Amnesty Journal: Ausgabe August/September 2017

Page 1

WWW.AMNESTY.DE/JOURNAL

DAS MAGAZIN FÜR DIE MENSCHENRECHTE

AMNESTY JOURNAL

ANKOMMEN EIN HEFT ÜBER DAS RECHT ZU GEHEN UND DAS RECHT ZU BLEIBEN

FLUCHT VOR DEN BUDDHISTEN Eine Reportage über die Rohingya in Bangladesch

RÜCKZUG INS PRIVATE Migranten in den USA fürchten Abschiebungen

LITERARISCHE HEIMAT Ein Gespräch über das Schreiben im Exil

08/09

2017 AUGUST/ SEPTEMBER


Keiner hielt mich auf. Der Schriftsteller Najem Wali über seine Flucht aus dem Irak 1980 und die Schwierigkeiten, mit denen Neuankommende in Deutschland heute konfrontiert sind.

INHALT

TITEL: GEHEN UND BLEIBEN Najem Wali: Keiner hielt mich auf

14

Unbegleitete Minderjährige: Ohne meine Eltern

18

Syrerinnen über ihr neues Leben: Frei sein, Mensch sein

20

Das LaGeSo in Berlin: Warten auf Deutschland

22

Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Menschen im Minutentakt

24

Afghanistan I: Abschieben um jeden Preis

26

Al Abwab: Willkommen auf Arabisch

28

THEMEN Rohingya: Flucht vor den Buddhisten

32

Afghanistan II: Fremd gewordene Heimat

40

Ukraine: Die unsichtbare Krise

42

Uganda: Arme helfen Armen

44

USA: Beten um zu bleiben

50

Mittelamerika: Bis an die Grenze

53

Porträt: Olawale Maiyegun

54

Dranbleiben: Chile, Philippinen, Syrien

55

Willkommen auf Arabisch. Der Gründer von Al Abwab über die erste arabischsprachige Zeitung Deutschlands, die Einheimischen und Geflüchteten gleichermaßen eine Plattform bieten will.

Arme helfen Armen. Im Norden Ugandas entsteht das größte Flüchtlingslager der Welt. Mehr als 1,2 Millionen Südsudanesen sind bereits über die Grenze geflohen.

44

62

KULTUR Literatur im Exil: »Die Politik schwingt mit im Herzen des Textes«

56

Banda Internationale: Umtata mit Oud

62

Theater: Flucht ins Rampenlicht

64

»Kaltland«: Kühler Blick

66

M.I.A.: Musik, die über Grenzen geht

69

RUBRIKEN Panorama 04 Einsatz mit Erfolg 06 Markus N. Beeko über Schutz für Flüchtlinge 07 Kolumne: Khalid Alaboud 09 Spotlight: Recht auf Schule 10 Interview: Mona Meilinger 11 Rezensionen: Bücher 67 Rezensionen: Film & Musik 68 Briefe gegen das Vergessen 70 Aktiv für Amnesty 74 Impressum 75

2

28

14

Umtata mit Oud. In der Banda Internationale aus Dresden spielen alteingesessene und geflüchtete Musiker. Dadurch ist die sächsische Blaskapelle zu einem Vorzeigeprojekt geworden.

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2017


AMAL HEISST HOFFNUNG …

18

Ohne meine Eltern. Mehr als 60.000 unbegleitete Minderjährige sind nach Europa geflohen – so wie die 17-jährige Fatma Abo Alkher. Heute lebt die Syrerin mit drei anderen Jugendlichen in einer Wohngemeinschaft in Berlin. Hier erzählt sie die Geschichte ihrer Flucht.

… auf Arabisch. Und Amal, Berlin! ist der Name eines Redaktionskollektivs, das Neuangekommenen in Deutschland beim Einleben hilft. Mit Berichten aus Politik, Kultur und Gesellschaft – auf Arabisch, Farsi/Dari und Deutsch. Per Newsfeed aufs Handy. Und im Internet unter www.amalberlin.de.

Flucht vor den Buddhisten. Zehntausende muslimische Rohingya sind vor dem Militär Myanmars nach Bangladesch geflohen.

32

56

»Die Politik schwingt mit im Herzen des Textes«. Der Romanautor Nihad Siris und die Dichterin Widad Nabi sind aus Aleppo geflohen – er vor der Repression des Assad-Regimes, sie vor dem Krieg. Nun versuchen sie sich als Literaten in Berlin neu zu verorten. Ein Gespräch über das Schreiben im Exil.

Titelbild: Flüchtlinge im Bahnhof Freilassing, September 2015. Foto: Roland Geisheimer / attenzione Fotos oben: Roland Geisheimer / attenzione  |  Nayer  |  Dörthe Boxberg Florian Lang  |  Anne Ackermann  |  Christian Jungeblodt  |  Moritz Schlieb Foto Editorial: Sarah Eick / Amnesty

INHALT

|

EDITORIAL

Diese Ausgabe des Journals wäre ohne die Ideen und die ganz besondere Sicht des Amal, Berlin!-Teams nicht entstanden. Die vier Journalistinnen und sechs Journalisten aus Afghanistan, Ägypten, Iran und Syrien fanden sich im Sommer 2015 unter dem Dach der Evangelischen Journalistenschule in Berlin zusammen. Seitdem informieren sie ihre Landsleute nicht nur hier, sondern auch in ihren Herkunftsländern über ihr neues Zuhause. In diesem Heft halten Muhamad Abdi, Khalid Alaboud, Mahdis Amiri, Anas Khebir, Samer Masouh und Noorullah Rahmani uns Alteingesessenen den Spiegel vor: Sie berichten aus dem Landesamt für Gesundheit und Soziales in Berlin und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg und sprachen mit jungen Syrerinnen und abgeschobenen Afghanen. Auf den Zeichner Nayer Talal hat uns ein Amnesty-Mitglied aufmerksam gemacht: seine Deutschlehrerin in Osnabrück. Die Porträts auf den Seiten 18 bis 21 stammen von dem 34-Jährigen, der 2014 nach Deutschland kam. Der Schriftsteller Najem Wali war Feuer und Flamme, als wir ihn baten, die Geschichte seiner Flucht von Bagdad nach Hamburg für uns aufzuschreiben. Unter Saddam Hussein saß er im Gefängnis, nur durch seine Flucht entging er 1980 der Einberufung an die Front. Danach studierte er in Deutschland und Spanien Literatur und hat sich seither immer wieder für verfolgte Autoren eingesetzt. Auch Amnesty lebt vom Engagement seiner Mitglieder. Das ist in diesen Monaten besonders nötig: Die Inhaftierung von Taner Kılıç und İdil Eser – dem Vorstandsvorsitzenden und der Direktorin der türkischen Sektion – bedeutet eine Zäsur für Amnesty: Die Ermittlungen wegen mutmaßlicher Mitgliedschaft in einer Terrororganisation sind unhaltbar. (Seite 5) Die beiden müssen umgehend und bedingungslos freigelassen werden – wie alle anderen politischen Gefangen in der Türkei. Markus Bickel ist Verantwortlicher Redakteur  des  Amnesty Journals.

3


PANORAMA

Foto: Bandar Algaloud / Saudi Royal Council / Handout / Anadolu Agency / pa

SAUDI-ARABIEN: AUFRÜSTUNG IN MILLIARDENHÖHE

Das Treffen von US-Präsident Donald Trump mit dem saudi-arabischen König Salman und Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi hat eine neue Phase der Konfrontation im Nahen Osten eingeleitet: Nur wenige Wochen nach der Zusammenkunft in Riad verhängten Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain und Ägypten einen Boykott gegen Katar. Das reichste Land der Welt, das wie Saudi-Arabien und die Emirate dem Golf-Kooperationsrat (GCC) angehört, solle seine Unterstützung von Terrorgruppen beenden, sonst drohten ernste Konsequenzen. Sisi und Salman stören sich an der politischen Nähe von Emir Tamim Bin Hamad Al Thani zum Iran; auch Trump hat eine Abkehr von der Annäherungspolitik seines Vorgängers Barack Obama an die Islamische Republik angekündigt. Die Sorge vor einer militärischen Eskalation der Krise wurde dadurch erhöht, dass im Rahmen von Trumps Besuch in Riad im Mai Absichtserklärungen für Rüstungsverträge in Höhe von 110 Milliarden US-Dollar unterzeichnet wurden. Die US-Sektion von Amnesty International hatte zuletzt ein Waffenembargo gegen Saudi-Arabien verlangt, da die saudische Luftwaffe im Jemen für Kriegsverbrechen verantwortlich sein soll. Seit Beginn des bewaffneten Konflikts im Jemen im März 2015 sind mehr als 10.000 Menschen getötet und drei Millionen vertrieben worden.

4

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2017


TÜRKEI: AMNESTY-FÜHRUNGSSPITZE INHAFTIERT

Vier Wochen nach der Festnahme von Taner Kılıç, dem Vorstandsvorsitzenden der türkischen Sektion von Amnesty International, schlugen türkische Polizeibeamte Anfang Juli abermals zu: Auf der vor Istanbul gelegenen Insel Büyükada verhafteten sie die türkische Amnesty-Direktorin İdil Eser. Zudem wurden sieben weitere türkische Menschenrechtsverteidiger sowie ein deutscher und ein schwedischer Teilnehmer in Polizeigewahrsam genommen. Gemeinsam mit Eser hatten sie an einem Workshop zur IT-Sicherheit teilgenommen. Ihnen wird seitens der türkischen Justiz Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation vorgeworfen. Amnesty nennt die Vorwürfe haltlos und fordert die sofortige Freilassung der Inhaftierten. Der Leiter des Bereichs Europa bei Amnesty International, John Dalhuisen, sagte, die Inhaftierungen seien ein Beweis für die »skrupellose Behandlung« aller, die sich für Menschenrechte in der Türkei einsetzten. Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte den Aktivisten vorgeworfen, mit ihrem Treffen auf Büyükada den Putschversuch vom 15. Juli 2016 fortführen zu wollen. Auf der Insel soll vor dem gescheiterten Putsch ein konspiratives Treffen stattgefunden haben. Seitdem sind mehr als 50.000 Menschen inhaftiert worden, 100.000 wurden entlassen oder vom Dienst suspendiert. Foto: Amnesty

PANORAMA

5


EINSATZ MIT ERFOLG

UNGARN Ein ungarisches Berufungsgericht in Szeged hat die zehnjährige Haftstrafe gegen den Geflüchteten Ahmed H. im Juni aufgehoben und ein neues Verfahren angeordnet. Der Prozess im Jahr 2016 sei fehlerhaft gewesen, erklärte das Gericht. Ahmed H. blieb dennoch in Untersuchungshaft. Der seit Jahren in Zypern lebende Syrer war verurteilt worden, weil er im August 2015 bei einer Auseinandersetzung zwischen Flüchtlingen und Polizei am serbisch-ungarischen Grenzzaun Steine geworfen haben soll. Videos zeigen jedoch, dass er versuchte, alle Beteiligten zur Ruhe aufzurufen, während die Polizei mit Wasserwerfern und Tränengas gegen die Flüchtlinge vorging. í¢±

TSCHETSCHENIEN Der russische Kampfsportler Murad Amriev ist gegen Kaution und unter der Auflage, Tschetschenien nicht zu verlassen, freigelassen worden. Er war 2013 in Grosny unter dem Vorwurf festgenommen worden, seinen Pass gefälscht zu haben. Ihm gelang die Flucht in die Ukraine, wo er angab, in Haft mit Elektroschocks gefoltert worden zu sein. Als er am 4. Juni diesen Jahres nach Russland fuhr, wurde er aus dem Zug geholt. Tschetschenische Polizisten wollten ihn nach Tschetschenien bringen, unter ihnen war nach Amrievs Angaben auch einer seiner Folterer. Nachdem er für 48 Stunden in russischer Haft war, wollte er nach Belarus, wurde aber an der Grenze festgenommen und den tschetschenischen Behörden übergeben.  í¢²

í–²

í–³

í–¶

í–µ

í–·

í¢´

í¢µ

TOGO Die Gemeindesprecherin Salomée T. Abalodo ist aus der Haft entlassen worden, nachdem ein Gericht sie im Mai freigesprochen hat. Die Anklage hatte ihr Rebellion und Beteiligung an einem nicht genehmigten Protest vorgeworfen. Salomée T. Abalodo war im April festgenommen worden, nachdem sie auf das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitskräfte bei friedlichen Protesten in Pagouda im Norden Togos hingewiesen und im Büro des Präfekten Fotos von Verletzten vorgelegt hatte. Die Polizei hatte eine Demonstration mit Tränengas und Gummigeschossen aufgelöst, auf der die Veröffentlichung von Wahlergebnissen aus dem Jahr 2015 gefordert worden war. Sechs Personen, die nach den Protesten verurteilt worden waren, sind ebenfalls wieder frei. 

SUDAN Eineinhalb Jahre waren der Journalist Petr Jezek, der Pastor Hassan A. Kodi und der Aktivist Abdulmonem Abdumawla in Haft – jetzt sind sie wieder auf freiem FuÃ&#x;. Im Mai begnadigte der sudanesische Präsident Omar al-Bashir die drei Männer. Sie waren ins Visier der Strafverfolgungsbehörden geraten, weil sie die medizinische Versorgung für einen Studenten organisiert hatten, der 2013 bei gewalttätigen Protesten an der Universität Khartum von einem Molotowcocktail getroffen und schwer verletzt worden war. Im Januar 2016 war Petr Jezek zu lebenslanger Haft und einer Geldstrafe wegen Spionage verurteilt worden, Hassan A. Kodi und Abdulmonem Abdumawla zu je zwölf Jahren Haft wegen Beihilfe zu einer Straftat. 

6

í¢¶

MADAGASKAR Erfreuliche Entwicklung im Fall des Journalisten Fernand Cello: Drei Anklagen gegen ihn – wegen Verleumdung, Gefährdung der Staatssicherheit und Anstiftung zu Hass – sind fallen gelassen worden. Vier weitere werden jedoch noch aufrechterhalten. Der Journalist war am 5. Mai festgenommen worden, nachdem er sich ein halbes Jahr lang versteckt gehalten hatte. Er hatte zuvor in einem Radiobericht einem Bergbauunternehmen vorgeworfen, eine illegale Saphirmine zu betreiben. Das Bergbauministerium stoppte anschlieÃ&#x;end den Betrieb der Mine, aber es kam zu schweren Angriffen auf den Radiosender. Er wurde von Militäreinheiten überfallen und die Sendeanlage beschlagnahmt. 

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2017


í˘ł

í–´

Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen mit Appellschreiben an den ÂťUrgent ActionsÂŤ, den ÂťBriefen gegen das VergessenÂŤ und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz drohende Menschenrechtsverletzungen verhindert und Menschen in Not hilft, zeigen diese Beispiele.

EINSATZ MIT ERFOLG

MARKUS N. BEEKO ĂœBER

Foto: Bernd Hartung / Amnesty

TIMOR-LESTE Ein Sieg fĂźr die Pressefreiheit: Die Journalisten Raimundos Oki und Lourenco Vicente Martins sind am 1. Juni von einem Gericht in Dili, der Hauptstadt Osttimors, freigesprochen worden. Premierminister Rui Aria de AraĂşjo hatte im Januar 2016 Anzeige wegen Verleumdung gegen die beiden erstattet. Grund hierfĂźr war ein Artikel in der Tageszeitung Timor Post aus dem Jahr 2015, der Ăźber UnregelmäĂ&#x;igkeiten bei einem Ausschreibungsverfahren der Regierung berichtet hatte. Die Staatsanwaltschaft hatte eine einjährige Haftstrafe fĂźr Raimundos Oki und eine zweijährige Bewährungsstrafe fĂźr Lourenco  Vicente Martins gefordert. Das Gericht sprach sie nun in allen Punkten frei.

SCHUTZ FĂœR FLĂœCHTLINGE Die Genfer FlĂźchtlingskonvention hat Kriege und Krisen erlebt. DafĂźr wurde sie gemacht: Sie ist ein Kind der schrecklichen Erfahrungen, die schutzsuchende Menschen zu erleiden hatten. Verabschiedet nach dem Zweiten Weltkrieg, am 28. Juli 1951, gehĂśrt sie zu den wichtigsten vĂślkerrechtlichen Normen, um Menschen zu schĂźtzen, die durch Krieg, Verfolgung und Katastrophen gebeutelt wurden. Erstmals legten Staaten darin verbindlich einen ÂťFlĂźchtlingsstatusÂŤ und den damit einhergehenden Schutz fest. 2017 jährt sich zum fĂźnfzigsten Mal eine wichtige Ergänzung der Genfer FlĂźchtlingskonvention: das Protokoll von 1967, das ihren Geltungsbereich unbefristet und Ăźber Europa hinaus ausdehnte. Mittlerweile sind rund 150 Staaten der Konvention beigetreten. Doch Menschen bleiben Kriegen und schweren Menschenrechtsverletzungen wie Folter und Hinrichtungen ausgesetzt. Sie brauchen Schutz. Schutz, den die Genfer FlĂźchtlingskonvention garantiert: Allein in Deutschland erhielten 2016 mehr als eine Viertelmillion Menschen einen Aufenthaltsstatus im Sinne der Konvention. Der Amnesty-Report 2016/17 dokumentiert AushĂśhlungen der Menschenrechte weltweit. Auch im vergangenen Jahr wurden vielerorts repressive Gesetze verabschiedet, die Grund- und Menschenrechte einschränken, wurden Menschen Opfer von willkĂźrlicher Haft oder Mord. In 22 Ländern wurden Menschen getĂśtet, weil sie friedlich Menschenrechte einforderten, in 94 Staaten wurden sie deswegen bedroht und angegriffen. Alle Staaten sind verpflichtet, fĂźr den Schutz dieser Menschen einzutreten und ihn von den entsprechenden Regierungen einzufordern – unabhängig von politischen und wirtschaftlichen Interessen. Solange den Menschen dieser Schutz aber versagt wird, bleibt ihnen nur die Flucht an einen sicheren Ort. Die Genfer FlĂźchtlingskonvention garantiert diesen Schutz. Ergänzend dazu gibt es nationale und regionale Schutznormen – so etwa Artikel 16a des deutschen Grundgesetzes, der sogenannte subsidiäre Schutz oder die Europäische Menschenrechtskonvention. Dies darf nicht vergessen werden, wenn durch die Sicherung von Grenzen und Migrationskontrolle der Schutz SchutzbedĂźrftiger infrage gestellt wird. Sonst werden Menschen zweifach Opfer von Menschenrechtsverletzungen: erst in ihren Heimatländern und dann erneut, wenn ihnen die Aufnahme verwehrt wird. So wie vielen FlĂźchtlinge während des Zweiten Weltkriegs, die auf der Suche nach Schutz an Grenzen abgewiesen wurden oder ertranken, weil Boote nicht anlegen durften. Daran erinnern uns die Geschichte und die Genfer FlĂźchtlingskonvention. Markus N. Beeko ist Generalsekretär der deutschen  Amnesty-Sektion.

7


Foto: Daniel Pilar / laif

ENDLICH RAUS AUS ELLINIKO

Kein Zuhause. Elliniko, im März 2016.

In Griechenland konnten 800 Geflüchtete die Lager auf dem Gelände des früheren Flughafens von Athen verlassen. Von Hannah El-Hitami Die griechische Polizei hat Anfang Juni Hunderte Bewohner aus dem alten Flughafen Athens in ein neues Migrationszentrum nahe der mittelgriechischen Stadt Theben gebracht. Die Lager im Athener Vorort Elliniko waren berüchtigt, weil dort desaströse Zustände herrschten. Hilfsorganisationen hatten immer wieder über psychische Probleme der mehrheitlich afghanischen Bewohner berichtet, die durch unzureichende sanitäre Anlagen noch verstärkt wurden. Frauen und Mädchen klagten, dass sie in ständiger Angst vor sexuellen Übergriffen lebten. Seit Mai hatte das griechische Einwanderungsministerium nur noch zwei Organisationen erlaubt, in den Lagern medizinische Leistungen und Nahrung bereitzustellen. »Nach 635 Tagen schließt dieses provisorische Lager hier«, sagte der Bürgermeister der Region, Giannis Konstantatos, im Juni erleichtert. Zeitweise waren mehr als 3.500 Menschen auf dem Gelände des 2001 geschlossenen Flughafens und in den verwaisten Sportstätten der Olympischen Spiele von 2004 untergebracht. Die ursprünglich nur als Übergangslösung gedachte Unterkunft war in drei Zentren aufgeteilt: Neben dem frü-

8

heren Flughafengebäude wurden auch zwei angrenzende Sportstadien verwendet. Rund 500 der zuletzt 800 Flüchtlinge aus Afghanistan, Syrien und Pakistan leben nun in Theben, rund achtzig Kilometer nördlich von Athen; die anderen wurden auf Unterkünfte in der Hauptstadt verteilt. Das Lager befindet sich am Stadtrand von Theben. Die Flüchtlinge leben in 65 Containern und 65 Apartments; Gebetsräume, eine Klinik und Zimmer für Frauen stehen zur Verfügung. Amnesty International bewertete die Auflösung der Lager in Elliniko als kleinen Schritt in die richtige Richtung. Die Organisation begrüßte auch, dass die Geflüchteten unmittelbar vor der Räumung von Mitarbeitern der Internationalen Organisation für Migration (IOM) über ihre individuellen Unterbringungsbedürfnisse befragt wurden – etwa nach ihrem Familienstand, ihrer gesundheitlichen Situation und der Länge ihres Aufenthalts in Griechenland. Amnesty hatte die Behörden wiederholt aufgefordert, die Flüchtlinge nicht einfach umzusiedeln, sondern vorher über alternative Unterbringungsmöglichkeiten zu informieren. Das geschah jedoch nur mangelhaft, wie die Organisation Ärzte ohne Grenzen bei der Räumung der Lager Anfang Juni feststellte. Auch andere Auffanglager böten keine menschenwürdige Unterbringung. Amnesty appellierte an die griechi-

schen Behörden, bessere Unterkünfte zur Verfügung zu stellen. Besonders die Bedürfnisse von Frauen und Mädchen sollten beachtet werden. Außerdem sollten die neuen Unterkünfte von Athen aus erreichbar sein, um Unterstützern die medizinische und psychologische Behandlung der Geflüchteten zu ermöglichen. Das Hauptproblem ist jedoch weiterhin die mangelnde Perspektive für die Geflüchteten. Nach Angaben der Behörden sitzen in Griechenland weiterhin rund 62.000 Flüchtlinge fest. Grund dafür ist das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei sowie die Schließung der Grenze zu Mazedonien. Seit die Regierung in Skopje die Grenze im März 2016 geschlossen hat, ist Flüchtlingen in Griechenland der Weg über die Balkanroute Richtung West- und Nordeuropa versperrt. Das Abkommen mit Ankara sieht die Rückführung der in Griechenland gestrandeten Flüchtlinge in die Türkei vor, sowohl vom Festland wie von den Inseln in der Ägäis. »Man hat die griechischen Inseln in einen De-FactoWartesaal umfunktioniert«, kritisierte John Dalhuisen, Leiter des Bereichs Europa bei Amnesty International, ein Jahr nach Abschluss des Deals. Tausende befänden sich »weiter in einer gefährlichen, verzweifelten und scheinbar endlosen Schwebe«.

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2017


KOLUMNE KHALID ALABOUD

Alle sprechen von Flüchtlingen, nur wir können das Wort langsam nicht mehr hören. Viele von uns Neuangekommenen mögen es nicht, wenn man uns als Flüchtlinge oder Geflüchtete bezeichnet. Das mag viele verwundern, denn es ist ja kein negativer Begriff. Im Gegenteil! Auch beschreibt er, in welcher Lage wir uns befinden. Ich musste mein Land verlassen und bin hier in Deutschland darauf angewiesen, dass man mir hilft, mich versorgt und unterbringt.

Zeichnung: Oliver Grajewski

Trotzdem mögen wir das Label Flüchtling nicht, denn wir wollen uns hier ein neues Leben aufbauen. Und setzen alles daran, möglichst schnell aus der Hilfsbedürftigkeit herauszukommen. Wir wollen nicht bemitleidet werden, und versuchen deshalb alles, um zu produktiven und gleichberechtigten Mitgliedern der Gesellschaft zu werden. Wir wollen nicht abhängig sein, von niemandem!

KEIN FLÜCHTLING

Viele von uns arbeiten im Bereich Kunst und Literatur. Es gibt einen regelrechten Kulturbetrieb mit Flüchtlings-Musikern, Flüchtlings-Journalisten, Flüchtlings-Literatur und so weiter. Das ist natürlich eine tolle Sache, aber es bleibt ein schaler Nachgeschmack, denn statt uns in den normalen Kulturbetrieb hineinzulassen, feiert man uns als Besonderheit. Als gefährdete Spezies, die betreut und gepampert werden muss. Ja, es gibt hier ein großes Interesse an arabischer Musik und Kultur, aber lieber noch als für meine Herkunft würde ich für meine eigentliche Leistung als Kulturschaffender bewertet. 2015 ist die deutsche Willkommenskultur entstanden. Auch dieses eigentlich großartige Phänomen hat einen schalen Beigeschmack, denn vielen Helfern ging es darum, den Neuangekommenen die Werte und Regeln ihrer Gesellschaft beizubringen. Ich stelle hier nicht infrage, dass sich nicht genug mit diesen Themen beschäftigt wurde. Dies und die zahlreichen Übergriffe haben bei manchen dazu geführt, dass sie sich gegen die neue Gesellschaft gewendet haben. Das stimmt, aber was ich kritisiere, ist vielmehr die paternalistische Haltung der Helfer. Diese wird dadurch verstärkt, dass die Helfenden wenig über die Herkunft der Neuangekommenen wissen. Dass viele vor dem Krieg in Syrien oder Afghanistan in einer weitaus komfortableren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Stellung gelebt haben, als sie es nun in Deutschland tun. Diese Haltung zeigt sich auch auf beruflicher Ebene: Neulich berichtete ein Arzt von seiner Schulung im Krankenhaus. Da klärte man ihn darüber auf, dass er eine Kanüle nicht für mehr als einen Patienten benutzen dürfe. Kurz: Wir bekommen leicht das Gefühl, dass man uns betrachtet wie hilflose Geschöpfe. Das nervt! Wir haben auf der Internetplattform Amal, Berlin! viel über den Begriff des Flüchtlings diskutiert. Wir haben uns dann für den Begriff der Neuangekommenen entschieden. Dies ist nicht unsere eigene Erfindung, sondern stammt vielmehr aus der deutschen Geschichte. Jüdische Intellektuelle, die in der Zeit der Naziherrschaft aus Deutschland in die USA flüchteten, bezeichneten sich so. Hannah Arendt war eine von ihnen. Sie wollten einen Beitrag zur Geistesgeschichte und Wissenschaft insgesamt beitragen und ihrer neuen Heimat so einen Dienst leisten. Auch wir sind nicht gekommen, um in Deutschland in Turnhallen zu schlafen und beim Jobcenter in der Schlange zu stehen. Wir haben Träume, Ziele und Hoffnungen und wollen das Beste aus unserer Situation machen, die ja durchaus viele neue Chancen bietet. Deswegen: Verschont uns! Wir sind keine geflüchteten Journalisten. Wir sind einfach nur Journalisten. Khalid Alaboud arbeitet als Journalist, u.a. für den Tagesspiegel, Chrismon und Zeit Online. In Damaskus studierte er Arabische Literatur, ehe er 2014 über Jordanien nach Deutschland kam.

EINSATZ MIT ERFOLG

|

KOLUMNE

9


SPOTLIGHT

Foto: Katja Heinemann / laif

RECHT AUF SCHULE: ALLEIN GELASSEN Angekommen. Afghanischer Schüler einer Willkommensklasse, Oktober 2015.

Die Umsetzung der Schulpflicht für Flüchtlingskinder unterscheidet sich von Bundesland zu Bundesland erheblich: Lediglich in Berlin, Bremen, Hamburg, im Saarland, in Sachsen und SchleswigHolstein kann davon ab dem ersten Tag des Aufenthalts ausgegangen werden. In Bayern und Thüringen hingegen greift die Schulpflicht erst nach drei, in Baden-Württemberg sogar erst nach sechs Monaten. In Brandenburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-

»Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, (…) ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.«

Pfalz und Sachsen-Anhalt haben Kinder erst dann ein Recht auf regulären Schulbesuch, wenn ihre Familien die Erstaufnahmeeinrichtungen verlassen haben. Schätzungen zufolge sind davon bundesweit 10.000 Kinder betroffen. Seit der Verabschiedung des ersten Asylpakets 2015 können Schutzsuchende aus sogenannten sicheren Herkunftsstaaten jedoch auf unbestimmte Zeit in diesen Einrichtungen untergebracht werden. Für sie gilt in Bundesländern mit entsprechenden Regelungen deshalb

IN

7

BUNDESLÄNDERN

SIND KINDER, DIE AUS STAATEN DES WESTBALKANS GEFLÜCHTET SIND, NICHT SCHULPFLICHTIG.

»keine Schulpflicht«, sagt Dominik Bär vom Deutschen Institut für Menschenrechte. Damit werde ihnen »ihr Recht auf Zugang zum Bildungssystem verweigert«. Das Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht hat zur Folge, dass noch mehr Kinder vom Schulbesuch ausgeschlossen werden: So können auch Familien unbefristet in Erstaufnahmeeinrichtungen festgehalten werden, die über einen anderen EU-Staat einreisten oder deren Asylanträge als »offensichtlich unbegründet« abgelehnt wurden.

MEHR ALS

300.000 MINDERJÄHRIGE FLÜCHTLINGE LEBEN IN DEUTSCHLAND.

KINDERRECHTSKONVENTION DER VEREINTEN NATIONEN, ARTIKEL 3

10

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2017


INTERVIEW

»DIE KINDER VERLIEREN EIN BIS ZWEI SCHULJAHRE« Foto: privat

Kinder aus sogenannten sicheren Herkunftsländern sind in vielen Bundesländern vom regulären Schulbesuch ausgeschlossen. Unterrichtet werden sie oft lediglich in eigens eingerichteten Flüchtlingsklassen. Mona Meilinger berät Schutzsuchende in der bayerischen Aufnahmeeinrichtung Manching/Ingolstadt in Asyl- und Sozialfragen. Interview: Michaela Ludwig

In Bayern setzt die Schulpflicht für geflüchtete Kinder erst nach drei Monaten Aufenthalt ein, wenn sie bereits in Gemeinden wohnen. Wie sieht die Situation für Kinder aus, die in den Aufnahmeeinrichtungen verbleiben müssen? Diese Kinder können nach drei Monaten Aufenthalt sogenannte Übergangsklassen besuchen, die offiziell zu einer Schule im Ort gehören, aber in den Einrichtungen selbst angesiedelt sind. Dort werden sie in einer Grund- und einer Hauptschulklasse in den Fächern Mathematik, Deutsch, Geschichte, Sozialund Erdkunde unterrichtet. Es findet auch Unterricht in einer Berufsschulklasse statt. Wie geht es für die Kinder nach Abschluss der Übergangsklassen weiter? Das ist unklar. Für die Menschen vor Ort ist nicht spürbar, dass mit den Übergangsklassen der Besuch einer regulären Klasse vorbereitet werden soll. Sie berichten auch, dass ihnen das so nicht kommuniziert wird. Es scheint, als wäre dieser Fall gar nicht eingeplant. Für Kinder, die vor ihrem Umzug in die Einrichtung jahrelang Regelschulen besucht haben, bedeutet das gar einen Schritt zurück. Schließlich sind diese Klassen zunächst auf den Deutscherwerb ausgerichtet. Dort sitzen somit Neuankommende neben Kindern, die fließend Deutsch sprechen. Im neuen bayerischen Integrationsgesetz ist diese Form der Beschulung ab September fest verankert. Ja, es sieht vor, dass die Schulpflicht mit dem Besuch dieser besonderen Klassen in den Einrichtungen erfüllt ist. Die Beschulung an einer Regelschule wird damit ausgeschlossen.

SPOTLIGHT

Welche Auswirkungen hat das auf Kinder und Jugendliche, die eigentlich nach Anerkennung in einer Regelschule drängen? Wir beobachten, dass viele dem Unterricht fernbleiben, wenn sie besser Deutsch können, aber auch, weil ihnen eine Perspektive fehlt. Generell ist es für die Kinder und ihre Familien offensichtlich, dass sie nicht wie normale Menschen behandelt werden. Auch deshalb lehnen sie diese Form der Beschulung ab. Welche Rolle spielt das Kindeswohl in der Frage der Beschulung? Viele Kinder sind in den Übergangsklassen nicht gut aufgehoben. Wenn ihnen die Chancen auf Entfaltung ihrer Persönlichkeit genommen werden, ist ihre Bildungslaufbahn gefährdet, und sie werden Schwierigkeiten haben, vernünftige Abschlüsse zu erzielen. Dazu kommt, dass sie keine geregelte Tagesstruktur haben. Sie verbringen Monate, manche bis zu zwei Jahre, mit Warten, dass sich irgendwann ihr Status verändert und sie eine Regelschule besuchen dürfen. Diesen Kindern wird eine gleichberechtigte Teilhabe vorenthalten. Welche Perspektive haben sie? Nach unserer Erfahrung verlieren Kinder durch die Flucht und das Einleben in die neue Umgebung ein bis zwei Schuljahre. Wenn ihnen zwischenzeitlich die Möglichkeit genommen wird, eine reguläre Schule zu besuchen, kostet es sie noch mehr Zeit. Wie und ob der Besuch einer Übergangsklasse bei der Rückkehr ins Heimatland als Schulbesuch anerkannt wird, ist ungewiss. Doch davon hängt ab, in welcher Jahrgangsstufe sie wieder eingeschult werden – und ob sie noch mehr Zeit verlieren.

11


TITEL

12

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2017


Gehen und bleiben

65 Millionen Menschen waren zuletzt weltweit auf der Flucht. Die meisten von ihnen fanden Aufnahme in Entwicklungsländern. Deutschland hat seit 2015 mehr als eine Million Menschen aufgenommen – eine Herausforderung für Neuangekommene wie Alteingesessene.

Sonderzug nach Deutschland. Freilassing, Österreich, im September 2015. Foto: Roland Geisheimer / attenzione

13


Ende der Balkanroute. Geflüchtete auf dem Weg durch Österreich, Fürstenfeld, September 2015.

Keiner hielt mich auf Der Schriftsteller Najem Wali über seine Flucht aus dem Irak vor bald vierzig Jahren – und die Schwierigkeiten, mit denen Neuankommende in Deutschland heute konfrontiert sind.

14

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2017


Foto: Roland Geisheimer / attenzione

M

einen ersten Versuch, ins Exil zu gehen, unternahm ich am 14. Juli 1976. Keine zwanzig Jahre alt war ich, als ich mit 200 Dollar in der Tasche in Bagdad das Flugzeug der Iraqi Airways Richtung Paris bestieg. Filmregie wollte ich dort studieren. Heute erkenne ich die Sinnlosigkeit dieser Idee, aber damals erschien sie mir realistisch – ebenso wie der Wunsch, auszuwandern und in einem fremden Land zu leben. Die Grenzpolizisten am Flughafen Paris-Orly interessierten sich weder dafür, dass ich kein Rückflugticket bei mir hatte, noch für die Summe Geld, die ich bei mir trug. Sie drückten einen Einreisestempel in meinen Reisepass und wünschten mir einen angenehmen Aufenthalt. Wie lange ich beabsichtigte zu bleiben, fragten sie nicht. Wer könnte sich das heute noch vorstellen? Wie ein goldenes Zeitalter erscheinen mir die 1970er Jahre im Rückblick – nicht nur, was die Kontrollen an den Grenzen anbelangt, sondern auch in Bezug auf die allgemeine Atmosphäre. Sicherlich war es gewagt, zu glauben, mit nur 200 Dollar ein Studium abschlie-

GEHEN UND BLEIBEN

ßen und danach in den Irak zurückkehren zu können. Aber das lag vielleicht eher daran, dass ich in jenen Tagen viel existenzialistische Literatur las, insbesondere die Werke von Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und Albert Camus, die in arabischer Übersetzung aus den Verlagen in Beirut zu uns nach Bagdad kamen. Aber es galt eben auch, dass in den Städten Europas kaum Angst vor der Aufnahme von Ausländern herrschte, so wie das heutzutage der Fall ist. Mein Aufenthalt in Paris endete denn auch nach zwei Monaten nicht aufgrund einer Abschiebung, Fremdenfeindlichkeit oder Rassismus, sondern schlicht deshalb, weil ich es schwierig fand, dort zu leben – als junger Mann, der kein Wort Französisch sprach und außer dem Studium nichts im Kopf hatte, schon gar nicht den Gedanken an Arbeit. So kehrte ich mit leeren Händen nach Bagdad zurück, war aber sehr glücklich über die neuen Schätze, die ich in Paris geborgen hatte: all jene Geschichten, die ich erzählen würde über meine Besuche im Café de Flore, wo Sartre und de Beauvoir an ihrem Tisch saßen und schrieben, wo

15


sie Freunde und Verehrer begrüßten. Die meisten Geschichten erfand ich, um meine Kollegen in Bagdad zu beeindrucken. Ich erinnere mich auch, dass es mir vor meinem Abschied nicht in den Sinn gekommen war, Visa für jene Länder zu beantragen, die der Zug auf meiner Rückreise von Paris nach Venedig durchfuhr. Der irakische Reisepass ermöglichte damals den Transit durch alle Länder der Welt. Ein Visum war nur bei einem längeren Aufenthalt nötig. Die Schweizer Grenzbeamten drückten mir tatsächlich einen Stempel in den Pass, lediglich die italienischen schickten mich zurück in die Schweiz mit der Aufforderung, im Konsulat in Brig ein Transitvisum für Italien zu beantragen. Noch heute erinnere ich mich an den kleinen Konsul mit Glatze und Hosenträgern, Mitte fünfzig dürfte er gewesen sein. Als er meinen Pass entgegennahm, lächelte er. Ganz ruhig forderte er mich auf, gegen eine geringe Gebühr einen Visumsantrag auszufüllen. Danach lief ich noch durch die Stadt, wo man mich anschaute, als ob ich ein Außerirdischer vom Mars sei. Es waren keine feindlichen Blicke, sondern neugierige. Viele Bewohner sahen wahrscheinlich zum ersten Mal einen arabischen Mann meines Alters mit meiner Hautfarbe.

Privilegiert im Exil An diesen neugierigen Blicken hatte sich wenig geändert, als ich vier Jahre und zwei Monate später aus dem Irak floh. Es war der 28. Oktober 1980, sechs Wochen zuvor hatte der Krieg zwischen dem Iran und Irak begonnen. Wegen der allgemeinen Wehrpflicht drohte auch mir der Einzug an die Front – weshalb ich mich entschied, das Land zu verlassen. Nur in Ungarn forderten mich die Grenzpolizisten auf, zurück nach Belgrad zu reisen, um ein Transitvisum für drei Tage zu beantragen. Ansonsten hielt mich keine Grenzpolizei auf, weder in Bulgarien noch in Jugoslawien noch in der Tschechoslowakei und den anderen Ländern, die ich auf meiner Fahrt von Istanbul nach Westberlin durchquerte. Das Dreimonatsvisum in meinem Pass für die »Bundesrepublik Deutschland und das freie Berlin« genügte. Sicherlich sind meine Exilerfahrungen privilegiert – sei es, weil ich ganz unkompliziert einen Studienplatz für deutsche Literatur an der Universität in Hamburg bekam, sei es, weil mir viele Menschen, die ich als junger Mann kennenlernte, Hilfe anboten. Wenn ich an diese Anfangszeit in Deutschland zurückdenke, erinnere ich mich stärker an die glücklichen Momente als an die unglücklichen. Selbst als mir nach der Ablehnung

Willkommenskultur. Borkum, Oktober 2015, bei der Ankunft syrischer und afghanischer Flüchtlinge.

16

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2017


meines Asylantrags Festnahme und Abschiebung drohten, verglich ich meine Situation stets mit dem Leben, das ich im Irak führen würde, und wusste, dass ich Glück hatte und die Wette am Ende gewinnen würde. Dieses Gefühl hat mich nie verlassen. Meine Abschiebung wäre eine Farce gewesen, denn sowohl der Irak als auch der Iran setzten in Deutschland produzierte Rüstungsgüter ein: Der Irak importierte Giftgas aus der Bundesrepublik, der Iran Gasmasken aus der DDR. Dies ist eine Konstante, und sie ist wichtig: ohne Waffenhandel kein Krieg und keine Zerstörung, keine Flucht und keine Vertreibung. Doch ohne die Solidarität vieler Menschen während meines Asylverfahrens hätte ich diese Zeit nur schwer überstanden.

»Beide Seiten haben Angst voreinander – und brauchen Zeit, sich kennenzulernen.« anders, auch sie benötigen Zeit, um sich gegenseitig zu besänftigen und Sicherheit für eine gemeinsame Zukunft aufzubauen.

Foto: Dominik Butzmann / laif

Bin Laden prägt das Bild Heute herrscht eine andere Stimmung – nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Auch das Bild der Geflüchteten hat sich verändert, insbesondere in den vergangenen zwanzig Jahren. Das Bild des arabischen Mannes beispielsweise war über Jahre geprägt vom ägyptischen Schauspieler Omar Sharif und dessen Rolle im Film »Doktor Schiwago«. Es war auch das Bild, das meine weiblichen Mitstudierenden von mir hatten. Damals gab es keinen Osama Bin Laden und keinen Abu Bakr al-Baghdadi. Selbst der Terrorismus hatte ein anderes Gesicht: das der Roten Armee Fraktion, das von Andreas Baader und Gudrun Ensslin. Migranten aus Afrika brachte man mit dem jamaikanischen Reggae-Sänger Bob Marley in Verbindung, Lateinamerikaner siedelte man irgendwo zwischen Latin Lover und Che Guevara an. Trotz aller Probleme fiel es den Menschen damals leichter, Wege zu finden, um miteinander zu leben, und der durchaus vorhandene Rassismus gipfelte selten in der öffentlichen Aufforderung, Deutschland wieder zu verlassen. Auch Morde und das Anzünden von Flüchtlingsheimen wie nach der Wiedervereinigung waren weit entfernt. Durch die Flucht Hunderttausender Menschen aus Syrien und dem Irak, die im Sommer 2015 nach Europa kamen, wurde die Situation kompliziert. Während wir über die Balkanroute ächzen, erleben die Menschen im Nahen Osten eine nicht abreißende Folge von Kriegen – und den Zerfall ihrer Staaten. Je länger dieser Prozess andauert, desto mehr Geflüchtete wird es geben, und umso negativer wird das Bild derjenigen werden, die zu uns kommen. Es gibt so viele Klischees, gegen die Neuankömmlinge ankämpfen müssen, um nicht auf eine Zahl reduziert, erniedrigt und beleidigt zu werden. Diese Unmenge von Problemen gab es nicht, als ich vor bald vierzig Jahren in Deutschland ankam. Der Araber ist heute aus westlicher Sicht ein Osama Bin Laden oder ein Abu Bakr alBaghdadi geworden, ein Terrorist mit Sprenggürtel oder ein LKW-Fahrer, der sich in einer Menschenmenge in die Luft jagt; der Afrikaner ein Vergewaltiger oder Drogendealer; der Lateinamerikaner ein Arbeitsloser oder, wenn er aus Kolumbien oder Mexiko kommt, ein Kokain- und Cannabisschmuggler. Und nur, weil man endlich einen Aufenthaltstitel bekommen hat, heißt das noch lange nicht, dass man auch glücklich wird in der neuen Heimat. Denn sowohl für die Einheimischen im Aufnahmeland wie für die Geflüchteten aus den Krisenländern sind die Herausforderungen groß. Beide Seiten haben Angst voreinander, es ist die Angst vor dem Unbekannten, die erst mit der Zeit abgeschüttelt werden kann. Zeit, um sich gegenseitig kennenzulernen und Stereotype zu hinterfragen. Selbst bei Liebenden ist das nicht

GEHEN UND BLEIBEN

Kluft zwischen den Welten Das größte Problem liegt deshalb woanders, es liegt bei jenen Politikern, die nicht versuchen, ihren Bürgern die Angst vor den Neuankömmlingen zu nehmen, sondern sie im Gegenteil schüren. Aus den Sorgen und Nöten der Alteingesessenen machen sie Gesetze; sie lassen Mauern an den Grenzen errichten. Und einige fordern sogar die Schließung der Mittelmeerroute, als ob damit die Not auf der anderen Seite beendet werden könne. Diese Populisten sorgen dafür, dass die Welt immer stärker in zwei Hälften geteilt wird: in Angehörige jener Staaten, die über Wohlstand verfügen, Länder besetzen, Waffen produzieren und exportieren und jederzeit bereit sind, das, was sie besitzen, um jeden Preis zu verteidigen. Und auf der anderen Seite Menschen, die um ihre Heimat gebracht wurden, die nichts haben außer der Wahl, sich am Krieg zu beteiligen oder in den Norden zu fliehen, der nicht müde wird, Waffen herzustellen und in die Kriegsgebiete zu exportieren. Die Kluft zwischen diesen beiden Welten wird immer tiefer, und niemand weiß, wohin dies letztlich führen wird. Denn auch immer neue Mauern und Zäune werden diese Menschen nicht daran hindern, zu fliehen. Ich spreche die Sprache der Heimatlosen und Exilanten, die sagen: Wir sind hier, weil wir überlebt haben. Und wir werden deshalb nicht aufhören, an das Gewissen unserer Mitmenschen zu appellieren, unter ihnen bleiben zu dürfen – glücklich, friedlich und fern von Krieg, Vertreibung und Hunger. Aus dem Arabischen von Nabil Barham Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen:   ww.amnesty.de/app w

NAJEM WALI wurde 1956 im irakischen Basra geboren und flüchtete 1980 nach Ausbruch des Iran-Irak-Kriegs nach Deutschland. In Hamburg und Madrid studierte er Deutsche  Literatur und Spanische Literatur. Er schreibt u.a. für die arabische Tageszeitung Al Hayat, für die Neue Zürcher Zeitung und die Süddeutsche Zeitung. Für seinen Antikriegsroman »Bagdad Marlboro« erhielt der deutsch-irakische Schriftsteller 2014 den Bruno-Kreisky-Preis. 2016 gehörte Wali der Jury für den Deutschen Buchpreis an. Noch bis August ist er Stadtschreiber in Graz.

17


Ohne meine Eltern Mehr als 60.000 unbegleitete Minderjährige sind nach Europa geflohen – so wie die 17-jährige Fatma Abo Alkher. Heute lebt die Syrerin mit drei anderen Jugendlichen in einer Wohngemeinschaft in Berlin. Hier erzählt sie die Geschichte ihrer Flucht. Von Fatma Abo Alkher

D

er Tag, an dem ich meine Heimatstadt Homs verließ, war der 20. September 2015. Morgens um 9.30 Uhr erklärte mein Vater meiner Schwester und mir, wir müssten uns noch heute auf den Weg nach Deutschland machen. Meine Tante würde uns begleiten. Ich habe ihn umarmt. Danach liefen wir zur Bushaltestelle und fuhren nach Aleppo. Dort blieben wir eine Woche, bis meine Tante einen Schlepper gefunden hatte, dem sie vertraute. Er nannte eine Summe, für die er uns bis Afrin an der türkischen Grenze bringen würde. Doch das stimmte nicht: Mitten während der Fahrt hielt er an, stieg aus und verlangte weitere 25.000 Lira, das sind etwa 50 Euro. Weil niemand das zahlen konnte, gab ihm jeder nur 5.000. Danach ging es weiter in die Wüste, wo viele Busse warteten. Doch der, in dem wir landeten, fuhr nicht nach Afrin, sondern Richtung Raqqa, die syrische Hauptstadt des Islamischen Staats. Der Fahrer warnte uns vor den vielen Checkpoints auf dem Weg. Schon an der ersten Straßensperre stiegen vier bewaffnete Männer ein. Wir mussten unsere Namen nennen, ohne den Gesichtsschleier hochzuziehen. Am Schluss sagte einer: »Verzeiht mir, meine Schwestern, ich musste das machen, weil viele Männer sich als Frauen verkleiden, um zu flüchten. Ich hoffe, dass wir euch keine Sorgen bereitet haben.« Dann stiegen sie wieder aus. Wir fuhren weiter durch die Nacht. Der Schlepper hatte gesagt, die Fahrt bis Afrin würde sechs Stunden dauern. Aber das war eine Lüge. Als wir nachts aus dem Bus stiegen, hatten alle Angst, weil wir uns weiter auf IS-Gebiet befanden. Auf einmal kam ein Kleinbus auf uns zu. Der Fahrer fragte, wo wir hinwollten und sagte dann: »Steigt ein!« Bei ihm zu Hause gab er uns etwas zu essen und Schlafplätze. Am nächsten Morgen weckte er uns schon um fünf Uhr früh und bat einen Freund, uns an einen Ort zu bringen, von dem Afrin leicht zu erreichen sei. Diesmal klappte es. In den Bergen am Rande Afrins wartete wieder ein Schlepper auf uns. Nach zwei Stunden war die Luft rein, und wir liefen los. Am Wegrand saßen viele Familien mit ihren Kindern. Eine Schwangere hielt sich den Bauch. Ich hatte Angst, dass sie ihr Kind hier zur Welt bringen würde.

»Wenn ich etwas schaffen will, dann schaffe ich es auch.« 18

Aber der Schlepper sagte nur, dass uns das nichts anginge, wir müssten weiter, immer weiter. Es war unglaublich. Ich sah, wie die Kinder froren und konnte nichts machen außer weiterzulaufen. Bergauf und bergab, über Stunden. Halt machten wir nur einmal, als die Polizei mit Radar nach uns suchte. Da hatten wir alle Angst, festgenommen zu werden. Stunden später erreichen wir den Zaun an der türkischen Grenze. Die syrischen Schlepper schnitten den Stacheldraht durch, und dann mussten wir ganz schnell rennen. Nun folgten wir einem türkischen Schlepper. Und wieder ging es über viele Berge, bis wir ein kleines Dorf erreichten, wo uns ein Bauer auf seinem Traktor bis zum Busbahnhof mitnahm. Von dort fuhren wir nach Izmir. Hier suchte meine Tante wieder einen Schlepper, dem sie vertrauen konnte. Meine Schwester entschied, in der Türkei zu bleiben. Als wir nach einer Woche endlich einen vertrauenswürdigen Mann gefunden hatten, ging es noch am selben Abend los. Wir waren 55 Personen, die er in eine Wohnung in der Nähe der Mittelmeerküste brachte. Dort sollten wir bis zum Einbruch der Dunkelheit warten. Wir durften nicht laut sprechen, weil die Nachbarn uns hören und die Polizei rufen könnten. Alle hatten Angst davor, mit dem Boot zu fahren. Aber es gab keinen anderen Weg. In zwei Fahrzeugen wurden wir an den Strand gebracht, zogen uns Schwimmwesten an und warteten, bis das Schlauchboot aufgeblasen und der Motor angebracht war. Ich war die erste, die das Boot besteigen sollte. Aber ich wollte in diesem Moment nicht einsteigen. Ich wollte nur zurück zu meiner Mutter und sie in den Arm nehmen. Mein Herz klopfte schnell, als ich rückwärts auf das Boot zuging. Zwei Männer ergriffen mich unter den Armen und hoben mich über das Wasser. Eine Stunde dauerte es, bis alle untergebracht waren. Ein paar Jungs sagten dem Fahrer, er solle nur geradeaus fahren, so werde er die griechischen Inseln schon finden. Die Fahrt würde weniger als eine Stunde dauern. Und dann waren wir auch schon unterwegs über das Meer. Viele weinten und beteten, weil die Wellen ins Boot schwappten. Auch der Bootsführer hatte Angst. Er war selbst auf der Flucht und keine zwanzig Jahre alt. Und er wusste nicht, wo man das Benzin einfüllen musste, weil er noch nie zuvor ein Boot gesteuert hatte, glaube ich. Auf dem Boden vermischte sich das Benzin mit dem Wasser. Und alle schrien: »Ich will zurück, ich will zurück!«

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2017


Eine Situation vergesse ich nie. Ein Mädchen sagte zu seiner Mutter: »Meine Schwester ist geflogen!« Ihre Mutter sah sie angstverzerrt an, weil sie fürchtete, dass ihre kleine Tochter über Bord gegangen war. »Was meinst Du?« rief sie wütend zurück. Sie schrie und schrie und schrie. Dabei lag das Mädchen sicher zwischen den Füßen des Fahrers, was die Mutter aber nicht sehen konnte in der Dunkelheit. Vor lauter Aufregung hatte ihre ältere Tochter ihr nicht sagen können, dass es die Mütze ihrer Schwester war, die ins Wasser geflogen war, nicht das Mädchen. Als die Mutter das verstand hatte, rastete sie aus: »Halt die Fresse, du sagst kein Wort mehr, bis wir am Strand sind!«, fauchte sie sie an. Dann sackte sie in sich zusammen, verbarg den Kopf zwischen den Armen und fing

an zu weinen. Und alle anderen auch, das war so krass. 55 Personen, die weinen und beten. Und alle kotzten sich die Seele aus dem Leib. Als in der Dämmerung endlich der Strand in Sicht war, sprangen viele ins Wasser und schwammen direkt an Land. Manche weinten jetzt noch mehr. Doch diesmal vor Glück. Ich hingegen fühlte mich wie tot. Was ich in diesen fünf Stunden während der Fahrt über das Mittelmeer erlebt habe, lag wie ein großer Stein auf meinem Herzen. Irgendjemand half mir an Land. Auf einer Bank am Strand wartete ich, bis die Helfer kamen. Dabei schaute ich den Jungs zu, die das Boot zerstörten, damit die griechische Polizei uns nicht gleich wieder zurückschicken konnte. Das war cool und gefährlich zugleich. Wie die Insel heißt, weiß ich nicht mehr. Es war eine dieser Inseln, auf denen die Leute gerne Ferien machen, schön wie im Reiseprospekt. Die Helfer brachten uns in ein Krankenhaus, weil das Benzin uns die Haut verätzt hatte. Von dort fuhren wir mit einem Taxi zur Fähre, die uns nach Mazedonien bringen sollte. Mit dem Schiff und zu Fuß, mit dem Bus und mit dem Zug sind wir dann weitergereist – quer über den Balkan und Ungarn bis nach Österreich, und von dort weiter nach München. Am 10. Oktober 2015 schließlich kam ich mit dem Bus in Berlin an, genau zwanzig Tage nach meinem Abschied aus Homs. Heute lebe ich in Berlin-Neukölln in einer Wohngemeinschaft des Jugendamts. Wir machen viele Aktivitäten mit den Betreuern. Tagsüber besuche ich die Willkommensklasse am Diesterweg-Gymnasium. Im Sommer will ich wechseln und auf das Oberstufenzentrum mit Schwerpunkt Sozialwesen gehen. Eigentlich sollten meine Eltern nachkommen. Das hat aber nicht geklappt, immer fehlte irgendein Papier. Aber wir sind in engem Kontakt. Wir schreiben uns jeden Tag über WhatsApp, schicken Nachrichten oder Bilder. Am Anfang war es ganz schön schwer in Deutschland. In Syrien bin ich nicht mal alleine spazieren gegangen. Hier musste ich alleine leben. Aber wenn ich es schaffen will, dann schaffe ich es auch. Zu schaffen macht mir, dass ich jetzt – also bald zwei Jahre nach der Flucht – noch immer nachts selten mehr als drei Stunden schlafen kann. Der Arzt hat mir Schlaftabletten verschrieben, ich mache Psychotherapie und Physiotherapie. Nicht nur wegen der Dinge, die ich auf der Flucht erlebt habe, sondern vor allem wegen der Bilder, die ich aus Homs mitgebracht habe.

Zeichnung: Nayer

TALAL NAYER

GEHEN UND BLEIBEN

ist Zeichner und Autor. Er wurde 1983 in Umm Ruwaba, Sudan,  geboren und wuchs im Jemen und in Ägypten auf. Seit seiner Flucht aus dem Sudan 2014 lebt er in  Osnabrück und arbeitet für ver schiedene internationale Medien.

19


Frei sein, Mensch sein Vier Syrerinnen über ihr neues Leben in Deutschland. Mit Zeichnungen von Talal Nayer »Hier gehöre ich mir selbst« In Syrien habe ich der Gesellschaft, der Religion und der Familie gehört – nicht mir selbst. Ich musste mein Leben so gestalten, dass die anderen zufrieden waren. Erst seitdem ich in Deutschland lebe, habe ich das Gefühl, mir selbst zu gehören. Ich muss nicht mehr so tun, als sei ich von etwas überzeugt, von dem ich nicht wirklich überzeugt bin. So gesehen bin ich nicht nur vor dem Krieg geflohen, sondern auch in der Hoffnung auf ein besseres Leben, in dem ich frei und unabhängig sein kann. In Syrien habe ich meinen Religionslehrer einmal gefragt, woher ich wissen könne, dass es Gott gibt. Daraufhin hat er meine Eltern einbestellt und mich zur Strafe für eine Woche vom Unterricht suspendiert. Hier in Deutschland hingegen kann ich als Muslim oder Christ oder Atheist leben. Zwar glaube ich noch immer an Gott, fühle mich aber keiner bestimmten Religionsgemeinschaft zugehörig. Ich habe die schönen Seiten vom Islam übernommen, aber auch Aspekte des Christentums. Eine solche Einstellung hätte ich nie annehmen können, wenn ich in einem islamisch geprägten Land geblieben wäre. Dort ging es nur darum, sich mit Freunden zu treffen und sinnlos zu plaudern. Hier werde ich

20

unabhängig von meiner Religion und Herkunft respektiert: Entscheidend ist, dass ich ein Mensch bin. Jetzt ist mein Leben voller Pläne und Herausforderungen und Gedanken an die Zukunft. Maya Hanano, 22, aus Aleppo, seit 2015 in Deutschland.

»Keine schlüpfrigen Blicke« Ich fühle mich in Deutschland wohler, durch die Straßen zu gehen, als in Syrien. Niemand schaut mich mit schlüpfrigen Blicken an und ich habe keine Angst, dass mich jemand belästigt, sei es handgreiflich oder durch Worte. Das war in Syrien anders, da hatte ich oft Angst, belästigt zu werden. Ich fühle mich auch deshalb hier in Deutschland wohler, weil mir nicht vorgeschrieben wird, was ich anzuziehen oder wie ich mich zu schminken habe. Die Menschen hier interessieren sich weniger für das äußere Erscheinungsbild, besonders wenn es um Alltägliches geht wie den Weg zur Schule. Viele Mädchen ändern ihr Verhalten, wenn sie nach Deutschland kommen. Viele haben das Kopftuch abgelegt – aber nicht etwa, weil sie ihre Überzeugung geändert

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2017


haben, aus einer Laune heraus oder weil sie sich an die neue Situation anpassen wollen. Nein. Auch in Syrien haben die meisten dieser Frauen das Kopftuch nicht aus Überzeugung getragen, sondern weil es von ihnen erwartet wurde. Als sie hier ankamen, sahen sie die Chance, es abzulegen. In Deutschland sind Frauen ohne Kopftuch genauso geachtet wie Frauen mit Kopftuch, und sie brauchen es nicht mehr zu tragen, wenn sie nicht davon überzeugt sind.

»Wer frei ist beim Essen, ist auch frei in seinen Entscheidungen.« Medea Daghstani

Yara Khwis, 27, aus Swedaa, seit 2015 in Deutschland.

»Frauen müssen arbeiten« In den Ländern der arabischen und islamischen Welt sind viele Jobs Männern vorbehalten. Dort wird man nie eine Frau als Busfahrerin im öffentlichen Nahverkehr erleben. Natürlich gibt es Berufe, in denen die Chancen für Frauen besser stehen. Sie können zum Beispiel als Sekretärin arbeiten. Da sind sie der Autorität des Chefs unterworfen, der in den meisten Fällen ein Mann ist. Bei uns gibt es ein Sprichwort, das besagt: Wer frei ist beim Essen, ist auch frei in seinen Entscheidungen. Das heißt: Wenn eine Frau wirklich unabhängig und nicht von anderen kontrolliert werden möchte, dann muss sie produktiv sein und für ihre Ausgaben selbst aufkommen. Sonst werden jene, die ihr Geld geben, sie auch kontrollieren. Deswegen empfehle ich Frauen, sich eine unabhängige und einflussreiche Persönlichkeit aufzubauen. Sie sollten arbeiten – der Beruf hilft den Frauen dabei, ihre Persönlichkeit zu entwickeln und ihr Auftreten zu stärken. Ich finde, dass die deutsche Regierung den geflüchteten Frauen helfen sollte, Arbeit zu finden, um ihre Würde zu wahren und einen positiven Beitrag zur deutschen Gesellschaft zu leisten – und sich auf diesem Wege zu integrieren. Das wäre sowohl für die deutsche Gesellschaft als auch für die Geflüchteten von Vorteil. Medea Daghstani, 33, aus Homs, seit 2015 in Deutschland.

GEHEN UND BLEIBEN

»Wir behindern uns gegenseitig« Nicht nur Männer und die von Männern geprägte Gesellschaft machen es den Frauen schwer, ihre Rechte geltend zu machen. Oft behindern auch Frauen andere Frauen und beschimpfen sie oder reden schlecht über sie, wenn sie ihre Rechte einfordern. Es ist schon bedauerlich, wenn Männer gegen Frauenrechte angehen, aber es ist total inakzeptabel, wenn Frauen das selbst tun. Viele Frauen lassen es zu, dass ihre Ehemänner ihnen Gewalt antun, und unternehmen nichts dagegen – obwohl sie hier in Deutschland die Möglichkeit dazu hätten. Sie denken, es sei eine Schande, wenn eine Ehefrau sich über ihren Gatten beklagt. Sie fürchten, dass andere schlecht über sie reden, und wollen die Familie zusammenhalten. Ich glaube, dass dies mit den religiösen und sozialen Beschränkungen zu tun hat, unter denen diese Frauen aufgewachsen sind – als abhängige und nicht als unabhängige Personen. Das Hauptproblem ist, dass diese Frauen ihre Abhängigkeit als moralisch geboten ansehen, dass sie sich daran halten müssen. Sie kritisieren dann jene, die sich gegen die Unterordnung auflehnen. Rima al-Qaq, 27, aus Damaskus, seit 2014 in Deutschland. Protokolle: Samer Masouh

21


Warten auf Deutschland Die Besuche im Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales sind für viele Geflüchtete zur lästigen Gewohnheit geworden. Zwei Jahre nach dem Chaossommer 2015 ist das LaGeSo ein Ort des Wartens, der Enttäuschung und der Erniedrigung. Von Anas Khebir

D

ie Schlange vor den Büros im Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales, kurz LaGeSo, ist lang. Auch der 20-jährige Yazan Abu Eid hat sich in die Wartenden in dem tristen Amtsgebäude eingereiht. Mit seinen schmalen Schultern sieht er aus wie ein Abiturient, dabei hat er schon viel hinter sich: Im Juli 2016 erreichte er nach gefährlicher Flucht aus Syrien Berlin. Eine seiner ersten Stationen in der Hauptstadt: die Schlange vor dem LaGeSo. »Das waren ganz andere Verhältnisse«, sagt er. »Heute ist es hier viel besser als damals.« Doch vergessen werde er diese Tage nie: Auf dem Bürgersteig habe er übernachtet, um eine gute Wartenummer zu ergattern. Irgendwann sei er dann endlich an die Reihe gekommen und ein Sachbearbeiter habe ihm einen Stapel Formulare in die Hand gedrückt: Anträge zur Kostenübernahme der Miete, die Anmeldung zur Krankenkasse sowie Papiere für den Erhalt von Geldern, um Nahrung und Kleidung zu bezahlen. Alle Anträge würden für drei Monate gelten, wurde ihm gesagt, dann müsse er wiederkommen. Auch deshalb ist er heute hier. Und er will nochmal nachhaken: Wie stehen seine Chancen denn nun, eine Wohnung zu bekommen? Es ist eine Routine, an die sich viele Geflüchtete gezwungenermaßen gewöhnt haben – und der jene Dramatik fehlt, die noch im Herbst 2015 über Wochen die Lage vor dem LaGeSo

22

prägte. Kilometerlange Schlangen hatten sich damals vor dem Gebäude in der Turmstraße im Berliner Bezirk Moabit gebildet. Unter Plastikplanen harrten die Menschen auf ein paar Decken aus – und versuchten alles, um einen guten Platz in der Schlange zu erobern. Denn nur der bot die Chance auf eine Wartenummer für den nächsten Tag. Helfer teilten Suppe und Tee aus. Es waren Bilder des Elends, aber auch der Hoffnung und der Hilfsbereitschaft. Die vermisst Yazan Abu Eid, wenn er an diese Tage zurückdenkt. Was bleibt, ist Enttäuschung über ein System, das er nicht versteht: Gemeinsam mit seiner Familie und dem an Leukämie erkrankten Vater lebt er weiter in den Hallen des Flughafens Tempelhof – obwohl der Umzug in eine eigene Wohnung dringend geboten wäre. Doch der Antrag wurde abgelehnt, worüber Yazan sich bis heute aufregt: »Homosexuelle und Transgender-Flüchtlinge werden schnell und unkompliziert privat untergebracht und mein Vater, ein alter, kranker Mann, nicht?«, sagt er und läuft drei Schritte vorwärts. Die Schlange bewegt sich. Anders als im Chaossommer 2015 müssen die Neuankömmlinge heute nicht direkt in der Turmstraße warten, sondern auf dem Gelände des früheren Internationalen Kongresszentrums (ICC) an der Messe Nord. Ein, zwei Stunden beträgt hier in der Regel die Wartezeit, um einen Termin beim LaGeSo zu bekommen. Dann erst geht es mit einer an einem Armband am Hand-

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2017


Alltag im LaGeSo. Berlin, Juli 2017.

Foto: Sophia Kembowski / dpa / pa

gelenk befestigten Wartenummer im Bus zur Turmstraße, wo das Warten oft nochmals zwei Stunden weitergeht – bis die ersehnte Nummer endlich auf einem Monitor aufblinkt. Für Tausende ist das Alltag. Alle drei Monate wieder. Auch deshalb sind die Besuche beim LaGeSo für viele Geflüchtete zu einer Gewohnheit geworden, die an den Nerven zerrt. Zugleich sind die Schlangen am LaGeSo aber auch Orte, an denen Geschichten ausgetauscht werden – Geschichten über Enttäuschungen und Erniedrigung. Geschichten, die auch Alaa Mohammed alOthman erlebt hat. Stämmig ist der 27-jährige Syrer, man sieht ihm die Anstrengung an, die es ihn kostete, den Weg von der S-Bahn zum ICC schnellen Schrittes zu gehen. Im September 2015 kam er in München an, wo man ihm seinen syrischen Personalausweis abnahm. Für kurze Zeit kam er in einer Turnhalle unter, ehe er weiter nach Berlin geschickt wurde. Im LaGeSo in der Turmstraße warteten seine Papiere schon auf ihn. Er stellte sich an, wie so viele andere, schlief auf dem Bürgersteig und ergatterte am Morgen eine Wartenummer. Irgendwann leuchtete dann tatsächlich seine Nummer auf dem Monitor auf. Zwanzig Tage hatte er bis zu dem Moment warten müssen, an dem er endlich zu seinem Sachbearbeiter vorgelassen wurde. Al-Othman setzte vor allem der ruppige Wachschutz zu. Und in seinem Kopf überlagerten sich die Bilder: Allzu sehr ähnelten die Männer vor dem LaGeSo den Sicherheitsleuten, die er aus Syrien kannte. Immer wieder kam es zu Auseinandersetzungen, »Tiere« und »Ungeziefer« waren Begriffe, die fielen. Als er sich beschwerte, habe man ihnen nicht geglaubt, sagt er. Und beteuert, dass er nie ein Problem mit den deutschen Sachbearbeitern gehabt habe. Vielmehr seien diese erst entstanden, wenn die Übersetzer ein Problem mit seiner Herkunft, seiner Religion oder politischen Haltung gehabt hätten. »Sie haben die Geschichten so hingedreht, wie es ihnen passte«, so al-Othman. »Nie haben sie mir geholfen.« Die »Geschichtenerzähler«, wie er sie nennt, hätten immer auf der anderen Seite gestanden und somit den Sachbearbeitern und Polizisten das Gefühl gegeben, dass den Flüchtlingen nicht zu trauen sei. Besonders erinnert er sich an eine Szene, als ein libanesischer Übersetzer ihn fragte, woher er komme. »Aus Idlib«, antwortete er, woraufhin er zu hören bekam: »Ihr Leute aus Idlib seid die Schlimmsten!« Dass er kurz nach dem Gespräch in eine Unterkunft weit weg von Berlin verlegt wurde, führt al-Othman auf das Gespräch des Übersetzers mit dem Sachbearbeiter zurück – und auf den Hass, den der Dolmetscher gegen sunnitische Syrer hege. Wie sonst solle er diese Begegnung deuten? Ähnlich sieht es Mahmud G. aus dem Libanon, der früh am Morgen zum LaGeSo gekommen ist. Nur ungern will der junge

GEHEN UND BLEIBEN

Mann Fragen beantworten. Doch als das Gespräch auf die Übersetzer kommt, sprudelt es aus ihm heraus: Er könne einfach nicht glauben, dass diese wirklich seine Worte übersetzten. Anders könne er sich nicht erklären, warum seinem Umzugsantrag noch nicht stattgegeben wurde. Frauen trifft man an diesem Morgen vor dem LaGeSo nur wenige. Firdan H. aus dem Iran ist eine von ihnen. Kopfhörer in den Ohren und abweisender Gesichtsausdruck. »Diese Besuche im LaGeSo sind für mich sehr deprimierend. Man wartet und wartet, und eigentlich ist der Tag vorbei, wenn man endlich das Papier hat, das man braucht«, sagt sie in fließendem Deutsch. »Deutschland ist ein Warteland!« Ihr machen vor allem die Spannungen unter den Wartenden zu schaffen. Viele Frauen kämen mit kleinen Kindern, die weinten. Das allein zerre an den Nerven, aber schlimmer noch seien die Reaktionen der Erwachsenen. Die Ungewissheit über ihre Zukunft brächte bei vielen die negativsten Charaktereigenschaften zum Vorschein. Azzam al-Jazaa kam vor eineinhalb Jahren aus Mossul nach Berlin. Nie werde er vergessen, wie er damals vor dem LaGeSo warten musste, erzählt der 33-jährige irakische Ingenieur. Wie in einer Tierherde habe man darauf gewartet, dass sich das Tor endlich öffnet. Schrecklich sei das gewesen, dieser Verlust der Menschlichkeit. »Ich bin nach Deutschland gekommen, um dem Krieg und der Erniedrigung zu entkommen«, blickt al-Jazaa auf seine Flucht zurück – und auf das, was aus seinen Träumen geworden ist: »Ich wollte arbeiten und ein nützliches Mitglied der Gesellschaft werden. Das Gegenteil ist eingetreten: Ich lebe jetzt von Sozialleistungen.« Dass viele Übersetzer die Geflüchteten so schlecht behandelten, erklärt er sich damit, dass diese früher selbst von Sozialleistungen gelebt hätten und diskriminiert worden seien. »Diese üblen Erfahrungen versuchen sie zu kompensieren, indem sie uns hassen und uns das Leben schwermachen. Dabei sind wir der Grund, wieso sie einen Job gefunden haben.« Auch Neid spiele hinein: »Sie vergleichen, wie sie hier am Anfang zu kämpfen hatten«, sagt er, »mit der Art, wie die Syrer jetzt willkommen geheißen werden.« Al-Jazaa sagt, was auch viele andere in den Schlangen fordern: Tauscht endlich die Übersetzer und die Sicherheitsleute aus! Denn so würde zumindest das Gefühl der Herabwürdigung beseitigt, das sich tief ins Bewusstsein einbrennt. Besonders in Zeiten, wo vielen die Hoffnung schwindet, wirklich etwas Besseres aus ihrem Leben machen zu können.

»Tauscht endlich die Übersetzer und Sicherheitsleute aus!« Azzam al-Jazaa 23


Menschen im Minutentakt E

s war im Spätsommer 2016. In den Büros des Bundesamts stapelten sich die Akten, Tausende von Asylanträgen waren noch unbearbeitet. Neue Stellen wurden ausgeschrieben, um den Rückstau abzuarbeiten. Elisabeth Fischer bewarb sich. Wie viele. Sie hatte Politikwissenschaft studiert und schon einige Zeit mit Geflüchteten gearbeitet. Sie bekam den Job. Die anderen bekamen ihn auch, zum Teil Menschen, die noch nie länger mit einem Geflüchteten gesprochen hatten und die Regionen, aus denen sie kamen, nur aus dem Geografieunterricht und der Zeitung kannten. Auch mit dem Thema Asyl hatten sich die wenigsten vorher befasst. Drei Wochen später führten Elisabeth Fischer und ihre neuen Kollegen zum ersten Mal jene Gespräche, die dann die Basis bildeten für die Entscheidung, ob Menschen in Deutschland Asyl bekommen oder in ihr Heimatland zurückkehren müssen, wo möglicherweise Tod oder Folter auf sie warten. Und noch ein paar Wochen später fällte sie diese Entscheidung selbst. Der Vertrag war auf ein halbes Jahr befristet. »Im Grunde lief von Anfang an alles schief«, sagt sie Monate nach ihrem Abschied vom BAMF. Normalerweise würden neue Mitarbeiter drei Monate in Seminaren geschult. Das sei auch gut so. In den Anhörungen gehe es schließlich um die politische Lage in der Region, aus der die Asylbewerber kommen. Und darum, einschätzen zu können, ob das, was sie erzählen, plausibel ist. Zum anderen gehe es in den Anhörungen um menschliche Schicksale. Viele, die in Deutschland Asyl beantragen, haben Schreckliches erlebt und sind schwer traumatisiert. Diese Form von Gesprächen zu führen, müsse man lernen. »Aber leider bekamen wir Neuen nur drei Wochen Training und wurden zum Teil von Kollegen angeleitet, die selbst nur ein paar Wochen länger da waren als wir«, berichtet Fischer. Ein Zimmer. Auf der einen Seite des Tisches der Asylbewerber – aufgeregt, voller Angst, wissend, dass von diesem Gespräch alles abhängt. Auf der anderen Seite der BAMF-Mitarbeiter – nicht wissend, was ihn erwartet: Ein einfacher Fall, der schnell gelöst ist? Oder eine komplexe Geschichte? Ein schwieriger Mensch, der vielleicht sogar aggressiv wird? »Der Abstand ist riesig«, sagt sie im Rückblick – und rekapituliert ihren guten Vorsatz, auch am Ende eines langen Tages auch beim siebten Bewerber noch ruhig und freundlich aufzutreten. Sich wieder einzulassen auf die neue Situation. Fast siebzig Interviews hat sie allein in ihren ersten beiden Monaten im BAMF geführt. Siebzig Menschen mit ihren oftmals harten Geschichten zugehört und diese so gut sie es vermochte

24

aufgeschrieben. Viele ihrer Kolleginnen und Kollegen litten unter den Grausamkeiten, von denen da die Rede war. Fischer sagt, das habe sie weniger belastet, sie kannte Ähnliches aus ihrer früheren Arbeit mit Geflüchteten und wusste sich abzugrenzen. Heftig fand sie, mit was für irren Vorstellungen manche junge Männer nach Deutschland aufgebrochen waren: Albaner oder Serben etwa, die felsenfest davon überzeugt waren, dass die Regierung ihnen hier Arbeit und ein Haus vermitteln würde, oder Tschetschenen, denen die Schlepper gesagt hatten, sie bekämen hier Grund und Boden, um einen landwirtschaftlichen Betrieb zu gründen. Zwischen den Hoffnungen und der Realität lagen Welten. Und das auszuhalten fiel ihr schwer. Hinzu kam der Druck von oben. Es gab Vorgaben aus der Zentrale des Bundesamts in Nürnberg und von den Vorgesetzten vor Ort. Die Aktenberge sollten schnell kleiner werden. Das ging nur durch zügiges Arbeiten. Für die Neuen hatte da keiner Zeit, auch wenn sie oft nicht weiterwussten. In der Hierarchie der Behörde waren sie unten angesiedelt. »Wir waren ja nur die mit den Sechsmonatsverträgen.« Also schlugen sie sich irgendwie durch – jede und jeder auf seine Manier. Natürlich hatte man ihnen den rechtlichen Rahmen erklärt. Elisabeth Fischer nahm sich vor, ihn so weit wie irgend möglich zugunsten der Geflüchteten zu interpretieren. Ließ sich ein Aufenthaltstitel nicht halten, prüfte sie, ob es noch weitere gab. Andere Kollegen, sagt sie, sahen ihre persönliche Herausforderung darin, möglichst viele Asylanträge abzulehnen, und suchten nach legalen Wegen, das zu tun. Mit diesen Entscheidungen waren sie jeweils allein. Niemand prüfte nach. Die Qualitätskontrollen bezogen sich nicht auf die Entscheidung selbst, sondern darauf, wie das Schriftstück abgefasst war: War es klar und sinnhaft oder gab es Widersprüche? Während Elisabeth Fischer in ihrem Zimmer Interviews führte, Protokolle schrieb und Entscheidungen fällte, waren

»Ich habe nie erlebt, dass mir einer Lügen aufgetischt hat.« Elisabeth Fischer AMNESTY JOURNAL | 08-09/2017

Foto: Britta Pedersen / dpa / pa

Ein halbes Jahr lang entschied Elisabeth Fischer darüber, wer in Deutschland Asyl bekommt – und wer nicht. Dann kehrte sie dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Rücken. Von Muhamad Abdi und Mahdis Amiri


Akten voller Einzelfälle. Im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Nürnberg, März 2015.

draußen die Wartezimmer voll mit Menschen. »Die Arbeit war schlecht organisiert«, sagt Fischer. »Es wurden immer mehr Menschen eingeladen, als wir anhören konnten. Die Verwaltung wusste das – und tat es trotzdem, vielleicht in der Absicht, dass die Anhörer beim Anblick der Wartenden ein wenig schneller arbeiten oder Überstunden machen.« Die Leute kamen morgens früh und warteten bis nachmittags um fünf, und dann sagte man ihnen: »Leider müssen wir ihren Termin verschieben.« Einige mussten sieben oder acht Mal kommen. »Bei jungen Männern kann das ja vielleicht noch angehen«, sagt Elisabeth Fischer empört, »aber es geschah auch bei Schwangeren und Frauen mit kleinen Kindern.« Zu ihren Aufgaben als Anhörerin zählte, die Fragen so zu formulieren, dass möglichst erkennbar wurde, ob einer seine eigene Geschichte wiedergibt oder eine erfundene. Anhaltspunkte dafür waren das Wissen um Orte und Details. »Ich habe nie erlebt, dass einer mir Lügen aufgetischt hat«, sagt Fischer. Aber ganz auszuschließen sei das nicht. Manche Gesichter wird sie nicht vergessen, vor allem von unbegleiteten Minderjährigen. »Die sind doch noch Kinder!«, sagt Fischer empört. »Die kann man doch nicht auf so eine Reise schicken!« – allein, durch Kriegsgebiete, über umkämpfte Grenzen und das Meer in die Fremde. Und das alles nur in der Hoffnung, dass der Rest der Familie dem Kind nach überstandener Gefahr nachfolgen kann. »2015 waren es die Väter – die Stärksten, die aufbrachen, um später ihre Familien nachzuholen«, sagt Fischer. Jetzt sind es die Jungen – weil die deutsche Politik nur noch dieses Schlupfloch vorsieht.

GEHEN UND BLEIBEN

Beim BAMF wurde in dieser Phase unterschieden in Anhörer und Entscheider. Die einen redeten mit den Menschen. Die anderen lasen hinterher, was aus diesen Gesprächen in den Akten protokolliert war – ohne den Betroffenen jemals persönlich erlebt zu haben. Nach etwa drei Monaten als Anhörerin wechselte Elisabeth Fischer und arbeitete als Entscheiderin. Über die Reihenfolge, in der die Antragsteller ihre Bescheide bekamen, entschied nicht der Eingangsstempel, sondern die politischen Interessen. Die Schwerpunkte änderten sich von Woche zu Woche. Mal hieß es: Macht erstmal all die Fälle, die schnell und einfach zu erledigen sind. Ein andermal sollten sie die ältesten Akten abarbeiten. Dann wieder sollten vor allem Afghanen dran sein. Oder primär Familien. Die Vorgesetzten hatten vor allem einen Blick auf die Statistik, jeder versuchte, sein Team als möglichst erfolgreich darzustellen. Die Vorgaben dafür kamen aus der Politik. Auch auf diese Aufgabe bereitete das BAMF die Kurzzeitkräfte mehr schlecht als recht vor, so Fischer. Die Folgen des Versuchs, die Aktenberge mit Kurzzeitkräften schnell abzuarbeiten, zeigen sich jetzt: An den Gerichten häufen sich die Einsprüche gegen die Bescheide. Rechtsanwälte argumentieren, durch die eiligen Verfahren und die fehlende Kompetenz der Anhörer und Entscheider seien immer wieder Fehler passiert, die jetzt bereinigt werden müssten. Für die Asylbewerber heißt das: Das Verfahren geht in die nächste Runde, und es dauert noch länger als ohnehin schon, bis sie wissen, ob ihre Zukunft in Deutschland liegt. Aus dem Englischen von Cornelia Gerlach

25


Zurück in Kabul. Abgeschobener Afghane vor dem Flughafen der Hauptstadt, Dezember 2016.

Abschieben um jeden Preis Vor der Bundestagswahl setzen Bund und Länder auf eine Erhöhung der Abschiebequote – ungeachtet der prekären Lage in Afghanistan. Von Noorullah Rahmani

G

ünter Burkhardt ist sich sicher: »Man produziert in diesem Jahr die Ablehnungsbescheide, die in drei oder vier Jahren vollzogen werden«, sagt der Geschäftsführer der Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl. Weil das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) unter Druck stehe, bis zur Bundestagswahl einen Berg unerledigter Verfahren abzubauen, wachse die Zahl mangelhaft durchgeführter Asylverfahren ohne faire Prüfung der Fluchtgründe stetig. Allein bis Mai wurden 146.000 Asylanträge von Afghanen abgelehnt, im Vorjahr waren es rund 174.000 – während die Anerkennungsquote afghanischer Bewerber 2015 noch bei 78 Prozent lag. Verbessert hat sich die Sicherheitslage in Afghanistan seitdem nicht, wie auch der verheerende Anschlag in Kabul im Mai mit 150 Toten belegt. Die vorübergehende Aussetzung der Ab-

26

schiebungen in das Bürgerkriegsland bedeutet jedoch keine Änderung der deutschen Politik, unfreiwillige Rückführungen nach Afghanistan verstärkt voranzutreiben. Seit Berlin und Kabul im Oktober 2016 vereinbarten, diesbezüglich zusammenzuarbeiten, sind 147 Afghanen abgeschoben worden – 98 davon bis Mai dieses Jahres. Die Vereinbarung sieht vor, dass die Entwicklungshilfe für Afghanistan drastisch reduziert wird, wenn das Land Rückkehrern angemessene staatliche Unterstützung verwehrt. Die Regierung in Kabul hält sich allerdings nur bedingt an diese Abmachung, wie etwa Atiqullah Akbari berichtet. Anderthalb Jahre lebte der Afghane in München, ehe er im Januar 2017 nach Kabul abgeschoben und dort bei einem Selbstmordanschlag verletzt wurde. Er erhielt nach seiner Ankunft vom afghanischen Ministerium für Flüchtlinge zwar 1.500 Afghani. Das ist

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2017


Foto: Massoud Hossaini / AP / pa

»Um zurückzukommen, würde Atiqullah Akbar sich auch in die Hände von Schleusern begeben.« die zugesicherte Mindestsumme, umgerechnet rund zwanzig Euro. Auch die Kosten für die ersten drei Wochen in einem Hostel übernahm das Ministerium, doch seitdem hat er kein Geld mehr erhalten. Wegen fehlender Dokumente verwehrt ihm auch die Internationale Organisation für Migration (IOM) die Starthilfe von umgerechnet 700 Euro, um ein Haus zu kaufen oder ein Geschäft zu eröffnen. Unterstützt wird Akbari bislang lediglich auf privatem Weg – unter anderem von Freunden in Deutschland, die den Kontakt zu ihm auch nach seiner Abschiebung nicht abreißen ließen. So kann er zumindest die Miete für ein Zimmer bezahlen, das er sich mit drei anderen Abgeschobenen teilt. Bis heute ist Akbari verbittert darüber, wie die deutschen Behörden seinen Asylantrag behandelten – er empfindet seine Ablehnung als unfair. Schließlich habe er es in kurzer Zeit geschafft, Deutsch zu lernen und sich für einen Ausbildungsplatz zu bewerben. Nichts habe er sich zuschulden kommen lassen, betont er. Auch deshalb will er versuchen, mit Unterstützung seiner Münchner Freunde legal nach Deutschland zurückzukehren. Sollte das nicht gelingen, würde er sich auch in die Hände von Schleusern begeben. Mohamad Saber hat ähnliche Erfahrungen gemacht wie Akbari. Der 35-Jährige hatte Schleusern 10.000 Dollar bezahlt und einen schwierigen und gefährlichen Weg auf sich genommen, um nach Norwegen zu gelangen – nur um zu erleben, dass die dortigen Behörden ihn nach Ablehnung seines Asylantrags nach Afghanistan abschieben wollten. Saber entging der Abschiebung, indem er sich nach Deutschland durchschlug, wo er abermals Asyl beantragte. Die Einwanderungsbehörden in Frankfurt schickten ihn jedoch nach Norwegen zurück, wo er zunächst ins Gefängnis kam und dann nach Afghanistan ausgeflogen wurde. Wie er das Geld zurückgeben soll, das ihm Freunde und Bekannte für die Flucht geliehen hatten, weiß Saber nicht. Nach seinen Erfahrungen will er jedenfalls nicht mehr, dass Afghanen illegal nach Europa reisen müssen und dabei ihr Geld und ihr Leben riskieren. Ahmad Rasuli ist hingegen froh, dass er abgeschoben wurde. Sechs Monate lange lebte der 28-Jährige in München, ehe er in seine Heimat zurückgeführt wurde. »Ich habe mehr als 8.000 Dollar bezahlt, um nach Deutschland zu kommen«, sagt er. Angesichts seiner Probleme als Flüchtling hat er bis heute Albträume – die Kluft zwischen dem, was ihm vor seiner Flucht versprochen wurde und dem, was er dann in Deutschland erlebte, sei riesig gewesen. So kam er zunächst für mehrere Monate in einer großen Halle mit mehr als hundert anderen Neuankömmlingen unter. Oft herrschte bis Mitternacht Lärm; weder mit der Kultur noch mit der Sprache kam er zurecht. Zurück in Afghanistan fühlt er sich wieder zu Hause – trotz Armut, Arbeitslosigkeit, Unsicherheit und Selbstmordanschlägen.

GEHEN UND BLEIBEN

TIPPS NUR FÜR DIE AUSREISE Das bayerische Sozialministerium hat Wohlfahrtsverbänden mit dem Entzug der Förderung gedroht, sollten sie Asylbewerber ergebnisoffen beraten. Von Stefan Wirner Mehr Abschiebungen, um jeden Preis – so scheint das Motto der bayerischen Staatsregierung zu lauten. Das zeigt ein Brief des Sozialministeriums in München an die Träger der Asylsozialberatung vom März. Darin wird Wohlfahrtsverbänden wie der Caritas oder der Arbeiterwohlfahrt mit dem Entzug staatlicher Gelder gedroht, sollte deren Asylsozialberatung sich nicht an gewisse Prämissen halten. In dem Schreiben heißt es, Schwerpunkt der Beratung sei nach geltender Richtlinie, die Betroffenen »über eine bereits bestehende oder in absehbarer Zeit möglicherweise eintretende Ausreisepflicht« aufzuklären. Zudem gelte es, auf »Hilfsangebote im Freistaat Bayern für eine freiwillige Rückkehr oder Weiterwanderung« hinzuweisen. Mit diesen Grundsätzen sei es unvereinbar, wenn Tipps des Bayerischen Flüchtlingsrats weitergegeben würden, »wie Betroffene sich bevorstehenden Abschiebungen entziehen können«. Dies laufe dem Förderzweck zuwider – und könnte im Wiederholungsfall zum »Widerruf der entsprechenden Verwaltungsakte« führen. Die Empörung über das Schreiben war groß. Der Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit sammelte Unterschriften, um die Rücknahme des »ministeriellen Drohbriefes« zu erreichen. Schließlich könne es nicht sein, dass der Entzug der Förderung drohe, nur weil »Geflüchtete umfassend über ihnen zustehende demokratische Rechte beraten« würden. Die Forderung der Regierung, in Beratungen Rechte zu verschweigen, greife »grundlegend die Arbeitsweise von jeder Art von Beratungsstelle an«, hieß es im Frühjahr. Inzwischen hat das Sozialministerium den Brief relativiert. Dem Amnesty Journal sagte ein Sprecher, es herrsche Übereinkunft mit den Verbänden, dass Aufgabe der staatlich geförderten Asylsozialberatung nicht sei, Abschiebungen zu vereiteln. Das sieht man beim Bayerischen Flüchtlingsrat jedoch anders. Sprecher Stephan Dünnwald betonte, nötig sei eine öffentliche Klarstellung des Sachverhalts, denn es sei in einigen Fällen zur Verunsicherung von Asylsozialberatern gekommen. »Das kann einen negativen Einfluss auf die Beratungstätigkeit haben.« Das fürchtet auch der Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit. »Möglicherweise ist ein Teil der Mitarbeiter eingeschüchtert«, sagte ein Vertreter des Arbeitskreises dem Amnesty Journal. 1.300 Unterschriften gegen das Schreiben kamen zusammen, und das trotz der Tatsache, dass bei einigen Wohlfahrtsverbänden Vorgesetzte ihre Mitarbeiter aufforderten, nicht zu unterschreiben.

27


Willkommen auf Arabisch Der Gründer von Al Abwab über die erste arabischsprachige Zeitung Deutschlands. Von Ramy al-Asheq

W

as ist die Aufgabe eines Journalisten im Exil? Wie kann er sich Gehör verschaffen, eine eigene Stimme entwickeln – und sich zugleich für die Rechte von Geflüchteten einsetzen? Hat er die Pflicht, Brücken zwischen den Kulturen zu schlagen? Und ist es ihm überhaupt möglich, seine Stimme zu erheben angesichts der mächtigen Medienmaschinerie mit ihren verschiedenen politischen Agenden? Mit diesen Fragen sah ich mich in meinen ersten Tagen in Deutschland konfrontiert. Ich war gerade mit einem Stipendium der Heinrich-Böll-Stiftung aus Jordanien nach Berlin gekommen. Dort genoss ich den Luxus, vier Monate lang nicht in einer Erstaufnahmeeinrichtung und in temporären Unterkünften wohnen zu müssen. Ich hatte also andere Sorgen als meine Freunde, die über die Mittelmeerroute gekommen waren. Viele europäische Medien beschrieben die Flüchtlinge damals als Opfer, ohne zu erwähnen, wer sie dazu gemacht hatte. Ganz so, als ob sie von einem anderen Planeten stammten oder schon als Opfer zur Welt gekommen wären. »Flüchtling findet 100 Euro und gibt sie Besitzern zurück«, lautete eine Schlagzeile im Sommer der sogenannten Willkommenskultur 2015. Viele Zeitungen druckten diese Nachricht wie eine Ausnahme – und erweckten damit den Eindruck, dass ein Flüchtling, der Geld stiehlt, normal sei, nicht einer, der ehrlich ist. Als dann der Begriff »Integration« immer inflationärer benutzt wurde, begann ein Gedanke in meinem Kopf zu reifen: Wir brauchen ein Medium, das versucht, die verschiedenen Standpunkte der Integrationsdebatte einander anzunähern. Und wir Geflüchteten selbst benötigen ein Sprachrohr gegen Vorurteile, Hate Speech und den Aufstieg der extremen Rechten. Zu diesem Zeitpunkt kontaktierte mich die Verlegerin Federica Gaida von New European Media und schlug mir vor, eine arabische Zeitung herauszugeben, die Nachrichten und Informationen über das Leben in Deutschland aufgreift und den Neuankömmlingen Orientierung bietet. So erschien im Dezember 2015 die erste Ausgabe. Drei Nachrichtenseiten aus Deutschland und der Welt sowie vier mit Kommentaren und Berichten aus den arabischen Staaten bildeten damals den Kern von Abwab. Hinzu kamen vier Ratgeber-Seiten und jeweils zwei über Feminismus und Frauenrechte sowie Kultur und Literatur. Doch schon nach der zweiten Ausgabe fiel uns etwas Wichtiges auf: Wir wollten nicht den Fehler begehen, nur zu uns selbst zu sprechen. Das ist in vielen Institutionen und Gesprächsforen

28

der Fall, wo in erster Linie Deutsche über Flüchtlinge reden. Um das zu vermeiden, beschlossen wir, deutsche Journalisten und Autoren in unserer Zeitung zu Wort kommen zu lassen – und so auch deutsche Leserinnen und Leser zu gewinnen. Also fügten wir von da an jeder Ausgabe zwei Seiten mit ins Deutsche übersetzten Artikeln hinzu. Inzwischen sind es vier Seiten, die von der Redakteurin Lilian Pithan betreut werden. Darüber hinaus bieten wir in der Rubrik »Die offene Tür« Tipps für Neuankömmlinge an. Fragen zu Bildung, Stipendien, Gesetzen und Ernährung stehen dabei im Mittelpunkt. Unser Ressort »Fürs Herz« erzählt Geschichten über Erfolg und Hoffnung, und unter »Arabesque« laufen Beiträge zu Kultur. Wir verstehen uns als Teil des Integrationsdiskurses, der seit Abflauen der Willkommenskultur die Flüchtlingsdebatte in Deutschland prägt – auch wenn wir eine andere Perspektive darauf einnehmen als der politische Mainstream. Als Redaktion sind wir der Ansicht, dass Integration nur über den Austausch von Menschen unterschiedlicher Identität herzustellen ist. Gelingen kann sie deshalb nur, wenn sich sowohl Einheimische wie Neuankömmlinge an der Debatte beteiligen – getrieben vom Interesse, andere Kulturen kennenzulernen, voneinander zu lernen und sich zu respektieren. Außerdem glauben wir, dass sich Integration in der Lebenszeit eines Menschen allein nicht erreichen lässt. Es genügt nicht, sich wirtschaftlich zu integrieren, also eine Arbeit zu finden – auch wenn das absolut notwendig ist. Darüber hinaus gibt es noch kulturelle, gesellschaftliche und politische Aspekte, die unbedingt berücksichtigt werden müssen. Darüber tauschen wir uns in Abwab mit unseren Leserinnen und Lesern aus. So bilden wir eine wichtige politische Stimme, die zu gesellschaftlich relevanten Anliegen und Problemen Stellung nehmen kann. Bei ihrer Gründung 2015 sollte Abwab eine Zeitung von und für geflüchtete Menschen sein. Doch sie hat sich weiterentwickelt und ist – auch online – zu einem umfassenden Projekt geworden, an dem Menschen mit unterschiedlichsten Hintergründen teilhaben. So ist daraus eine Zeitung von Geflüchteten und Einheimischen für Geflüchtete und Einheimische entstanden. Als ich Abwab anfangs allein produzierte, gelang es mir, 16 Autorinnen und Autoren für die Zeitung gewinnen. Heute sind wir mehr als 40 Journalistinnen und Journalisten. Aus dem Arabischen von Hannah El-Hitami Abwab online: www.abwab.eu/deutsch/

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2017


Foto: Dörthe Boxberg

»Wir Geflüchteten benötigen ein Sprachrohr gegen Vorurteile und den Aufstieg der extremen Rechten.« Ramy al-Asheq

Brückenbauer. Ramy al-Asheq.

GEHEN UND BLEIBEN

29


BUNDESTAGSWAHL 2017

MISCH DICH EIN FÃœR MENSCHENRECHTE AMNESTY.DE/EINMISCHEN


+P XKGNGP .ÀPFGTP ƂPFGV FGT\GKV GKPG #WUJÒJNWPI ITWPFNGIGPFGT OGPUEJGPTGEJVNKEJGT 5VCPFCTFU UVCVV #WEJ KP &GWVUEJNCPF IGTCVGP /GPUEJGPTGEJVG \WPGJOGPF WPVGT &TWEM 7O FGO GPVIGIGP\WYKTMGP JCDGP YKT MNCTG (QTFGTWPIGP CP FKG $WPFGUVCIUCDIGQTFPGVGP WPF FKG $WPFGUTGIKGTWPI

JA ZUM FLÜCHTLINGSSCHUTZ KEIN PLATZ FÜR RASSISMUS PRIVATSPHÄRE ACHTEN MENSCHENRECHTSVERTEIDIGER_INNEN SCHÜTZEN RÜSTUNGSEXPORTE BESSER KONTROLLIEREN MENSCHENRECHTE INS KABINETT

JETZT FÜR MENSCHENRECHTE /KUEJ FKEJ GKP DGXQT GU \W URÀV KUV ,GV\V KUV FKG <GKV WO CNNG $WPFGUVCIUMCPFKFCVAKPPGP CWH KJTG RGTUÒPNKEJG 8GTCPVYQTVWPI HØT FKG 'KPJCNVWPI FGT /GPUEJGPTGEJVG JKP\WYGKUGP 9CU FW CNNGU VWP MCPPUV GTHÀJTUV FW CWH WPUGTGT -CORCIPGP YGDUKVG www.amnesty.de/einmischen


THEMEN

Flucht vor den Buddhisten In Sicherheit. Flüchtlingslager Balu Kali, Bangladesch, im Mai 2017.

32

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2017


Foto: Florian Lang

ROHINGYA

33


In der Koranschule. Kinder im Flüchtlingslager Balu Kali.

Kinderarbeit. Junge Rohingya am Rande des Flüchtlingslagers Kutupalong.

34

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2017


Fotos: Florian Lang

Neues Zuhause. Rohingya im Flüchtlingslager Kutupalong.

ROHINGYA

35


Stütze ihres Vaters. Yasminara und Mohammed Alam in Kutupalong.

36

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2017


Zehntausende muslimische Rohingya sind seit vergangenem Herbst vor dem Militär Myanmars nach Bangladesch geflohen. Aus Kutupalong berichten Verena Hölzl (Text) und Florian Lang (Fotos) Jeden Abend macht Yasminara ihrem Vater Mohammed Alam das Bett. Das sechsjährige Mädchen fegt den Boden und bringt ihm ein Kissen. So kann er wenigstens seinen Kopf weich betten. Seit einem halben Jahr schläft der Vater im Flüchtlingslager Kutupalong vor einer Lehmhütte. Unzählige davon gibt es inzwischen in Bangladesch, seitdem das Militär im benachbarten Myanmar Zehntausende Menschen in die Flucht trieb. Kutupalong ist ein Dorf voller Kriegsveteranen. In den stickigen Lehmhütten fächeln verschleierte Frauen mit Kartonfetzen schreienden Babys Luft zu, deren Gesichter von Hitzeausschlag übersät sind. Verwundete Männer hieven sich an Bambusstöcken über das unwegsame Gelände oder betten ihre Beine, die von Schusswunden schmerzen, auf Holzschemel. Bilder des Elends. So wie mehr als 70.000 andere sind Yasminara und ihr Vater im Herbst 2016 vor dem myanmarischen Militär aus Hatifara nach Bangladesch geflohen. Hier sind sie immerhin in Sicherheit. Sie gehören der muslimischen Minderheit der Rohingya an. Für viele Buddhisten, die die Bevölkerungsmehrheit in Myanmar stellen, sind sie deshalb die Pest. Offen werden sie als illegale Einwanderer aus Bangladesch diffamiert. Parolen nationalistischer buddhistischer Mönche wie »Es gibt keine Rohingya in Myanmar« oder »Raus mit den Bengalis« sind an der Tagesordnung. Yasminara kannte das rabiate Vorgehen der Soldaten schon, bevor sie im vergangenen Oktober in ihr Dorf eindrangen. Gutes verhießen die Militärs nie, die Myanmar bis 2011 diktatorisch regierten: Nachbarn verschwanden, wurden eingesperrt oder bestraft, weil sie nicht um Erlaubnis gebeten hatten, einen bestimmten Weg zu benutzen. Oder weil sie keine Meldung machten, wenn ein Kalb geboren wurde. Doch am Abend des 9. Oktober 2016 war die Unruhe besonders groß. Der Schall von Gewehrsalven habe sie und ihre beiden Geschwister in ihrer Hütte geweckt, erzählt Yasminara. Der Vater sei nach draußen gegangen, um nachzusehen, was vor sich ging. Mohammad Alam erinnert sich noch genau an die Worte der Soldaten: »Raus mit euch aus Myanmar, sonst bringen wir euch um!« Dann trafen ihn zwei Kugeln im linken Bein. »Die Buddhisten wollen uns töten«, flüstert Yasminara, »weil wir Muslime sind.« Zwei Schrauben halten Mohammed Alams Unterschenkelknochen zusammen, der durch die Wucht der Projektile brach. Beim Gehen stützt er beide Arme beschwerlich auf einen Krückstock. Wenn er sich in die Klinik von Ärzte ohne Grenzen schleppt, trägt Yasminara ein abgewetztes grünes Kuvert, in dem Röntgenaufnahmen stecken. Es ist so groß, dass sie es nur knapp unter ihren Arm klemmen kann. Yasminara weicht ihrem Vater nicht von der Seite. In den Wirren der Attacke auf das Dorf während der Oktoberoffensive wurde die Familie zerrissen. Wenn im Lager andere Kinder nach ihren Müttern rufen, zieht die Sechsjährige sich zurück, denn ihre eigene verschwand damals – ebenso wie die beiden kleinen Geschwister. »Früher musste ich ihr immer alles dreimal sagen« sagt Mohammed Alam. »Heute hört sie sofort auf mich.« Er lächelt jetzt sogar ein bisschen. Yasminara stützt ihren Arm behutsam auf seine Schulter. Die beiden sind in der Hütte von Bekannten des

ROHINGYA

Bruders untergekommen, die genug Geld aus Myanmar mitbrachten, um die Miete zu zahlen. Das Datum 9. Oktober ist unter Diplomaten und Entwicklungshelfern in Myanmar zur Chiffre für eine neue Phase des Konflikts in Rakhine geworden. Seit Jahrzehnten geraten muslimische und buddhistische Bewohner in der westlichsten der 15 Verwaltungseinheiten Myanmars aneinander. Seit 2012 müssen viele muslimische Rohingya ihr Leben in abgeriegelten Lagern oder Dörfern fristen, die sie meist nur gegen Bezahlung verlassen dürfen. Dagegen begehrte auch jene Gruppe militanter Muslime auf, die am 9. Oktober mit Macheten und Bambusstöcken loszog und neun Grenzbeamte tötete – der Auslöser für den Vergeltungsschlag des Militärs, vor dem auch Yasminara und ihr Vater ins benachbarte Bangladesch flohen. Nach wie vor sitzen in Rakhine Hunderte Verdächtige in Haft. Selbst Kinder werden beschuldigt, Terroristen zu sein.

Schwache Nobelpreisträgerin 1,3 Millionen Rohingya leben heute noch in Rakhine, fast ebenso viele jedoch im Exil. Vor allem in Bangladesch, aber auch in Saudi-Arabien, Malaysia, Indonesien und Thailand haben sie Zuflucht gefunden. Weil die Regierung von Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi ihnen wie das zuvor herrschende Militär die Staatsbürgerschaft verwehrt, dürfen sie weder wählen noch Universitäten besuchen. Und sie bleiben auch nach dem Wahlsieg der einst als Hoffnungsträgerin gefeierten Politikerin 2015 in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Das hat damit zu tun, dass die Rohingya aus Sicht der buddhistischen Bevölkerungsmehrheit das Image des Landes mit seinen 53 Millionen Einwohnern zu beschädigen drohen. Über Jahrzehnte war Myanmar als Militärdiktatur international geächtet. Die positiven Nachrichten, die nach dem Sieg von Aung San Suu Kyis Nationaler Liga für Demokratie im November 2015 durch die Welt gingen, bedeuteten einen willkommenen Wandel. Doch das änderte sich, als das Militär Rakhine im vergangenen Jahr abriegelte und sowohl Vertretern von Medien wie Hilfsorganisationen den Zugang zu dem Konfliktgebiet verwehrte. In Interviews wiegelte Aung San Suu Kyi, die als Außenministerin und Staatsrätin die Regierung in Naypyidaw führt, jedoch ab – und bat darum, das Problem nicht größer zu machen als es sei. Eine im März eingesetzte Untersuchungskommission des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen zur Aufklärung der Vorfälle lehnten ihre Beamten wiederholt als »nicht hilfreich« ab. Auch Diplomaten äußern sich nur zurückhaltend. Vielen erscheint das Gleichgewicht zwischen zivilen Politikern und dem Militär, das 1962 an die Macht gekommen war und dessen Vertreter bis heute Schlüsselpositionen in der demokratischen Regierung besetzen, als zu instabil und die Versöhnung gefährdet.

»Aus Sicht der buddhistischen Bevölkerungsmehrheit schaden die Rohingya dem Image Myanmars.« 37


Menschenrechtler hingegen laufen Sturm gegen den Kurs der Regierung. Aus gutem Grund: Statt Vergewaltigungsvorwürfen von Frauen in Rakhine nachzugehen, ist die Pressestelle damit beschäftigt, diese als Lügnerinnen zu diffamieren. Satellitenbilder, die das Ausmaß der Zerstörung belegen, wurden als »fake news« abgestempelt. In staatlichen Medien hieß es auf dem Höhepunkt des Konflikts sogar, die Rohingya hätten ihre eigenen Häuser angezündet, um sich so Mitleid bei der internationalen Gemeinschaft zu erschleichen. Doch davon kann bei den Bewohnern von Kutupalong keine Rede sein. Das Lager, in dem Mohammed Alam und seine Tochter Yasminara mit Tausenden anderen hausen müssen, erreicht man über den pittoresken Marine Drive. Die Straße führt entlang des längsten Strands der Welt nach Cox’s Bazar im Osten Bangladeschs. Die Regierung in Dhaka will den Ort zu einem Touristenziel ausbauen. Für Mohammed Alam hingegen bedeutete er die Rettung: Auf einer Decke hatten sein Bruder und drei Bekannte ihn im Herbst 2016 über die Grenze transportiert, einen Monat lang behandelten ihn dann Ärzte im Krankenhaus. Um Geld für eine Blutkonserve zusammenzubekommen, bettelte Yasminara damals vor den Moscheen der Stadt. Seitdem möchte sie unbedingt zur Schule gehen und Ärztin werden. Ein schöner Traum, doch die Realität im Lager sieht anders aus. Um die Albträume, die sie nachts verfolgen, zu vertreiben, tragen viele Kinder in Kutupalong kleine Kapseln mit Suren des Korans um den Hals. »Damit die bösen Geister sie im Schlaf nicht mehr heimsuchen«, sagt der Imam des Lagers, der die Talismane verteilt. Mitarbeiter von Hilfsorganisationen sprechen von Traumata, für deren Behandlung es kaum Kapazitäten gebe.

Beten für die Glaubensbrüder Längst an ihre Grenzen geraten ist auch die Regierung in Dhaka. Zwischen 300.000 und einer halben Million Rohingya leben inzwischen in Bangladesch – dank einer Politik, die Angehörigen der verfolgten muslimischen Minderheit stets Zuflucht gewährte, wenn sie vor dem Militär des Nachbarlands Schutz suchte. In den Lagern schließen die Imame der Rohingya deshalb Bangladesch in ihre Gebete ein. Doch bei aller Hilfsbereitschaft ist die Angst groß, durch allzu großzügige Aufnahme weitere Bewohner Rakhines zur Flucht zu animieren. Auch deshalb werden die Rohingya von der Regierung in Dhaka als »nicht dokumentierte Staatsangehörige Myanmars« bezeichnet. Und es kursierten bereits Pläne, Flüchtlinge auf einer unwirtlichen Insel im Golf von Bengalen anzusiedeln.

ALLE ZIVILISTEN LEIDEN Nicht nur in Rakhine, sondern auch im  Norden Myanmars verüben Soldaten und bewaffnete Gruppen schwere Menschenrechtsverstöße an ethnischen Minderheiten – bis hin zu Kriegsverbrechen. So soll es in den Bundesstaaten Kachin und Shan zu Folter, außergerichtlichen Hinrichtungen und Entführungen gekommen sein. Das bestätigen Recherchen von  Amnesty, die im Juni in dem Bericht »All The Civilians Suffer« veröffentlicht wurden. Siehe: www.amnesty.org/en/ documents/asa16/6429/2017/en.

38

Bangladesch

Myanmar Cox’s Bazar/ Kutupalong

Rakhine

Der junge bengalische Fischerjunge Imran hat schon vor langem aufgehört zu zählen, wie viele Neuankömmlinge den schmalen Pfad an der Blechhütte seiner Familie passiert haben. Auf Stelzen in einem Tümpel nahe der Grenze zu Myanmar steht die karge Behausung. Ein paar Stunden Fußmarsch sind es von hier bis zum Flüchtlingslager Kutapalong. Auf dem Höhepunkt des Konflikts seien 150 Menschen am Tag hier vorbeigekommen, erinnert er sich. Und an ihre zerrissenen Kleider. Während der Offensive im Oktober konnte man dunkle Rauchwolken über den zerstörten Dörfern Rakhines emporsteigen sehen. Rot wie eine Grapefruit geht an diesem Morgen hinter der Hütte die Sonne über Myanmar auf. »Dort drüben können Muslime nicht in Frieden leben«, sagt Imran. Aus der Ferne hört man die monotonen Sprechgesänge buddhistischer Mönche. Ein paar Fischer nutzen die Kühle des Morgengrauens, um ihre Netze auszuwerfen. Einmal habe ihn ein bengalischer Grenzschutzpolizist ausdrücklich gebeten, die Rohingya gewähren zu lassen. Das sei für ihn selbstverständlich, sagt Imran. Schließlich sei es »schlimm genug, dass die Armee in Myanmar sie so schlecht behandelt«. Doch wie die meisten Fluchtgeschichten ist auch die der Rohingya wesentlich komplexer als manche muslimische Aktivisten und buddhistische Nationalisten glauben machen wollen. So ermunterten die britischen Kolonialherren muslimische Siedler, sich in Rakhine niederzulassen. Dadurch stieg ihr Bevölkerungsanteil in den folgenden Jahrzehnten überproportional an. Unter den Militärherrschern wiederum wurde vielen Rohingya 1982 die Staatsbürgerschaft entzogen. Für Zorn über diese Politik freilich hat in den Flüchtlingscamps von Cox’s Bazar kaum einer die Kraft. Auch an Rache denkt Mohammed Alam nicht. Er ist im Moment damit beschäftigt, die Hütte instand zu setzen, in der seine Tochter schläft. Ein Zyklon hat das Dach aus Plastikfolien verwüstet. Und auch eine Nachbarin ist mit dem nackten Überleben beschäftigt. Wenige Wochen nach der Geburt ihres zweiten Kindes wurde die junge Frau aus Maungdaw Opfer einer Massenvergewaltigung. Fünf Soldaten von Myanmars Armee hätten sie in ihr Haus gesperrt, erzählt sie, und einen Tag lang mit ihr gemacht, was sie wollten. »Diese Bilder werden bei mir bleiben, bis ich sterbe«, sagt sie. Noch Tage nach der Vergewaltigung habe sie geblutet, und ihr Ehemann habe sie vor kurzem verlassen. »Vielleicht bin ich nicht mehr gut genug«, sagt sie. »Aber was soll man schon gegen das Militär machen?« Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen:  www.amnesty.de/app

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2017


Fluchtschneise. Fischer in Cox’s Bazar, nahe der Grenze zu Myanmar, Mai 2017.

Am sicheren Ufer. Bengalische Grenzer am Naf, Mai 2017.

ROHINGYA

39


Fremd gewordene Heimat

Mit offenen Augen. Aus Pakistan zurückgekehrte Kinder bei einer UN-Fortbildung in Kabul, September 2016.

40

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2017


Foto: Mohammad Ismail / Reuters

Hunderttausende Afghanen sind seit 2016 aus Pakistan abgeschoben worden. Im Konflikt zwischen Kabul und Islamabad dienen sie der Politik als Spielball. Von Britta Petersen, Neu-Delhi Aziz Khaleqi ist noch voller Hoffnung. »In Pakistan hatten wir nichts, und hier haben wir auch nichts«, sagt der 30-jährige Afghane, der dieses Frühjahr nach Kabul zurückkam. »Aber wenigstens werden wir nicht mehr als Flüchtlinge belästigt und bedroht.« Khaleqis sechsköpfige Familie ist eine von tausenden, die seit 2016 Pakistan verlassen mussten und in ihre Heimat zurückgekehrt sind. Eine Heimat, die sie oft gar nicht kennen. Aziz Khaleqi war erst 15 Jahre alt, als er 2002 mit seinen Eltern aus der afghanischen Provinz Baghlan in die pakistanische Stadt Peschawar floh. Seine Kinder Abuzar (10), Ahmad (9), Bilqis (4) und Manja (2) sind alle dort zur Welt gekommen. »Vor zwei Jahren begannen die Schikanen«, berichtet er. »An den Polizeicheckpoints in Peschawar wurde dir gesagt, du sollst das Land verlassen. Am Schluss konnten wir nicht einmal mehr einkaufen gehen oder in ein Taxi steigen, ohne dass uns jemand sagte, wir sollten dorthin zurück, wo wir herkommen.« Allein 2016 sind nach Schätzungen von Hilfsorganisationen rund 700.000 Flüchtlinge nach Afghanistan zurückgekehrt – zumeist unfreiwillig. Nach einem Bericht des Internationalen Währungsfonds (IWF) werden bis Mitte 2018 rund 2,5 Millionen weitere folgen, dies entspricht knapp zehn Prozent der Bevölkerung Afghanistans. Übertragen auf Europa würde dies bedeuten, dass die EU in einem Zeitraum von zwei Jahren 50 Millionen Menschen aufnehmen müsste. »Islamabad benutzt die Flüchtlinge«, sagte Hamid Zazai, der selbst als afghanischer Flüchtling in Peschawar aufgewachsen ist, aber schon 2002 nach Kabul zurückkehrte und seitdem als Koordinator der deutsch-afghanischen Nichtregierungsorganisation Mediothek arbeitet. »Als ich in Peschawar gelebt habe, gab es keine Probleme«, sagt er. Er ist überzeugt, dass der pakistanische Geheimdienst ISI die Hetze gegen die Flüchtlinge orchestriert. Offiziell begründet die pakistanische Regierung ihr Vorgehen damit, dass die afghanischen Flüchtlingslager ein Rückzugsort für Terroristen seien. Die afghanische Regierung wirft dem Nachbarland wiederum vor, es würde den Taliban Zuflucht gewähren. Präsident Ashraf Ghani Ahmadzai hatte bei seinem Amtsantritt 2014 versucht, die Beziehungen zu Pakistan zu verbessern und die Verhandlungen mit den Taliban voranzutreiben. Ohne Erfolg. Seitdem geht Pakistan verstärkt gegen afghanische Flüchtlinge vor. Das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) warnte Ende 2016 vor einer »humanitären Katastrophe« in Afghanistan, da es in dem Land aufgrund des Krieges bereits rund 1,5 Millionen Binnenvertriebene gibt. Doch Menschenrechtler geben dem UNHCR eine Mitschuld an der Misere, weil die Organisation nach Verhandlungen mit der Regierung in Islamabad freiwilligen Rückkehrern 400 US-Dollar Übergangsgeld anbot. Inzwischen sind es nur noch 200 Dollar. Auch Aziz Khaleqi und seine Familie haben Geld bekommen. »Es reicht gerade mal, um für die nächsten zwei bis drei Monate unsere Miete und Lebensmittel zu bezahlen«, sagt Aziz. »Danach muss ich einen Laden aufmachen oder Gemüse verkaufen, um Geld zu verdienen. Ich weiß noch nicht, was ich mache.« Eine Rückkehr in seine Heimatprovinz Baghlan hält er für ausgeschlossen. Die Provinz in der Nähe von Kundus im Norden

PAKISTAN / AFGHANISTAN

des Landes war schon vor Jahren unsicher. »Heute ist es noch schlimmer als damals, als ich mit meinen Eltern geflohen bin.« Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt. Seit dem weitgehenden Abzug der internationalen Truppen 2014 hat die Arbeitslosigkeit zugenommen. Sie lag 2016 bei 40 Prozent und droht nach Schätzungen der Weltbank weiter zu steigen. Das Wirtschaftswachstum fiel im gleichen Zeitraum um zwei Prozent. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze. »Die meisten Flüchtlinge kehren in Arbeitslosigkeit und Elend zurück«, sagt Ahmad Shuja, Politikwissenschaftler an der American University in Kabul. Deshalb ist die Abschiebepraxis auch in Pakistan umstritten. Der pakistanische Schriftsteller Mohsin Hamid bezeichnet das Vorgehen der Regierung in Islamabad als »irregeleitet«. Nicht nur, weil den abgeschobenen Flüchtlingen »katastrophaler Schaden« drohe, sondern auch, weil es »bessere Methoden« gebe, Pakistans Sicherheitslage zu verbessern. Er spielt damit auf die verbreitete Kritik an, dass Pakistans Armee trotz vollmundiger Bekundungen und zweier militärischer Operationen entlang der Grenze zu Afghanistan islamistische Gruppen wie Lashkar-e-Tayba, Jaish-e-Mohammed und das in Afghanistan aktive Haqqani-Netzwerk unbehelligt lasse, weil sie den eigenen politischen Zielen in Afghanistan und Kaschmir dienten. Dabei könnte Pakistan durchaus stolz sein auf seine Flüchtlingspolitik. Seit dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan 1979 hat das Land mehrere Generationen afghanischer Flüchtlinge aufgenommen, die bisher recht gut integriert waren. Kurz vor dem Ende der Taliban-Herrschaft 2001 lebten mehr als vier Millionen Afghanen in dem Nachbarland, zu dem es enge kulturelle und soziale Verbindungen gibt. Noch im 18. Jahrhundert umfasste das Durrani-Reich, benannt nach einem der großen paschtunischen Stämme, das heutige Afghanistan, Pakistan, Kaschmir und Teile des Irans. Afghanistan hat die Durand-Linie, die 1947 nach dem Abzug der britischen Kolonialmacht zur offiziellen Grenze wurde, nie anerkannt. Damit verbunden war nicht nur die Teilung des Subkontinents in die Staaten Indien und Pakistan, sondern auch die Trennung der traditionellen Stammesgebiete von Paschtunen und Belutschen. »Meine Eltern dachten, wir könnten uns in Peschawar ein sicheres und ruhiges Leben aufbauen«, sagt Aziz Khaleqi wenige Wochen nach seiner Rückkehr in die fremd gewordene Heimat. Doch im vergangenen Jahr verkündete die Regierung in Islamabad, der Flüchtlingsstatus für Afghanen ende im Dezember 2016. Inzwischen wurde diese Frist bis Ende 2017 verlängert. Seit dem Anschlag in Kabul, bei dem im Mai 150 Menschen vor der deutschen Botschaft getötet wurden, sind Khaleqis Sorgen noch größer geworden. »So etwas gab es in Peschawar nicht«, sagt er. Mit der Angst vor Anschlägen müsse seine Familie jetzt leben. Er appelliert an die internationale Gemeinschaft, Afghanistan beizustehen. »Wenn es erst einmal Frieden und Sicherheit gibt, dann können wir uns selbst helfen.«

»Die meisten Flüchtlinge kehren in die Arbeitslosigkeit zurück.« 41


Mehr als eine Million Geflüchtete – doch keine mediale Aufmerksamkeit. Gemma Pörzgen erklärt, warum der Krieg in der Ukraine in Europa kaum einen interessiert. Auch Flüchtlingsschicksale konkurrieren international um mediale Aufmerksamkeit. Dabei stoßen die dramatischen Fluchtgeschichten mit Schlauchbooten über das Mittelmeer in den Redaktionen noch am ehesten auf Interesse, vor allem dann, wenn die Flüchtlinge in Westeuropa eintreffen. Ganz im Schatten bleibt dagegen das Schicksal der rund zwei Millionen Menschen, die nach der russischen Annexion der Krim und wegen der Kampfhandlungen in der Ostukraine ihre Heimat verlassen mussten. »Es ist eine bizarre Wahrnehmung: Mitten in Europa findet ein Krieg statt und seine Folgen finden weitaus weniger Aufmerksamkeit als andere Flüchtlingsbewegungen in der Welt«, sagt Gwendolyn Sasse, Direktorin des neuen Osteuropa-Zentrums ZOiS in Berlin. Ein Grund dafür sei, dass die Ukraine in der europäischen Berichterstattung praktisch keine Rolle mehr spiele, außer sehr punktuell bei hochrangigen Politikertreffen. Deshalb blieben auch die Binnenvertriebenen, trotz ihrer hohen Zahl, unter dem Radar. Zu erklären ist dies auch mit Begrifflichkeiten, denn bei den rund eine Million Geflüchteten innerhalb der Ukraine handelt es sich nach international anerkannter Lesart um sogenannte Internally Displaced Persons (IDPs), also Binnenvertriebene, die in ihrem Land bleiben und keine Grenze überschritten haben. Schätzungsweise eine weitere Million Menschen ist aus der Kampfzone in die Nachbarländer geflüchtet, überwiegend nach Russland, aber auch nach Belarus oder nach Polen. »IDPs finden weltweit zu wenig Beachtung«, sagt Bina Desai vom Internal Displacement Monitoring Centre (IDMC), einer NGO, die versucht, mehr internationale Aufmerksamkeit auf die stetig steigende Zahl von Binnenvertriebenen zu lenken. »Ihre Zahl ist weltweit doppelt so hoch wie die der normalen Flüchtlinge, aber sie haben weniger Rechte, es gibt eine schlechtere Datenlage und die Regierungen übernehmen für sie weniger Verantwortung«, sagt Desai. Das beobachtet IDMC auch in der Ukraine, die im internationalen Vergleich zu den zehn Ländern mit der höchsten Zahl von Binnenvertriebenen zählt. »Wir haben keine große Klarheit bei den Zahlen«, sagt Nina Sorokopud, Sprecherin des UNHCR-Büros in Kiew. Das Flücht-

42

lingshilfswerk bezweifelt die weitaus höhere Zahl von 1,6 Millionen Menschen, die sich bei den ukrainischen Behörden als »Peresilenzy« (Übersiedler) registrieren ließen und deshalb vom Sozialministerium in seiner Statistik geführt werden. Aus Sicht des UNHCR sind darunter etwa 600.000 vor allem alte Menschen, die sich in Kiew auf diese Weise die Auszahlung ihrer Rente sichern wollen, aber weiterhin in den von den Separatisten kontrollierten Gebieten leben. Sie reisen über die Kontaktlinie, um sich registrieren zu lassen, und fahren dann wieder zurück. »Wir haben eine unsichtbare Krise, die vor allem alte Menschen trifft«, sagt Sorokopud. Rund 60 Prozent der in der Ukraine registrierten IDPs seien Rentner. »Viele von ihnen haben den Krieg zum zweiten Mal miterlebt.« Während jüngere Geflüchtete vor allem in die großen Städte zögen und leichter Arbeit fänden, seien die Älteren meist auf staatliche Unterstützung angewiesen. Wegen der Wirtschaftskrise, die auch einen Verfall der Währung mit sich brachte, bekommen die Vertriebenen vom Staat umgerechnet gerade einmal 15 Euro Unterstützung im Monat, sagt Sorokopud. Deshalb sei es vor allem dem Engagement von Angehörigen und Freiwilligen zu verdanken, dass die schwierige Lage der Vertriebenen nicht eskaliert. »Die Regierung steht angesichts des Krieges, der Wirtschaftskrise und der Arbeit an Reformen vor so vielen Herausforderungen, dass die Vertriebenen keine hohe Priorität haben«, sagt die UNHCR-Vertreterin. Doch nicht nur in der Politik, auch in den ukrainischen Medien haben die Geflüchteten keine Stimme. Eine OSZE-Studie fand 2016 heraus, dass sich gerade mal ein Prozent der Berichte ihrem Schicksal widmet. Wenn über sie berichtet wird, überwiegt eine negative Darstellung, die die Geflüchteten vor allem als Problemfälle zeigt. Bei einem runden Tisch von Journalisten, Flüchtlingsinitiati-

»In ukrainischen Medien haben die Geflüchteten keine Stimme.« AMNESTY JOURNAL | 08-09/2017

Foto: Geovien So / Pacific Press / pa

Die unsichtbare Krise


Bestandsaufnahme. Vertriebene aus der Ostukraine vor ihrem alten Haus in Llovaysk im Mai 2015.

ven und Politikern im Frühjahr 2017 in Kiew trat die Unzufriedenheit der Flüchtlingsvertreter über die mangelhafte Berichterstattung ukrainischer Medien offen zutage. »Flüchtlinge werden vor allem im Zusammenhang mit der gestiegenen Kriminalität behandelt«, beschwerte sich die NGO-Vertreterin Svitlana Eremenko. Grund dafür ist unter anderem die verbreitete patriotische Haltung vieler Journalisten, die Versäumnisse bei der Versorgung der Vertriebenen nicht in den Medien thematisieren wollen. Die Menschen selbst und ihre Sicht der Dinge kämen in der Berichterstattung kaum zu Wort, kritisierten alle Flüchtlingshelfer bei dem Treffen in Kiew. Hinzu kommt, dass es viele Vorurteile gegenüber den Landsleuten aus der Ostukraine gibt, weil viele von ihnen als Anhänger des abgelösten früheren Präsidenten Viktor Janukowitsch gelten. Wer aus dem Donbass kommt, findet in der Zentralukraine oder in Kiew deshalb nicht so leicht einen neuen Job oder eine Wohnung. Um die Stimmung unter den Geflüchteten besser auszuleuchten, hat das ZOiS Ende 2016 eine erste Umfrage von IDPs in der Ukraine und Geflüchteten in Russland gestartet. Denn auch die Osteuropaforschung hat sich mit dieser Personengruppe bislang kaum befasst. Nun liegen nach den Worten von Sasse erste Ergebnisse einer »Momentaufnahme« vor, die zeigt, dass eine klare Mehrheit der Befragten dort bleiben möchte, wo sie jetzt ist, und keineswegs in den Osten der Ukraine zurückkehren will. In Russland sind es mehr als 80 Prozent, in der Ukraine 65 Prozent, die sich so äußern. »Eine Rückkehrperspektive ist unwahrscheinlich«, sagt Sasse.

UKRAINE

»Ich bin mir nicht sicher, ob die regionalen Behörden, beziehungsweise Kiew und Moskau, das bereits realisiert haben.« Es seien vor allem familiäre Bindungen, die dazu beigetragen hätten, dass viele Vertriebene Fuß gefasst hätten. In Russland haben laut ZOiS-Umfrage 70 Prozent der Befragten eine Vollzeitarbeitsstelle gefunden und verdienen mit umgerechnet 470 Euro im Monat weitaus mehr als IDPs in der Ukraine (163 Euro). Die Umfrageergebnisse zeigen, dass die Geflüchteten ihr Selbstverständnis viel häufiger als gemischte russisch-ukrainische Identität beschreiben, als die stark national ausgerichtete Politik in Kiew glauben machen möchte. Da für den Krieg in der Ukraine bisher kein Ende in Sicht ist und das Land unter der schweren Wirtschaftskrise leidet, sind die vielen »Übersiedler« für die Gesellschaft eine zusätzliche Belastung. »Die Wohnungsnot ist das Hauptproblem«, sagt Lydia Tkachenko, Expertin am Institut für Demografie und Sozialstudien in Kiew. Wer nicht bei Verwandten oder Freunden untergekommen sei, lebe häufig nach Jahren noch in Behelfsquartieren. Tkachenko hält die Lage alter Menschen in der Ukraine ohnehin für einen Krisenfaktor für die Weiterentwicklung des Landes, denn mit zwölf Millionen Rentnern macht diese Personengruppe bereits heute fast ein Drittel der Gesamtbevölkerung aus. Auch im Umgang mit den IDPs agiere die Regierung zu stark nach dem Gießkannenprinzip, ohne zwischen echten Bedürftigen und anderen zu unterscheiden. »Einige der Übersiedler lassen sich sogar ihre Renten zweimal auszahlen, einmal in Kiew und einmal in Moskau.«

43


Arme helfen Armen Im Norden Ugandas entsteht das größte Flüchtlingslager der Welt. Mehr als 1,2 Millionen Südsudanesen sind bereits über die Grenze geflohen. Aus Bidibidi berichten Kirsten Milhahn (Text) und Anne Ackermann (Fotos)

Warten auf Essen. Bidibidi, im April 2017.

44

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2017


UGANDA

45


Der Weg in die Freiheit führt über eine schmale Holzbrücke. Stella Akita, 19, und ihre drei Schwestern sind an diesem Morgen unter den Ersten, die sie erreichen, hier am Grenzposten von Busia im Norden Ugandas. Bepackt mit dem, was sie tragen können, überqueren die jungen Frauen den Kaya. Der mäandert so friedlich durch die idyllische Hügellandschaft, als gäbe es den Krieg auf der anderen Seite des Grenzflusses nicht. Die Gesichter der Geschwister wirken zuversichtlich, trotz der Müdigkeit. Keine der Frauen blickt zurück. Zwei Wochen zuvor haben sie ihrem Dorf Payawa südlich der südsudanesischen Hauptstadt Juba den Rücken gekehrt. Ein bisschen Kochgeschirr, Lebensmittel, fünf Hühner und ihre Matratzen nahmen sie mit. Weil der Krieg nun auch in Payawa wütet, sind sie gerannt. In Richtung Süden, nach Uganda, wie so viele Flüchtlinge vor ihnen. An der Holzbrücke über den Kaya steht Emmanuel Emulit. Der groß gewachsene Mann mit der Statur eines Bodybuilders leitet den Grenzposten auf ugandischer Seite. Für jeden Ankömmling aus dem Südsudan findet er ein paar aufmunternde Worte. Die jungen Frauen begrüßt er lachend mit Handschlag und gibt kurz praktische Anweisungen: »Packt eure Sachen in den Schatten, ruht euch aus! Gleich kommt der Bus, dann geht’s ab ins Aufnahmelager!« Dann dreht er sich um und raunt: »Ein paar Hundert werden es wohl heute.« Aber das sei nichts im Vergleich zum Chaos im August Geschafft. Stella Akita und ihre Schwestern am Grenzübergang Busa. vergangenen Jahres. »Wegen der Kämpfe um Juba sind dazusammengebrochen. Religiöse Differenzen, mangelnde mals jeden Tag Tausende über die Grenze geströmt. Die Holzpolitische Teilhabe und wirtschaftliche Interessen hatten vor brücke war zu eng, also sind sie in Massen einfach durch den sechs Jahren zur Abspaltung vom Norden geführt – verbunFluss gewatet«, erzählt Emulit. Inzwischen sei es überschaubar den mit viel Hoffnung. Doch davon ist nichts mehr übrig: Ingeworden. Einfacher zu kontrollieren, was auch an der guten zwischen kämpft die Clique von Präsident Salva Kiir gegen die Logistik liege. Der Grenzer arbeitet seit drei Jahren an dem seines 2016 abgesetzten Stellvertreters Riek Machar um die Posten am Kaya. Das Flüchtlingsdrama, das sich seit Ende 2013 Ressourcen des Landes und Korruptionsgeld. Während die entlang der Grenze zum Südsudan abspielt, hat er von Beginn Warlords am Krieg verdienen, treibt es ihr Volk in die Flucht – an miterlebt. in die Nachbarländer, den Sudan und vornehmlich Uganda. Im Nordwesten des armen Landes liegt heute ein Ort, von Lehren für Europa dem nicht zuletzt Europa lernen kann, wie man mit Flüchten1,8 Millionen Südsudanesen sind seitdem geflohen. Verantwortden umgeht: Bidibidi. Einst nicht mehr als ein Dorf, etwa 30 Kilich für die Kämpfe sind verfeindete Warlords, deren Milizionäre Dörfer plündern und sie anschließend verbrennen, die verge- lometer von der Grenze entfernt, entsteht rund um die Gemeinde derzeit das größte Flüchtlingslager der Welt. Anders als viele waltigen und morden. Stadtbewohner werden verfolgt, weil sie Europäer denken, schaffen es die meisten afrikanischen Flüchtden vermeintlich falschen Bevölkerungsgruppen – Dinka oder linge gar nicht über das Mittelmeer, sondern bestenfalls ins Nuer – angehören. Auf dem Lande hungern die Menschen, weil Nachbarland. 15,6 Millionen Menschen – jeder vierte von mehr niemand mehr imstande ist, die Felder zu bewirtschaften. Wer als 60 Millionen weltweit auf der Flucht – fand 2015 Aufnahme nicht flieht, riskiert sein Leben. in einem der Staaten südlich der Sahara. In Europa waren es im Das Staatssystem des christlich dominierten Südsudans, der selben Jahr knapp 1,2 Millionen. sich 2011 vom mehrheitlich muslimischen Sudan löste, ist längst

»Millionen Afrikaner fliehen nicht über das Mittelmeer, sondern bestenfalls ins Nachbarland.«

46

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2017


So viele wie in Uganda allein. Doch während in den reichen EU-Staaten weiter über Aufnahmequoten gestritten wird, hat sich das Land mit einem Pro-Kopf-Monatseinkommen von nur 42 Euro bereit erklärt, Flüchtlingen vor allem aus dem Südsudan großzügig Aufnahme zu gewähren – obwohl es dabei selbst an seine Belastungsgrenzen gerät. Bidibidi liegt inmitten sanft geschwungener Hügel und gleicht einem riesigen Dorf – trotz 270.000 Einwohnern. Man-

Essensbeschaffung und -verteilung obliegen dem World Food Programme der Vereinten Nationen (WFP), die Wasserversorgung an öffentlichen Brunnen koordiniert größtenteils das UNHCR. Bäume fällen für Feuerholz ist unter Androhung von Strafe verboten. Noch verläuft alles geordnet. »Das könnte sich schnell ändern«, sagt Robert Baryamwesiga, der Bidibidi und die umliegenden Camps im Auftrag der Regierung Präsident Yoweri Musevenis in Kampala leitet. So sei das Geld für die Versorgung schon jetzt knapp – Nahrungsmittelkürzungen sind die Folge. »Und es könnte bald noch viel knapper werden«, so Baryamwesiga. Sollte etwa US-Präsident Donald Trump wie angekündigt die Ausgaben für Entwicklungshilfe drastisch kürzen, wäre schnell Schluss mit Ugandas großzügiger Flüchtlingspolitik: Laut UNHCR stammen rund 54 Millionen US-Dollar Soforthilfe aus den USA. Die EU gibt 4,4 Millionen, Deutschland 1,1 Millionen US-Dollar.

Integration statt Abhängigkeit Möglichst schnell raus aus der Abhängigkeit, lautet deshalb der Ansatz in Bidibidi. Anders als im kenianischen Dadaab, wo seit drei Jahrzehnten 300.000 somalische Flüchtlinge am Tropf der Entwicklungshilfe hängen, setzt die

Neuangekommene und Alteingesessene. Addi Mahazin im Kreis seiner Familie (ganz oben); Kenedy, Robert und Noel (links); Robert Baryamwesiga (oben rechts).

che sitzen vor strohgedeckten Lehmhütten, auf der Straße toben Kinder. Ein paar Familien, die schon länger da sind, bestellen bereits ihre Äcker. Neuankömmlinge wiederum zimmern sich mit Planen des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) Notunterkünfte. Ganz hinter sich lassen freilich können auch die Lagerbewohner den Krieg nicht: Angehörige von Dinka und Nuer sind in weit voneinander entfernten Zonen des Lagers untergebracht. Freiwillige helfen, Streitigkeiten zu schlichten – und bei Registrierung sowie Essensverteilung.

UGANDA

ugandische Regierung auf Integration: Stella Akita und ihre Schwestern etwa haben das Recht, unmittelbar nach ihrer Registrierung eine Arbeit anzunehmen. An der Hauptstraße von Bidibidi sind Werkstätten entstanden, Kioske, Restaurants und Friseurläden. Familien erhalten Land zur eigenen Bewirtschaftung. Man sorgt vor – auch deshalb, weil die meisten Südsudanesen in Uganda bleiben werden, zumindest vorerst. 250 Quadratkilometer Fläche hat die Regierung für die Neuankömmlinge bereitgestellt.

47


»Die Regierung Ugandas setzt auf Integration der Geflüchteten – anders als die in Kenia.« Das allerdings sorgt auch für Konflikte mit den Alteingesessenen, schließlich lebt jeder dritte der rund 34 Millionen Einwohner Ugandas in extremer Armut. Vor allem auf dem Land ist die Not groß. Immer wieder gebe es Fälle von Bettelarmen, die sich aus Verzweiflung in den Aufnahmelagern als Südsudanesen ausgeben, erzählen Mitarbeiter von Hilfsorganisationen. Die meisten seien Frauen mit Kindern. Für sie sei es nicht verständlich, warum den Flüchtlingen geholfen werde und ihnen nicht. »Was ich von den Flüchtlingen halte?«, fragt Addi Mahazin und rückt den Plastikstuhl vor seiner Hütte zurecht. Seit Generationen lebt die Familie des 57-Jährigen in Kowanga, einem Dorf in der Nähe von Bidibidi. »Das sind Nachbarn, keine Fremden«, sagt er. Er könne sich noch gut an die späten 1970er und 1980er Jahre erinnern. »Da rannten wir um unser Leben wegen der politischen Unruhen in Uganda. Die Sudanesen haben uns damals aufgenommen.« Über den Hof laufen ein paar Hühner, Mahazin deutet auf eine kleine Baumplantage hinter dem Haus. »Alles Bauholz, das ich demnächst nach Bidibidi verkaufe«, sagt er. Bevor die Flüchtlinge gekommen seien, habe er seine Teakhölzer bis nach Yumbe oder noch weiter karren müssen – ohne dass ihm dort viel abgenommen worden wäre. Aber jetzt, wo in Bidibidi überall

gebaut werde, erhoffe er sich gute Geschäfte – auch deshalb, weil durch die Flüchtlinge Hilfsorganisationen ins Land kommen und mit ihnen Gelder und Güter. Davon profitiert auch die Regierung in Kampala.

Leben ohne Angst Das Aufnahmelager von Goboro am späten Nachmittag, zehn Kilometer von der südsudanesischen Grenze entfernt. Der Regen hat das im Wald gelegene Areal in eine Pfützenlandschaft verwandelt. Vier Zelte sind hier als Notunterkünfte hergerichtet, daneben eins für die Krankenversorgung sowie ein Küchenzelt und Zeltlatrinen. Busse stehen bereit, die die Neuankömmlinge nach einer warmen Mahlzeit und einer Nacht im Aufnahmelager weiter nach Bidibidi bringen. Ein Junge in Shorts und Badelatschen springt über die Pfützen, in seiner Hand hält er ein glimmendes Stück Holz. »Zum Feuermachen«, ruft er und deutet auf eines der Zelte. Dann muss er schnell weiter. Keine zehn Minuten später ist er wieder zurück. »Robert Mandela aus Yei«, sagt er freundlich und streckt die Hand zur Begrüßung aus. Auf seinem viel zu großen T-Shirt steht in weißen Lettern »Humans are so interesting«. Sechs Tage haben er und seine beiden Freunde Noel und Kenedy von der Stadt im Südwesten Jubas gebraucht, um über die Grenze zu gelangen, erzählt der 14-Jährige. »Tagsüber sind wir durch die Hitze gelaufen. Am Wegesrand haben wir Mangos gepflückt und gegessen. Nachts haben wir uns zum Schlafen in die Büsche geschlagen.« In Goboro sind die drei Jungen ohne Gepäck angekommen; ihre Eltern haben sie bereits bei Beginn des Kriegs im Südsudan 2013 verloren. Zurück wolle keiner von ihnen, sagt Robert. Ihm beipflichtend schütteln die beiden anderen die Köpfe. Was er sich von Uganda erhoffe? Etwas zu essen, Gesundheit und zur Schule gehen, damit später etwas aus ihm werde. Und in Freiheit leben wolle er auch, um die Angst loszuwerden und die Erinnerungen an den Krieg auf der anderen Seite der Grenze.

Warten auf die Weiterfahrt. Südsudanesin mit ihren Kindern in Kuluba, April 2017.

48

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2017


BUNDESTAGSWAHL 2017

MISCH DICH EIN FÃœR MENSCHENRECHTE AMNESTY.DE/EINMISCHEN

ICH MISCHE MICH EIN, WEIL FREIHEIT MIR AM HERZEN LIEGT.


Gemeinsam stark, nicht nur im Glauben. Pastorin bei einer Protestveranstaltung in der Gemeindehalle von San Francisco, November 2016.

Beten um zu bleiben Aus Angst vor Abschiebungen und Übergriffen ziehen sich in den USA immer mehr Migranten aus dem öffentlichen Leben zurück. Von Arndt Peltner, San José Die ersten Besucher sind schon um neun Uhr vor der unscheinbaren Halle im Industriegebiet von San José eingetroffen. Fein gekleidet, mit Blumensträußen in den Händen. Meist finden hier Hochzeiten, Geburtstage und Jubiläen statt. An diesem Tag aber begehen gleich mehrere katholische Latino-Gemeinden aus der San Francisco Bay Area eine Feier zu Ehren des Apostels Petrus. Eine Blaskapelle spielt auf, die Gläubigen ziehen in einer Prozession in die Halle ein. Der katholische Geistliche Jon Pedigo hält die Predigt auf Spanisch – voller Verve: »Diese Woche haben wir Politiker gesehen, die behaupten, Jesus zu lieben, ihn aber eigentlich hassen«, sagt er und zitiert aus der Bibel: »›Wenn du mich liebst, dann kümmere dich um die Schwächsten der Schwachen‹«, habe Jesus zu Petrus gesagt. Das bedeute aber, dass man keine Mauer baue, Immigranten nicht ihrer Rechte beraube und 23 Millionen Menschen um ihre Krankenversicherung bringe. »Und wenn doch, kann man sich nicht hinstellen und behaupten, man liebe Jesus. Das ist ein großer Haufen von dampfendem – Senf.«

50

Die Predigt kommt gut an bei den etwa 200 Gläubigen, die nach Halt suchen in kritischen Zeiten – und nach Antworten darauf, wie man sich vor Übergriffen und vor Abschiebungen schützen kann. Auch deshalb weist Father Jon, wie ihn alle hier nennen, den Vorwurf zurück, das Evangelium in seiner Predigt politisiert zu haben. »Wenn die Menschen ihre Liebe zu Gott auf eine persönliche Beziehung beschränken, dann ignorieren sie die tatsächliche Botschaft des Evangeliums.« Die Sorge, dass ihre Familien durch die Politik von Präsident Donald Trump auseinandergerissen werden, treibt viele Menschen in San José um. Auch Rosa Valez. Vor zwölf Jahren kam sie mit vier Kindern aus dem mexikanischen Guadalajara in die USA – ohne Papiere. »Ich habe Angst, denn jeden Augenblick könnten die ICE-Mitarbeiter mich mitnehmen«, sagt die Mittfünfzigerin. ICE steht für Immigration and Customs Enforcement, die Bundespolizei für Grenzsicherung, Zoll und Einwanderung. Weil die lokalen Behörden San José zur Zufluchtsstadt (Sanctuary City) erklärt haben, hält sich dieses Risiko bislang in Grenzen. Denn wie auch in anderen Zufluchtsstädten unterstützt die örtliche Polizei die Grenzschutzbeamten nicht bei der Suche und Festnahme von Einwanderern ohne gültige Aufenthaltspapiere. Der legale Status wird bei Kontrollen nicht

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2017


ka unterstützt. Tausende Menschen aus Honduras, El Salvador und Guatemala flohen damals vor den Bürgerkriegen in ihren Ländern – abgerissen ist die Flucht in die USA seither nicht. Sister Maureen leitet das Netzwerk mit dem Namen East Bay Sanctuary Covenant. Sie ist eine kleine, fragil wirkende Frau, die jedoch voller Energie steckt: Das Gesetz Gottes sei größer als die von Menschen gemachten Gesetze, sagt sie, und bezeichnet die Hilfe für die Geflüchteten als moralische Notwendigkeit. Deshalb habe man schon vor Jahren einer aus Guatemala geflohenen Familie geholfen, als diese vor der Kirchentür stand: mit Unterkunft, Geld und rechtlicher Beratung, um den Spießrutenlauf bis hin zur legalen Anerkennung zu bestehen. Heute arbeitet der Familienvater als Hausmeister auf dem Kirchengelände, das auch einen Kindergarten beherbergt. Immer größer werde die Zahl der Hilfsbedürftigen, hat Schwester Maureen festgestellt – besonders seit der Wahl Trumps. Mehr als doppelt so viele Menschen wie noch unter Obama kämen jeden Tag in ihre Gemeinde, manchmal siebzig am Tag. Nicht zuletzt, um Unterstützung bei Asylverfahren zu erhalten. Sie sei stolz darauf, dass es in der Bay Area genügend Richter gebe, die die Anträge von Flüchtlingen aus Honduras, El Salvador und Guatemala wohlwollend behandelten.

USA

Foto: Jenna Schoenefeld / The New York Times / Redux / laif

abgefragt; ihre Kinder können problemlos die öffentlichen Schulen besuchen. Doch wie lange dieser Zustand noch anhält, ist fraglich. Denn die Regierung in Washington hat den Zufluchtsstädten den Kampf angesagt. Unmittelbar nach seinem Amtsantritt unterzeichnete Trump eine Anordnung, die den Städten mit der Streichung von Geldern droht, sollten sie ihre Unterstützung irregulär Eingewanderter fortsetzen. Justizminister Jeff Sessions lässt derzeit prüfen, wie man die Kommunen zum Aufgeben zwingen kann. Obwohl einige Städte, darunter San Francisco, Oakland und San José, erfolgreich gegen die Anordnung geklagt haben, gibt Trump nicht auf – mit dramatischen Folgen für Millionen Menschen, die in Ungewissheit leben müssen. Die ist auch in den Gesprächen an diesem Sonntagmorgen zu spüren. Die 21-jährige Yadira ist zwar legal im Land, aber auch sie fühlt sich bedroht von Trump und seiner Politik: »Wegen meiner Hautfarbe werden sie mir nicht glauben, dass ich hier geboren wurde. Sie werden behaupten, ich stamme wahrscheinlich aus Mexiko, und mich mitnehmen.« Vanessa Sandez arbeitet als Lehrerin in einer Schule für gehörlose Kinder. »Viele Eltern schicken ihre Kinder nicht mehr in den Unterricht, aus Angst, auf der Straße aufgegriffen zu werden«, berichtet sie. »Ihr Sozialleben beschränkt sich auf die eigenen vier Wände.« Vom Rückzug ins Private als Schutz vor den Behörden ist in diesen Tagen viel die Rede. So zeigten Einwanderer ohne Papiere Straftaten in ihrer Nachbarschaft nicht mehr an und gingen nur noch in äußersten Notfällen zum Arzt. Aus Angst, in die Mühlen der amerikanischen Abschiebebürokratie zu gelangen. Ben Daniel sieht die Gefahr und versteht, warum sich viele Migranten nun passiver verhalten. Er ist Pastor an der Presbytarian Church von Montclair, einem Stadtteil von Oakland. Er verweist auf ein staatliches Programm für irregulär Eingewanderte, die bereits als Kinder mit ihren Eltern ins Land kamen (Deferred Action for Childhood Arrivals, DACA). Unter Trumps Vorgänger Barack Obama verabschiedet, feierten viele Mitglieder der Latino-Community dieses Programm als wichtigen Schritt zu ihrer Legalisierung. Zahlreiche junge Erwachsene folgten dem Aufruf, sich bei den Behörden registrieren zu lassen und dafür ein Aufenthalts- und Arbeitsrecht zu erhalten. Unter Trump freilich zeigen sich die Schattenseiten dieses Prozesses, sagt Pastor Daniel, da die Behörden nun wüssten, wo diese Menschen leben und arbeiten. Da die Regierung in Washington erklärt habe, DACA nicht anzuerkennen, drohe vielen nun die Abschiebung. »Es ist nur zu verständlich, dass sie der Regierung nicht mehr glauben. Sie wurden hinters Licht geführt.« Die Kirche in Montclair ist Teil eines Netzwerkes von mehr als dreißig Glaubensgemeinschaften in der East Bay, darunter christliche, jüdische, muslimische und buddhistische, das bereits seit den frühen 1980er Jahren Flüchtlinge aus Mittelameri-

Keine Sicherheit. Mexikanisches Konsulat in Los Angeles, Februar 2017.

Foto: Brian van der Brug / Los Angeles Times / Polaris / laif

Foto: Jeff Chiu / AP / pa

»Die Regierung in Washington hat den Zufluchtsstädten den Kampf angesagt.«

Festgenommen vom ICE. Mexikaner in Downey, Kalifornien, April 2017.

51


»In Gotteshäusern und auf den Straßen wächst der Widerstand gegen Trumps Politik.« Die Bereitschaft, auf allen Ebenen zu helfen, ist mit der Wahl Trumps deutlich gestiegen – Solidarität ist als Gegengift zum rabiaten Vorgehen des Mannes im Weißen Haus wiederentdeckt worden. In Gotteshäusern und auf den Straßen wächst der Widerstand gegen eine Politik, die Mexikaner als »Vergewaltiger«, »Drogendealer« und »Kriminelle« abstempelt und Flüchtlingen aus Krisen- und Kriegsgebieten aufgrund ihrer Hautfarbe und ihres Glaubens die Einreise in die USA verwehrt. Trump behauptet zwar, die Mexikaner zu lieben. Doch seine Handlungen zeigen etwas anderes. Wie sich das langfristig auf die Immigration auswirken wird, weiß keiner genau zu sagen. Auch nicht mit Blick auf die Landwirtschaft, in der viele der irregulär ins Land gekommenen Ein-

wanderer arbeiten. In Ventura County, nördlich von Los Angeles, gab es bislang nie Probleme, die Jobs auf den Feldern zu besetzen. Schon im Februar kamen früher viele Mexikaner über die Grenze, um hier als Tagelöhner eine Handvoll Dollar zu verdienen. Doch in diesem Jahr war alles anders. Es standen vierzig Prozent weniger Arbeitskräfte als in den Vorjahren zur Verfügung, was dazu führte, dass Farmer Anzeigen in Tageszeitungen schalteten und aktiv um Pflücker warben, um das Einbringen der Ernte nicht zu gefährden. Dass sich kaum Amerikaner auf die Anzeigen meldeten, war eingeplant. Denn nur dann, wenn es keine einheimischen Kräfte für die Feldarbeit gibt, dürfen die Landwirte Gastarbeiter mit sogenannten H2-A-Visa aus dem Nachbarland anfordern. Das ist freilich deutlich teurer für die Arbeitgeber, da sie einen gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn bezahlen müssen, der deutlich höher ausfällt als die sonst übliche Entlohnung. Auch für Unterbringung und Verpflegung müssen die Farmer aufkommen. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die Farmer bislang auf Arbeiter ohne Papiere setzten, die bar bezahlt werden konnten. Doch damit scheint es nun vorbei zu sein. So brüstet sich die Trump-Regierung damit, die Zahl der irregulären Grenzübertritte seit Jahresbeginn um sechzig Prozent reduziert zu haben. Was für den Präsidenten zählt, sind Zahlen und Statistiken – nicht die Gründe für die Flucht und menschliche Schicksale. Die Mauer, zumindest die in den Köpfen, ist bereits errichtet.

Erdbeerernte. Mexianischer Feldarbeiter in Santa Maria, Kalifornien, März 2012.

52

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2017


Bis an die Grenze

Foto: David Bacon / Report Digital / REA / laif

Immer öfter begeben sich in Mittelamerika ganze Familien auf die Flucht. Waren es bis 2010 vor allem junge Männer, die die gefährliche Reise durch Mexiko antraten, um in die USA zu gelangen, sind nun kleine Kinder mit ihren Müttern und Vätern, Senioren, aber auch unbegleitete Minderjährige unterwegs. Die Gewalt krimineller Banden (Maras), die vielen durch Entführungen und Erpressungen das Leben zur Hölle macht, lässt ihnen oft keine andere Wahl, als der Heimat den Rücken zu kehren. Nur wenige Flüchtlinge beantragen bereits an der mexikanischen Grenze Asyl. Die meisten kommen über die grüne Grenze und ohne gültige Papiere ins Land – Jahr für Jahr rund 400.000 Menschen. Lediglich 8.788 Asylanträge wurden 2016 gestellt, das sind allerdings mehr als sieben Mal so viele wie 2013. Tendenz steigend: Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) rechnet in diesem Jahr mit 20.000 Anträgen. Etwa die Hälfte der Einreisenden dürfte auf besonderen Schutz angewiesen sein, was sie eigentlich vor einer Ausweisung bewahren müsste. Doch die Praxis sieht anders aus. Viele Flüchtlinge werden bereits kurz nach ihrer Ankunft von der mexikanischen Einwanderungsbehörde aufgegriffen – ohne an die staatliche Asylbehörde Comar verwiesen zu werden. Statt eines Asylantrags warten auf sie Inhaftierung und häufig die Abschiebung ins Herkunftsland. Ein Schicksal, das auch jenen droht, deren Asylantrag abgelehnt wurde, oft ohne die Möglichkeit, gegen den Bescheid Berufung einzulegen, obwohl dieses Vorgehen gegen Artikel 33 der Genfer Flüchtlingskonvention verstößt, der das Prinzip der Nichtzurückweisung festlegt. »Statt den Menschen auf der Flucht aus Zentralamerika zu helfen, setzt Mexiko vor allem auf eine Politik der Abschottung und Abschiebung«, sagt Maja Liebing, Amnesty-Expertin für Nord- und Lateinamerika in Berlin. Im vergangenen Jahr sind mehr als 188.000 Asylsuchende von der mexikanischen Grenzbehörde festgehalten worden; mehr als 147.000 wurden in ihre Heimatländer abgeschoben. So auch der 62-jährige Alberto aus dem honduranischen Tegucigalpa. Im September 2014 war er vor einer lokalen Bande in seiner Heimatstadt geflohen, weil er sich geweigert hatte, als Informant für sie tätig zu werden, und brachte sechzig Kilometer Fußmarsch bis zur mexikanischen Grenze hinter sich. Es sollte nicht sein einziger Versuch bleiben, der Gewalt in Tegucigalpa zu entgehen: Zwölfmal schoben ihn die mexikanischen Behörden in den zwei Jahren danach ab; erst im Oktober 2016 erhielt er Asyl. Von seinem Recht, legal Aufnahme und Schutz vor Verfolgung zu beantragen, hatte ihn erst vor seinem letzten Fluchtversuch ein Mitarbeiter in einer Auffangstation für Zurückgeschobene an der honduranischen Grenze informiert. Aber auch für jene Mittelamerikaner, die es schaffen, das Transitland Mexiko ohne Inhaftierung zu passieren, ist Sicherheit nicht garantiert. Im Gegenteil: Flüchtlingen, die nach einem irregulären Grenzübertritt auf dem Territorium der Vereinigten Staaten aufgegriffen werden, droht fast immer die Abschiebung

USA

|

MITTELAMERIKA

Foto: Sergio Ortiz Borbolla / Amnesty

Die Gewalt in El Salvador, Honduras und Guatemala zwingt Hunderttausende in die Flucht – vor allem nach Norden. Von dort schieben mexikanische und US-amerikanische Behörden rücksichtslos ab. Von Christa Rahner-Göhring

Weg aus Guatemala. Der Suchiate bei Tapachula, Mexiko, April 2017.

zurück in den Süden – auch vor Abschluss ihres Asylverfahrens. Dieses System hat dazu geführt, dass 2016 in den USA mehr als 350.000 Menschen in Abschiebehaftzentren festgehalten wurden, mehr als in jedem anderen Land der Welt. Der US-Kongress sollte »den rechtlichen Schutz von Flüchtlingen und Migranten im Einklang mit internationalen Menschenrechtsstandards stärken«, fordert deshalb Amerika-Expertin Liebing. Und die mexikanische Regierung müsse sicherstellen, dass jegliche Rückführung von Flüchtlingen und Migranten in ihre Heimatländer unter Wahrung menschenrechtlicher Standards erfolge. Dazu zählten der Zugang zu einer Rechtsberatung und die Möglichkeit, die Entscheidung über die Rückführung gerichtlich anzufechten. Das erscheint umso dringlicher, als die Fluchtrouten durch Mittelamerika in Zukunft eher noch gefährlicher werden dürften – und die Kosten, die Schlepper für ihre Dienste verlangen, weiter steigen. Denn solange die Ursachen der Gewalt in El Salvador, Honduras und Guatemala nicht eingedämmt werden, wird die Zahl der Flüchtlinge aus diesen Ländern nicht ab-, sondern zunehmen. Davon profitieren in erster Linie kriminelle Banden, die durch Entführungen von Flüchtlingen Lösegeld von deren Angehörigen erpressen. Ein lukratives Geschäft: 2015 war die Situation in Honduras und El Salvador gefährlicher als im Irak oder in Afghanistan. Und Guatemala ist eines der Länder mit der höchsten Rate an Gewaltverbrechen in ganz Lateinamerika. Christa Rahner-Göhring ist Sprecherin der Amnesty-Ländergruppe  El Salvador.  Der Bericht »Facing Walls: USA and Mexico’s Violation  of the Rights of Asylum Seekers« findet sich unter  www.amnestyusa.org/reports/facing-walls-usa-mexicos violation-rights-asylum-seekers/

53


PORTRÄT

Foto: Barbara Ries / Vulcan Inc. / AP / pa

Im Dienste Afrikas Der Nigerianer Olawale Maiyegun gibt der Europäischen Union in der Migrationspolitik Kontra. Von Christian Jakob Selten stand Afrika stärker im politischen Fokus als in diesen Monaten. Um die Migration über das Mittelmeer einzudämmen, entwickeln Repräsentanten der Europäischen Union enorme diplomatische Betriebsamkeit: Migrationsabkommen sollen abgeschlossen, Wirtschafts- und Reformpartnerschaften eingegangen werden. Die Interessen Afrikas aber werden dabei übergangen, sagt Olawale Maiyegun, Leiter der Abteilung für soziale Fragen der Afrikanischen Union (AU) in Addis Ababa. »Es werden Entscheidungen ohne uns getroffen.« Schon im Februar, auf dem EU-Migrationsgipfel in Malta, war es Maiyegun, der den Europäern Kontra gab. Bei dem Treffen stellte die EU mehr als einem Dutzend afrikanischer Staaten einen Nothilfefonds in Höhe von 2,8 Milliarden Euro in Aussicht, sollten diese sich verbindlich bereit erklären, Flüchtlinge und Migranten zu stoppen und zurückzunehmen. »Valletta-Prozess« nennt das die EU, »zur Eindämmung des Zustroms irregulärer Migranten«, wie es in der Erklärung von Malta heißt. Für den 1958 in Lagos geborenen Maiyegun erfüllt dieser Prozess seinen Zweck jedoch nicht. »Die Verträge werden mit Institutionen und NGOs aus Europa gemacht, die sagen, sie kennen sich mit Afrika aus. Tatsächlich tun sie das oft nicht«, sagt er. »Das ist ein sicherer Weg, um zu scheitern.« Zudem sei die Afrikanische Union bei der Verteilung der Mittel aus dem Nothilfefonds nicht dabei. Das aber müsse sich ändern, so der nigerianische Karrierediplomat, der 2009 zur Afrikanischen Union stieß. Zuvor hatte er die Abteilung für Organisierte Kriminalität, Geldwäsche, Drogen und Terrorismus im Außenministerium in Lagos geleitet. Künftig müsse die AU-Kommission mitentscheiden, wofür die Milliarden aus Europa fließen. Außerdem habe die EU in ihrem Nothilfefonds etwa zwanzig afrikanische Staaten nicht berücksichtigt – und zwar ausgerechnet jene, die so weit weg von der Mittelmeerküste liegen, dass aus ihnen keine Migration

54

nach Europa drohe. »Die Europäer haben sich einfach die herausgepickt, die ihnen wichtig erschienen«, kritisiert Maiyegun, der seine diplomatische Karriere 1983 begann. Zuvor hatte er in Verwaltungswissenschaften promoviert und einen Master-Abschluss in internationalem Recht und Diplomatie gemacht. 25 Jahre lang stand er dann in Diensten des nigerianischen Außenministeriums, unter anderem als Botschafter in Paris. Seit seinem Wechsel zur AU 2009 wurden Migrationsfragen immer wichtiger, doch das bestimmende Ereignis seiner Zeit in Addis Ababa war die Ebola-Krise 2014. Er stellte Teams von Ärzten und Pflegern zusammen, die in Staaten wie Liberia geschickt wurden. »Afrikaner für Afrikaner« hieß das Projekt, mehr als 800 Freiwillige meldeten sich. Maiyegun war stolz auf dieses Engagement, umso mehr ärgerte ihn, dass der afrikanische Beitrag zur Eindämmung der Ebola-Krise »übersehen« wurde. Dabei seien es die afrikanischen Helfer gewesen, die am besten gewusst hätten, was die betroffenen Länder brauchen. Dieses Muster wiederhole sich nun bei den vermeintlichen Entwicklungspartnerschaften zur Fluchtursachenbekämpfung, sagt Maiyegun. Doch nicht nur das will der 59-Jährige ändern: Schrankenlose Reisefreiheit innerhalb Afrikas ab 2018, lautet das ambitionierte Ziel der AU, und zwei Jahre später ein einheitlicher afrikanischer Pass. »Ein Deutscher hat es mit seinem Pass heute leichter, innerhalb Afrikas umherzureisen, als ein Afrikaner«, gibt Maiyegun als Grund an – und macht abermals klar, dass afrikanische Interessen nicht mit europäischen identisch seien. »Wir können Hilfe gut gebrauchen, um die Institutionen aufzubauen, die Mobilität innerhalb Afrikas ermöglichen«, sagt er. »Das wäre eine viel bessere Hilfe als klassische Entwicklungsprojekte.« Die EU hingegen will engmaschige Kontrollen und stark reglementierte Transitkorridore, jedenfalls in Richtung Norden. Ein klarer Interessenkonflikt.

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2017


DRANBLEIBEN

Hilfe für Opfer von Colonia Dignidad Die Verbrechen der Colonia Dignidad in Chile sollen nun auch in Deutschland aufgearbeitet und die Oper stärker unterstützt werden. Das beschloss der Bundestag in Berlin Ende Juni. In dem vom deutschen Arzt Paul Schäfer geführten Lager war es jahrzehntelang zu schweren Menschenrechtsverletzungen gekommen, der Bundesnachrichtendienst sprach von »KZ-ähnlichen Methoden«. Die Abgeordneten forderten die Bundesregierung auf, »nach dem Bekenntnis zu moralischer Mitverantwortung den Worten nun Taten folgen zu lassen«. In Zusammenarbeit mit Chile solle die Aufarbeitung der Ver-

brechen in dem 1961 gegründeten Lager verstärkt sowie die strafrechtlichen Ermittlungen in Deutschland und in Chile vorangetrieben werden. Dazu solle die Bundesregierung bis Mitte 2018 ein Konzept für Hilfsleistungen vorlegen. Das Regime von Augusto Pinochet nutzte das 350 Kilometer südlich von Santiago de Chile gelegene Sektengelände von 1974 bis 1990 als Folterlager, in dem bis zu 100 Oppositionelle ermordet wurden. Der deutsche Arzt Hartmut Hopp, der zur Führungsriege der Colonia Dignidad gezählt hatte, floh 2011 nach Krefeld, wo er bis heute in Freiheit lebt. 2016 for-

derte die hiesige Staatsanwaltschaft, das gegen ihn in Chile wegen Beihilfe zu Kindesmissbrauch verhängte Urteil von fünf Jahren Haft zu vollstrecken. Keine Mehrheit im Bundestag erhielt ein Antrag von mehr als 90 Abgeordneten von Grünen und Linkspartei, die deutschen Diplomaten, Verwaltungs- sowie Justizbeamten »Pflichtverstöße, Versäumnisse und mangelnde Gewissenhaftigkeit« vorwarfen. Zudem seien die von der Bundesregierung bis 2013 geleisteten Hilfsmaßnahmen »nicht immer ausreichend oder bedarfsgerecht« gewesen. »Das ist juristisches Neuland«, 08-09/2016

Duterte droht Kritikern mit Kriegsrecht

»Man kann nicht alle töten«, 01/2017

Foto: Daniel Berehulak / The New York Times / Redux / laif

Der philippinische Präsident Rodrigo Duterte hat im Juli Kritikern des Kriegsrechts im Süden des Landes mit Haft gedroht. Der umstrittene Staatschef hatte dieses im Mai über die südliche Region Mindanao verhängt, weil dort bewaffnete Dschihadisten gegen Regierungseinheiten kämpfen. Seit Dutertes Amtsantritt im Juli 2016 ist es auf den Philippinen zu zahlreichen Menschenrechtsverletzungen seitens seiner Regierung gekommen. Tausende Menschen wurden im Auftrag der Polizei ermordet; eine Wiedereinführung der Todesstrafe für Drogendelikte ist geplant. Bereits als Bürgermeister der südphilippinischen Stadt Davao hatte Duterte Menschenrechtler gegen sich aufgebracht, weil er Todesschwadrone eingesetzt haben soll. James Gomes, Amnesty-Experte für Südostasien und den Pazifikraum, warf Duterte im Juli vor, »Rechtsstaatlichkeit zu untergraben« und den »Ruf eines Führers erlangt zu haben, der für den Tod Tausender seiner eigenen Bürger verantwortlich ist«. Im Gefängnis. Mutmaßliche Drogendelinquenten, Quezon, Oktober 2016.

UN verstärken Syrien-Ermittlungen Die französische Richterin Catherine Marchi-Uhel ist im Juli von UN-Generalsekretär António Guterres zur Leiterin eines Teams der Vereinten Nationen in Genf ernannt worden, das Kriegsverbrechen und andere schwere Verstöße gegen internationales Recht von Regierungseinheiten, Oppositionsgruppen und Dschihadistenmilizen in Syrien zur Anklage bringen soll. Der internationale, unparteiische und unabhängige Mechanismus war im vergan-

PORTRÄT

|

DRANBLEIBEN

genen Dezember von der UN-Generalversammlung als Reaktion auf die anhaltende Obstruktionspolitik Moskaus in Syrien eingerichtet worden. Im UN-Sicherheitsrat hat Russland seit 2011 achtmal sein Veto gegen Resolutionen eingelegt, die ein Ende der Straflosigkeit gegen Verantwortliche für Kriegsverbrechen, humanitären Zugang zu belagerten Städten oder eine Verurteilung des Vorgehens von staatlichen Sicherheitskräften verlangten.

Catherine Marchi-Uhel hat in den vergangenen Jahren unter anderem als Richterin am Internationalen Jugoslawien-Tribunal in Den Haag, im Kosovo und an einem Sondergericht in Kambodscha gearbeitet. Ihr Team soll 50 Mitarbeiter umfassen; der Finanzierungsbedarf liegt im ersten Jahr bei rund 13 Millionen USDollar – bislang liegen Zusagen lediglich für sechs Millionen vor. »Im Visier der Ermittler«, 06-07/2017

55


KULTUR

Um Worte ringen. Der Romanautor Nihad Siris und die Dichterin Widad Nabi im Berliner Exil.

56

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2017


»Die Politik schwingt mit im Herzen des Textes« Der Romanautor Nihad Siris und die Dichterin Widad Nabi sind aus Aleppo geflohen – er vor der Repression des Assad-Regimes, sie vor dem Krieg. Nun versuchen sie sich als Literaten in Berlin neu zu verorten. Ein Gespräch über das Schreiben im Exil.

Foto: Christian Jungeblodt

LITERATUR IM EXIL

57


Nihad Siris wurde 1950 in Aleppo  geboren. Er studierte Bauingenieurwesen in Sofia und gründete eine Baufirma in  Syrien. Seit 1987 schreibt er Romane, Erzählungen, Dramen und Drehbücher. Sein Roman »Ali Hassans Intrige« (Lenos Verlag) wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und mit dem PEN-Award ausgezeichnet. In ihm versucht ein Schriftsteller der Propaganda eines fiktiven totalitären Regimes zu entkommen. Das Buch wurde in Syrien verboten. 2012 floh Siris vor Repressionen des syrischen Regimes nach Ägypten. Seit 2013 lebt er in Berlin.

Interview: Hannah El-Hitami, Fotos: Christian Jungeblodt

Wie hat sich Ihre Arbeit als Schriftstellerin im Exil verändert? Widad Nabi: Das Schreiben ist an jedem Ort gleich. In Syrien habe ich fast über die gleichen Themen geschrieben, über die ich hier schreibe: in letzter Zeit vor allem über den Krieg, den Tod, die alltägliche Zerstörung. Jetzt schreibe ich zusätzlich über die Flucht, über die Sehnsucht nach der Heimat, die Sehnsucht nach den Orten, die wir hinter uns gelassen haben, die Sehnsucht nach dem Zuhause. Sie sagten bei einer Lesung, Sie könnten sich mit der deutschen Gruppe 47 identifizieren, an deren Treffen Schriftsteller wie Ingeborg Bachmann und Günter Grass teilnahmen. Warum? Widad Nabi: Ich habe zufällig von der Gruppe 47 erfahren. Sie wurde in Deutschland als Reaktion auf den Zweiten Weltkrieg von jungen Schriftstellern gegründet. Heute, 70 Jahre später, sehe ich, dass sie damals das gleiche Bedürfnis hatten, über den Krieg zu sprechen, über das Grauen, das er mit sich bringt. Selbst in der Sprache gibt es Parallelen. Die Autoren der Gruppe 47 benutzten eine extrem realistische Sprache, die sich an die Rohheit des Krieges angepasst hatte. So wie ich heute. Meine Sprache ist realistischer geworden, während ich zuvor mehr literarische Stilmittel verwendete. Worauf führen Sie solche Gemeinsamkeiten zurück? Widad Nabi: Wenn du die Details der Zerstörung, der Trümmer, des Todes erlebst, wird auch das Schreiben härter. Die Men-

58

schen empfinden überall gleich, unabhängig von Kultur, Sprache oder Nation. Es gibt ein gemeinsames Wesen. Was der Krieg damals in Deutschland anrichtete, richtet er heute in Syrien an. Was die Menschen damals in Deutschland erlebten, erleben die Menschen in diesem Moment in Syrien. Ich frage mich: Wenn die Literatur das erkannt hat, warum erleben wir dann immer noch das Gleiche, nicht nur in Syrien, auch im Jemen, in Somalia? Menschen verhungern, obwohl genau das Gleiche schon einmal passiert ist. Warum können wir das nicht überwinden? Wie ist es, als Literat in einem Land zu leben, dessen Sprache man nicht versteht? Nihad Siris: Literatur ist mehr als nur Sprache. Als Romanautor interessiere ich mich für die Geschichte der Gesellschaft, für ihre Kultur, ihre Musik. Daher fühle ich mich hier tatsächlich isoliert. Wenn ich etwas über die deutsche Gesellschaft schreiben wollte, wäre mein Schreiben oberflächlich. Als ich über meine Stadt Aleppo geschrieben habe, habe ich über alles geschrieben, was mir in den Sinn kam. Ich machte mich auch mit der Landwirtschaft vertraut, mit den Pflanzen, den Vögeln, den wilden Tieren. Das alles macht einen Roman aus. Wenn ich mich jetzt hinsetze, um zu schreiben, bin ich verunsichert. Alles, was ich kannte, ist zerstört worden. Die Menschen, über die ich geschrieben habe, sind tot, geflohen oder verschwunden. Wie haben sich die Themen, über die Sie schreiben, durch den Krieg in Syrien verändert? Nihad Siris: Die meisten meiner Werke habe ich vor den Geschehnissen in Syrien geschrieben. Ich habe über die Gesell-

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2017


schaft geschrieben und über historische Ereignisse, die die Realität in Syrien beeinflusst haben. Ich wollte für gesellschaftlichen Fortschritt schreiben, für die Vernunft, für die persönliche Entwicklung der Menschen. »Ali Hassans Intrige« habe ich geschrieben, um ein Zeichen gegen den Totalitarismus zu setzen, der sich in Syrien seit den sechziger Jahren entwickelt hat. Ich wollte die Menschen darauf aufmerksam machen und sie dazu anregen, den demokratischen Weg zu wählen. Haben Sie diesen Anspruch noch immer? Nihad Siris: Es fällt mir schwer, meine alten Projekte weiterzuführen. Ich frage mich oft, ob wir als Intellektuelle einen Fehler begangen haben. Haben wir versagt, weil wir es nicht geschafft haben, das Land zu beschützen, die Menschen, die Kinder, unsere Lebensweise? Sind wir als Intellektuelle, als Schriftsteller gescheitert? In der Vergangenheit habe ich geschrieben, um Menschen in Syrien etwas bewusst zu machen. Jetzt schreibe ich für die »anderen«, für die Menschen im Westen und im Rest der Welt, damit sie nicht den Fehler machen, das syrische Regime als Alternative zum Terrorismus zu sehen. Dieses Regime ist dafür verantwortlich, dass es überhaupt so weit kommen konnte. Aber um über den Krieg selbst zu schreiben, ist es noch zu früh. Die meisten Werke der Weltliteratur, die über Ereignisse wie in Syrien berichten, wurden erst später geschrieben. Widad Nabi, während der Proteste in Aleppo wurden auch Zeilen aus Ihren Gedichten auf Plakate und Wände gesprüht. Sind Ihre Gedichte politisch? Widad Nabi: Ich habe eigentlich nie die Absicht, über Politik

zu schreiben. Doch die Politik schwingt im Herzen des Textes mit – zum Beispiel, wenn ich über Freiheit schreibe, in einem Land, in dem es keine Freiheit gibt, sondern nur Totalitarismus und Diktatur. Ich als Kurdin lernte meine Muttersprache zwar sprechen, aber nicht schreiben, weil sie verboten war. Wer Kurdisch gelernt hat, wurde eingesperrt. Auf der Universität habe ich mit ein paar kurdischen Kommilitonen versucht, Kurdisch zu lernen – im Geheimen und voller Furcht. Wenn ich also in einem solchen Land über Freiheit schreibe, dann schreibe ich auch über das Regime, ohne es beim Namen zu nennen, ohne das Baath-Regime oder Bashar al-Assad zu nennen. In einem Gedicht schreibe ich: »In diesem Land ist Platz für Vieles: für die Träume der Toten, für die Körper der Märtyrer, für Patronen und Kampfflugzeuge. Und trotzdem reicht der Platz nicht für ein kleines Wort: Freiheit.« Hatten Sie jemals die Freiheit, ohne Einschränkungen zu schreiben? Nihad Siris: Wenn man in einem Land wie Syrien lebt, muss man symbolisch schreiben. Man muss etwas ausdrücken, ohne es zu direkt zu nennen. Ich kann nicht einfach schreiben, dass der Geheimdienst dieses und jenes gemacht hat, sonst wird das Geschriebene verboten und ich bekomme Schwierigkeiten. Aber ich kann über die Amtszeit des ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser schreiben, der mithilfe der Geheimdienste geherrscht hat. Menschen werden das lesen und mit ihrer eigenen Realität vergleichen. Die Autoren in Syrien finden stets neue literarische Wege, um Zensur und Verhaftung zu umgehen. In meinen Werken geht es immer um Politik. Das ist mein

Widad Nabi wurde 1985 in Kobanê  geboren. Die syrischkurdische Lyrikerin studierte an der  Universität in Aleppo Wirtschaftswissenschaften. Sie hat für verschiedene arabische Zeitungen g  eschrieben. 2013 erschien ihr erster Gedichtband »Zeit für Liebe, Zeit für Krieg«. 2014 flüchtete sie aus Aleppo nach Europa. Seit Ende 2015 lebt sie in Berlin. Ihr zweiter Gedichtband »Syrien und die Sinnlosigkeit des Todes« erschien 2016 in Beirut. In dem Sammelband »Weg sein – hier sein« (Secession Verlag) sind zwei ihrer Gedichte auf Deutsch zu lesen.

LITERATUR IM EXIL

59


Projekt. Die Menschen aufzuklären, sie in eine demokratische Richtung zu lenken. Widad Nabi: Vor der Revolution konnte niemand über Politik und die Probleme im Land schreiben. 2011 hat sich das plötzlich verändert. Wir konnten auf die Straße gehen und demonstrieren, für Freiheit und den Sturz des Regimes. Meine Generation hatte keine Furcht mehr. Wir haben gerufen und unsere Schilder hochgehalten. Ich schrieb damals für eine Oppositionszeitung, die in der Türkei gedruckt wurde. Ich schrieb über meine Freunde, die verhaftet wurden, über den Krieg und das Töten. Sogar auf Facebook habe ich darüber geschrieben. Die Revolution hatte die Furcht aus meinem Herzen gelöscht. Vor der Revolution haben wir über jedes kleine Wort nachgedacht und uns gefürchtet, aber nach Beginn der Revolution war das anders. Es war ein Zustand von Freiheit, von Lebensfreude. Ich glaube, das hatte Syrien vorher noch nie erlebt. Es gab zwar keine Demokratie, aber es gab ein überwältigendes Gefühl von Freiheit. Dann begannen die Luftangriffe, und die jungen Demonstrierenden verschwanden von den Straßen. Nihad Siris, in einem Ihrer Romane schreiben Sie, dass Poesie den Fanatismus der Massen schürt, während Prosa den Verstand schärft und die individuelle Entwicklung fördert. Nihad Siris: Ja, das ist meine persönliche Meinung. Die Araber sind bekannt für ihre Dichtung. Man könnte sogar sagen, dass die Araber ein Volk von Dichtern sind. Das erste, was auf der arabischen Halbinsel aufgezeichnet wurde, war Dichtung. Es gab bei den Arabern damals keine Wandzeichnungen wie bei den alten Ägyptern. Es waren ja Wüstengegenden, wie im heutigen Saudi-Arabien. Auf Sand kann man nicht schreiben. Die Araber mussten also immer alles auswendig lernen. Das war die einzige Möglichkeit, Geschichte, Philosophie festzuhalten. Damit das leichter ging, haben sie es in Gedichtform ausgedrückt. Auch der Koran wurde in einer Art Reimprosa verfasst. Im Koran wird Gott gepriesen und der Prophet Mohammed. Seit dem 20. Jahrhundert aber werden mit Reim und Versmaß politische Führer verherrlicht. Die Dichtung wurde zum Mittel diktatorischer Regime, um Einfluss auf die Menschen zu nehmen. Und wie sieht es mit der Prosa aus? Nihad Siris: Der Roman ist eine Art Abrechnung mit dem Teil der Literatur, der dem Lob und der Verherrlichung der Diktatoren diente. Darum bin ich gegen die gereimte Dichtung. Natürlich gibt es auch großartige arabische Dichter, die sehr wichtig sind. Aber die Prosa behandelt heute Weisheit, Philosophie, Politik, Theater, Literatur. Die Prosa fördert das Bewusstsein, die Disziplin, das Verständnis für Geschichte und Zukunft. Widad Nabi: Ich bin gegen diese Unterscheidung der unter-

»Noch finde ich die Sprache sehr schwierig, aber eines Tages würde ich gerne auf Deutsch schreiben.« Widad Nabi 60

»Die Autoren in Syrien finden stets Wege, Zensur und Verhaftung zu umgehen.« Nihad Siris schiedlichen Genres. Im Roman schwingt Dichtung mit, ebenso wie in der Prosa und im literarischen Text. Früher gab es feste Regeln für die Dichtung. Heute ist alles vermischt, Prosa, Lyrik und sogar Wissenschaft können in einem Text vereint sein. Wollen Sie zurück nach Syrien? Nihad Siris: Ich hoffe, in mein Land zurückkehren zu können. Ich bin begeistert von Deutschland, einem Land, das Menschen in Not hilft. Wir waren in Not, wir brauchten einen Zufluchtsort. Aber ich habe eine Tochter in Syrien, einen Sohn in der Türkei und einen in Großbritannien. Ich kann die drei nicht besuchen. Alles, was ich mir wünsche, ist, dass der Krieg aufhört und ich in mein Land zurückkehren kann. Jeden Tag suche ich in den Nachrichten nach einem Zeichen, dass vielleicht ein Funken Hoffnung auf ein Ende des Krieges besteht. Die Sehnsucht bringt mich um. Nicht nur die Sehnsucht nach den Straßen und den Cafés, die sind ohnehin zerstört. Die Orte, die ich kenne, gibt es nicht mehr, meine Freunde gibt es nicht mehr. Aber ich sehne mich nach dem Land, nach dem Familienleben. Und ich träume davon, irgendwann ein großes Werk über den jetzigen Lebensabschnitt zu schreiben, über das, was in Syrien passiert. Widad Nabi: Im Sommer 2014 habe ich beschlossen, Syrien zu verlassen. Es war eine schlimme Zeit für Aleppo. Ich stand am Grenzübergang von Dar al-Salam und habe vor mir Tausende Menschen gesehen, die Syrien verlassen wollten. Ich habe damals mit voller Überzeugung gesagt: Ich werde nicht in dieses Land zurückkehren. Und ich sehe das immer noch so. Die Orte, an denen ich gelebt habe, sind zerstört. Die Menschen, mit denen ich Erinnerungen teile, sind weg. Ich wünsche mir, dass der Krieg in Syrien endet, damit die Menschen dort wieder normal leben können. Aber ich persönlich kann unmöglich zurückkehren. Ich habe dort alles verloren. Es gibt keinen Ort und keine Menschen mehr, die ich kenne. Sehen Sie Ihre Zukunft als Schriftstellerin in Deutschland? Widad Nabi: Ja, in Berlin. Ich habe Vertrauen zu dieser Stadt aufgebaut. Ich habe Freundschaft mit den Cafés und den Buchläden geschlossen. Hier fühle ich mich zu Hause. Natürlich sehne ich mich nach meinem Land und dem Leben dort. Ich will meine Wurzeln nicht abschneiden, aber ich kann trotzdem an einem neuen Ort meinen Platz finden: in einem Land, das mir Sicherheit gibt, Würde, Menschenrechte – nicht in einem Land, das meine Menschlichkeit jeden Tag beleidigt hat. Wenn ich deutsche Autorinnen und Autoren lese, dann wünsche ich mir, eines Tages auch dazuzugehören. Noch finde ich die Sprache sehr schwierig, aber eines Tages würde ich gerne auf Deutsch schreiben.

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2017


BUNDESTAGSWAHL 2017

MISCH DICH EIN FÜR MENSCHENRECHTE AMNESTY.DE/EINMISCHEN

ICH MISCHE MICH EIN, WEIL ICH NICHT „NUR“ ZUSCHAUEN WILL.


Multiethnische Dorfkapelle. Banda Internationale.

Umtata mit Oud In der Banda Internationale aus Dresden spielen alteingesessene und geflüchtete Musiker. Dadurch ist die sächsische Blaskapelle zu einem Vorzeigeprojekt geworden. Von Daniel Bax

F

reital war der Wendepunkt. »Kurz vor den Sommerferien 2015 kochte die Stimmung dort hoch«, erinnert sich der Klarinettist Michal Tomaszewski. Seine Kapelle reiste aus Dresden in die südwestlich gelegene Kleinstadt, gab Freikonzerte in Flüchtlingsunterkünften und spielte für Geflüchtete und deren Helfer auf. »Wir haben dort einige Tage verbracht und fanden die Atmosphäre unglaublich furchtbar. Es kamen immer mehr Leute, die Zustände wurden immer unerträglicher.« Als Musiker wollten sie dieser Situation etwas entgegensetzen. Monatelang hatten rechte Gruppen um den Pegida-Gründer Lutz Bachmann gegen eine geplante Flüchtlingsunterkunft mo-

62

bil gemacht. Die Ankunft neuer Flüchtlinge im Sommer 2015 wurde von gewalttätigen Protesten und Anschlägen auf Unterkünfte und linke Politiker begleitet, acht Mitglieder einer rechtsextremen »Bürgerwehr« stehen deshalb seit März vor Gericht. Klarinettist Tomaszewski und seine Mitstreiter aber suchten damals unter den Neuankömmlingen nach Musikern für ihre Band. Sie halfen ihnen, sich Instrumente zu besorgen, luden sie zu Proben ein und lernten, ihre Lieblingslieder zu spielen. »Wir haben uns selbst abgeschafft und uns neu erfunden«, sagt Tomaszewski über diese Zäsur. Als »Banda Comunale« waren er und seine Kompagnons bis zu diesem Zeitpunkt bereits knapp 15 Jahre lang aktiv gewesen. Die elfköpfige Blaskapelle hatte mit ihrem Mix aus Funk, Ska, Cumbia und Balkan-Brass zunächst gegen Naziaufmärsche und später gegen die aufkommende Pegida-Bewegung angespielt. Michal Tomaszewski, der eine dicke Brille und gern einen Hut trägt, war von Anfang an dabei. Kurz vor der Wende war er als Kind mit der Familie aus Polen nach Niedersachsen gezogen.

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2017


»Wir sind keine Punkband und keine Antifa-Kapelle. Bei uns kann auch mal die Oma mitwippen.«

Foto: Moritz Schlieb

1999 kam er nach Dresden, um dort seinen Zivildienst zu leisten, und blieb hängen. Mit einigen Freunden gründete er zwei Jahre später, nach dem Vorbild italienischer Dorfkapellen, die Banda Comunale. Heute besteht deren Nachfolgerin, die Banda Internationale, aus bis zu 20 Musikern – ungefähr zur Hälfte aus Alteingesessenen und zur Hälfte aus Geflüchteten. Neben Schlagzeuger Arne Müller und dem Gitarristen und Percussionisten Ezé Wendtoin, den es ursprünglich mal zum Germanistikstudium aus Burkina Faso nach Dresden verschlug, gehört Michal Tomaszewski zu den treibenden Kräften. Ihre »neue sächsische Volksmusik«, die sich aus den Heimatmelodien all jener Länder zusammensetzt, aus denen die Musiker stammen, ist der Versuch, »dem Konstrukt einer fixen Leitkultur etwas entgegenzusetzen«, wie Tomaszewski sagt. Kann Musik wirklich Menschen über alle Unterschiede hinweg verbinden? »Ja«, antwortet Michal Tomaszewski prompt, und er erzählt, wie seine Band 2015 erstmals in einem provisorischen Zeltlager in Dresden zu Gast war. In den beengten Verhältnissen hatte es zuvor einige Konflikte gegeben, doch für einen Moment waren die vergessen. »Am Ende haben alle miteinander getanzt«, sagt Tomaszewski, »mehr kann man nicht erreichen.« Auf dem Album »Kimlik« kann man hören, wie der gelebte Brückenschlag klingt. Es eröffnet mit dem Gassenhauer »Ya Rayah«, einem algerischen Song, den man auch auf dem Balkan kennt. Es gibt Ausflüge in Cumbia und Klezmer und Eigenkompositionen wie »Brummkreisel«, die aus mitteleuropäischen Traditionen schöpfen. Der nahöstliche und arabische Einschlag ist aber unüberhörbar, und das musikalische Zusammenspiel gar nicht so einfach. »Als Blaskapelle müssen wir uns zurücknehmen, um Saiteninstrumente wie die Oud-Laute und die Zither Kanun zu integrieren«, erläutert Tomaszweski. Für Tontechniker sei das eine echte Herausforderung. »Wir haben nicht den Anspruch, eine professionelle Band zu sein«, sagt er. Dennoch wird die Kapelle in diesem Jahr im thüringischen Rudolstadt mit dem Weltmusik-Preis ausgezeichnet.

BANDA INTERNATIONALE

»Wir sind ein Vorzeigeprojekt geworden«, sagt Tomaszewski. Deshalb häufen sich die Anfragen, auch von sächsischen Politikern. Im vergangenen Jahr gab die Banda über 60 Konzerte, und ein Ende der Nachfrage ist nicht in Sicht. »Wir hatten uns vorgenommen, dieses Jahr weniger aufzutreten, aus Rücksicht auf unsere Familien und unsere Jobs. Aber wir haben uns damit abgefunden, dass es so intensiv weitergeht.« Der Grund für die massive positive Resonanz? »Wir sind keine Punkband und keine Antifa-Kapelle. Bei uns kann auch mal die Oma mitwippen.« Ein weiterer Grund ist, dass die Banda Internationale für ein anderes, weltoffenes Sachsen steht. Im vergangenen Jahr erhielt die Band als »Integrationsprojekt« sogar öffentliche Förderung. Die Musiker gehen in sächsische Schulen und bieten dort Workshops an, die geflüchteten Musiker stellen sich den Fragen der Kinder. Daneben gibt es ein Bandprojekt mit unbegleiteten geflüchteten Jugendlichen. Nicht zuletzt stehen die alteingesessenen Musiker ihren geflüchteten Kollegen auch bei Behördengängen und Arztbesuchen bei oder helfen bei der Wohnungs- und Jobsuche. Als Musiker dürfen die meisten von ihnen kein Geld verdienen, sondern nur ehrenamtlich für die Kapelle tätig sein – das steht sogar in ihren Papieren. »Vielleicht kann man Nachbarschaftshilfe dazu sagen«, meint Tomaszewski zum Zusammenhalt der Band. »Einer macht die Technik, der andere den Transport: Es ist ein Organismus, wo viele Leute sich aufeinander verlassen können, ein kleines Biotop.« Natürlich gebe es mal Differenzen, auch um Herkunft und Religion, gibt Tomaszewski zu. »Unser ehemaliger Gitarrist war überzeugter Atheist, da gab es schon Diskussionen«, erzählt er. »Ich bin dagegen ziemlich katholisch erzogen worden, mir ist das Religiöse deshalb nicht so fremd.« Das beeinträchtige die Bandarbeit aber nicht, und am Ende komme man immer wieder beim Bier zusammen. Schwerer wirkten andere Zentrifugalkräfte. Einige Musiker hätten sich schon nach Leipzig oder Köln abgesetzt, weil ihnen Dresden zu eng geworden sei. Andere könnten folgen, wenn die Residenzpflicht auslaufe, fürchtet Tomaszewski. Die meisten Flüchtlinge hätten eine auf drei Jahre befristete Aufenthaltserlaubnis. »Die Besten werden die ersten sein, die fortgehen«, sagt er. Für Sachsen sei das eine doppelt verpasste Chance: »Man behält das schlechte Image, und man verliert die Vorbilder.« Zeitversetzt hole der Osten derzeit nach, was der Westen bereits seit der Ankunft der Gastarbeiter durchlebt habe. »Leider hat man aus den Fehlern der Vergangenheit nichts gelernt.« »Perspektivisch wünsche ich mir, dass die Band fortbesteht, auch wenn die Leute fortgehen«, sagt Tomaszewski. In Italien gebe es Dorfkapellen, die seit 150 Jahren bestehen. Eine solche Institution solle auch die Banda Internationale werden, hofft er, und sagt optimistisch: »Wir sind auf einem guten Weg dahin.« Banda Internationale: Kimlik (Trikont)

63


Zerstreuung, berufliche Perspektive, Aufklärung und Schutz – Theaterprojekte mit Geflüchteten in Deutschland erfüllen derzeit viele Funktionen. Von Georg Kasch

S

chüchtern und ein wenig steif fasst Ali Emmi bei den Hüften, eine Armlänge Abstand bleibt. Ebenso unsicher tasten sich Emmis Hände an Alis Schultern heran – erste, unsichere Berührungen beim Tanzen, die in einer großen Liebe münden werden und die einen doppelten Abstand markieren. Denn Emmi ist über 60 und Putzfrau in München, Ali mindestens 20 Jahre jünger – und kommt aus Afghanistan. Dieses Detail in der Inszenierung »Angst essen Seele auf« an der Schauburg, Münchens Kinder- und Jugendtheater, weicht ab von der Vorlage, Rainer Werner Fassbinders Film von 1974. Denn der Darsteller des Ali, Ahmad Shakib Pouya, stammt selbst aus Afghanistan. Er ist auch der Grund, warum das Stück auf dem Spielplan steht. Theater kann nämlich Leben retten. Das gilt meist im übertragenen Sinn. Für viele Geflüchtete sind die zahlreichen Theaterprojekte, die seit 2015 in Deutschland mit ihnen entstanden sind, vor allem eine Ablenkung von der Untätigkeit, zu der sie gezwungen sind, während sie auf ihre Anerkennung warten. Für andere ist es die Rückkehr in ihren Beruf – und damit die Chance auf eine würdige Existenz. Zugleich ist das Theater von und mit Geflüchteten für das Publikum wichtig. Denn Regisseure, Schauspieler und Autoren mit Fluchterfahrungen berichten aus erster Hand, erzählen von Folter, Todesangst und rettenden Begegnungen. Informationen und Emotionen, die gerade wegen ihrer Unmittelbarkeit berühren, die Verständnis wecken, Empathie fördern, den Blick offenhalten für die Ungerechtigkeiten und die Doppelmoral, mit der unsere Gesellschaft Flüchtenden oft begegnet. Und dann gibt es Geschichten wie die von Pouya, in denen Theater wortwörtlich zum Lebensretter wird. Vor sechs Jahren musste der Künstler aus Afghanistan fliehen, weil er in Kabul in einem französischen Krankenhaus gearbeitet hatte. »Wenn man in Afghanistan mit Ausländern zusammenarbeitet, bekommt man ein Problem mit den Taliban. Die wollten mich wirklich töten«, sagt Pouya. Also floh er, 15 Monate lang, über den Iran, die Türkei und Griechenland bis nach Deutschland. Im Augsburger Projekt Grandhotel Cosmopolis fand er eine Art Wahlfamilie, wirkte als Barkeeper, künstlerischer Gestalter und Musiker mit und begann als Schauspieler beim Jungen Theater Augsburg. 2015 wurde er Mitglied im Ensemble der Opernproduktion »Zaide. Eine Flucht«, übernahm eine der Hauptrollen, komponierte das Eröffnungslied. Als Vertreter des Vereins Zuflucht Kultur

64

war er beim Bürgerfest des Bundespräsidenten und in der Talkshow von Markus Lanz. Sein kulturelles und soziales Engagement ist beeindruckend. Neben dem Theater und der Musik dolmetscht Pouya für andere Flüchtende – er spricht sechs Sprachen. Doch trotz einer festen Stelle in der Flüchtlingsberatung der IG Metall in Frankfurt am Main erreichte ihn im Dezember 2016 der Abschiebebescheid. Um überhaupt eine Chance auf eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen, musste er im Januar »freiwillig« ausreisen – ins kriegszerfressene Afghanistan. Wenn man die Mails aus Kabul an seine Unterstützer liest, zerreißt es einem das Herz. Obwohl sich zahlreiche Kulturschaffende für ihn einsetzten und bis in höchste Stellen intervenierten, erschien die Lage aussichtslos. Dass er Mitte März nach Deutschland zurückkehren konnte, verdankt er einem befristeten Arbeitsvisum. Die Münchner Schauburg hatte kurzfristig »Angst essen Seele auf« angesetzt. Seitdem ist George Podts Inszenierung immer ausverkauft. Sie vertraut ganz auf die fünf Schauspieler im nahezu leeren Raum. Und auf die Kraft der Musik: Wenn Pouya, der eine wunderbare Stimme hat und gerade an einer CD arbeitet, zum sehnsüchtigen Klang der Tischharmonika singt, dann ist das eine packende Charakterstudie seines Ali. Mit dem Ende der aktuellen Intendanz endet auch Pouyas Spielzeit. Aber die Theater lassen ihn nicht fallen: Seit Juli hat er ein Engagement am Münchner Staatstheater am Gärtnerplatz. Seit 2015 kam es gar nicht so selten vor, dass Flüchtende, die eigentlich einen ganz anderen Beruf hatten, zu Schauspielern wurden. So gaben Laien den Chor in großen Produktionen wie Elfriede Jelineks »Die Schutzbefohlenen« in der Regie von Nicolas Stemann am Hamburger Thalia Theater. Sie spielten aber auch in vielen kleineren Projekten im ganzen Land, oft angeleitet von deutschen Regieteams. Das Ergebnis war mitunter eher gut gemeint als gut gemacht. Umso wichtiger ist, dass zunehmend die Perspektive professioneller Theatermacher mit Fluchterfahrung auf deutschen Bühnen zu erleben ist. Wie im Fall von Anis Hamdouns »The Trip«. Der syrische Au-

»Zu selten werden geflüchete Theatermacher gefragt, was sie über Flucht und Exil noch erzählen wollen.« AMNESTY JOURNAL | 08-09/2017

Foto: Martin Lengemann / laif

Flucht ins Rampenlicht


Theater im Teutoburger Wald. Anis Hamdoun, Autor und Regisseur aus Homs, Juli 2015.

tor, Regisseur und studierte Chemiker kam Ende 2013 als UNOKontingentflüchtling von Kairo über Istanbul nach Osnabrück. Ein äußerst sympathischer Typ, voller Witz und Ironie, in dessen Gegenwart man sich gleich wohlfühlt. Dabei irritiert zunächst seine grimmige schwarze Augenklappe – sein rechtes Auge verlor er 2012 bei einem Angriff auf Homs, bei dem 300 Menschen verletzt wurden und 150 starben, darunter enge Freunde. In Osnabrück absolvierte er mehrere Praktika am Theater. Zugleich startete er mit einem Freund einen Video-Blog, auf dem er Flüchtlinge mit Tipps zur Wohnungs- und Jobsuche versorgte. Sein Stück »The Trip«, das er 2015 für das Festival »Spieltriebe« mit Osnabrücker Schauspielern inszenierte, übernahm das Theater wegen der großen Publikumsnachfrage ins Repertoire. Darin erzählt Hamdoun von Ramie, seinem Alter Ego, der zusammen mit seinen Freunden in Homs gegen Assads Diktatur demonstriert, als einziger überlebt – und nun, nach der Flucht, an sie erinnert, um seinem Überleben einen Sinn zu geben. Der kurze, intensive Abend ist ein Requiem auf die gescheiterte Revolution und ihre Opfer, kluge Köpfe voller Ideen, der von der Trauer und der Ratlosigkeit des Überlebenden erzählt. In den anschließenden Gesprächen führten die Zuschauer hochemotionale und engagierte Debatten, außerdem gastierte die Inszenierung in Berlin und Frankfurt am Main.

THEATERPROJEKTE

Seitdem hatte in Osnabrück sein gemeinsam mit Regisseur Tuğsal Moğul und Dramaturgin Maria Schneider entwickeltes Stück »Die unbekannte Stadt« Premiere; in Kiel inszenierte er ein Odyssee-Projekt. Dass dies Formate fürs Kindertheater sind, die wieder von Flucht und Integration handeln, zeigt die Grenzen auf, mit denen sich geflüchtete Theatermacher oft konfrontiert sehen – zu selten werden sie danach gefragt, was sie noch erzählen wollen. Anders das Boat People-Projekt in Göttingen. Während große Häuser wie die Münchner Kammerspiele und das Berliner Gorki Theater erst vor Kurzem damit begonnen haben, professionelle Exil-Ensembles aufzubauen, arbeitet die freie Gruppe seit 2009 mit professionellen geflüchteten Künstlern zusammen. Für seine Produktionen sucht das Boat PeopleProjekt in ganz Niedersachsen nach Mitwirkenden, lädt die Künstler zur Mitarbeit ein, produziert ihre Arbeiten. Wie Hamdouns neues Stück »Die Probe«, das er gerade mit Sophie Diesselhorst schreibt und das im September in Göttingen Premiere hat. Wieder reflektiert er eigene Erfahrungen, diesmal mit dem Theater. Es handelt von den Absurditäten, die einer syrischen Regisseurin begegnen, als sie an einem deutschen Stadttheater ein Stück von Bertolt Brecht inszenieren soll. Diese Produktion wird vermutlich keine Leben retten. Aber sie vermittelt eine wichtige Botschaft: dass Ankommen ein langer Prozess ist, den beide Seiten wollen müssen, um davon zu profitieren.

65


Foto: Gordon Welters / laif

Kühler Blick

Nach den Ausschreitungen. Kinder in der Flüchtlingsunterkunft Spreehotel, Bautzen, September 2016.

Distanzierte Beschreibung statt moralischer Belehrung: Jasna Zajcek schreibt in »Kaltland« nüchtern über die Schwierigkeiten, die syrische Flüchtlinge und Deutsche miteinander haben. Von Maik Söhler

A

ls in den Jahren 2015 und 2016 mehr als eine Million Flüchtlinge nach Deutschland kommen, hat Jasna Zajcek damit gleich in mehreren Funktionen zu tun. Zunächst unterstützt sie Geflüchtete privat. Unter den in Berlin Ankommenden ist auch Yahya, ein syrischer Journalist, den die ehemalige Nahostkorrespondentin Zajcek persönlich kennt. Sie hilft ihm und anderen Flüchtlingen bei der Eingewöhnung, mit Übersetzungen und beim Papierkram. Zajcek wird außerdem als Deutschlehrerin angestellt, im »Haus am Wald«, einer Flüchtlingsunterkunft in Tipschitz nahe Bautzen, mitten in Sachsen. Beide Erfahrungen – als Unterstützerin und Deutschlehrerin – werden von ihr journalistisch verarbeitet. Das Ergebnis heißt »Kaltland. Unter Syrern und Deutschen« und ist eine gut 250 Seiten lange Sozialreportage in Buchform. Eine Flüchtlingsunterstützerin und Lehrerin, die das Erlebte aufschreibt? Das wirft die Frage nach Nähe und Distanz auf. Zajcek stellt sich diesem Problem von der ersten Seite an. Sie schildert zwar gelegentlich Szenen in der Ich- und Wir-Form, schafft es aber mit einem nüchtern-analytischem Blick stets, Distanz zum Geschehen zu wahren. Ihr Buch ist kalt, so kalt wie der Winter 2015 in Sachsen, so kalt, dass der Titel »Kaltland« sich nicht nur auf jenen Winter und das Verhältnis von manch einem Deutschen zu manch einem Syrer beziehen lässt, sondern auch auf die schonungslose Beobachtung Zajceks. Die Autorin nimmt Behörden, Schleuser, Deutsche und

66

Flüchtlinge in den Blick und hat viele klare Sätze parat, um konkrete Probleme der »Wir-schaffen-das«-Euphorie zu benennen. Sie konfrontiert die großen Schlepper-Versprechen mit der glanzlosen Realität von Flüchtlingen in Deutschland, erkennt in den vermeintlichen und echten Ängsten der »besorgten Bürger« Rassismus und erfährt, dass nicht jeder Flüchtling bereit ist, die Anstrengungen, die zur Integration gehören, auf sich zu nehmen. In »Kaltland« bekommt fast jeder Kritik ab. Zajcek besucht sächsische Dorffeste, AfD- und Pegida-Veranstaltungen und scheut sich auch nicht, mit den dort Versammelten zu sprechen. Sie bewertet diese Gespräche meist nicht, sondern gibt sie wieder, lässt sie für sich stehen. Ebenso verfährt sie mit ihren Erfahrungen im »Haus am Wald«, dem Flüchtlingswohnheim in Tipschitz. Arabische Männer weigern sich, »Frauenarbeit« zu leisten, die hohen Ansprüche vieler Flüchtlinge gehen mit einer mangelnden Bereitschaft einher, etwas zu unternehmen, um diese Ansprüche auch zu erreichen. Statt Solidarität erlebt Zajcek eine Hackordnung unter den Flüchtlingen – Syrer gegen Afghanen, Männer gegen Frauen, alle gegen die überforderte Bürokratie. Auch hier gilt: distanzierte Beschreibung statt moralischer Belehrung. Aus Zajceks Stärke, Arabisch zu sprechen und sich mit den syrischen Verhältnissen gut auszukennen, resultiert allerdings eine Schwäche des Buches: So vertraut sie sich mit den Syrern im Heim zeigt, so konturlos bleiben alle anderen Flüchtlinge. Sie sind bloße Schemen, Kontur bekommen sie nur, wenn Syrer über sie sprechen und ihnen überwiegend negative Eigenschaften wie Faulheit oder Aggression zusprechen. Nahe dran und manchmal auch knapp daneben: »Kaltland« ist trotz dieses Mankos ein gutes Buch, weil es einen unverstellten Blick auf die Gemengelage erlaubt. Jasna Zajcek: Kaltland. Unter Syrern und Deutschen.  Droemer, München 2017. 256 Seiten, 19,99 Euro.

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2017


Unsichtbarer Zeuge

Knapp entkommen

Kodjo taucht ab. Wenn das klappt, ist erstmal alles gut. Wenn nicht, dann muss Kodjo rennen. Max Annas’ Thriller »Illegal« kreist um einen ohne Papiere in Berlin lebenden Ghanaer, der zufällig Zeuge eines Mordes wird. Bis dahin ist Kodjos Leben ohnehin schon mühselig, denn jeder Polizist und jede Alltagsszene, in der er mit einer zu schnellen oder zu langsamen Bewegung auffallen könnte, bergen das Risiko einer Kontrolle. Und eine Kontrolle kann die Vorstufe einer Abschiebung sein. Der Mord aber verschärft seine Situation. Er ist in der Nähe des Tatorts gesehen worden, die Polizei ermittelt, und der Täter unternimmt alles, um den Zeugen Kodjo loszuwerden. Annas hat einen Thriller geschrieben, der von der ersten Seite an mitreißt. Ein Buch, das einfühlsam und hellsichtig vermittelt, was es heißt, als Schwarzer ohne Papiere und Rechte in Deutschland zu leben, welche Einschränkungen damit einhergehen und wie viel Racial Profiling schon in Routineblicken von Polizisten und U-Bahn-Kontrolleuren liegen kann. »Illegal« ist ein Roman mit hohem Tempo, der dies am Ende noch einmal steigern kann. Für den Protagonisten bedeutet das: Ein ruhiges und sicheres Leben ist anderswo, und für Kodjo wird so ein Leben trotz seiner enormen Qualitäten als Läufer nicht zu erreichen sein. »Illegal« ist in der Welt der literarischen Spannungsliteratur eine außergewöhnliche Nahaufnahme, die unterstreicht: Kein Mensch ist illegal.

Privilegiert. Es ist einfach, dieses Wort Menschen zuzuweisen. Autoren zum Beispiel, die im Rahmen des Writers-in-ExileProgramms des PEN ein Land verlassen können, in dem sie bedroht oder verfolgt werden. Und es stimmt, den 20 Autoren des Sammelbandes »Zuflucht in Deutschland« wurde ermöglicht, was Tausenden anderen nicht möglich ist: einem unerträglichen Zustand mithilfe eines Schriftstellerverbandes zu entkommen. Jeder einzelne Text in diesem Buch aber, jede Analyse, jedes Stück Prosa, jede Zeile Lyrik, setzt das Wort »privilegiert« ins Verhältnis zu diversen Formen von Unterdrückung. Da ist Zobaen Sondhi, ein laizistischer Blogger aus Bangladesch, der nur knapp den Macheten der Islamisten entkommt. Da ist Maynat Kurbanova, eine Journalistin aus Tschetschenien, die über die Zeit vor ihrer Flucht schreibt: »Hauptsache, nicht entspannen, bereit sein, wissen, dass sie wahrscheinlich heute (…) kommen.« Von Vietnam bis Syrien und von der Türkei bis Kuba – Teile der Welt erscheinen beim Lesen als Orte, in denen von Behördenzensur bis zur Morddrohung alles möglich ist. Im Vorwort schreiben die Herausgeber: »Die vom Londoner Büro des PEN halbjährlich erstellte Case-List legt Zeugnis ab von der zunehmenden Zahl von Schriftstellern und Journalisten, die im Gefängnis sind, gefoltert werden, gequält, drangsaliert, oft über Jahre und manche auch über Jahrzehnte.«

Max Annas: Illegal. Rowohlt, Reinbek 2017. 240 Seiten, 19,95 Euro.

Josef Haslinger/Franziska Sperr (Hg.): Zuflucht in Deutschland. Texte verfolgter Autoren. Fischer,  Frankfurt/Main 2017. 288 Seiten, 9,99 Euro.

Das Maß der Erschöpfung

Zu Stein geworden

Wenn Belletristik noch als »schöngeistige Literatur« übersetzt würde, dann wäre Olga Grjasnowas neuer Roman »Gott ist nicht schüchtern« keine Belletristik. Denn schön und geistig ist darin nichts. Amal und Hammoudi, ihre Protagonisten, sind junge Syrer, mit denen es das Leben lange gut meint: Amal ist erfolgreiche Schauspielerin, Hammoudi hat gerade sein Medizinstudium beendet und hofft auf eine Facharztstelle in Paris. Ihre Privilegien und ihr Erfolg aber sind dem syrischen Regime angesichts des ausbrechenden Bürgerkriegs egal, das werden die beiden zu spüren bekommen. Grjasnowa erzählt ihren Roman realistisch. Wie Amals und Hammoudis Versuche scheitern, sich in Damaskus und Deir ez-Zor irgendwie zu arrangieren. Wie die Folgen des Krieges mehr und mehr ins Berufliche und Private übergreifen. Wie Beirut im Libanon und Istanbul in der Türkei zur vorläufigen Ersatzheimat werden. Mit welchen Härten der Traum verbunden ist, nach Europa zu gelangen. Immer wieder zieht Grjasnowa neue Ebenen ein, die klarmachen, dass unser Mitleid beim Lesen nicht den Ärmsten gilt und die Zustände woanders definitiv schlechter sind: »Es ist der Mittelstand, der flieht, die Armen bleiben in den Flüchtlingslagern zurück.« Grjasnowas »Gott ist nicht schüchtern« ist ein wichtiger, weil brutaler Roman, der den Abgrund der Erschöpfung im geschundenen Menschen ausmisst.

In klaren Kinderworten lässt Margriet Ruurs das Mädchen Rama seine Geschichte erzählen. Rama berichtet vom Damals, dem idyllischen Landleben irgendwo in Syrien, über das jäh der Krieg hereinbricht und die Familie zur Flucht zwingt. Vom Jetzt, in dem die Familie ein neues Zuhause gefunden hat und hoffnungsvoll in eine dennoch ungewisse Zukunft blickt. Und vom Dazwischen, der lebensbedrohlichen Flucht: »Wir gingen bis ans Ende der Welt. Vor uns lag das Meer. Voller Hoffnung stiegen wir in ein Boot. … Nicht alle kamen sicher über das Wasser. Wir beteten für die, deren Reise im Meer zu Ende ging.« »Ramas Flucht« ist ein bemerkenswertes, zweisprachiges Bilderbuch, das sich in seiner Ästhetik deutlich vom stetig wachsenden Angebot an Kinderund Jugendliteratur zum Thema Flucht abhebt. Der knappe Text berührt mit seiner unaufdringlichen, einfühlsamen Art ebenso tief wie die eindrucksvollen Bilder – der syrische Bildhauer Nizar Ali Badr hat die Figuren aus Steinen gebildet. Auch die Entstehung des Buches ist besonders: Ein Zufallsfund im Internet bewegte die Autorin, Kontakt zu Nizar Ali Badr aufzunehmen. Wie viele Hürden für die Buchwerdung zu nehmen waren, davon berichtet Ruurs im Nachwort ebenso wie von der Einzigartigkeit und Vergänglichkeit der Steinbilder.

Olga Grjasnowa: Gott ist nicht schüchtern. Aufbau,  Berlin 2017. 309 Seiten, 22 Euro.

Margriet Ruurs, Nizar Ali Badr: Ramas Flucht. Aus dem Englischen von Ulli und Herbert Günther. Arabischer Text von Falah Raheem. Gerstenberg, Hildesheim 2017. 48 Seiten, 12,95 Euro. Ab 5 Jahren.

Bücher: Maik Söhler, Marlene Zöhrer BÜCHER

67


Liebe in Zeiten der Teilung

Syrische Magie

Der junge Sicherheitsbeamte Jeet und die Angestellte Aalia lernen sich 1947 am Hof des britischen Vizekönigs in Indien, Lord Mountbatten, kennen. Die britische Kolonialherrschaft neigt sich zu diesem Zeitpunkt dem Ende zu. In der Folge kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Sikhs, Hindus und Muslimen. Um das Problem kurzerhand loszuwerden, entscheiden die Politiker, das Land zu teilen. Das geht aber nur mit Flucht und Vertreibung. Muslime wie Aalia müssen nach Pakistan gehen, wollen sie ihre Angehörigen jemals wiedersehen. Hindus wie Jeet müssen in Indien bleiben. Das junge Paar ist hin- und hergerissen zwischen der Liebe und den sich überschlagenden politischen Ereignissen. Vor 70 Jahren wurde der indische Subkontinent geteilt, Pakistan von Indien abgetrennt. Regisseurin Gurinder Chadha, deren Familie unmittelbar in die tragischen Ereignisse nach dem Ende des British Empire verstrickt war, zeichnet dies in ihrem äußerst sehenswerten Historienfilm »Der Stern von Indien« nach. Es gelingt ihr, Figuren und politische Konstellationen mit beeindruckenden Schauspielern und einem gelungenen Drehbuch plastisch zu machen. Der Film, der auf der diesjährigen Berlinale seine Weltpremiere erlebte, überzeugt: »Da habe ich endlich mal was kapiert«, war von Besuchern häufig zu hören.

Vor acht Jahren reiste der britische Popstar Damon Albarn nach Damaskus und spielte mit dem Syrischen Nationalorchester für arabische Musik ein paar orientalische Streicherpassagen für das Gorillaz-Album »Plastic Beach« ein. Ein Jahr später, im Jahr 2010, kehrte er mit seiner Band zurück, um in der historischen Zitadelle der syrischen Hauptstadt ein rauschendes Konzert zu geben. Kurz darauf brach in Syrien der Aufstand los, der vom Assad-Regime blutig niedergeschlagen wurde, und das Land versank im Bürgerkrieg. Viele Musiker mussten fliehen und wurden in alle Winde zerstreut: eine Tragödie, die Damon Albarn aus der Entfernung verfolgte. Im vergangenen Jahr gelang es ihm, die geflohenen Musiker des Orchesters aus aller Welt zusammenzutrommeln, um sie im Rahmen seiner »Africa Express«-Reihe in London erstmals wieder auf einer Bühne zu vereinen. Mit Gaststars wie dem Britpop-Veteranen Paul Weller, dem Ngoni-Star Bassekou Kouyaté aus Mali und der mauretanischen Sängerin Noura Mint Seymali gaben sie eine Serie von Konzerten, unter anderem in Glastonbury, Amsterdam und Roskilde. Nun liegen die Aufnahmen dieser außergewöhnlichen Auftritte auf CD vor. Das Orchester um den Dirigenten Issam Rafea interpretiert einige Klassiker der arabischen Musik, und kleidet Popsongs wie »Wild Wood« von Paul Weller und »Out of Time« von Blur mit arabischem Chor, schweren Streichern und sanfter Percussion in ein orientalisches Gewand. Eine Feier der Schönheit und der Magie der Musik des Nahen Ostens und der Levante.

»Der Stern von Indien«. Regie: Gurinder Chadha. GB/IND 2016. Mit Gillian Anderson, Hugh Bonneville.  Kinostart: 10. August 2017

Tagebuch einer Flucht Was ist meine Rolle als Filmemacher – schaue ich den Ereignissen nur zu oder nehme ich aktiv Anteil? Diesen Fragen stellt sich der Regisseur Jakob Preuss in seinem neuen Film, der von den derzeitigen Fluchtbewegungen über das Mittelmeer handelt. Preuss hat den jungen Kameruner Paul Nkamani an der Küste Marokkos in einem provisorischen Flüchtlingslager kennengelernt. Ganz in der Nähe befindet sich die spanische Exklave Melilla, wo Flüchtlinge regelmäßig den meterhohen Grenzzaun stürmen. Nkamani hat sich durch die Sahara bis nach Nordafrika durchgeschlagen. Er sagt: »Die Europäer müssten in Afrika investieren, damit weniger Leute flüchten.« Kurz darauf setzt er mit einem Schlauchboot nach Europa über. Preuss findet ihn in einem spanischen Heim des Roten Kreuzes wieder. Doch Spanien leidet unter der Wirtschaftskrise, und so beschließt Paul Nkamani, weiter nach Deutschland zu ziehen. Der Film behandelt viele Aspekte der Migrationsdebatte und veranschaulicht sie an einem Einzelschicksal: Fluchtursachen, Grenzschutz, Lebensgefahr auf Reisen, bis hin zur Ankunft am vermeintlichen Sehnsuchtsort: einem Aufnahmeheim in Eisenhüttenstadt. In Videoblog-Manier dokumentiert Preuss die Treffen tagebuchartig mit der Kamera. Am Ende quartiert der Filmemacher den Flüchtling bei den eigenen Eltern ein. »Als Paul über das Meer kam« ist eine Geschichte darüber, wie persönlich Migration werden kann, und das Porträt einer ungewissen Zukunft. »Als Paul über das Meer kam«. D 2017. Regie: Jakob Preuss.  Kinostart: 31. August 2017

Africa Express presents: The Orchestra of Syrian Musicians & Guests (Transgressive Records)

Musizieren für Mali Der Film »Mali Blues« war im vergangenen Winter in den deutschen Kinos zu sehen. In seiner Musikdokumentation begleitete der Regisseur Lutz Gregor die Sängerin und Songwriterin Fatoumata Diawara bei der Rückkehr aus Paris nach Mali – in ihr Heimatdorf und zu einem Festivalauftritt am Niger. Der Film zeichnete ein Bild der gegenwärtigen Musikszene in Mali zwischen Rap, Reggae und Griot-Traditionen und ein Gesellschaftsporträt des Landes nach dem Bürgerkrieg von 2012. Erst die französische Armee konnte im Januar 2013 die Dschihadisten zurückschlagen, die zuvor den Norden Malis erobert hatten. Nun liegt der Soundtrack zum Film vor – mit Songs von Fatoumata Diawara, die in ihren Folk-Balladen auf traditionelle Motive zurückgreift und subtile feministische Botschaften einstreut, sowie von Bassekou Kouyaté, dem Revolutionär der Ngoni-Laute. Hinzu kommt der Wüstenblues von Amanar de Kidal, der Band des Tuareg-Musikers Ahmed Ag Kaedi. Er floh vor dem Vormarsch der Islamisten nach Bamako. Der jugendliche Rapper Master Soumy formuliert in »Explique Moi ton Islam« und »Y’en a marre« eine wortgewaltige Anklage gegen Islamisten wie die Untätigkeit der Regierung. Ein hervorragender Einblick in die vielfältige Musikszene Malis – und in das Schaffen von Musikern, die auf ihre Weise um die Einheit ihres Landes ringen. Mali Blues: Soundtrack zum Film (Grünrekorder)

Film: Jürgen Kiontke | Musik: Daniel Bax 68

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2017


Foto: Universal Music

Flucht als musikalisches Motiv. M.I.A. in ihrem Video zu »Borders«.

Musik, die über Grenzen geht Das Thema Flucht zieht sich wie ein roter Faden durch das jüngste Album der Electro-Musikerin M.I.A. Von Daniel Bax

M

it Grenzüberschreitungen kennt sich die britische Elektro-Musikerin M.I.A. aus. »Grenzen? Was ist damit?«, fragt sie im Song »Borders«, der ihr jüngstes, lang erwartetes Album AIM eröffnet. Provokant hinterfragt sie darin das westliche Privileg, sich über die Marke des eigenen Smartphones definieren zu dürfen, während andere ihr Leben riskieren müssen, um an unserem Wohlstand teilhaben zu können. Der Song lässt sich auch als Frage nach den viel beschworenen Werten des Westens lesen. Konkret: Wie viel Wert besitzt das Leben eines Menschen, der an die Tür unserer Wohlstandsgesellschaft klopft? In dem dazugehörigen Video, das lange vorab veröffentlicht wurde, ließ sie eine Armee namenloser junger Männer aufmarschieren, die sich am Strand zu Menschenpyramiden auftürmten und an Gitterzäunen hochkletterten. Die Szenen erinnern nicht zufällig an die Grenzbefestigung von Ceuta und Melilla sowie an die surrealen Bilder von Salvador Dalí. Später sieht man die Sängerin in einer überfüllten Barke auf hoher See, von einer schweigenden Menge junger Männer umringt. Am Ende sind alle in golden glänzende Notfalldecken gehüllt, wie sie den Ankömmlingen in Lesbos und Lampedusa übergeworfen werden. Das Thema Flucht zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Album AIM, das im Herbst 2016 erschienen ist. Es taucht im elegisch pumpenden Track »Freedun« auf, einem Duett mit dem britisch-pakistanischen Ex-Boygroup-Star Zayn Malik, sowie in der eingängigen Dub-Ballade »Foreign Friend«, deren Refrain

FILM

|

MUSIK

von dem jamaikanischen Reggae-Sänger Dexta Daps gesungen wird. Und es spiegelt sich in der kitschigen Nummer »Survivor«, in der M.I.A. ein Loblied auf den Durchhaltewillen von Flüchtlingen singt: »Survivor, survivor / Who said it was easy? / They can never stop we.« Die 42-jährige Maya Arulpragasam, Künstlername M.I.A., ist für plakative politische Statements bekannt und für ihre knallige Fusion aus Elektro-Beats mit Ethno-Einschlag. Als Kind von Flüchtlingen, in London geboren, liegt ihr das Thema nahe. Ihr Vater war in einer militanten tamilischen Gruppe aktiv, und sie selbst kehrte mit neun Jahren mit ihrer Mutter aus Sri Lanka nach London zurück, um der Gewalt auf der Insel zu entfliehen. Mit ihrer Familie kam sie in einem Flüchtlingsheim unter, bevor sie nach ihrem Schulabschluss am Londoner Saint Martins College of Art erst Kunst und Film studierte und anschließend als M.I.A. Weltkarriere machte. Für ihr fünftes Album AIM hat sie sich mit ihrem Ex-Partner Diplo sowie dem Produzenten Blaqstarr zusammengetan, das Ergebnis ist quirlig und ästhetisch überwältigend. Mehr als früher schimmert ein indisch anmutender Bollywood-Sound durch die Beat-Girlanden. Die Stücke sind gewohnt kämpferisch, neben dem Thema Flucht behandeln sie die Grenzkontrollen zwischen den USA und Mexiko (»Visa«) oder die Dauerüberwachung durch Drohnen und GPS-Daten (»Fly Pirate«). Ein Verweis auf das Video zu »Borders«: Dort trug M.I.A. ein Trikot des Fußballclubs Paris Saint-Germain, dessen Sponsoren-Slogan »Fly Emirates« sie zu »Fly Pirates« abgeändert hatte. Ein kalkulierter Eklat: Die Anwälte des Clubs reagierten prompt mit einer Abmahnung, die ihr nur zusätzliche Publicity bescherte. M.I.A.: AIM (Interscope/ Polydor)

69


Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt oder man lässt sie »verschwinden«. AMNESTY INTERNATIONAL veröffentlicht regelmäßig an dieser Stelle drei Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden. Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie bitte eine digitale Kopie an: info@amnesty.de

AMNESTY INTERNATIONAL Zinnowitzer Straße 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 Fax: 030 - 42 02 48 - 488 E-Mail: info@amnesty.de www.amnesty.de Spendenkonto Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE 233 702050 0000 8090100 BIC: BFS WDE 33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00)

70

Foto: B. A. Toregozhina

BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN

KASACHSTAN MAKS BOKAEV UND TALGAT AYAN Maks Bokaev befindet sich seit dem 9. Juni 2017 im Hungerstreik. Er protestiert damit gegen seine Verlegung in eine Strafkolonie in Petropavlovsk und die Weigerung der kasachischen Behörden, ihn und Talgat Ayan in ein Gefängnis in der Nähe von Atyrau zu verlegen, wo ihre Familien leben. Petropavlovsk ist 1.500 Kilometer von Atyrau entfernt, und es gibt weder eine direkte Flug- noch eine Zugverbindung zwischen den beiden Städten. Ende April und Anfang Mai 2016 fanden in ganz Kasachstan Demonstrationen gegen die geplanten Änderungen des Bodengesetzes statt. Im Zusammenhang mit diesen Protesten wurden die beiden Männer aufgrund ihrer Beteiligung an der Organisation friedlicher Demonstrationen und ihrer Veröffentlichungen in sozialen Medien im Februar 2017 zu einer fünfjährigen Haftstrafe verurteilt. Maks Bokaev leidet seit fünf Jahren an Hepatitis C. Nach einer erfolgreichen Behandlung vor zwei Jahren befand er sich auf dem Weg der Besserung, seit seiner Inhaftierung hat sich sein Gesundheitszustand jedoch wieder erheblich verschlechtert. Die Familien von Maks Bokaev und Talgat Ayan sind wegen der Gesundheit und der schlechten Haftbedingungen in großer Sorge. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den kasachischen Präsidenten und dringen Sie darauf, dass Maks Bokaev und Talgat Ayan umgehend und bedingungslos freigelassen werden, da sie gewaltlose politische Gefangene sind. Fordern Sie den Präsidenten auf, zu gewährleisten, dass Maks Bokaev und Talgat Ayan – wie in Kasachstan gesetzlich vorgeschrieben – in ein Gefängnis in der Nähe ihres Wohnortes verlegt werden. Bitten Sie ihn zudem, sicherzustellen, dass Maks Bokaev und Talgat Ayan ungehinderten Zugang zu jedweder benötigten medizinischen Versorgung erhalten. Schreiben Sie in gutem Kasachisch, Englisch oder auf Deutsch an: President Nursultan Nazarbayev Executive Office of the President, Government House 6 Mangilik El avenue, Astana, KASACHSTAN (Anrede: Dear President / Sehr geehrter Herr Präsident) Fax: 007 - 71 72 74 56 31 E-Mail: aprk@akorda.kz Website: http://www.akorda.kz/en Facebook: https://www.facebook.com/AkordaPress Twitter: https://twitter.com/AkordaPress (Standardbrief Luftpost: 0,90 Euro) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Kasachstan S. E. Herrn Bolat Nussupov Nordendstraße 14/17, 13156 Berlin Fax: 030 - 470 07 - 125 E-Mail: info@botschaft-kaz.de (Standardbrief: 0,70 Euro)

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2017


Kalpana Chakma war Koordinatorin der Organisation Hill Women’s Federation, die sich für die Rechte der indigenen Bevölkerung in der Region Chittagong Hill Tracts einsetzt. Sie wurde in den frühen Morgenstunden des 12. Juni 1996 aus dem Haus ihrer Familie im Dorf Lallyagona im Bezirk Rangamati entführt. Die damals 23-Jährige ist seitdem nie mehr gesehen worden. Bei den Entführern soll es sich um Sicherheitskräfte aus dem nahegelegenen Armeestützpunkt Ugalchhari gehandelt haben. Kalpana Chakma wurde gemeinsam mit zwei ihrer Brüder aus dem Haus entführt, man verband ihnen die Augen und fesselte sie. Die Brüder konnten entkommen, obwohl die Sicherheitskräfte auf sie schossen. Nach Einschätzung zivilgesellschaftlicher Gruppen in Bangladesch verschleppen die Behörden die Untersuchung des Falls, um zu verhindern, dass Militärangehörigen Verstöße gegen das Völkerrecht und Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden. Die Brüder von Kalpana Chakma haben in ihrer Anzeige bei der Polizei drei Personen als Verantwortliche benannt: einen Armeeangehörigen und zwei Mitglieder einer paramilitärischen Gruppe. Die Polizei weigerte sich damals jedoch, die Anzeige aufzunehmen. Trotzdem macht die Polizei von Bangladesch einen Mangel an Beweisen geltend und hat bei einem Gericht in Rangamati beantragt, die Ermittlungen am 27. September 2017 einzustellen. Damit würde der Familie von Kalpana Chakma ihr Recht auf Aufklärung des Schicksals der jungen Frau verweigert und die Verantwortlichen für ihr Verschwindenlassen würden straffrei ausgehen. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an die Premierministerin von Bangladesch und bitten Sie sie, eine umfassende und unabhängige Untersuchung des Falls von Kalpana Chakma zu veranlassen. Die Ermittlungen müssen die Befragung der drei Hauptverdächtigen umfassen und sicherstellen, dass die Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden. Alle Fälle von Drohungen, Gewalt, Einschüchterungen, willkürlichen Festnahmen und Verschwindenlassen von Menschenrechtsverteidiger_innen müssen in vollem Umfang untersucht werden. Schreiben Sie in gutem Englisch oder auf Deutsch an: Honourable Prime Minister Sheikh Hasina Old Sangsad Bhaban Bir Uttam Ziaur Rahman Rd Dhaka 1215, BANGLADESCH (Anrede: Your excellency / Exzellenz) Fax: 008 80 - 914 33 77 E-Mail: psecy@pmo.gov.bd (Standardbrief Luftpost: 0,90 Euro) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Volksrepublik Bangladesch S. E. Herrn Imtiaz Ahmed Kaiserin-Augusta-Allee 111, 10553 Berlin Fax: 030 - 39 89 75 10 E-Mail: info.berlin@mofa.gov.bd (Standardbrief: 0,70 Euro)

BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN

Foto: privat

Foto: Ittukgula Chakma

BANGLADESCH KALPANA CHAKMA

BURUNDI ESDRAS NDIKUMANA Der burundische Journalist Esdras Ndikumana wirft Angehörigen des Geheimdienstes (SNR) vor, ihn im August 2015 gefoltert zu haben. Esdras Ndikumana, der für Radio France Internationale und Agence France Presse arbeitet, wurde am 2. August 2015 vom Geheimdienst festgenommen, als er Fotos am Ort des Anschlags machte, bei dem General Adolphe Nshimirimana getötet wurde. Die SNR-Angehörigen ergriffen den Journalisten, warfen ihn auf einen Pick-up und traktierten ihn mit Fäusten. In der Zentrale des Geheimdienstes in Bujumbura wurde er seinen Angaben zufolge zwei Stunden lang gefoltert. Er wurde am selben Tag wieder freigelassen und sagte Amnesty International: »Sie schlugen mich immer wieder, eine lange Zeit, dabei benutzten sie ihre Schlagstöcke und Stahlrohre, sie traten mich, sie schlugen überall hin, einer meiner Finger ist gebrochen, und meine Fußsohlen schmerzen sehr.« Weil er um sein Leben und das seiner Familie fürchtete, verließ Esdras Ndikumana das Land und ging nach Frankreich, wo er einen Asylantrag stellte. Am 13. August 2015 versprach Präsident Pierre Nkurunziza, eine Untersuchung zu veranlassen, die für die Folterung Verantwortlichen strafrechtlich zu verfolgen und nach geltendem Recht zu bestrafen. Doch nichts geschah. Schließlich erstatteten Esdras Ndikumana und seine Arbeitgeber am 19. Oktober 2015 Anzeige gegen Unbekannt. Nach mehreren Monaten bat der Staatsanwalt den Journalisten um die Namen derjenigen, die er der Folter beschuldigte. Bei einer Anzeige gegen Unbekannt können die Ermittlungen aber auch dann eingeleitet werden, wenn keine Namen von Verdächtigen vorliegen. Die Foltervorwürfe sind bis heute nicht aufgeklärt. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an die burundische Justizministerin mit der Bitte, sicherzustellen, dass die von Esdras Ndikumana erhobenen Foltervorwürfe umfassend und unabhängig untersucht werden. Bitten Sie sie außerdem, dafür zu sorgen, dass Esdras Ndikumana eine angemessene Entschädigung erhält. Schreiben Sie in gutem Französisch, Englisch oder auf Deutsch an: Mme Aimée Laurentine Kanyana Ministry of Justice Avenue des Eucalyptus Bujumbura, BURUNDI (Anrede: Dear Minister / Sehr geehrte Frau Ministerin) (Standardbrief Luftpost: 0,90 Euro) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Burundi I. E. Frau Else Nizigama Ntamagiro Berliner Straße 36, 10715 Berlin Fax: 030 - 23 45 67 20 E-Mail: info@burundi-embassy-berlin.com (Standardbrief: 0,70 Euro)

71


BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN – UPDATES IRAN – NARGES MOHAMMADI (AUGUST 2016) Foto: Amnesty

In jedem Amnesty Journal veröffentlichen wir drei Einzelschicksale, verbunden mit dem Appell, einen Brief zu schreiben, um Menschenrechtsverletzungen zu beenden. In regelmäßigen Abständen informieren wir darüber, wie sich die Situation der Betroffenen weiterentwickelt hat. Hier nun neue Informationen zu »Briefen gegen das Vergessen« von Juli 2016 bis Januar 2017.

Der mauretanische Staatsbürger Mohamedou Ould Slahi war seit 2002 im US-Gefangenenlager Guantánamo inhaftiert. Die US-Regierung behauptete, dass er Al-Qaida angehöre, was Slahi abstritt. Er gab an, in Jordanien und auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Bagram in Afghanistan sowie in Guantánamo und während seiner Transporte gefoltert und misshandelt worden zu sein. Im April 2010 hatte ein US-Bundesrichter seine Freilassung angeordnet. Der Richter kam zu dem Schluss, dass Slahis Inhaftierung rechtswidrig war. Die US-Regierung legte jedoch Rechtsmittel gegen die Entscheidung ein, und im November 2010 verwies das US-Berufungsgericht den Fall zurück an das Bezirksgericht. Update: Im Oktober 2016 wurde Mohamedou Ould Slahi nach 14 Jahren Haft ohne Anklage oder Verfahren zurück nach Mauretanien gebracht.

Foto: Amnesty

FRANKREICH – EMILIE DUMONT (AUGUST 2016) Emilie Dumont wurde bei ihrer Geburt das männliche Geschlecht zugewiesen, sie fühlt sich jedoch schon lange als Frau. 2013 begann sie eine Hormonbehandlung und entschied, offen als Frau zu leben. Die französische Regierung verweigerte ihr jedoch die Änderung ihres amtlichen Geschlechts und die damit einhergehende offizielle Anerkennung der von ihr gewünschten Geschlechtsidentität. Dies bedeutete, dass es Jetzt auch offiziell: Emilie Dumont Dumont nicht möglich war, ihr Geschlecht in offiziellen Ausweisdokumenten zu ändern, was zu erheblichen Schwierigkeiten führte, wenn sie beispielsweise ein Paket abholen, einen Scheck unterzeichnen, ins Ausland reisen oder wählen gehen wollte. Obwohl sie zahlreiche gesetzlich vorgeschriebene Nachweise eingereicht sowie Pläne für eine geschlechtsangleichende Operation angegeben hatte, war ihr Antrag im Dezember 2015 abgewiesen worden. Update: Im September 2016 erlaubte ein Berufungsgericht Emilie Dumont die amtliche Änderung ihres Geschlechtseintrags.

72

Fotos: privat

Foto: ICRC

USA – MOHAMEDOU OULD SLAHI (JULI 2016)

Im Mai 2016 verurteilte ein Revolutionsgericht in Teheran die stellvertretende Geschäftsführerin des iranischen Menschenrechtszentrums, Narges Mohammadi, zu 16 Jahren Haft – wegen Gründung einer verbotenen Gruppierung, wegen Versammlung und Verschwörung gegen die nationale Sicherheit sowie wegen Verbreitung von Propaganda gegen das System. Die Justiz warf ihr vor, Verbindungen zu Legam unterhalten zu haben, einer Gruppe, die sich gegen die Todesstrafe im Iran einsetzt. Die Menschenrechtsverteidigerin ist schwer krank und benötigt eine permanente fachärztliche Behandlung, die im Gefängnis nicht möglich ist. Update: Im September 2016 bestätigte ein Gericht die 16jährige Haftstrafe.

LAOS – THONGPASEUTH KEUAKOUN UND SENG-ALOUN PHENGPHANH (OKTOBER 2016) Die beiden früheren studentischen Aktivisten Thongpaseuth Keuakoun und Seng-Aloun Phengphanh sollten in Laos 20-jährige Gefängnisstrafen verbüßen, weil sie 1999 versucht hatten, Transparente aufzuhängen, auf denen sie politische, soziale und wirtschaftliche Reformen gefordert hatten. Die beiden gehörten damals zu 30 Mitgliedern der laotischen Studierendenbewegung für Demokratie, die davon abgehalten wurden, die Poster auszurollen. 2003 wurde bekannt, dass sie wegen Landesverrats zu jeweils zehn Jahren Gefängnis verurteilt worden waren. 2010, als sie hätten freikommen müssen, gaben die Behörden jedoch an, es sei eine 20-jährige Haftstrafe gegen die Männer ergangen. Thongpaseuth Keuakoun und Seng-Aloun Phengphanh wurden im Samkhe-Gefängnis in der laotischen Hauptstadt Vientiane festgehalten. Die Haftbedingungen dort sind schlecht, vor allem wegen mangelnder medizinischer Versorgung und Ernährung. Zudem werden Häftlinge gefoltert und misshandelt. Update: Es hat sich herausgestellt, dass die beiden Männer bereits im März 2016 nach 16 Jahren Haft freigelassen wurden.

PERU – MÁXIMA ACUÑA (NOVEMBER 2016)

Jahrelang führte die Kleinbäuerin Máxima Acuña einen Rechtsstreit mit dem Bergbauunternehmen Minera Yanacocha, das ihr Grundstück in Tragadero Grande in der Provinz Cajamarca für sich beanspruchte. 2011 wurden sie und ihre Tochter von Polizisten bewusstlos geschlagen. Später versuchte die Polizei mehrfach, die Familie gewaltsam zur Räumung des Geländes zu zwingen und zerstörte Teile ihres Hauses. Im Dezember 2014 entschied ein Gericht in Cajamarca, dass sich die Familie nicht der illegalen Besetzung schuldig gemacht habe, wie Minera Yanacocha behauptet. Doch auch danach schikanierten der Sicherheitsdienst des Bergbauunternehmens sowie peruanische Sicherheitskräfte Máxima Acuña immer wieder. Angesichts des

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2017


Foto: Amnesty

Briefe der Freude: Máxima Acuña

zunehmenden Bergbaus in ihrer Region setzt sich Acuña für die Rechte auf Nahrung, Gesundheit und eine saubere Umwelt ein. 2016 erhielt sie für ihr Engagement den renommierten Goldman-Preis, der als »Umwelt-Nobelpreis« gilt. Update: Das Oberste Gericht des Landes hat das Berufungsverfahren gegen Maxima Acuña wegen Landbesetzung im Mai 2017 eingestellt.

USBEKISTAN – MUHAMMAD BEKZHANOV (JANUAR 2017)

Muhammad Bekzhanov war einer der am längsten inhaftierten Journalisten der Welt. 17 Jahre lang saß er im Gefängnis – aufgrund eines unter Folter erzwungenen Geständnisses. Er beschrieb, dass man ihn mit Gummiknüppeln geschlagen und mit Elektroschocks gefoltert habe. Das Gericht wies die Foltervorwürfe zurück. Bis heute sind die Vorwürfe weder untersucht worden noch wurden die Verantwortlichen ermittelt oder zur Rechenschaft gezogen. Bekzhanov sollte im Januar 2017 freigelassen werden, doch im Dezember 2016 verlegte man ihn in eine Strafzelle, weil er angeblich gegen Gefängnisvorschriften verstoßen hatte. Das ist eine in Usbekistan übliche Praxis, um die Haftstrafe von Gefangenen willkürlich zu verlängern. Update: Im Februar 2017 wurde Muhammad Bekzhanov aus der Haft entlassen und konnte zu seiner Familie zurückkehren.

Am 30. Juli 2015 wurde der Journalist Ahmed Abba von der Polizei in Maroua festgenommen, als er über den Konflikt zwischen der kamerunischen Regierung und der bewaffneten Gruppe Boko Haram im Norden des Landes berichtete. Ahmed Abba arbeitete als Korrespondent des Senders Radio France Internationale (RFI). Nach seiner Festnahme wurde er 15 Tage lang auf einer Polizeiwache festgehalten, bevor er dem Geheimdienst in Yaoundé übergeben wurde. Trotz wiederholter Versuche seines Rechtsbeistands, seiner Familie und des Senders RFI, Kontakt mit ihm aufzunehmen, wurde er über drei Monate lang ohne Kontakt zur Außenwelt in geheimer Haft gehalten und gefoltert. Am 29. Februar 2016 erschien Ahmed Abba zum ersten Mal vor dem Militärgericht in Yaoundé. Man warf ihm vor, er sei ein »Komplize der Terroristen« und habe »Terrorismus gerechtfertigt«. Ahmed Abba plädierte auf nicht schuldig. Update: Am 20. April 2017 wurde Ahmed Abba schuldig gesprochen. Er wurde zu zehn Jahren Haft und einer Geldstrafe von umgerechnet 84.000 Euro verurteilt. Sein Anwalt hat gegen das Urteil Rechtsmittel eingelegt.

CHINA – ILHAM TOHTI (DEZEMBER 2016)

Am 23. September 2014 wurde Ilham Tohti in China wegen Separatismus zu lebenslanger Haft verurteilt. Der Professor für Wirtschaftswissenschaften war bekannt für seine Kritik am Umgang der chinesischen Regierung mit der vornehmlich muslimischen uigurischen Minderheit, der er selbst angehört.

BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN – UPDATES

Foto: privat

Foto: Daily Maverick

KAMERUN – AHMED ABBA (DEZEMBER 2016)

In Freiheit: Muhammad Bekzhanov im Februar 2017

73

Foto: privat

Uigurinnen und Uiguren sind regelmäßig Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt und leiden unter Diskriminierung, was Sprache, Religion, Kultur, Bildung und den Zugang zum Arbeitsmarkt angeht. Ilham Tohti warb für einen friedlichen Dialog mit der Mehrheitsgesellschaft und gründete das Internetportal Uighur Online, um über die Situation der Minderheit zu informieren. Die chinesischen Behörden sperrten die Internetseite mehrfach. Vor seiner Verurteilung war Ilham Tohti verschleppt, monatelang ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten und gefoltert worden. Im November 2014 bestätigte das hohe Volksgericht von Xinjiang die lebenslange Haftstrafe gegen ihn, ohne dass seine Rechtsbeistände bei dem Verfahren anwesend waren. Im Dezember 2014 wurde er in das Gefängnis Nr. 1 der Region Xinjiang verlegt. Update: Im Dezember 2016 verabschiedete das EU-Parlament einen Entschließungsantrag zu Menschenrechtsverpflichtungen Chinas, in dem die Freilassung Tohtis gefordert wurde. Seine Haftbedingungen haben sich inzwischen verbessert. Seine Familie darf ihm nun alle drei Monate Geld senden, und seine Frau kann ihn alle drei Monate besuchen.


LIEBE IST KEIN VERBRECHEN Bei der Jahresversammlung der deutschen Amnesty-Sektion in Hannover spielten die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgeschlechtlichen und Intergeschlechtlichen (LGBTI) eine wichtige Rolle.

Fotos: Sarah Eick / Amnesty

Als Lucie Veith 2009 zum ersten Mal mit Amnesty in Kontakt trat, war sie »stinksauer«, weil die Organisation damals keine Position zu Menschenrechtsverletzungen an Intergeschlechtlichen vertrat. Bei der Amnesty-Jahresversammlung am Pfingstwochenende in Hannover stand Veith auf dem Podium während Hunderte Amnesty-Mitglieder und Gäste aus Burundi, Nepal, Ungarn und anderen Teilen der Welt ihrem Bericht über die Erfahrungen intergeschlechtlicher Menschen zuhörten. Stinksauer ist Veith nach wie vor – darüber, dass in Deutschland Kinder weiterhin operiert werden, weil sie nicht in die Kategorien männlich oder weiblich passen und dass ihr selbst ein Teil ihres Körpers geraubt wurde, ohne dass es dafür medizinische Gründe gab. Doch mit Amnesty ist sie ausgesöhnt, denn das Schwerpunktthema des obersten Beschlussgremiums der deutschen Sektion waren in diesem Jahr LGBTIRechte – mit besonderer Betonung auf dem »I«. Zwar steht das Thema bereits seit 2010 auf der AmnestyAgenda, doch erschien erst in diesem Jahr ein Bericht dazu. Zu verdanken ist dies nicht zuletzt dem Engagement der ehrenamtlichen Mitglieder. »Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, das Thema Intersex zu Amnesty zu bringen«, sagte Ben Reichel von der Queer-Amnesty-Gruppe Hamburg im Plenum am Pfingst-

wochenende. »Wir sind 2010 völlig ahnungslos auf die AmnestyJahresversammlung gefahren und haben unser Anliegen vorgebracht. Ihr habt uns damals vertraut und für unseren Antrag gestimmt. Ich bin wirklich froh, dass ich für eine Organisation wirken kann, bei der das höchste Entscheidungsgremium diese Jahresversammlung ist.« Die Jahresversammlung forderte außerdem die Bundesregierung auf, effektive und legale Zugangswege für Asylsuchende zu schaffen und nicht mit Ländern wie Ägypten und Libyen zu kooperieren, um diese Wege zu versperren. Auch bekräftigte die Jahresversammlung die Forderung nach einem Abschiebestopp nach Afghanistan. Eine öffentliche Aktion der Mitglieder und Gäste stand unter dem Motto: Liebe ist kein Verbrechen. Um das zu visualisieren, fanden sie sich am Samstagnachmittag vor der Oper Hannover zusammen und bildeten mit bunten Schildern eine Regenbogenflagge. Im Anschluss rollte der Amnesty-Bus auf der Parade des Christopher Street Day durch Hannover. Zum Abschluss des Treffens stellte sich die erste AmnestyJugendvertretung vor. Deren Sprecherin Marie Wienroeder erklärte, das Gremium diene als »Ansprechpartner« für die jungen Mitglieder und werde die Interessen der Jugend innerhalb der Organisation und nach außen vertreten. Die neue AmnestyGeneration wolle sich an inhaltlichen Debatten beteiligen und sich nicht von Formalien oder erfahreneren Mitgliedern abschrecken lassen, sagte Benedikt Wissing, ebenfalls ein gewählter Vertreter der Jugend.

Unter dem Regenbogen. Hannover, im Juni 2017.

74

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2017


Foto: Sofar

Künstlern ein Zuhause geben. Auf einem Sofar-Konzert in den USA.

BEATS FÜR GEFLÜCHTETE

Anlässlich des Weltflüchtlingstages kündigen Amnesty International und Sofar Sounds eine besondere Konzertreihe an: Künstlerinnen und Künstler werden in etwa 200 Städten weltweit in Privatwohnungen auftreten, um Menschen zusammenzubringen und geflüchtete Menschen willkommen zu heißen. An den Konzerten beteiligen sich unter anderem Gregory Porter, Hot Chip, Jessie Ware, Kate Tempest, The Naked and Famous, The National, Oh Wonder, POLIÇA, Zero 7 und viele andere. Unter dem Motto »Give a Home« spielen sie am 20. September 2017 in mehr als 60 Ländern in privater Atmosphäre vor Neuankömmlingen und Alteingesessenen. »Musik und Kunst waren schon immer mächtige Verbündete im Kampf um Gerechtigkeit, da sie eines gemeinsam haben: die Fähigkeit, uns tief zu bewegen«, sagte Salil Shetty, Generalsekretär von Amnesty International, bei der Ankündigung der Konzertreihe im Juni. »Sie helfen uns, Grenzen zu überwinden und unsere Gemeinsamkeiten zu erkennen.«

Auf der ganzen Welt stellen Musikfans ihre Wohnungen für die Konzerte zur Verfügung. Die Adressen werden erst kurz vor den Auftritten bekannt gegeben. Bei jeder Veranstaltung treten zwei bis drei Künstlerinnen und Künstler auf, Aktivistinnen und Aktivisten sprechen über verschiedene Initiativen zum Thema Flucht und Vertreibung. Amnesty International veranstaltet die Konzertreihe gemeinsam mit der Agentur Sofar Sounds aus London, die auf Konzerte in Privatwohnungen auf der ganzen Welt spezialisiert ist. Tickets gibt es unter www. sofarsounds.com/giveahome. Interessierte können auf der Internetseite die Stadt und das entsprechende Konzert auswählen und haben die Chance, zwei Tickets zu gewinnen. Außerdem gibt es die Möglichkeit, für Amnesty zu spenden. Die gesammelten Mittel werden dafür verwendet, um Menschenrechtsverstöße gegen geflüchtete Menschen zu dokumentieren und Druck auf Regierungen auszuüben, um langfristig tragfähige und international gerechte Lösungen zur Aufnahme von Flüchtlingen zu finden.

HER MIT DEM HEFT!

Sie haben das Amnesty Journal zufällig in die Hände bekommen und Lust auf weitere Ausgaben? Das Journal landet alle zwei Monate bei all jenen im Briefkasten, die die Arbeit von Amnesty International mit mindestens 5 Euro pro Monat oder als Mitglied unterstützen. Mehr Infos unter: www.amnesty.de/foerdererwerden und www.amnesty.de/mitglied-werden

AKTIV FÜR AMNESTY

Durch ganz unterschiedliche Veranstaltungen geben AmnestyMitglieder den Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme. Diese Aktionen vor Ort sind ein unentbehrlicher Teil der Arbeit von Amnesty International. Mehr Informationen darüber finden Sie auf http://blog.amnesty.de und www.amnesty.de/kalender

IMPRESSUM Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V. Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 E-Mail: info@amnesty.de Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redak tion Amnesty Journal Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin E-Mail: journal@amnesty.de  Adressänderungen bitte an:  info@amnesty.de Redaktion: Markus Bickel (V.i.S.d.P.), Jessica Böhner,  Hannah El-Hitami,  Anton Landgraf,  Katrin Schwarz

AKTIV FÜR AMNESTY

Mitarbeit an dieser Ausgabe: Muhamad Abdi, Fatma Abo Alkher, Khalid Alaboud, Ramy al-Asheq, Birgit  Albrecht, Mahdis Amiri, Nabil Barham, Daniel Bax, Markus N. Beeko, Verena Hölzl, Christian Jakob, Georg Kasch, Anas Khebir, Jürgen Kiontke, Michaela Ludwig, Samer Masouh, Kirsten Milhahn, Arndt Peltner, Britta Petersen, Gemma Pörzgen, Noorullah Rahmani, Christa Rahner-Göhring, Wera Reusch, Uta von Schrenk, Maik Söhler, Najem Wali, Stefan Wirner, Marlene Zöhrer Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck und Verlag: Hofmann Druck

Bankverbindung: Amnesty International Bank für Sozialwirtschaft  IBAN: DE23 3702 0500 0008 0901 00 BIC: BFS WDE 33XXX  (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00) Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und  erscheint sechs Mal im Jahr.  Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.

und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, für die  Verbreitung im Internet oder für Vervielfältigungen auf CD-Rom.

ISSN: 2199-4587

Für  unverlangt eingesandte Artikel oder Fotos übernimmt die Redaktion keine Verantwortung. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder. Die  Urheberrechte für Artikel

75


BUNDESTAGSWAHL 2017

JA ZUM FLÜCHTLINGSSCHUTZ. MISCH DICH EIN FÜR MENSCHENRECHTE AMNESTY.DE/EINMISCHEN VIRGINIA, ÜBERSETZERIN


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.