ&#x;e 18–20, 10785 Berlin Fax: 030 - 51 65 19 00

briefe gegen das Vergessen

Foto: Karnt Thassanaphak

Foto: privat

Vereinigte arabische emirate dr. mohamed ’abdullah al-roken

thailand somyot prueksakasemsuk Somyot Prueksakasemsuk, Gewerkschafter und ehemaliger Herausgeber einer politischen Zeitschrift, verbĂźĂ&#x;t eine zehnjährige Haftstrafe, weil er zwei Artikel verĂśffentlichte, die von der thailändischen Monarchie als Beleidigung verstanden werden. Der Familienvater wurde im April 2011 an der Grenze zu Kambodscha festgenommen. FĂźnf Tage zuvor hatte Somyot Prueksakasemsuk eine Kampagne gestartet, mit der er eine parlamentarische ĂœberprĂźfung des thailändischen ÂťLèse-MajestĂŠÂŤGesetzes erreichen wollte. Dieses Gesetz sieht fĂźr Aussagen oder Handlungen, die Âťden KĂśnig, die KĂśnigin, den Thronfolger oder den Regenten entehren, beleidigen oder bedrohenÂŤ, eine Haftstrafe von bis zu 15 Jahren vor. Am 22. Juli 2011 wurde Somyot Prueksakasemsuk wegen Majestätsbeleidigung angeklagt. Sein Verfahren begann im November 2011 in Bangkok, und im Januar 2013 wurde Somyot Prueksakasemsuk fĂźr jeden der beiden Artikel zu jeweils fĂźnf Jahren Haft verurteilt. Das Gericht setzte zudem eine weitere, in einem anderen Fall ausgesprochene und zuvor ausgesetzte einjährige Gefängnisstrafe wieder in Kraft. Somyot Prueksakasemsuk, der seit seiner Festnahme inhaftiert ist, leidet an Bluthochdruck, Gicht und Hepatitis B. Er hat gegen das Urteil Berufung eingelegt. Nach thailändischem Recht kĂśnnte er bis zum Abschluss des Berufungsverfahrens freigelassen werden, die BehĂśrden haben jedoch alle seine 15 Anträge auf Haftentlassung abgewiesen. Bitte schreiben Sie hÜich formulierte Briefe an die Ministerpräsidentin Thailands, in denen Sie Ihre Sorge bezĂźglich der Inhaftierung von Somyot Prueksakasemsuk ausdrĂźcken und die BehĂśrden bitten, ihn umgehend und bedingungslos freizulassen, die Anklagen gegen ihn fallenzulassen und das gegen ihn ergangene Urteil aufzuheben. Appellieren Sie an die Regierung, Menschen zu schĂźtzen, die friedlich von ihrem Recht auf freie MeinungsäuĂ&#x;erung Gebrauch machen, und den Artikel 112 des thailändischen Strafgesetzbuches gemäĂ&#x; internationalen Menschenrechtsstandards abzuändern. Schreiben Sie in gutem Thailändisch, Englisch oder auf Deutsch an: Prime Minister Yingluck Shinawatra Government House Pitsanulok Road, Dusit District Bangkok 10300, THAILAND (Anrede: Sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin / Dear Prime Minister) Fax: 00 66 - 2 - 288 40 16 oder 00 66 - 2 - 282 51 31 Facebook: www.facebook.com/Y.Shinawatra (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,75 â‚Ź) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft des KĂśnigreichs Thailand I. E. Frau Nongnuth Phetcharatana LepsiusstraĂ&#x;e 64–66, 12163 Berlin Fax: 030 - 79 48 15 11 oder 030 - 79 48 12 51 E-Mail: general@thaiembassy.de

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Foto: Amnesty

aktiV fĂœr amnesty

Zeichen der Solidarität. Auch in Algerien beteiligten sich Aktivistinnen und Aktivisten am Briefmarathon 2013.

die macht der Vielen worte Mit Briefen und Appellen schufen Menschen aus aller Welt im Dezember 2013 erneut ein Denkmal fĂźr die Menschenrechte: Der jĂźngste Briefmarathon von Amnesty International ist noch nicht ausgezählt – da feiern Freiheit und Gerechtigkeit bereits ihren ersten Sieg in Russland. ÂťDie Kunst des Briefeschreibens ist nichts anderes als die Kunst, die Arme zu verlängernÂŤ – davon war Denis Diderot bereits im 18. Jahrhundert Ăźberzeugt. Im Sinne des franzĂśsischen Philosophen griffen im Dezember 2013 Hunderttausende weltweit zum Stift, um Menschen in Bedrängnis die Hand zu reichen: Rund um den Tag der Menschenrechte am 10. Dezember startete Amnesty International zum 13. Mal einen weltweiten Briefmarathon. In den Adressfeldern standen Regierende, Staatskanzleien und Ministerien, die aufgefordert wurden, die Menschenrechte zu wahren und Unrecht zu beenden. Die Briefe gingen aber auch an UnterdrĂźckte, unrechtmäĂ&#x;ig Inhaftierte und Verfolgte: Sie erhielten tausendfach Zeichen der Solidarität. Noch wurden nicht alle Briefe, Appelle und E-Mails ausgezählt: Anfang Januar stand der Zähler bei 1.772.265 – ob erstmals die Zweimillionenmarke geknackt wurde, bleibt abzuwarten. In Deutschland wurden allein Ăźber die Aktions-Webseite im Internet mehr als 70.000 Appelle verschickt. Auf Weihnachtsmärkten, an Universitäten und in BĂźchereien von mehr als siebzig deutschen Städten gab es zehn Tage lang unterschiedliche Veranstaltungen und Aktionen. Amnesty Brasilien sammelte Unterschriften am Strand, Aktivisten in Chile machten mit einer Fahrradtour durch die Hauptstadt auf den Briefmarathon aufmerksam. In Frankreich beleuchtete Amnesty Botschaftsgebäu-

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de der verantwortlichen Staaten mit Porträts der Fälle und die Sektion in Togo krĂśnte ihren Briefmarathon mit einem Musik festival am Tag der Menschenrechte. In Deutschland standen im Mittelpunkt des Briefmarathons Fälle aus Myanmar, Mexiko, Tunesien, Nigeria und Russland. Die Regierung in Moskau kam inzwischen einer Forderung nach und entlieĂ&#x; mit Vladimir Akimenkov einen der ÂťBolotnaja DreiÂŤ aus einjähriger Untersuchungshaft. Akimenkov, Artiom Saviolov und Mikhail Kosenko hatten am 6. Mai 2012 an einer Demonstration auf dem Moskauer Bolotnaja-Platz gegen die Wiederwahl Wladimir Putins teilgenommen. Wegen ÂťBeteiligung an MassenunruhenÂŤ kamen sie und mehr als zwanzig weitere Demonstrierende in Haft. Kosenko wurde fĂźr schuldunfähig erklärt und in die Psychiatrie eingewiesen, Saviolov befindet sich immer noch in Untersuchungshaft. Freigekommen ist Akimenkov durch eine von Präsident Putin initiierte landesweite Amnestie, die auch gewaltlosen politischen Gefangenen wie Michail Chodorkowski sowie Nadeschda Tolokonnikowa und Maria Aljochina von der Band ÂťPussy RiotÂŤ die Freiheit zurĂźckbrachte. Ob es sich bei diesen Begnadigungen um eine Taktik des Kremls handelt, vor den Olympischen Spielen in Sotschi die internationale Kritik an Russlands Menschenrechtssituation abzufedern, oder ob sie ein tatsächliches Umdenken bedeuten, wird sich zeigen. Die Bilanz des Briefmarathons 2013 ist in jedem Fall schon jetzt positiv: Worten folgen Taten. Die genaue Zahl der Appelle und Briefe, die um den Globus gingen, wird im nächs ten Amnesty Journal zu lesen sein. Text: Natalia Bronny

amnesty journal | 02-03/2014


Die Studenten staunten nicht schlecht: Gerade noch hatten sie den AusfĂźhrungen ihres Professors gelauscht, da stĂźrmten plĂśtzlich zwei schwarz maskierte Gestalten die Vorlesung und zerrten den Hochschullehrer aus dem HĂśrsaal. Doch schnell wurde klar: Die beiden ÂťKidnapperÂŤ waren junge Amnesty-Aktivisten und der Professor war in seine ÂťEntfĂźhrungÂŤ eingeweiht. Mit der ungewĂśhnlichen Aktion wollte die Amnesty-Hochschulgruppe der Berliner Humboldt-Universität am 4. Dezember auf die prekäre Lage in Russland aufmerksam machen, wo das Recht auf freie MeinungsäuĂ&#x;erung in den vergangenen Jahren durch eine ganze Reihe von Gesetzen massiv eingeschränkt wurde. An einem Informationsstand im Foyer der Uni konnten Interessierte Petitionen unterschreiben – etwa fĂźr die Freilassung politischer Gefangener oder fĂźr die Abschaffung des sogenannten ÂťAgentengesetzesÂŤ, mit dem der Kreml seit vergangenem Jahr NGOs zu drangsalieren versucht. Fast 200 Unterschriften kamen zusammen.

aktiV fĂœr amnesty

Durch ganz unterschiedliche Veranstaltungen geben Amnesty-Mitglieder den Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme. Diese Aktionen vor Ort sind ein unentbehrlicher Teil der Arbeit von Amnesty International. Mehr Informationen darĂźber finden Sie auf http://blog.amnesty.de und www.amnesty.de/kalender

impressum Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, Tel.: 030 - 42 02 48 - 0, E-Mail: info@amnesty.de, Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion Amnesty Journal, Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, E-Mail: journal@amnesty.de (fĂźr Nachrichten an die Redaktion) Redaktion: Bernd Ackehurst, Markus N. Beeko, Anton Landgraf (V.i.S.d.P.), Ramin M. Nowzad, Larissa Probst Mitarbeit an dieser Ausgabe: Cigdem Akyol, Birgit Albrecht, Ali Al-Nasani, Daniel Bax, Thomas Beckmann, Toby Binder, Natalia Bronny, Selmin ÇalÄąĹ&#x;kan, Rupert Haag, Ingo Jacobsen, JĂźrgen Kiontke, Arne Kouker, Sabine Mahler, Ferdinand Muggenthaler, Ralf Rebmann, Wera Reusch, Wiltraud von der Ruhr, Uta von Schrenk, Martina Schwikowski, Maik SĂśhler, Franziska Ulm-DĂźsterhĂśft, Keno Verseck, Marlene ZĂśhrer Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck: Hofmann Druck, NĂźrnberg Vertrieb: Carnivora Verlagsservice, Berlin Bankverbindung: Amnesty International, Kontonr. 80 90 100, Bank fĂźr Sozialwirtschaft (BfS), KĂśln, BLZ 370 205 00, BIC: BFSWDE33XXX, IBAN: DE23370205000008090100 Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und erscheint sechs Mal im Jahr. Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Nichtmitglieder kĂśnnen das Amnesty Journal fĂźr 30 Euro pro Jahr abonnieren. FĂźr unverlangt eingesandte Artikel oder Fotos Ăźbernimmt die Redaktion keine Verantwortung. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder. Die Urheberrechte fĂźr Artikel und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch fĂźr die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, fĂźr die Verbreitung im Internet oder fĂźr Vervielfältigungen auf CD-Rom.

ISSN: 1433-4356

aktiV fĂœr amnesty

selmin ÇaliĹ&#x;kan Ăœber

ermittlungssache mali

Foto: Amnesty

aus dem hĂśrsaal abgefĂœhrt!

Ende November reiste ich mit einer Amnesty-Delegation nach Mali, wo wir uns ein Bild von der Menschenrechtslage nach den Wahlen machen wollten. Am Ufer des Niger kam es zu einem unvergesslichen Treffen mit Salif Keita, dem groĂ&#x;en Musiker. Wir sprachen mit ihm Ăźber die politische Situation in seinem Land, seine Situation als sogenannter Albino und Ăźber sein Engagement. Er sagte uns zu, dass er die malische Amnesty-Sektion jährlich mit einem Konzert und einem Workshop fĂźr Jugendliche unterstĂźtzen werde. Das wäre die halbe Miete fĂźr die Sektion, denn Spender gibt es in diesem armen Land nicht. DafĂźr umso mehr Menschenrechtsverletzungen. Zum GlĂźck erfuhr ich erst am Ende unseres Gesprächs von dem Kaiman, der frei im Dorf herumlief und vor dem alle sich in Acht nehmen mussten. Wir trafen auch viele Menschen, die alles, was sie besaĂ&#x;en, verloren haben: Haus und Hof, ihre Liebsten, ihre WĂźrde. Sie haben sich durch unser ZuhĂśren gestärkt gefĂźhlt – und wieder leise Hoffnung geschĂśpft. Beeindruckend: die Aktivistinnen und Aktivisten von Amnesty-Mali! Sie versorgen FlĂźchtlinge mit Wasser und Nahrung, organisieren medizinische Behandlung von Fisteln, die durch GenitalverstĂźmmelung und Vergewaltigung entstanden sind. Gleichzeitig sammelten sie noch 70.000 Unterschriften fĂźr den ATT und setzten sich gegen die Diskriminierung von Roma in Italien ein. Ich hatte Respekt, dass sie sich trotz der eigenen schwierigen Situation fĂźr Menschen in weit entfernten Ländern engagierten. Ja, ich weiĂ&#x;: Das macht Amnesty. Aber trotzdem! Die Berichte, die Amnesty bei Ermittlungsreisen erstellt, brauchen wir, um viele Menschen zu informieren und zu mobilisieren und die Politik – egal wo – zum Handeln zu zwingen. Je mehr Menschen von Menschenrechtsverletzungen erfahren und sich dagegen einsetzen, umso grĂśĂ&#x;er wird der Druck auf Verantwortliche: Sie merken, dass sie beobachtet werden. Bestes Beispiel: Der Präsident, der Verteidigungs- und der Sicherheitsminister haben uns ein Treffen verweigert, weil sie unsere Forderungen auch aus den malischen Medien kannten. FĂźr die Täter ist die Unwissenheit der Ă–ffentlichkeit ein Segen – fĂźr die Betroffenen aber ein Fluch, denn sie bleiben traumatisiert und kĂśnnen nicht an VersĂśhnung und Wiederaufbau teilnehmen. Dass die Verantwortlichen Angst hatten, uns zu treffen, war mir eine Genugtuung, denn es zeigt, dass sie Angst hatten, Amnesty ins Gesicht zu schauen. Selmin ÇalÄąĹ&#x;kan ist Generalsekretärin der deutschen Amnesty-Sektion.

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unsere titelseite als kunst edition Die Titelseite dieser Ausgabe wurde von Rosemarie Trockel gestaltet. Die Cover-Gestaltung des Amnesty Journals lag somit erstmalig in der Hand einer international renommierten Kßnstlerin. Ebenfalls zum ersten Mal verÜffentlichen wir eine Ausgabe mit zwei unterschiedlichen Titelseiten. Beide Motive setzen sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit unserem Titelthema auseinander. Dabei geht es um die eigene sexuelle Identität und das Recht, diese auch leben zu kÜnnen. Fßr dieses Menschenrecht setzt sich Amnesty International ein. Rosemarie Trockel stellt beide Arbeiten Amnesty zur Verfßgung. Beide Titelseiten wird es als exklusive, limitierte und von der Kßnstlerin signierte Grafikedition geben. Die VerkaufserlÜse gehen vollständig an Amnesty International. Senden Sie bei Interesse einfach eine kurze E-Mail an: kunst@amnesty.de

Rosemarie Trockel Self Inspection, 2014 Offset Format: ca. 40 x 50 cm Auflage: 30 signierte und nummerierte Exemplare Preis: 260 Euro

Rosemarie Trockel Sixteen Candles, 2014 Offset Format: ca. 40 x 50 cm Auflage: 30 signierte und nummerierte Exemplare Preis: 260 Euro

Zusätzlich gibt es beide Motive als Diptychon. Auflage: 30 signierte und nummerierte Exemplare, Preis: 520 Euro

Copyright: Rosemarie Trockel, VG Bild-Kunst, Bonn 2014 / Courtesy SprĂźth Magers Berlin London


www.amnesty.de/journal

das magazin fÜr die menschenrechte

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amnesty journal

gefährliche liebe homophobie und diskriminierung in afrika

02/03

2014 februar/ märz


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