Amnesty Journal: Ausgabe Dezember 2017/Januar 2018

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DAS MAGAZIN FÜR DIE MENSCHENRECHTE

AMNESTY JOURNAL

JETZT ERST RECHT FÜR MENSCHENRECHTE VOR GERICHT ZIEHEN

RAZZIEN UNTERM REGENBOGEN Ägyptens Behörden gehen gegen die LGBTI-Szene vor

#FREETANER Amnesty-Führung in der Türkei angeklagt

POLITPUTZE Irmela Mensah-Schramm entfernt Nazi-Spuckis

12/2017 01/2018 DEZEMBER/ JANUAR


Gerechtigkeit verjährt nicht. In vielen Fällen lassen sich Menschenrechte nur vor Gericht durchsetzen. Der Kampf gegen Folterer, Kriegsverbrecher und transnationale Konzerne braucht einen langen Atem.

INHALT

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TITEL: JETZT ERST RECHT Menschenrechte vor Gericht: Gerechtigkeit verjährt nicht

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Internationaler Strafgerichtshof: Ohne die Mächtigen

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Nadia Murad: Zeugnis ablegen

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Österreich, Schweiz, Deutschland: Alles, was recht ist

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Albert Woodfox: Aufgeben ist keine Option

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City University New York: Die Schule der sozialen Anwälte

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Mexiko: Mama und das Militär

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THEMEN Nordirak: Mohammeds Mission

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Manal al-Sharif: Durchgestartet

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Ägypten: Razzien unterm Regenbogen

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Flucht: Gefangen auf Lesbos

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Kolumbien: Der Frieden hat nicht nur Freunde

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Bolivien: Stadt der brennenden Diebe

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Porträt: Moon Myungjin

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Dranbleiben: Myanmar, Deutschland, Pressefreiheit

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KULTUR Russland: Im Netz der Zensur

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»Kongo-Tribunal«: Blut für die Welt

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Residente: Auf der Tonspur der Erbsubstanz

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Nazi-Spuckis: »Ich bin nicht die Putzfrau der Nation«

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Ghana: Rächer des Rechtsstaats

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»Der Sympathisant«: Kichern über die Apokalypse

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Musik aus Somalia: Geborgene Schätze

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RUBRIKEN Panorama 04 Einsatz mit Erfolg 06 Markus N. Beeko über das Weltrechtsprinzip 07 Spotlight: Syrische Kriegsverbrechen vor Gericht 08 Interview: Mazen Darwish 09 Rezensionen: Bücher 69 Rezensionen: Film & Musik 70 Briefe gegen das Vergessen 72 Aktiv für Amnesty 74 Impressum 75

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Aufgeben ist keine Option. Über Jahrzehnte verhinderten US-Gerichte die Freilassung von Albert Woodfox. Im Gefängnis unterrichtete er sich und andere.

20 Gefangen auf Lesbos. Zwei Jahre nach der Massenflucht über das Mittelmeer landen wieder Tausende an den Ufern der Ägäis-Inseln. Auf den Winter sind die Behörden schlecht vorbereitet.

64 »Ich bin nicht die Putzfrau der Nation«. Wo Irmela Mensah-Schramm Hassparolen sieht, kratzt sie sie weg.

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Zeugnis ablegen. Nadia Murad wurde von Kämpfern des Islamischen Staats verschleppt und versklavt. Heute kämpft die Jesidin dafür, dass die Dschihadisten vor Gericht kommen.

Razzien unterm Regenbogen. In Ägypten geraten Schwule und Lesben zunehmend ins Visier der Polizei. Die Verhaftungswelle wird von einer Hetzkampagne regimenaher Medien begleitet.

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Im Netz der Zensur. In Russland haben die Behörden ein feines Geflecht der Kulturzensur errichtet – schlimmer als zu Sowjetzeiten.

»ICH WILL EINEN FAIREN PROZESS … … und den am besten gleich morgen«, hat Deniz Yücel im November der taz gesagt. »Nicht mehr. Nicht weniger.« Ein Dreivierteljahr saß der deutschtürkische Journalist da bereits ohne Anklage in Haft, die meiste Zeit isoliert im Hochsicherheitsgefängnis Silivri. Dort gefangen gehalten wird seit Monaten auch der türkische AmnestyVorstandsvorsitzende Taner Kılıç, den die Staatsanwaltschaft bezichtigt, einer Terrororganisation anzugehören. Ein unhaltbarer Vorwurf, den vor der türkischen Willkürjustiz zu widerlegen dennoch schwierig werden wird. Ebenfalls angeklagt sind die im Oktober nach 113 Tagen aus der Haft entlassene Amnesty-Direktorin İdil Eser – und neun weitere Menschen, die im Juli gemeinsam mit ihr bei einem Workshop auf der Insel Büyükada vor Istanbul festgenommen worden waren. Zu den »Istanbul 10« zählt auch der deutsche Friedensaktivist Peter Steudtner. »Du kommst bald frei, Peter!« habe Yücel ihm auf dem Weg zu seinen Anwälten in Silivri ermunternd zugerufen, als sie sich auf dem Gefängnishof sahen, berichtete er nach seiner Freilassung dem Spiegel. Das macht Mut. Freigesprochen freilich ist Steudtner damit noch lange nicht, selbst wenn er den Prozess aus Berlin in Abwesenheit verfolgen darf. Wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation drohen ihm und den anderen Angeklagten bis zu 15 Jahre Haft. Dieses Journal widmet sich dem langen Kampf um Gerechtigkeit vor Gerichten weltweit. Besonders bewegend ist die Geschichte von Albert Woodfox, der mehr als vierzig Jahre in Einzelhaft verbrachte, ehe er 2016 endlich freikam – auch dank Amnesty-Unterstützung. Unserem Autor Arndt Peltner erzählte der 70-Jährige in New Orleans, wie er sich im Gefängnis juristische Kenntnisse selbst beibrachte (Seite 20).

Unser Titelbild wurde gezeichnet von Gabriel Holzner. Fotos oben: Gabriel Holzner | Vit Simanek / CTK / AP / pa | Amnesty UK Benno Schwinghammer / dpa / pa | Giorgos Moutafis | Yuri Kozyrev / NOOR / laif Gordon Welters / laif | Foto Editorial: Sarah Eick / Amnesty

INHALT

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EDITORIAL

Zum dritten Mal ist unsere Jahresendnummer in Kooperation mit den Kolleginnen der Amnesty-Magazine in der Schweiz und in Österreich entstanden. Drei Sektionen, ein Ziel: Damit zeigen wir, dass der Kampf um Gerechtigkeit keine Grenzen kennt. Markus Bickel ist Verantwortlicher Redakteur des Amnesty Journals.

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PANORAMA

TÜRKEI: AMNESTY-FUNKTIONÄRE ANGEKLAGT

Wegen Verdachts der Unterstützung oder Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation müssen sich seit Oktober die türkische Amnesty-Direktorin İdil Eser und der Vorstandsvorsitzende Taner Kılıç vor Gericht verantworten. Die Staatsanwaltschaft bezichtigt sie und neun weitere Personen, die im Juli gemeinsam mit Eser bei einem Workshop auf einer Insel vor Istanbul festgenommen wurden, der Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen oder anderen, in den Anklagen nicht näher genannten, Organisationen anzugehören. Den Aktivisten drohen bis zu 15 Jahre Haft. Weltweit haben sich seit der Festnahme der »Istanbul 10« Hunderttausende für ihre Freilassung eingesetzt. Mit Erfolg: Im Oktober ordnete ein Gericht die Haftentlassung der Menschenrechtler an, unter ihnen der deutsche Friedensaktivist Peter Steudtner und der schwedische Schriftsteller Ali Gharavai. Das Verfahren gegen die Beschuldigten läuft jedoch weiter, und Taner Kılıç ist immer noch im Gefängnis. Foto: Henning Schacht / Amnesty

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Zeichnung: Joan X. Vázquez / Amnesty

KUBA: REGIERUNG ENTZIEHT KRITIKERN JOBS

Wer sich kritisch äußert, wird gefeuert. Und das schon bei der beiläufigsten Bemerkung über Missstände im Alltag. Zu diesem Schluss kommt Amnesty International in der Analyse »Your mind is in prison«. Da auf Kuba der öffentliche Dienst fast Dreiviertel aller Arbeitsplätze ausmacht, kontrollieren die Behörden de facto den Zugang zum Arbeitsmarkt. Durch die Kündigungen werden viele Kubanerinnen und Kubaner nicht nur um ihren Lebensunterhalt gebracht, sie finden außerdem »mit sehr großer Wahrscheinlichkeit keine neue Arbeit«, sagt der Kuba-Experte der deutschen Sektion, Horst Zaar. Hinzu kommt die Gefahr, wegen unliebsamer Äußerungen inhaftiert zu werden. Um allen Menschen einen fairen Zugang zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen, müssten die kubanischen Gesetze an die internationalen Menschenrechtsstandards angepasst werden, so Zaar. Dies ist jedoch derzeit nicht zu erwarten. Zwar hat Präsident Raúl Castro angekündigt, im Februar 2018 in den Ruhestand zu gehen. Eine »Wende« aber ließe sich nur durch »einen echten Dialog über eine Stärkung der Menschenrechte« zwischen Vertretern der Weltgemeinschaft und der neuen Führung erzielen.

PANORAMA

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EINSATZ MIT ERFOLG

BESETZTE UKRAINE Zehn Tage Haft – fĂźr friedlichen Protest: Das widerfuhr dem krimtatarischen Aktivisten Server Karametov. Bei einer friedlichen Protestaktion vor dem Obersten Gerichtshof der Krim wurde er im August wegen Widerstands gegen die Polizei festgenommen und zu zehn Tagen Verwaltungshaft verurteilt. Er hatte ein handgeschriebenes Plakat in die HĂśhe gehalten, um gegen die Verfolgung der Krimtataren zu protestieren. Nachdem er seine Strafe verbĂźĂ&#x;t hatte, wurde der an Parkinson leidende 76-Jährige am 19. August aus der Haft entlassen.

USBEKISTAN Erkin Musaev war elf Jahre lang in Usbekistan inhaftiert. Im August wurde er vorzeitig aus der Haft entlassen. Der ehemalige Regierungsbeamte im Verteidigungsministerium arbeitete fĂźr das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen in Usbekistan, als ihn der Geheimdienst 2006 inhaftierte. Ein Jahr später wurde er wegen Spionage angeklagt, gefoltert und nach unfairen Prozessen zu 20 Jahren Haft verurteilt. Tausende Menschen hatten sich beim Amnesty-Briefmarathon fĂźr Erkin Musaev eingesetzt. í˘˛

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MEXIKO Die mexikanischen BehĂśrden haben die SchutzmaĂ&#x;nahmen fĂźr den Sprecher der indigenen Gemeinschaft der YaquĂ­ im Bundesstaat Sonora verstärkt. Am 27. Juni waren Unbekannte auf das Anwesen von Mario Luna Romero eingedrungen und hatten das Auto seiner Frau in Brand gesetzt. Mario Luna Romero hatte sich im Streit um ein Aquädukt fĂźr das Recht auf Wasser und die Kultur der YaquĂ­ eingesetzt. Es war nicht das erste Mal, dass er und seine Frau bedroht wurden. Amnesty und andere Organisationen hatten die BehĂśrden deshalb aufgefordert, den Schutz des Ehepaars zu erhĂśhen.

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ISRAEL Der palästinensische Unterhaltungskßnstler Mohammad Faisal Abu Sakha ist im August aus dem israelischen Gefängnis Ktziot entlassen worden. Dort hatte er mehr als eineinhalb Jahre in Verwaltungshaft verbracht. Diese ermÜglicht es den israelischen BehÜrden, Personen bis zu sechs Monate lang ohne Anklage oder Gerichtsverfahren zu inhaftieren. Die Haftanordnung kann beliebig oft verlängert werden. Mohammad Faisal Abu Sakha war im Dezember 2015 von israelischen Soldaten im besetzten Westjordanland auf dem Weg zu einer Zirkusschule festgenommen worden.

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SUDAN Am 1. Oktober wurde Elgassim Mohamed Seed Ahmed aus dem Gewahrsam des sudanesischen Geheimdienstes NISS entlassen. Im Dezember 2016 war er mit zwei weiteren Aktivisten in Saudi-Arabien festgenommen und in den Sudan abgeschoben worden. Bei ihrer Ankunft nahmen NISS-Mitglieder die drei Männer fest. Elwaleed Imam Hassan Taha und Alaa Aldin Daffalla al-Difana waren bereits im August auf freien FuĂ&#x; gesetzt worden. Die Aktivisten hatten Proteste des zivilen Ungehorsams im Sudan auf Facebook unterstĂźtzt.

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Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen an den ÂťUrgent ActionsÂŤ, den ÂťBriefen gegen das VergessenÂŤ und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz Folter verhindert, die Freilassung Gefangener bewirkt und Menschen vor unfairen Prozessen schĂźtzt, zeigt unsere Weltkarte. Siehe auch: www.amnesty.de/erfolge

EINSATZ MIT ERFOLG

MARKUS N. BEEKO ĂœBER

Foto: Bernd Hartung / Amnesty

CHINA Die chinesischen BehÜrden haben den Kßnstler Peng Heping und den Dichter Wu Mingliang im September aus der Haft entlassen. Beide waren im August wegen des Verdachts auf illegale Geschäfte inhaftiert worden. Vertraute von Wu Mingliang gingen davon aus, dass er wegen seiner Mitwirkung an einem Gedichtband fßr den verstorbenen Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo festgenommen wurde. Peng Heping hatte einen Ausstellungskatalog fßr Wu Mingliang gedruckt.

DAS WELTRECHTSPRINZIP Rattenlinien. So nannten die US-Geheimdienste die Fluchtwege von NS-Tätern nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Routen fĂźhrten Ăźber die Ăśsterreichischen Alpen nach Italien, von dort nach SĂźdamerika oder in arabische Länder. Auf diese Weise entzogen sich viele Täter einer Strafverfolgung. Und blieben unbehelligt, weil die dortigen BehĂśrden nicht willens waren, die schweren Verbrechen zu verfolgen. Auch nach den NĂźrnberger Prozessen konnte die Staatengemeinschaft Kriegsverbrechen und VĂślkermord, wie in Ruanda, Bosnien-Herzegowina oder Syrien, oft nicht verhindern. Seitdem der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag 2002 seine Tore Ăśffnete, mĂźssen Verantwortliche fĂźr Menschenrechtsverletzungen jedoch damit rechnen, zur Rechenschaft gezogen zu werden – auch und gerade, wenn sie sich im Ausland aufhalten. Allerdings blieben die Ankläger bislang allzu oft zahnlose Tiger, weil ein Staat das Gericht nicht anerkannt hat oder die UNVetomächte ein Mandat blockieren. Seit 15 Jahren jedoch erĂśffnet Paragraf 1 des VĂślkerstrafgesetzbuchs, auch als Weltrechtsprinzip bekannt, weitere MĂśglichkeiten der Strafverfolgung – und Deutschland spielt in der Umsetzung eine Vorreiterrolle: Auch wenn die Taten im Ausland verĂźbt wurden, kĂśnnen Verantwortliche fĂźr schwere Menschenrechtsverletzungen hier vor Gericht gestellt werden. Mit Erfolg: 2015 verurteilte das Oberlandesgericht Stuttgart den Präsidenten der Demokratischen Kräfte zur Befreiung Ruandas (FDLR), Ignace Murwanashyaka, und seinen Stellvertreter Straton Musoni zu mehrjährigen Haftstrafen wegen Beihilfe zu Kriegsverbrechen in der Demokratischen Republik Kongo im Jahr 2009. FĂźr die Ahndung der Verbrechen in Syrien ist es dieses Weltrechtsprinzip, was Hoffnung gibt. Nachdem Russland und China im UN-Sicherheitsrat wiederholt die Untersuchung von Kriegsverbrechen durch den Internationalen Strafgerichtshof verhindert hatten, haben in diesem Jahr syrische Menschenrechtsanwälte und FolterĂźberlebende beim Generalbundesanwalt in Deutschland Strafanzeige gegen Verantwortliche des Regimes von Baschar al-Assad gestellt – wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. UnterstĂźtzt werden diese BemĂźhungen vom European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR). Die Ermittlungen sind zwar langwierig und mĂźhsam, aber wichtig: Um den Opfern von Menschenrechtsverletzungen und ihren AngehĂśrigen Gerechtigkeit zukommen zu lassen, um die Verbrechen aufzuklären und um den Tätern das unmissverständliche Signal zu senden, dass sie sich nicht mehr sicher fĂźhlen kĂśnnen, straffrei davonzukommen. Markus N. Beeko ist Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion.

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SPOTLIGHT

Foto: Abdulmonam Eassa / AFP / Getty Images

SYRIEN: KRIEGSVERBRECHEN VOR GERICHT BRINGEN Hunger als Waffe. Bewohner der von Regimeeinheiten belagerten Stadt Saqba östlich von Damakus, November 2017.

Die Liste der mutmaßlichen Kriegsverbrechen ist lang: Für den Einsatz des Nervengases Sarin im April in der Stadt Khan Scheikhoun mit mehr als achtzig Toten war die syrische Armee verantwortlich, stellte die UN-Ermittlungskommission zu Syrien im September in einem Bericht an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen fest. Hinzu kommen mindestens 15 weitere Giftgasattacken, die die Streitkräfte von Präsident Baschar alAssad 2017 durchgeführt haben. Auch für das Aushungern Hunderttausender Menschen in der Region Ghouta östlich von Damaskus trage das Assad-Regime

»Deutschland muss einen Beitrag leisten, damit Folter, Massaker und sexualisierte Gewalt in Syrien juristisch aufgearbeitet werden.« WOLFGANG KALECK, ECCHR-GENERALSEKRETÄR

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die Verantwortung, sagte der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Seid Raad, in Genf. Weil sich der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag aufgrund der Blockade Russlands und Chinas im Sicherheitsrat nicht mit den in Syrien begangenen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit befassen kann, gehen Menschenrechtsanwälte inzwischen juristisch andere Wege: In Deutschland und Schweden laufen auf Grundlage des sogenannten Weltrechtsprinzips Ermittlungen sowohl gegen Regimeangehörige als auch gegen Kämpfer islamistischer

Milizen. Das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) hat gemeinsam mit syrischen Juristen und Folteropfern beim Generalbundesanwalt in Karlsruhe insgesamt vier Strafanzeigen gegen hohe Geheimdienst- und Militärfunktionäre eingereicht. Eine wichtige Rolle bei der Beweiserhebung spielen dabei die sogenannten »Caesar«-Fotografien aus Hafteinrichtungen der syrischen Regierung. Sie zeigen mindestens 6.786 Gefangene, die in der Haft oder nach ihrer Verlegung in ein Militärkrankenhaus starben, sowie Orte, an denen Angriffe verübt wurden.

75.000

MENSCHEN SIND SEIT 2011 IN HAFTEINRICHTUNGEN DES SYRISCHEN REGIMES VERSCHWUNDEN.

53.275

AUFNAHMEN SCHMUGGELTE DER DESERTIERTE MILITÄRFOTOGRAF »CAESAR« 2013 AUSSER LANDES.

Quelle: Syrisches Netzwerk für Menschenrechte

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MAZEN DARWISH

»ES GEHT NICHT UM RACHE« Foto: Monika Skolimowska / dpa / pa

Gemeinsam mit Anwälten des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) hat Mazen Darwish beim Generalbundesanwalt Anzeige gegen syrische Regimeverantwortliche erstattet. Der 1974 geborene Jurist ist Präsident des Syrian Center for Media and Freedom of Expression (SCMF). Von 2012 bis 2015 war er im Adra-Gefängnis am Stadtrand von Damaskus inhaftiert. Interview: Markus Bickel

Sind die Strafanzeigen gegen syrische Geheimdienstoffiziere ein erster Schritt zur Gerechtigkeit? Wir haben von Anfang an davor gewarnt, die Erwartungen zu hoch zu hängen – nicht zuletzt, um Enttäuschung auf Seiten der Opfer zu vermeiden. Der Gang nach Karlsruhe allein bedeutet keine Gerechtigkeit, und er wird auch nicht unbedingt dafür sorgen, dass die Verantwortlichen für Kriegsverbrechen vor Gericht landen. Aber er ist eine von vielen Maßnahmen, die gemeinsam dafür sorgen, dass die Forderung nach Rechenschaftspflicht nicht unter den Tisch fällt. Außerdem würde eine Anklage eine klare Botschaft senden: Straflosigkeit wird nicht hingenommen. Welche Rolle spielen dabei die Fotografien von getöteten Gefangenen, die der syrische Militärfotograf »Caesar« außer Landes schmuggelte? Eine sehr wichtige. Sie zeigen nicht nur das unendliche Leid, das den Opfern seitens des Regimes angetan wurde, sondern machen ein System deutlich, das auf Folter, Mord und Verschwindenlassen basiert. Russland und China verhindern durch ihr Veto im UN-Sicherheitsrat, dass sich der Internationale Strafgerichtshof mit den in Syrien begangenen Verbrechen befasst. Politiker entscheiden immer nach ihren Interessen, das wird sich nicht ändern. Worum es mir geht, ist ein nachhaltiger Frieden in Syrien. Deshalb sind Gerichtsprozesse auch kein Instrument der Rache, sondern unabdingbar, um nach dem Krieg ein gerechteres System aufzubauen. Wir müssen wissen, was passiert ist – und wer dafür verantwortlich ist. Und wir können die syrischen Flüchtlinge in Europa und anderswo nicht auffordern,

SPOTLIGHT

in ein Land ohne Übergangsjustiz zurückzukehren. Eine politische Lösung, die die Kriegstreiber aller Seiten belohnt und die Interessen der Opfer ignoriert, kommt deshalb nicht infrage. Im Sommer haben die Vereinten Nationen eine neue Behörde namens International Impartial and Independant Mechanism (IIM) geschaffen, die unter der früheren französischen Richterin Catherine Marchi-Uhel Kriegsverbrechen nachgehen soll. Reicht das? Das Gute an dem neuen Mechanismus ist, dass er an die UN-Vollversammlung angedockt ist, nicht an den Sicherheitsrat. Das schafft politische Alternativen, die es vielleicht in ein, zwei Jahren ermöglichen, dass die Vereinten Nationen einen neuen Weg einschlagen. So könnte es gelingen, ein UN-Sondertribunal für Syrien zu schaffen. Das Sondertribunal für den Libanon in Den Haag hat zehn Jahre nach seiner Gründung noch keinen für die Ermordung des einstigen Ministerpräsidenten Rafik al-Hariri Verantwortlichen verurteilt. Das stimmt. Aber das Tribunal arbeitet noch, und sollten sich die politischen Verhältnisse eines Tages ändern, lägen alle Dokumente auf dem Tisch, um einen Prozess zu führen. Und dass erstmals überhaupt die Namen der mutmaßlichen Mörder Hariris von einem UN-Gericht genannt werden, ist bereits ein Erfolg. Wird Baschar al-Assad jemals zur Rechenschaft gezogen werden? Eines Tages, ja. Aber noch wichtiger ist es, zu verhindern, dass das von ihm und seinem Vater geschaffene System weiterbestehen kann. Auch dafür sind Gerichtsverfahren dienlich: Sie können zeigen, dass das Regime auf Folter, Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen basiert.

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TITEL

Jetzt erst recht

Illustration: Gabriel Holzner

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Der Kampf um Gerechtigkeit kennt keine Grenzen. Denn obwohl der Gang vor Gericht zerm체rbend f체r Zeugen und Opfer ist, kann er Straft채tern schon lange vor Prozessbeginn schlaflose N채chte bereiten. 11


Gerechtigkeit verjährt nicht In vielen Fällen lassen sich Menschenrechte nur vor Gericht durchsetzen. Doch der juristische Kampf gegen Folterer, Kriegsverbrecher und transnationale Konzerne braucht einen langen Atem. Von Markus Bickel

Die Spielräume für Strippenzieher und Schreibtischtäter werden enger. 12

ten: Repräsentanten repressiver Regime, lokaler Milizen und für Menschenrechtsverletzungen verantwortlicher Konzerne unternehmen alles, um nicht vor Gericht zu landen. Zeugen und Anwälte werden umgebracht, Angehörige von Klägern verleumdet und Journalisten diskreditiert, um ihre Glaubwürdigkeit zu untergraben. Denn kaum etwas schadet der Reputation von Regierungen und dem Profitstreben transnationaler Unternehmen mehr als eine Verurteilung – sei es wegen Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sei es wegen mangelnder Sorgfaltspflicht in Fabriken oder globalen Produktionsketten. Doch die Spielräume skrupelloser Strippenzieher werden enger, rechtlich wie politisch. Seitdem der frühere chilenische Präsident Augusto Pinochet 1998 in London verhaftet wurde, ist klar, dass die Kooperation von Anwälten und Angehörigen der Opfer mit internationalen Polizeibehörden juristisch nicht folgenlos bleiben muss – und Rechenschaftspflicht Straflosigkeit als herrschendes Prinzip zumindest auf lange Sicht untergraben könnte. Gerade weil die Mühlen der Justiz so sprichwörtlich langsam mahlen, braucht es dafür einen langen Atem. Hartnäckigkeit hilft darüber hinaus, Schreibtischtätern und anderen Schurken schon lange vor einem Prozess schlaflose Nächte zu bereiten. Auch deshalb ist das erste von der internationalen Gemeinschaft geschaffene Sondergericht eine Erfolgsgeschichte. 1993 hatte der UN-Sicherheitsrat das Haager Kriegsverbrechertribunal zur Verfolgung der in den jugoslawischen Sezessionskriegen begangenen Straftaten ins Leben gerufen. Von den 161 in Den Haag Angeklagten wurden bis heute mehr als die Hälfte verurteilt – als letzter prominenter Täter im November vermutlich Ratko Mladić, die rechte Hand des 2006 in Haft gestorbenen früheren serbischen Staatschefs Slobodan Milošević. Zu Last gelegt wird Mladić unter anderem der Mord an mehr als 8.000 muslimischen Männern und Jungen in Srebrenica 1995, dem größten Massaker in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Der erste Chefankläger des Haager Tribunals, Richard Goldstone, hatte die Klage gegen den bosnisch-serbischen General nur Wochen nach dem Völkermord eingereicht. Später machte seine Nachfolgerin Carla Del Ponte im Prozess gegen Milošević Foto: Bart Maat / ANP / pa

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eralten wird der Slogan wohl nie. ¡No a la impunidad!, Nein zur Straflosigkeit!, fordern die Mütter der Plaza de Mayo in Buenos Aires noch heute, damit die Verantwortlichen für das Verschwindenlassen ihrer Kinder endlich zur Rechenschaft gezogen werden. Und das, obwohl inzwischen vierzig Jahre vergangen sind, seitdem die Madres im April 1977 das erste Mal mit ihren weißen Kopftüchern im Zentrum der argentinischen Hauptstadt gegen den schmutzigen Krieg der Militärjunta protestierten. Zehntausende fielen diesem zwischen 1976 und 1983 zum Opfer. Der lange Kampf der argentinischen Mütter hat weltweit Zeichen gesetzt. Dass 2010 die UN-Konvention gegen Verschwindenlassen in Kraft trat, ist nicht zuletzt ihrem Einsatz zu verdanken. Bereits fünf Jahre zuvor hatten die obersten Richter in Buenos Aires das sogenannte Schlussstrichgesetz für verfassungswidrig erklärt, weil es Generäle und Anführer von Todesschwadronen auch zwei Jahrzehnte nach Ende der Diktatur vor strafrechtlicher Verfolgung schützte. Hunderte Prozesse sind seitdem ins Rollen gekommen; etliche Begnadigungen, die aufgrund des Amnestiegesetzes und diverser Gnadenerlasse erfolgt waren, wurden aufgehoben. Doch der lange Marsch durch die Instanzen hatte seinen Preis. Die erste Anführerin der Madres, Azucena Villaflor de Vicenti, verschwand noch im ersten Protestjahr. Am 10. Dezember 1977, dem Tag der Menschenrechte, führten Soldaten sie aus ihrer Wohnung ab und entledigten sich ihrer später vermutlich auf einem der berüchtigten Todesflüge über dem Meer, bei denen Oppositionelle aus Militärmaschinen gestoßen wurden. Erst 2005 konnte die Leiche de Vicentis identifiziert werden. Bloß keine Spuren hinterlassen, lautete die Devise der Machthaber um den ersten Junta-Chef General Jorge Rafael Videla. Was für Lateinamerika gilt, gilt auch auf anderen Kontinen-

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Mit langem Atem. Drei der Mütter von Srebrenica in Den Haag, Juli 2014.

Schlagzeilen – ebenso wie bei ihrer Rücktrittserklärung aus der UN-Ermittlerkommission für Syrien ein Jahrzehnt später. Sie könne nicht weiter »nur als Alibi-Ermittlerin« einem Gremium angehören, das »einfach nichts tut«, sagte die Schweizer Juristin bei ihrem Abschied im September. Bereits kurz nach Beginn des Aufstands in Syrien 2011 hatten Del Ponte und ihre Mitstreiter begonnen, Zeugen zu vernehmen, um Beweise für Kriegsverbrechen zu sammeln. Andere Organisationen trugen von Oppositionellen beschlagnahmte Polizeiund Geheimdienstpapiere zusammen, die eine Befehlskette bis hoch zu Präsident Baschar al-Assad belegen. Aber nicht nur für Massaker des Regimes, sondern auch für von dschihadistischen Milizen begangene Untaten ist die Beweislast überwältigend. Fast eine halbe Million Menschen sind in Syrien seit 2011 getötet worden – mehr als neunzig Prozent dem Syrian Network for Human Rights (SNHR) zufolge von Armee-, Polizei- und Geheimdienstangehörigen. Doch die Tötung von Zivilisten ist nicht das einzige Verbrechen, das juristischer Aufarbeitung bedarf: Allein 2017 hat das Regime an mindestens 16 Orten Giftgas eingesetzt, wie die Vereinten Nationen in einem Bericht im September feststellten; die Opfer durch Fassbomben gehen in die Tausende. Amnesty International fordert zudem, die staatlichen Verantwortlichen für Folter und Hinrichtungen im Hochsicherheitsgefängnis Sadnaya zur Rechenschaft zu ziehen.

JETZT ERST RECHT

Weil die UN-Vetomächte Russland und China eine Überstellung dieser Fälle an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag blockieren, lässt sich Straflosigkeit in Syrien derzeit nur mittels des sogenannten Weltrechtsprinzips bekämpfen. Dieses macht es nationalen Staatsanwaltschaften möglich, auch bei im Ausland begangenen Verstößen gegen das Völkerstrafrecht aktiv zu werden. In Deutschland sind auf dieser Grundlage bereits Ermittlungen im Gange: Der Generalbundesanwalt in Karlsruhe prüft derzeit eine Anklage gegen mehrere Generäle sowie weitere Funktionäre des Militärgeheimdienstes Assads. Die Hoffnung, dass führende Vertreter des syrischen Repressionsapparats nicht ungestraft davon kommen, belebt noch ein anderer Fall. So gab die Schweizer Bundesanwaltschaft in Bern im September bekannt, dass sie gegen einen Onkel des Diktators in Damaskus ermittle: Rifaat al-Assad soll an der Ermordung Hunderter Zivilisten in Hama beteiligt gewesen sein. Nicht während dieses Kriegs, sondern bereits 1982, als das Regime von Baschars Vater Hafez al-Assad Proteste der Muslimbruderschaft in der nordsyrischen Stadt brutal niederschlagen ließ. 35 Jahre sind seitdem vergangen, viele Überlebende des Massakers tot. Viel zu viele Jahre lagen auch zwischen dem Putsch Pinochets 1973 und seiner Festnahme 1998 in London. Doch obwohl er bis zu seinem Tod 2006 nicht verurteilt werden konnte, hat sich die Geduld gelohnt.

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Ohne die Mächtigen Mit dem Internationalen Strafgerichtshof schuf die Staatengemeinschaft ein Instrument zur Durchsetzung des Völkerstrafrechts. Dem Gericht blies jedoch von Anfang an heftiger Gegenwind entgegen. Von Andreas Zumach

Werkzeug des Westens? Chefanklägerin Fatou Bensouda vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, Mai 2016.

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Foto: Judith Jockel / laif

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s war einer der bedeutendsten zivilisatorischen Fortschritte seit Ende des Kalten Krieges: Als im August 1998 der Internationale Strafgerichtshof (International Criminal Court, ICC) gegründet wurde, war die Hoffnung groß, dass die Straflosigkeit für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Angriffskrieg ein Ende hat. Das Kriegsverbrechertribunal von Nürnberg hatte diese vier Straftatbestände erstmals definiert. Doch es dauerte noch ein halbes Jahrhundert, ehe mit dem Römischen Statut ein internationales Gericht geschaffen wurde, das auf ähnlichen Grundlagen agiert: 122 UN-Mitgliedsstaaten beschlossen vor 19 Jahren, einen Strafgerichtshof mit weltweiter Zuständigkeit einzurichten. Dieser nahm schließlich 2002 seine Arbeit auf. Möglich wurde dies unter anderem dank jahrelangen Drucks einer globalen Koalition von Nichtregierungsorganisationen, darunter Amnesty International. Der Internationale Strafgerichtshof stand allerdings seit Beginn seiner Arbeit in der Kritik. Zuletzt schien er gar von einer, wie seine Gegner sagen, „Austrittswelle“ erfasst zu werden: Drei afrikanische Staatschefs kündigten 2016 an, aussteigen zu wollen: Burundis Präsident Pierre Nkurunziza, Jacob Zuma an der Spitze Südafrikas und der Anfang dieses Jahres nach verlorener Wahl aus dem Amt gedrängte autoritäre Herrscher Gambias, Yahya Jammeh. Die Union der Afrikanischen Staaten prüft gar einen kollektiven Austritt ihrer Mitglieder. Die Begründung: Der Gerichtshof sei „ein Werkzeug des Westens“, das „allein gegen afrikanische Regierungen“ eingesetzt werde. Burundi reagierte mit dem Ausstieg offensichtlich auf das von Chefanklägerin Fatou Bensouda 2016 eingeleitete Verfahren wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das im Oktober 2017 eröffnet wurde. Gambia, wo Bensouda einst Justizministerin war, muss ebenfalls mit Ermittlungen des Strafgerichtshofs rechnen. Dessen Richter „widmen sich der Verfolgung und Erniedrigung dunkelhäutiger Menschen“, hatte Gambias Präsident Jammeh geschimpft, ehe er im Dezember 2016 abgewählt wurde. Allerdings hat sein Nachfolger Adama Barrow im Februar 2017 bekannt gegeben, den Austritt nicht zu vollziehen. Auch aus Südafrika gibt es ermutigende Zeichen: Hier hat das Oberste Gericht den von Zuma erklärten Rückzug inzwischen als verfassungswidrig eingestuft, weil das Staatsoberhaupt das Parlament nicht konsultiert hatte. Auch in der Afrikanischen Union wird dem Strafgerichtshof immer wieder rassistisches und imperialistisches Handeln unterstellt. Doch nur auf den ersten Blick scheinen diese Vorwürfe berechtigt. Zwar stammen alle acht bislang Verurteilten aus Afrika. Und neun der derzeit laufenden zehn Untersuchungsverfahren betreffen afrikanische Staaten. Für diese statistische Häufung gibt es allerdings einen Grund: Auf dem afrikanischen Kontinent gibt es die allermeisten Bürgerkriege weltweit und andere gewalttätige Konflikte – und damit werden dort auch die Verbrechen am häufigsten verübt, für die der Strafgerichtshof zuständig ist. Hinzu kommt, dass fast die Hälfte der Untersuchungsverfahren von den Regierungen der betroffenen afrikanischen Staaten selbst beantragt wurden: Mali, Uganda, Demokratische Republik Kongo und Zentralafrikanische Republik. Der Grund: Die nationalen Gerichte wären zu eigenen Verfahren nicht in der Lage gewesen. Zwei weitere Verfahren gegen Tatverdächtige in Libyen und im Sudan wurden dem Strafgerichtshof vom UN-Sicherheitsrat übertragen. Zudem führt das Gericht derzeit in einer Vielzahl von Regionen außerhalb Afrikas Vorermittlungen

JETZT ERST RECHT

durch, die ebenfalls zu Anklagen führen können – unter anderem in Afghanistan, wo mutmaßliche Verbrechen von US-Soldaten untersucht werden. Das größte Manko des Strafgerichtshofs ist, dass die größten und bevölkerungsreichsten Staaten der Erde nicht zu den Mitgliedern zählen – weder Russland und China noch Indien und die USA. Das hat die Hoffnungen auf ein Ende der Straflosigkeit von Verbrechen gegen die Menschlichkeit von Anfang an getrübt und die Erwartungen an das Gericht gesenkt. Ohne den Beitritt der Schwergewichte kann der Strafgerichtshof die Erwartung kaum erfüllen, schwerste internationale Verbrechen zu ahnden. Dieses Defizit ist allerdings keine Besonderheit des Haager Gerichts, sondern liegt in der Natur des Völkerrechts. Es beruht auf Vereinbarungen zwischen Nationalstaaten und ist damit immer politisch. Doch so wünschenswert es wäre, dass sich auch US-Soldaten oder der frühere Präsident George Bush wegen mutmaßlicher Verbrechen im Irakkrieg 2003 juristisch verantworten müssten: Dass diese Verfahren nicht stattfinden, ist kein Argument gegen die Existenz des Gerichtshofs. Selektive Gerechtigkeit ist immer noch besser als überhaupt keine Gerechtigkeit. Dass der Strafgerichtshof durchaus Großmächte beindrucken kann, zeigt die Erklärung des russischen Präsidenten Wladimir Putin vom Oktober 2016 zum Rückzug seines Landes aus dem Gerichtshof wegen dessen angeblich „mangelnder Effizienz“. Von einem tatsächlichen Rückzug konnte allerdings keine Rede sein, denn Moskau hatte das Statut zwar unterschrieben, aber ähnlich wie die USA nie ratifiziert. Auslöser für Putins Rückzugserklärung waren ganz offensichtlich Voruntersuchungen zu mutmaßlichen russischen Verbrechen auf der Krim, in der Ostukraine und während des Georgienkonflikts 2008. Eine weitere Kritik entzündet sich an der langen Dauer der Verfahren. Bis zum ersten Schuldspruch – der Verurteilung des ehemaligen kongolesischen Milizenführers Thomas Lubanga 2012 – vergingen zehn Jahre. Grund dafür ist zum einen der erhebliche Aufwand bei der Verfolgung völkerstrafrechtlicher Verbrechen: Schon die Beweisfindung in fernen Krisenregionen stellt die Ermittler vor gewaltige Herausforderungen. Im Verfahren müssen sämtliche Dokumente und Zeugenaussagen in verschiedene Sprachen übersetzt und auch die Opfer in den Strafprozess integriert werden. Soll das Gericht keine unseriösen Schnellschüsse produzieren, sondern gründlich und unter Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze arbeiten, lassen sich Verzögerungen nicht vermeiden. Hinzu kommt ein zweiter Grund: Viele Mitgliedsstaaten haben dem Strafgerichtshof bis heute nicht die dringend benötigten finanziellen, personellen und logistischen Ressourcen zur Verfügung gestellt. Es ist daher wichtig, dass die Zivilgesellschaften weiterhin Druck auf ihre Regierungen ausüben, damit dem Gericht der Rücken gestärkt wird.

Selektive Gerechtigkeit ist immer noch besser als überhaupt keine Gerechtigkeit. 15


Zeugnis ablegen S

ie hat die Hölle überlebt. Sie wurde von den Kämpfern des Islamischen Staats (IS) verschleppt, versklavt und vergewaltigt – oft mehrmals täglich. Doch Nadia Murad hat dies nicht gebrochen. Seit sie aus der Gefangenschaft fliehen konnte, engagiert sich die 24-jährige, zerbrechlich wirkende Jesidin unermüdlich für die Freilassung der Frauen, die weiterhin in den Händen des IS sind. Und sie will die Täter vor Gericht bringen. Seit September 2016 wird Nadia Murad in ihrem juristischen Kampf von der prominenten Anwältin Amal Clooney unterstützt, was dem Anliegen der beiden mehr Gehör verschafft. Die Frauen wurden wegen ihres Engagements auch schon von IS-Anhängern bedroht. Dennoch arbeiten Murad und Clooney weiter darauf hin, dass eine internationale Ermittlung zu den Verbrechen des IS gestartet werden kann, damit genügend Beweismaterial gesammelt und an den Internationalen Strafgerichtshof geschickt wird. Zeuginnen und Zeugen müssten befragt, Massengräber gesucht und geöffnet werden. Da weder der Irak noch Syrien das Römische Statut unterschrieben haben, könnte das Gericht in Den Haag nur mit einem Auftrag des UN-Sicherheitsrats Untersuchungen beginnen. Doch lange passierte von dieser Seite her nichts. Murad und Clooney lobbyierten weiter, reisten von Staatschef zu Premierministerin. Es gelang ihnen, die britische Regierung ins Boot zu holen. Diese drängte darauf, dass die irakische Regierung selbst um eine internationale Untersuchungskommission ersucht. Schließlich lenkte Bagdad ein und bat um internationale Hilfe für die notwendigen Untersuchungen. Bis dahin war es ein langer Weg. Im Dezember 2015, nur ein Jahr nach ihrer Flucht aus der Gefangenschaft, trat die junge Jesidin erstmals vor den UN-Sicherheitsrat und erzählte von ihrem Leidensweg. Wie mit dem Hissen der schwarzen Flagge des IS auf den Häusern der irakischen Stadt Sindschar und der umliegenden Dörfer im August 2014 das große Morden begann. Wie ihr Dorf Kocho überfallen, ihre Mutter, sechs Brüder und weitere Familienmitglieder getötet wurden. Sie musste zusehen, wie andere Jungen – darunter ihre Neffen – entführt wurden, um zu Kindersoldaten für den IS gemacht zu werden. Die Dschihadisten verschleppten Nadia Murad gemeinsam mit 150 weiteren Mädchen und Frauen. Drei Monate lang wurde sie sexuell missbraucht, nach einem Fluchtversuch bestraft, gefoltert. Sie erzählt, wie sie schließlich mithilfe einer muslimischen Familie fliehen konnte, in ein Flüchtlingslager gelangte und dank eines baden-württembergischen Schutzprogramms gemeinsam mit einer ihrer Schwester nach Deutschland kam. Dort hätte ein neues Leben beginnen sollen, in Sicherheit – begleitet von Therapien, um das Geschehene zu verarbeiten. Doch Nadia Murad entschied sich für einen anderen Weg: Sie

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wollte Zeugnis ablegen. Seither hat Nadia Murad ihre Geschichte Dutzende Male erzählt. Mithilfe der Nichtregierungsorganisation Yazda, die sich für überlebende Jesiden und die Rechte dieser Minderheit einsetzt, reist sie von Land zu Land, von Staatsoberhaupt zu Staatsoberhaupt. Ihre große Angst sei es, so Nadia Murad, »dass die IS-Kämpfer, wenn die Miliz einmal besiegt ist, einfach ihre Bärte abrasieren und durch die Straßen der Städte gehen, als sei nichts gewesen«. Das sagte sie im September 2016 in ihrer Dankesrede, als sie von Generalsekretär Ban Ki-moon zur ersten UN-Sonderbotschafterin für die Würde der Überlebenden von Menschenhandel ernannt wurde. Kurz darauf erhielt sie den Václav-HavelMenschenrechtspreis und den Sacharow-Preis; auch für den Friedensnobelpreis war sie 2017 nominiert. Immer wieder spricht Murad detailliert über das Erlebte und die Schandtaten, die sie mit ansehen musste, obwohl es ihr sichtlich schwerfällt. Sie macht es, obwohl in ihrer Kultur das Erlebte mit Tabus und Scham belegt ist. Aber sie will der Welt erzählen, was den Frauen angetan wurde. Berichten über den Völkermord, der an ihrem Volk begangen wurde. Sie will, dass das Morden aufhört und gesühnt wird. Nadia Murad ist überzeugt, dass möglichst viele Jesidinnen und Jesiden von den erlebten Gräueln sprechen sollten, damit die Welt davon Kenntnis nimmt. Dem IS ging es bei der Verschleppung und Versklavung von rund 5.000 jesidischen Frauen und Mädchen nie nur darum, die Kämpfer mit den »Trophäen des Sieges« zu belohnen, so Murad. Dieser Völkermord hatte im August 2014 mit der Eroberung der Stadt Sindschar durch den IS im Irak begonnen. Tausende Jesiden und Jesidinnen wurden damals getötet. Die Anhänger dieser uralten, monotheistischen Religion werden vom IS als ungläubige Teufelsanbeter angesehen. Die Führer der Dschihadisten machten denn auch aus ihrer Absicht, die Jesiden ausrotten zu wollen, nie einen Hehl. Aber auch drei Jahre nach dem Mord an den Jesidinnen und Jesiden im Sindschar-Gebirge ist das Grauen noch nicht vorbei. Tausende Männer und Jungen werden weiter vermisst, bis zur Rückeroberung Raqqas und Mossuls im Sommer befanden sich mehr als 3.000 Frauen in den Händen der Terrororganisation. Trotz der Verpflichtung der Weltgemeinschaft, solche Taten zu verhindern, werde der Genozid praktisch nicht thematisiert, kritisiert die UN-Ermittlungskommission für Syrien. Ende September dann der erste große Erfolg der beiden unermüdlich arbeitenden Frauen: Die 15 Mitglieder des UN-Sicherheitsrats nahmen einstimmig die von Großbritannien eingebrachte Resolution 2379 an, die eine Untersuchung der Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verlangt, die vom Islamischen Staat begangen worden sind – darunter auch diejenigen an den Jesidinnen und Jesiden.

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Foto: Vit Simanek / CTK / AP / pa

Nadia Murad wurde von Kämpfern des Islamischen Staats verschleppt und versklavt. Heute kämpft die Jesidin dafür, dass die Dschihadisten vor den Internationalen Strafgerichtshof gestellt werden. Von Manuela Reimann Graf


Anklägerin. Nadia Murad im Oktober 2016 in Prag.

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Alles, was recht ist In Österreich, der Schweiz und Deutschland werden Menschenrechte immer wieder per Gesetz oder Volksinitiative ausgehebelt. Dagegen gibt es Protest – auch vor Gericht. Amnesty-Expertinnen aus Wien, Bern und Berlin kommentieren aktuelle Fälle.

Verhüllen verboten Haben Sie schon über die nächste Mottoparty nachgedacht? Vielleicht möchten Sie ja als Einhorn verkleidet dorthin kommen? Tja, Pech gehabt: Seit Oktober gelten in Österreich staatliche Bekleidungsvorschriften. Kleidungsstücke, die das Gesicht verhüllen, müssen Sie ab sofort zu Hause lassen. Ansonsten riskieren Sie eine Geldstrafe von 150 Euro. Der Gesetzgeber versteht leider keinen Spaß. In Österreich gibt es mehr und mehr Versuche, hart erworbene Grundrechte einzuschränken. Was für Unruhe sorgt, wird ausgenutzt, um Ängste zu schüren und populistische Anlassgesetze zu verabschieden – wie das Anti-Gesichtsverhüllungsgesetz, auch bekannt als Burkaverbot. Ursprünglich war es dazu gedacht, eine sehr überschaubare Anzahl an Burkaträgerinnen aus dem öffentlichen Raum zu verbannen. Amnesty International Österreich hat sich von Anfang an klar gegen die Regelung ausgesprochen. Natürlich muss sich der Staat für Frauen einsetzen, damit sie Kleidungsstücke wie die Burka nicht gegen ihren Willen tragen. Genau diese Frauen zu bestrafen, ist jedoch unsinnig.

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Das Gesetz drängt sie noch mehr in die Isolation. Außerdem verletzt es das Menschenrecht auf Meinungsfreiheit und Privatleben. Die Reaktionen auf unsere Stellungnahme waren teilweise heftig. »Die da« – also die anderen – sollen sich gefälligst anpassen; der Ruf »Wo sind unsere Rechte?« gehörte noch zu den sanftesten Kommentaren. Doch als das Gesetz in Kraft trat, verstummten plötzlich seine Befürworterinnen und Befürworter: Die gesetzeskonforme Anwendung des Burkaverbots führt dazu, dass nicht nur Burkaträgerinnen Geldstrafen und Anzeigen riskieren, sondern auch Menschen in Einhornkostümen oder frierende Jogger, die den Schal vor den Mund ziehen. Das Burkaverbot mag absurde Schlagzeilen produzieren. Doch der Hintergrund ist ernst: Ähnliche Grundlagen, die unser Privatleben (und nicht nur jenes »der anderen«) einschränken, gibt es in zahlreichen anderen Gesetzen wie im Versammlungsrecht oder beim Überwachungspaket. Sie betreffen letztendlich nicht einfach nur »die anderen«, sondern uns alle. Deshalb ist es wichtiger denn je, gemeinsam für unsere Menschenrechte einzustehen. Annemarie Schlack, Geschäftsführerin Amnesty International Österreich

Schweizer Recht vor Völkerrecht Ausgerechnet aus der Schweiz kommt einer der radikalsten Angriffe auf den europäischen Menschenrechtsschutz, der nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet wurde, um Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte zu fördern. Die Schweizer Volkspartei (SVP) verlangt mit ihrer Volksinitiative »Schweizer Recht statt fremde Richter«, dass ein Vorrang des Landesrechts über dem Völkerrecht in der Verfassung verankert wird. Was harmlos klingen mag, wäre in der Tat fatal. Bei einer Annahme müsste die Schweiz über kurz oder lang aus der Europäischen Menschenrechtskonvention und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte austreten, weil sie im Konfliktfall weder die Konvention noch die Urteile des Gerichtshofes anwenden könnte. Schon heute sendet der Vorstoß

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ein gefährliches Signal an Staaten wie Russland oder die Türkei – sie verabscheuen die Konvention, weil sie häufig für Verletzungen verurteilt werden. Voraussichtlich in einem Jahr werden die Stimmberechtigten über die Initiative abstimmen. In Zeiten, in denen ein Teil der Bevölkerung die Menschenrechte vor allem als Privileg von Flüchtlingen und Kriminellen sieht, in Zeiten populistischer Bewegungen gegen »Fremde« und »Eliten« ist es nicht ausgeschlossen, dass die Initiative gegen »fremde Richter« eine Mehrheit findet. Die SVP, die stärkste Partei im Land, hat Abstimmungen über ihre Initiativen – etwa für ein Minarettverbot – immer wieder mit knapper Mehrheit gewonnen. Nur geht es diesmal nicht um einen problematischen EinThema-Vorstoß, sondern um einen frontalen Angriff auf das Rechtssystem und die Beziehungen der Schweiz zum Ausland. Die Initiative hat nicht nur das Potenzial, den Menschenrechtsschutz in der Schweiz auszuhebeln, sondern auch Politik und Recht nachhaltig durcheinanderzuwirbeln. Der Anarcho-Slogan der 1980er Jahre ist heute zum Motto der rechtsnationalen Volkspartei geworden: »Macht aus dem Staat Gurkensalat!« Patrick Walder, Kampagnenkoordinator Amnesty International Schweiz

Vom Staat durchleuchtet Amnesty zieht vor Gericht: 2016 hat die deutsche Sektion von Amnesty International eine Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingereicht. Der Grund: Das sogenannte G10-Gesetz erlaubt dem Bundesnachrichtendienst (BND) die anlasslose Massenüberwachung von Auslandsgesprächen, E-Mails oder Chats. Amnesty International fordert, dass Überwachung nur zielgerichtet aufgrund eines Verdachtes erfolgen darf, da sie sonst das Menschenrecht auf Privatsphäre verletzt. Privatsphäre ist die Grundlage dafür, weitere Menschenrechte in Anspruch zu nehmen und sich gesellschaftlich zu engagieren. Wer Angst hat, überwacht zu werden, sagt weniger frei seine Meinung. Amnesty befürchtet, dass unkontrollierte Überwachung auch den Kampf für die Menschenrechte gefährdet. Denn

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wenn ein Opfer von Menschenrechtsverletzungen befürchten muss, dass Geheimdienste heimlich mitlesen oder mithören, wendet es sich vielleicht nicht mehr vertrauensvoll an Menschenrechtsorganisationen. Es ist ein trauriger Trend: Immer mehr Gesetze untergraben die Freiheitsrechte. Immer öfter werden sie ohne ausreichende Debatte in Nacht-und-Nebel-Aktionen verabschiedet. Kritikerinnen und Kritikern bleibt nur der Gang nach Karlsruhe. Ob es um die Vorratsdatenspeicherung für Kommunikationsdaten aller Menschen in Deutschland geht, um die staatlich eingesetzte Überwachungssoftware (»Bundestrojaner«), um erlaubte Massenüberwachung im BND-Gesetz oder eben um das G10-Gesetz: In allen Fällen sind Klagen der Zivilgesellschaft vor dem Bundesverfassungsgericht angekündigt oder anhängig. Diese Entwicklung ist gefährlich, denn die politische Debatte gehört ins Parlament. Der Gang zum Gericht darf nicht zu einem von der Regierung einkalkulierten Standardprozedere werden, frei nach dem Motto: Wir beschließen zuerst Gesetze und lassen sie dann von anderen auf ihre Rechtmäßigkeit prüfen. Denn das zeigt nicht nur mangelnden Respekt vor den Menschenrechten. Es untergräbt auch die Demokratie. Lena Rohrbach, Referentin für Menschenrechte im digitalen Zeitalter Amnesty International Deutschland

Illustrationen: Gabriel Holzner

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Aufgeben ist keine Option Über Jahrzehnte verhinderten US-Gerichte die Freilassung von Albert Woodfox. Der schwarze Black Panther-Kämpfer brachte sich deshalb in Einzelhaft selbst juristische Kenntnisse bei. Von Arndt Peltner, New Orleans. Mit Zeichnungen von Bruno und David Cénou

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lbert Woodfox sitzt auf der überdachten Terrasse seines Hauses in einem Randbezirk von New Orleans. Es ist ein sonniger Morgen, die Luft angenehm kühl. Weil sich in seinem karg eingerichteten Haus ein großer, lauter Ventilator dreht, sind wir nach draußen gegangen, hier ist es ruhiger. »Jemand hat mich einmal gefragt, was ich in meinem Leben ändern würde, wenn ich es könnte«, sagt Woodfox. »Ich habe kurz darüber nachgedacht und dann geantwortet: nichts.« Bis auf eine Uhr und eine Fahne mit dem Symbol der linken militanten Black Panther-Partei, der er sich 1971 mit 23 Jahren anschloss, sind die Wände des kleinen Hauses kahl. Nur ein Bild, das ihn gemeinsam mit seinen Freunden Robert King und Herman Wallace zeigt, erinnert an die inhaftierten Genossen, die als »Angola 3« bekannt wurden. Jahrzehntelang kämpften sie für ihre Unschuld und ihre Freiheit: Robert King konnte 2001 das Gefängnis verlassen, Herman Wallace verstarb 2013, nur drei Tage nach seiner Haftentlassung an Krebs, und Woodfox kam schließlich an seinem 69. Geburtstag im Februar 2016 auf freien Fuß. Dreimal hatten Berufungsgerichte in den Jahrzehnten zuvor die Aufhebung seiner lebenslangen Haftstrafen gekippt. Insgesamt beläuft sich der Zeitraum, den die drei schwarzen US-Amerikaner in Einzelhaft verbrachten, auf mehr als hundert Jahre – die meisten davon im Staatsgefängnis von Louisiana State. Die Hochsicherheitseinrichtung wird wegen der angolanischen Sklaven, die vor der Inbetriebnahme 1901 hier auf Plantagen arbeiteten, auch als »Angola Prison« bezeichnet. Als die »Angola 3« 1971 unabhängig voneinander wegen bewaffneter Raubüberfälle verurteilt wurden, galt es als das gefährlichste und gewaltsamste Gefängnis der USA: Vergewaltigungen von Häftlingen waren an der Tagesordnung, 17-stündige Arbeitstage bei einem Stundenlohn von wenig mehr als zwei Cent die Regel. Und alle Wärter waren weiß.

»Wenn man sich zurückzieht, kann man keine Führungsfigur sein.« Albert Woodfox JETZT ERST RECHT

Als 1972 der junge Strafvollzugsbeamte Brent Miller in einem Schlafsaal des Gefängnisses erstochen wurde, machte man Woodfox und Wallace für den Mord verantwortlich – obwohl keinerlei Beweise vorlagen, DNA-Spuren nicht beachtet wurden und sich die Staatsanwaltschaft ausschließlich auf die Aussagen eines fragwürdigen Augenzeugen berief. In zwei Verfahren, bei denen die Jurys ausschließlich aus Weißen bestanden, wurden Woodfox und Wallace zu lebenslanger Haft verurteilt. Fünf Jahre verbrachten sie anschließend im Hochsicherheitstrakt von »Angola Prison«, dem berüchtigten »Dungeon«: 23 Stunden am Tag eingepfercht in Zellen, die nur sechs Quadratmeter groß waren.

Wandel durch Anpassung »Was ich in der Einzelhaft erlebt habe, hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin«, sagt Albert Woodfox mit fragiler Stimme. Seit Wochen kämpft der 70-Jährige mit einer Erkältung, immer wieder schiebt er sich Hustenbonbons in den Mund. »Ich würde nicht versuchen, daran etwas zu ändern. Auch wenn mir zwei Drittel meines Lebens genommen wurden.« Bereitwillig beantwortet Woodfox die Fragen des Reporters, auch wenn er sie so oder ähnlich schon oft gehört hat. Er liebe es, mit sich allein zu sein, sagt er. »Aber aus der Notwendigkeit heraus wurde ich extrovertiert, denn man kann keine Führungsfigur sein und seine Erfahrungen weitergeben, wenn man sich zurückzieht.« Woodfox redet mit ruhiger Stimme, in breitem Südstaatenakzent. Sich zu wandeln und anzupassen, hat er in seinen knapp 44 Jahren im Gefängnis gelernt. Als er 1972 gemeinsam mit Wallace und King die erste Gefängnisgruppe der Black Panther gründete, setzten sie noch auf direkte »physische Konfrontation«, wie er es nennt. Gemeinsam mit anderen Häftlingen bildeten sie Anti-Vergewaltungseinheiten, um Neuankömmlinge vor Übergriffen durch die Wärter zu schützen. Wenn Einsprüche gegen die unmenschlichen Haftbedingungen an der Gefängnisleitung abprallten oder einfach ignoriert wurden, griffen die Häftlinge zur härtesten Form ihrer Widerstandsmöglichkeit, zum Hungerstreik – auch wenn dieser meist mit brutaler Gewalt und Tränengas gestoppt wurde. Was zur abermaligen Verlegung der Black Panther-Führer in den »Dungeon« führte. Dass sie damit auf Dauer nichts an ihrer Situation ändern konnten, hätten sie im Laufe der 1980er Jahre erkannt, sagt

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anderer das Gegenteil. Gemeinsam mit King und Wallace habe er nach Argumenten für ihre Eingaben vor Gericht gesucht – ein wichtiger Grund ihrer Freundschaft »Wir dachten gleich, wir hatten die gleichen Absichten, den gleichen Antrieb. Statt frustriert aufzugeben, sahen wir die Herausforderung, am Ende zu gewinnen. Wir verloren sehr viele Einsprüche, aber die wenigen, die wir gewinnen konnten, veränderten einiges im Gefängnis.«

Gemeinsam vor Gericht

* Direktor des Staatsgefängnisses von Louisiana von 1995 bis 2016.

Woodfox. »Wir mussten uns eine andere Strategie überlegen, also wandten wir uns den Gerichten zu.« Doch da sich keiner der zwar marxistisch, nicht aber juristisch geschulten »Angola 3« in Gesetzesdingen gut auskannte, erwies sich dieser Weg als schwierig. Zumal ihnen keine Rechtsanwälte zur Seite standen. »Wir mussten uns dieses Wissen selbst aneignen«, erinnert sich Woodfox an den Anfang des juristischen Kampfes, der erst 2016 mit seiner Freilassung endete. »Wir studierten Gesetzestexte und die Möglichkeiten, juristisch gegen Bürgerrechtsverletzungen vorgehen zu können.« Oft habe er über vier, fünf oder sechs offenen Büchern gleichzeitig gesessen, um einen Ansatzpunkt in der Rechtsprechung zu finden. Ein Urteilsspruch habe das eine ausgesagt, ein

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Und auch außerhalb des Gefängnisses führte das juristische Selbststudium zu Erfolgen: 1991 stimmte ein Richter in Louisiana der Argumentation von Woodfox zu, dass das Urteil wegen Mordes an dem weißen Wärter Miller gegen die Verfassung verstoßen habe, weil keine Frauen in der Jury vertreten waren. Das Urteil gegen ihn wurde 1992 aufgehoben. Doch noch vor seiner Freilassung erhob die Staatsanwaltschaft abermals Anklage gegen ihn. In dem Prozess in Amite City ein Jahr später antwortete er auf die Frage, ob er weiter politisch aktiv sei, dass er es als seine Aufgabe ansehe, seinen Mitgefangenen »Stolz, Selbstrespekt, Selbstvertrauen« und die Erkenntnis weiterzugeben, »dass der Weg, etwas zu ändern, bei einem selbst beginnt«. Er wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Bis zum Beginn des Revisionsverfahrens vergingen weitere sechs Jahre – und wieder stimmte eine weiße Jury der Verurteilung zu. Deren Vorsitzende, Anne Butler, war mit einem »Angola«-Wärter verheiratet gewesen, was selbst bei ihr Zweifel darüber auslöste, wie sie in ein Gremium berufen werden konnte, das eigentlich unabhängig sein soll. Inzwischen jedoch war eine breitere Öffentlichkeit auf den Fall aufmerksam geworden, auch Amnesty International setzte sich für die »Angola 3« ein. Ab 1999 erhielten Woodfox, Wallace und King zudem rechtlichen Beistand von dem Jurastudenten Scott Fleming, der sich mit den Gerichtsakten vertraut gemacht hatte. Die Bodyshop-Gründerin Anita Roddick entschied sich, nachdem sie Woodfox besucht hatte, die Rechtsanwälte der drei Black Panther-Mitglieder zu finanzieren. 2000 reichten die drei Klage ein wegen der Bedingungen ihrer inzwischen 28 Jahre Einzelhaft, weil diese sowohl gegen die US-amerikanische Ver-

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fassung als auch gegen internationale Menschenrechtsabkommen verstießen. Doch kam 2001 zunächst nur King frei, ohne den er die langen Jahre in Einzelhaft nicht überstanden hätte. »Robert hat immer gesagt, gib mir Zitronen und ich mache daraus Limonade.« Nach seiner Entlassung reiste King um die ganze Welt und erzählte die Geschichte der »Angola 3«. »Er hatte uns versprochen, nicht eher zu ruhen, bis Herman und ich auch freikommen. Und er hielt sein Versprechen. Herman starb 2013 drei Tage nach seiner Entlassung, aber als freier Mann. Drei Jahre später gewann auch ich meine Freiheit wieder.« Das Beste aus ihrer Situation zu machen – nach dieser Maxime lebten die »Angola 3« auch im Gefängnis. Indem sie Hungerstreiks organisierten, ihre Mitgefangenen schulten und sich dem repressiven Gefängnisalltag widersetzten. Die Leitung wollte die Panther brechen, scheiterte aber an deren starkem Willen. »Ich weigerte mich, mich nackt vor allen auszuziehen, wenn ich aus meiner Zelle kam. Andere Häftlinge schauten mit ihren Spiegeln zu, die sie durchs Gitter hielten«, erinnert sich Woodfox. »Die Wärter machten rassistische und erniedrigende Kommentare. Da machte ich nicht mit. Dafür kam ich erneut in den ›Dungeon‹.«

Zurück in den »Dungeon« »Dungeon« oder Kerker, das hieß 23 Stunden am Tag in einer kahlen Zelle. Kein Hofgang, kein Tisch, kein Stuhl, nur eine Toilette und ein kleines Waschbecken. Eine Matratze zum Schlafen. Ein kleines Fenster, der Blick nach draußen jedoch versperrt. Mahlzeiten nur in der Zelle. Gelegentlich durfte geduscht werden. Immer allein. Hier nicht durchzudrehen, nicht aufzugeben, nicht gebrochen zu werden, erforderte viel Willenskraft. Woodfox, King und Wallace glaubten an sich und an das, wofür sie kämpften. Irgendwie schafften sie es, auch im »Dungeon« miteinander zu kommunizieren, kleine Briefchen zwischen den Zellen hin und her zu schmuggeln, Gespräche unter der Tür hindurch zu führen. So kamen sie aus dem »Dungeon« immer wieder gestärkt heraus, überzeugt davon, dass ihr Kampf weitergehen würde, weitergehen musste. Und sie gaben ihr Wissen an ihre Mitgefangenen weiter – in Gesetzesfragen, aber auch in Geschichte und Philosophie, Geo-

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»Wir verloren viele Einsprüche, aber die erfolgreichen veränderten einiges.« Albert Woodfox grafie und Politik. Beim Schach- und Dominospiel wurde geredet, debattiert und geschult, ebenso auf den Endlosspaziergängen im Gefängnishof. »Für mich war immer ausschlaggebend, was am besten für alle ist, nicht für den Einzelnen. Das war und ist noch immer mein Grundprinzip. Das Ganze ist wichtiger als das Einzelne.« Das habe auch den Kern seiner innigen Beziehung zu Wallace und King ausgemacht, »die trotz dieser schlimmsten Umstände überlebte. Ich glaube, diese Freundschaft gab uns die Kraft, die wir brauchten.« Auch im juristischen Kampf gegen den institutionellen Rassismus, der das amerikanische Justizsystem bis heute prägt: 2008 hob ein Richter des Middle District von Louisiana das zweite Urteil gegen Woodfox auf, nur um zusehen zu müssen, wie der Rechtsspruch von einem höheren Gericht 2010 wieder gekippt wurde. 2013 dann die abermalige Aufhebung der lebenslangen Haftstrafe wegen des Mordes an dem Gefängniswärter Brent Miller. Doch auch dagegen wollten die Justizbehörden vorgehen: 2015 versuchten sie, Woodfox ein drittes Mal zu verurteilen, ein Berufungsgericht brachte die Entscheidung des Richters jedoch zu Fall. Wegen seines schlechten Gesundheitszustands stimmte der mittlerweile 68-jährige Woodfox schließlich einem Deal zu, wonach er – ohne ausdrückliches Schuldeingeständnis – akzeptierte, sich nicht weiter gegen den Tatvorwurf zu verteidigen. Louisianas Generalstaatsanwalt Jeff Landry erklärte, das Arrangement diene der Gerechtigkeit: Woodfox sei wegen des Mordes an dem Strafjustizvollzugsbeamten Miller verurteilt worden und habe dafür gebüßt. Und ein Sprecher des Weißen Hauses

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»Wer jemandem Lesen und Schreiben beibringt, öffnet ihm die Welt.« Albert Woodfox sagte, Präsident Barack Obama trete dafür ein, die Einzelhaft künftig »angemessen und sparsam« einzusetzen. Auch wenn sein Name seit seiner Freilassung an seinem 69. Geburtstag im Februar 2016 nun immer wieder in Artikeln, Radio- und Fernsehbeiträgen auftaucht, sieht Woodfox sich nicht als Einzelkämpfer. Das große Ganze sei ihm wichtiger. So kann man auch seine Antwort auf die Frage verstehen, was für ihn die wichtigste Erfahrung seiner langen Gefängnisjahre war: »Für mich war es, einem Mann das Lesen und Schreiben beizubringen. Denn wenn man jemandem Lesen und Schreiben beibringt, öffnet sich ihm die Welt.« Neben Robert King sei seine Mutter die treibende Kraft hinter seinem Kampf um Freiheit gewesen. »Sie hat mein Fundament gelegt – Stärke und Durchhaltevermögen, Loyalität und Hingabe, die Bereitschaft sich zu opfern.« Sie sei Analphabetin gewesen, habe außer ihrem eigenen Namen nichts lesen oder schreiben können. Und sei dennoch einem Prinzip gefolgt: »Niemals aufgeben!« Daran habe er immer denken müssen im Gefängnis, wenn er »frustriert und voller Zorn« war. Schließlich habe sie dafür gesorgt, dass er und seine Geschwister ein Dach über dem Kopf hatten, Essen und Kleidung. Sie habe die Kinder zum Arzt gebracht, wenn sie krank waren. »Sie schlug sich durch das System, ein rassistisches System.« Das habe er sich in seiner Zelle immer wieder vor Augen gehalten: »Wenn meine Mutter das geschafft hat, dann schaffe ich das auch. Solange man kämpft, hat man eine Chance. Wenn du nicht kämpfst, hast du verloren.«

Ein glücklicher Mensch Sein Handy klingelt, er nimmt ab, ein ehemaliger Mitgefangener ist am anderen Ende. Woodfox hört kurz zu und fragt, ob sie später telefonieren könnten, er werde gerade von einem deutschen Reporter interviewt. »Sie rufen noch immer an und ich nehme immer ab.« Sie – das sind jene Mithäftlinge, die die »Angola 3« in ihren langen Jahren schulten und weiterbildeten. So hätten sie von Dingen gehört, die sie davor nicht kannten: »Armut erzeugt Individualismus, wir hingegen sprachen von Einheit, vom Miteinander, vom Teilen. Unsere Leute hielten sich an bestimmte Regeln, die wir setzten: keine Vergewaltigung, kein Stehlen, keine Gewalt gegeneinander.« Mit siebzig Jahren fängt für Albert Woodfox nun ein ganz neues Kapitel in seinem Leben an. Von einer juristisch erstrittenen finanziellen Abfindung hat er sich sein Haus gekauft. Täglich telefoniert er mit seinem engsten Freund Robert King, der nun in Austin, Texas lebt. Er reist viel, auch nach Übersee, denn dort sind viele der Unterstützer der einstigen »Angola 3« zu finden. Ihnen will er auf einer Reise in mehrere europäische Länder Ende des Jahres für ihren Einsatz und ihr Durchhaltevermögen danken.

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Er sei heute ein glücklicher Mensch, sagt er. Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu, dass damit für ihn aber auch eine große Verantwortung verbunden sei. Er wolle und er werde weiterkämpfen. Derzeit arbeitet er an einer Autobiografie, ein Hollywoodstudio habe schon Interesse an der Verfilmung des Stoffs geäußert. Darüber, dass die Welt sich ihm öffnet und er es geschafft hat, die Zeit hinter Gittern mehr als überlebt zu haben, ist er stolz. Nur so konnte er zu dem kritisch denkenden, engagierten Mann werden, der für soziale Gerechtigkeit und gegen Rassismus eintritt. Als Woodfox 1972 inhaftiert wurde, kamen die USA gerade aus dem blutigen Jahrzehnt der Bürgerrechtsbewegung, in Vietnam tobte ein brutaler, rassistischer Krieg, der die Ungleichheit zwischen Weiß und Schwarz auch in den Vereinigten Staaten deutlich zutage treten ließ. Nach fast 44 Jahren in Haft kam die Freiheit für ihn, doch der Kampf der schwarzen US-Amerikaner für ihre Rechte ging in all diesen Jahren unvermindert weiter. Noch immer kann eine einfache Personenkontrolle in den USA zum Tod führen – und die Wahrscheinlichkeit ist für einen Schwarzen dreimal höher als für einen Weißen. War der Kampf der Black Panther-Partei, war sein persönlicher Kampf deshalb vergeblich? »Ich bin frustriert, das ja, aber ich fühle mich nicht besiegt«, sagt Woodfox auf der Veranda hinter seinem Haus. Und bekräftigt, dass er an den Wandel glaube: »Ich bin das beste Beispiel für den Wandel. Ich habe es in einer sechs Quadratmeter großen Zelle geschafft, also erzähl’ mir nicht, dass du dich nicht auch verändern kannst.« Natürlich sei er wütend über das, was ihm angetan wurde, aber auch da könne er nur einen Satz von Robert King zitieren: »Wenn du einen Mann in einem Haufen Mist vergräbst, dann wundere dich nicht, dass er stinkt, wenn er aufsteht.« Auch der Wahlsieg Donald Trumps stellt für ihn keine Niederlage dar, sondern einen Grund weiterzumachen. »Es ist viel einfacher, mit individuellem Rassismus umzugehen. Der institutionelle Rassismus hingegen unterstützt die einzelnen Rassisten. Der Einzelne kann also noch viel mehr Schaden anrichten, wenn er durch das System in der Gesellschaft gefördert wird.« Mit dieser »gesunden Wut im Bauch gegen das System«, wie er es nennt, macht er unermüdlich weiter. »Ich habe vier wunderschöne Urenkel, und ich kämpfe für den Tag, an dem sie irgendwohin gehen können, wo die Leute nicht als erstes ihre Hautfarbe sehen, ihre äußeren Merkmale, ihre Haarstruktur.« Ob er dieses Ziel je erreichen wird, weiß er selbst nicht so genau. Doch für Albert Woodfox, das wird in diesem Gespräch immer und immer wieder deutlich, ist der Weg das Ziel. Aufgeben kam für ihn nie in Frage. Nicht in den Jahrzehnten der Einzelhaft und erst recht nicht in Freiheit, in seinem Haus in New Orleans. Beim Abschied sagt er, dass er demnächst Oakland besuchen werde, die Stadt, in der die Black Panther-Partei gegründet wurde. Vielleicht sehe man sich dort wieder. Das Telefon klingelt erneut, ein schnelles »Good Bye«, und die Haustür fällt ins Schloss.

»PANTHERS IN THE HOLE« Der Comicband zeichnet die Geschichte der »Angola 3« in Einzelhaft nach – von Anfang der 1970er Jahre bis zu ihrer Freilassung nach der Jahrtausendwende. La Bôite à Bulles, Paris, 2017, gemeinsam mit Amnesty International Frankreich.

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Lettering: Andreas Michalke


Radikales Engagement. Ramzi Kassem und die Anwältin Jennifer Cowan in New York, März 2017.

Die Schule der sozialen Anwälte Juristen einer New Yorker Universität setzen sich ehrenamtlich für Menschen ein, die sich keine Anwälte leisten können – vor allem für Muslime. Von Elisabeth Wellershaus

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eit etwa einem Jahr hört Asima Chaudhary beim Frühstück keine Nachrichten mehr. Denn meist sind es Hiobsbotschaften für US-Muslime, und die will die junge Frau aus Brooklyn ihren Kindern ersparen. »Mein ältester Sohn kriegt schon viel mit«, erzählt sie. Während des Wahlkampfes habe er sie oft gefragt, ob Trump sie nun alle nach Hause schicken werde. Chaudhary war sieben, als sie aus Pakistan nach New York kam. Heute ist sie US-Staatsbürgerin, ihre Söhne sind in New York geboren. Trotzdem wirkt das Gift der Trump-Rhetorik auch bei ihnen.

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Natürlich ist Chaudharys schwarzer Hijab nicht erst seit diesen Tagen ein Symbol für das »andere« Amerika. Schon seit den Anschlägen des 11. September 2001 werden Muslime in den USA verstärkt überwacht und diskriminiert. Chaudhary war damals 16 Jahre alt und spürte die wachsende Islamophobie in der USGesellschaft. Auch deshalb legte sie im vergangenen Sommer ihre Anwaltsprüfung an der City University of New York (CUNY) ab, einer Universität, die Wert darauf legt, ihren Studenten neben dem juristischen Handwerkszeug moralisches Handeln beizubringen.

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In »Homeland« gibt es einen Anwalt nach Kassems Vorbild.

Foto: Christopher Lee / The New York Times / Redux / laif

Am Fachbereich für das »Recht im öffentlichen Interesse« wird Studenten dort bereits seit den 1980er Jahren vermittelt, wie sie sich für die Bedürfnisse sozial Schwacher einsetzen können. Das radikale Engagement angehender CUNY-Juristen ist legendär. Viele setzen sich auch ehrenamtlich für Menschen ein, die sich keine Anwälte leisten können, oder betreuen – wie Chaudhary – in der Immigrants and Non-Citizen Rights Clinic (INRC) Mandanten, die unter der zunehmend schärferen US-Sicherheitspolitik leiden. In vielen Fällen geht es um polizeiliche Willkür, Einreiseverbote, Bleiberecht, Überwachung und Diskriminierung. Asima Chaudhary hat etliche Mandantengespräche geführt und Dutzende Workshops geleitet, um vor allem Muslime über ihre Rechte gegenüber der Staatsgewalt aufzuklären. Oft kommen die Leute zu ihr, weil das FBI bereits mehrmals vor der Tür stand, weil sie massiv unter Druck gesetzt wurden, Auskunft über Freunde oder Verwandte zu geben, oder ihre Häuser ohne Beschluss durchsucht wurden. An einen pakistanischen Mandanten erinnert sie sich noch genau, er sollte als Spitzel angeworben werden. Das Bewerbungsverfahren für seine Greencard lief, als das FBI unvermittelt auf ihn zukam. Wenn er kooperiere, sei seine Arbeitserlaubnis kein Problem, sagte man ihm. Aus Angst machte er zunächst mit. Doch dann bekam er Skrupel. Zusammen mit seinem Arbeitgeber, den er ausspionieren sollte, meldete er sich beim INRC. Als Chaudhary eines Tages bei ihnen im Büro saß, stürmten fünf bis an die Zähne bewaffnete Polizisten das Gebäude, führten den Chef ab und behielten die Ausweise der Anwälte ein. Der »Informant« musste im Haus bleiben und wurde mit Drohungen eingeschüchtert, bis Chaudhary und ihre Kollegen durchs offene Fenster brüllten, er solle rauskommen, gegen ihn läge schließlich nichts vor. Widerwillig ließen die Polizisten ihn schließlich gehen. »Es ist eine Sache, bei Workshops über Polizeigewalt zu sprechen, etwas ganz anderes ist es, sie selbst zu erfahren«, sagt Chaudhary. Bereits als Schülerin am Brooklyn College hat sie die Überwachung muslimischer Mitschüler erlebt. Eine junge Agentin hatte damals eine Gruppe von Freunden infiltriert, sich dabei als Muslima ausgegeben und jahrelang Informationen gesammelt. »Die Paranoia bei diesen Leuten hat sich seither nie wieder gelegt«, sagt Chaudhary. CUNY ist dagegen für viele Studenten mit Migrationshintergrund zu einem sicheren Hafen geworden. Hier wissen auch die Professoren, was es be-

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deutet, als Muslim mit dem Misstrauen des Systems leben zu müssen. Allen voran INRC-Leiter Ramzi Kassem. Als der während des Libanon-Kriegs in Beirut geborene Kassem mit 17 Jahren in die USA einreiste, wollte er noch Anwalt werden. Doch dann kam der 11. September 2001. »Danach war alles anders«, sagt auch Kassem. »Zeitungen, Fernsehsender, Schulunterricht, Alltagsgespräche – alles war durchdrungen vom Misstrauen, das Muslimen plötzlich entgegenschlug.« Kassem begriff, dass er für diese Menschen arbeiten wollte. »Das Unterrichten war zunächst nur Mittel zum Zweck, um meine Guantánamo-Einsätze finanzieren zu können«, sagt er. Mittlerweile ist Kassem einer der beliebtesten CUNY-Professoren. Einer seiner ersten Fälle führte ihn vor Jahren in ein Gefängnis in Kalifornien. Zusammen mit einem Anwalt der Bürgerrechtsorganisation American Civil Liberties Union vertrat er dort Mandanten und übersetzte aus dem Arabischen. Nach dem Gespräch ging sein Kollege als erster durch die Sicherheitsschleuse. Als Kassem an der Reihe war, wurde er festgehalten. Durchs Fenster sah er den Kollegen mit dem Wachpersonal diskutieren. Irgendwann öffnete sich die Schleuse doch – und auch Kassem stand wieder im Freien. Die Wärter hatten ihn für einen Sträfling gehalten, der in einem mitgebrachten Anzug herausgeschmuggelt werden sollte. Es sollte nicht der einzige Vorfall dieser Art bleiben. Das Studium an Eliteuniversitäten sieht man Kassem nicht an, die arabische Herkunft hingegen schon, auch hat er noch einen leichten Akzent. Kassems Sicherheits-Check für Guantánamo, den er vor seinem ersten Einsatz dort durchlief, war einer der längsten in der Geschichte des US-Gefangenenlagers auf Kuba. Gegen solche Diskriminierungen kämpfen auch seine Studenten. »Das Engagement der Studenten inspiriert mich«, sagt er. Es motiviere ihn, sich immer wieder neu mit Diskriminierungen auseinanderzusetzen. Wenn es sein muss, sogar im Fernsehen. Seit einer Weile steht er auf der Gehaltsliste einer Serie, die er früher öffentlich kritisierte. Anscheinend hatten die Produzenten des Agententhrillers »Homeland« irgendwann genug von den Rassismusvorwürfen, die auf sie einprasselten. Sie engagierten Kassem, der sie seither über muslimisches Leben aufklärt. Jedes Drehbuch schickt er mit Rotstiftkorrekturen zurück, mittlerweile existiert sogar eine Figur nach seinem Vorbild. Etwas skurril findet er es schon, diesen Menschenrechtsanwalt mit Uni-Job auf dem Bildschirm zu sehen. »Aber«, sagt Kassem, »wenn es hilft, komplexe muslimische Charaktere ins Fernsehen zu bringen – bitteschön.« Auch Asima Chaudhary ist meist an vorderster Front dabei, engagiert sich, wo sie kann. Doch vor ein paar Monaten setzte sie aus. Sie ging nicht mit zum Flughafen, als Trumps Einreisestopp in Kraft trat. Sie war nicht dabei, als ihre Kommilitonen Menschen berieten, deren Angehörige aus sieben betroffenen arabischen Ländern eintrafen und am Flughafen zurückgewiesen wurden. »Mir ging das alles zu nahe«, sagt sie. »Es war zu persönlich.« Weil es auch ihre Familie hätte treffen können.

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Mama und das Militär In Mexiko haben Drogenkartelle, Polizei und Armee Zehntausende Menschen verschleppt – auch die Mutter der drei Schwestern Alvarado. Vom Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof in Costa Rica erhoffen sie sich nun Gerechtigkeit. Von Kathrin Zeiske (Text) und Carolina Rosas Heimpel (Fotos)

E

s war zwischen Weihnachten und Silvester, als die Soldaten Nitza Alvarado mitnahmen. Acht Jahre ist das her. Damals waren ihre Töchter Citlali, Paola und Deisy fast noch Kinder. Heute sind sie junge Frauen auf der Suche nach der Wahrheit. Die Alvarado-Schwestern beten dafür, dass ihre Mutter am Leben sein möge – auch wenn die Situation in Mexiko ihnen keine große Hoffnung erlaubt. Drei akkurat geschminkte junge Frauen mit diskreten Zahnspangen und hüftlangen braunen Haaren sitzen auf dem Sofa. Sie sehen sich zum Verwechseln ähnlich, Citlali und Paola sind sogar Zwillinge. »Nicht einmal unsere Mutter konnte uns auseinanderhalten«, sagen sie. Und lächeln stolz – wie immer, wenn sie ihre Mutter erwähnen. Die drei sind selbstbewusst, aufgeweckt und politisch engagiert. Jetzt fiebern sie dem Jahresende entgegen, denn dann soll der Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof über ihren Fall urteilen. Nach all den Jahren des Stillstands erwarten die Alvarados von diesem Gericht endlich Gerechtigkeit. Bei der Klage geht es nicht nur um das gewaltsame Verschwinden ihrer Mutter Nitza, ihrer Cousine Rocío und ihres Patenonkels José Ángel durch das Militär, sondern auch um die erzwungene Flucht eines Großteils der Familie. »Weil wir die Verschleppung unserer Angehörigen öffentlich gemacht haben und nicht müde geworden sind, vom Staat eine Aufklärung zu verlangen, mussten wir fliehen«, sagt Citlali. Nach Ansicht von Prozessbeobachtern spricht die Beweislage eindeutig gegen den mexikanischen Staat. Dieser kann nur noch technische Einwände anführen, um einen Schuldspruch hinauszuzögern. Es wäre das erste Urteil gegen Mexiko wegen gewaltsamer Verschleppung durch die Armee. Citlali erinnert sich genau an jenen Abend im Dezember 2009, als ihr Patenonkel José ihre Mutter bat, sie zum Haus seiner Schwiegermutter zu fahren. Dort wurden beide vom Militär verschleppt. Wenig später entführten Soldaten auch ihre Cousine Rocío im Schlafanzug aus dem Haus.

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Citlali und Paola waren damals 14, Deisy 11. In ihrer Gemeinde Benito Juárez im Norden Mexikos tobte der Drogenkrieg, der im gesamten Land seit 2006 Hunderttausende Menschen das Leben gekostet hat. Der Ort war komplett vom Militär besetzt. Drei Monate zuvor hatten Mitglieder des Drogenkartells von Juárez eine Einsatztruppe der Bundespolizei angegriffen und dabei Beamte getötet. Der damalige Präsident Felipe Calderón schickte das Militär, um die Macht des Kartells zu zerschlagen. Der von ihm ausgerufene »Krieg gegen die Drogen« sollte bald seinen blutigen Höhepunkt erreichen. In Benito Juárez wurden viele Menschen festgenommen. Die landwirtschaftliche Gemeinde im Bundesstaat Chihuahua wurde, wie die benachbarte Grenzstadt Ciudad Juárez, zum Schauplatz einer Art innerstaatlichen Krieges. Dabei griff das Militär wahllos Menschen auf, verschleppte und folterte sie. Die meisten kamen irgendwann wieder frei, viele mit eingetretener Nase oder gebrochenen Händen. Manche tauchten nie wieder auf.

Folterkammer und Massengrab Die Familie Alvarado reagierte entschlossen auf den Verlust ihrer Angehörigen: Sie erstattete sofort Anzeige, wenige Tage nach den Festnahmen hatte sie bereits einen Termin mit führenden Militärs in der Kaserne von Ciudad Juárez. Diese gilt damals als

Es wäre das erste Urteil gegen Mexiko wegen Verschleppung durch die Armee. AMNESTY JOURNAL | 12/2017-01/2018


Wahrheit, Erinnerung, Gerechtigkeit. Citlali, Deisy und Paola Alvarado in Ciudad Juรกrez, Oktober 2017.

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Folterkammer und geheimes Massengrab. »Nur wir Frauen gingen hin, um zu vermeiden, dass sie unseren Männern etwas antun«, erzählt María de Jesús Alvarado, die Schwester der verschwundenen Nitza. »Wir hofften, auf Oberst Élfego Luján zu treffen, der unsere Gemeinde besetzt hielt. Und auf General Felipe de Jesús Espitia, der den Heereseinsatz im Bundesstaat Chihuahua befehligte.« Diese gingen in die Offensive, betitelten die Familie als Kriminelle. »Wir waren sehr wütend und sagten laut unsere Meinung. Später lagen unsere Nerven blank vor Angst.« Oberst Luján, der damals den Einsatz in Benito Juárez anführte, sitzt mittlerweile in Haft, wegen eines anderen Falls: Im Oktober 2009 war ein Zivilist unter seiner Aufsicht an Folter gestorben. Einen Mitgefangenen, der Zeuge der Tat war, ließ er umbringen. Im Jahr 2010 ordnete Luján an, zwei Soldaten hinzurichten, die angeblich zum Juárez-Kartell übergelaufen waren. Es wäre relativ leicht, den verurteilten Luján nach dem Verbleib der Familie Alvarado zu befragen. Doch wahrscheinlich würde er nicht die Wahrheit sagen, um sich nicht zu belasten. Menschenrechtsorganisationen im Bundesstaat Chihuahua hoffen, dass der Interamerikanische Gerichtshof die Aushebung von Massengräbern und die Identifizierung von Leichen anordnen wird. Fast 2.000 Menschen gelten allein in Chihuahua als vermisst. Und dennoch hat die mexikanische Regierung gerade dem UN-Ausschuss über das Verschwindenlassen die Einreise ins Land verweigert. María de Jesús Alvarado hat die Ereignisse der vergangenen acht Jahre in einem roten Ringbuch aufgezeichnet: Namen, Institutionen, Paragrafen, juristische Termini. Inzwischen weiß sie alles über Menschenrechtsverletzungen und die Verschwundenen des Drogenkriegs. Schon im Januar 2010, einen Monat nach den Vorfällen in Benito Juárez, startete Amnesty International eine Eilaktion zum Fall Alvarado. María hat alle Briefe aufgehoben, die sie damals erreichten, unter anderem aus Nürnberg und Neuseeland. Es sind zwei Schuhkartons voll. Damals überschlugen sich die Ereignisse. Die verschleppte Nitza schaffte es nämlich, anzurufen: »Sucht mich, findet mich, die Soldaten haben mich!«, konnte sie gerade noch sagen, dann brach das Telefonat ab. Obwohl es bis in ein Frauengefängnis in Mexiko-Stadt zurückverfolgt werden konnte, stellte die Bundespolizei die Ermittlungen ein. María gelang es, beim damaligen Präsidenten Felipe Calderón vorstellig zu werden, als dieser nach einem Massaker Angehörige in Ciudad Juárez besuchte. Eine surreale Situation. Er blickte María de Jesús Alvarado ernst an: »Du willst einen Krieg anfangen«, sagte Calderón. »Das Militär beschützt diese Nation, es begeht keine Verbrechen. Ich werde nicht akzeptieren, dass jemand es in den Schmutz zieht«, warnte er sie. »Wenn der Präsident selbst das sagt, wie kann ich dann in Mexiko Gerechtigkeit erwarten?«, fragt María.

Angehende Anwältin. Paola Alvarado.

in Wut, warf einen Stuhl um und schrie: »Das hier ist eine Katastrophe!« Die Regierung reagierte mit Drohungen Die Angst wurde zum ständigen Begleiter der Familie, die deshalb immer wieder den Bundesstaat wechselte. Die Mädchen fürchteten sich damals selbst auf dem Weg zur Schule. »Immer waren irgendwo Soldaten«, berichtet Paola. »Uns klopfte das Herz bis zum Hals, auch wenn wir nur zum Kiosk gingen.« Und doch lassen sie sich nicht einschüchtern. Weder vom Militär, noch von ihrer eigenen Trauer. »Für Citlali, Deisy und mich war es ein Schock, als wir begriffen, dass unsere Mutter morgens nie wieder in der Tür stehen würde«, sagt Paola. Ihre Tante María kümmerte sich damals um die Mädchen. Sie nahmen an Therapiesitzungen teil, in denen sie Kinder mit dem gleichen Schicksal kennenlernten. Und sie trafen Mitglieder des UN-Ausschusses über das Verschwindenlassen. »Wir begriffen allmählich, dass es Jahre oder sogar Jahrzehnte dauern könnte, etwas über den Verbleib unserer Mutter zu erfahren«, erzählt

Tausende Anzeigen Die Familie Alvarado ist nicht die einzige, die Verschleppungen und andere Menschenrechtsverletzungen durch das Militär angezeigt hat. Seit 2006 sind bei der mexikanischen Menschenrechtskommission mehr als 9.000 Anzeigen gegen Armeeangehörige eingegangen. Doch der Fall Alvarado ist sehr gut dokumentiert, die Verantwortlichen klar benannt. An der ersten Anhörung vor dem Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof nahmen sowohl die Familie als auch hohe mexikanische Beamte und Militärs teil. Ein ranghoher General geriet

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Was wie ein Ratschlag klang, war in Wahrheit eine Drohung. AMNESTY JOURNAL | 12/2017-01/2018


Ein Kampf der ganzen Familie. Die Großeltern der drei Schwestern, María de Jesús Espinoza und Concepción Alvarado.

Paola. Gleichzeitig wurden die Schwestern zu Aktivistinnen: Sie waren bei Demonstrationen von Angehörigen Verschwundener in der ersten Reihe dabei, schrieben Nummernschilder von Militärautos auf und fotografierten Polizisten in Zivil. Doch im Mai 2013 wurde die Situation extrem bedrohlich. Ein Unbekannter sprach María de Jesús Alvarado an, nachdem sie in der Stadt Chihuahua eine flammende Rede gehalten hatte. Er erzählte vom Juárez-Kartell und von »nächtlicher Drecksarbeit«, die es für den Gouverneur erledigen würde. Was wie ein Ratschlag klang, war in Wahrheit eine Drohung. María bekam Angst. »Ich ging nach Hause und sagte: ›Packt eure Sachen, wir müssen Mexiko verlassen.‹«

Verfolgte Nachbarn im Exil Von einer schmucklosen Mietwohnung im ersten Stock schauen sie nun über freie Felder bis zur Grenze. Die umstrittene Mauer zwischen Mexiko und den USA erscheint den AlvaradoSchwestern derzeit wie ein Schutzwall. Hier zwischen Ciudad Juárez und dem texanischen El Paso ist Donald Trumps Traum längst Realität. »Seit wir in den USA leben, fühlen wir uns viel ruhiger«, sagt Deisy und streichelt ihren kleinen Hund. »Hier laufen uns keine Soldaten über den Weg. Wir können in Frieden leben.« Mit zwölf Familienangehörigen gingen sie 2013 ins Exil. Kein leichtes Unterfangen. Direkt beim Grenzübertritt wurden sie getrennt und inhaftiert. Die drei Mädchen kamen in Abschiebehaft nach Phoenix. »Niemand sagte uns, wohin es geht. Die Beamten machten sich über uns lustig und drohten uns mit Handschellen«, erzählt Citlali. Zwei Monate lang waren sie in Haft, ge-

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meinsam mit anderen Kindern und Jugendlichen aus Mittelamerika. »Ich hatte Angst, alleine zu bleiben, denn meine Zwillingsschwestern wurden bald volljährig und wären dann in den regulären Haftbetrieb gekommen«, sagt Deisy. Ein beherzter Anwalt aus El Paso kämpfte den Asylstatus für die Mädchen als »unbegleitete minderjährige Flüchtlinge« durch. Das Leben in El Paso ist einsam, ganz anders als auf dem Land in Mexiko. Die einzigen Verbündeten hier sind die anderen Exilierten aus Chihuahua: Journalisten, die sich nicht haben kaufen lassen, Aktivistinnen gegen Frauenmorde und Vertriebene aus dem Juárez-Tal, wo der Kampf um die Drogen noch heute tobt. Die drei Alvarado-Schwestern gehen zur Schule oder zur Universität und arbeiten abends als Kellnerinnen in einem Restaurant. Freitags ist Karaokeabend. Die mittlerweile 19-jährige Deisy singt dann leidenschaftlich und gut mexikanische Schlager. Nur manchmal fahren Citlali, Paola und Deisy über die Grenze in das Haus ihrer Mutter zurück. Viel Zeit verbringen sie dort nicht. Es ist wie der Besuch in einem Mausoleum. Sie huschen durch die Räume, in denen seit acht Jahren alles unberührt geblieben ist. Wegwerfen wollen sie nichts. Bis letztes Jahr haben sie ihrer Mutter sogar manchmal noch kleine Geschenke gekauft. Auf einem internationalen Treffen von Menschenrechtlern fragte jüngst jemand, ob sie noch stolz sein könnten auf ihr Land. Paola sagte, nein, denn es hat uns unsere Mutter genommen. Im August haben sie und ihre Zwillingsschwester an der Universität von El Paso ein Jurastudium begonnen. Die Verteidigung der Menschenrechte ist nun ihr erklärtes Lebensziel.

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Am 10. Dezember 1948 verabschiedeten die Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. 69 Jahre später sind die Menschenrechte und die Menschen, die sie verteidigen, weltweit unter Druck. Zivilgesellschaftliches Engagement wird immer weiter eingeschränkt. Das Grundprinzip, dass jeder Mensch die gleichen Rechte besitzt, wird zunehmend infrage gestellt. Die Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte wie die Meinungsfreiheit, der Schutz der Bürgerrechte, der Anspruch auf ein faires Gerichtsverfahren, die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit sowie die Teilhabe, der Minderheitenschutz und die Freiheit des Kulturlebens müssen neu verteidigt werden. JETZT BESTELLEN UND VERSCHENKEN Schreib einfach eine formlose E-Mail mit deinen Adressangaben an lieblingsbuch@amnesty.de und wir schicken dir fünf Exemplare der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte kostenlos zu.


THEMEN

Mohammeds Mission Ein Berliner Muslim reist in die ehemaligen IS-Gebiete im Nordirak, um einer jesidischen Freundin ihren größten Wunsch zu erfüllen. Und um ein Zeichen gegen religiösen Hass zu setzen. Beinahe scheitert er an sich selbst. Von Carsten Stormer (Text) und Adiba Qasim (Fotos), Sindschar

Ende einer Schreckensherrschaft. Sindschar, Februar 2017.

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In den Morgenstunden des 7. Februar 2017 steigt Mohammed Khamis, 38 Jahre, Kind libanesischer Flüchtlinge und RamboFan, am Flughafen Berlin-Tegel mit einem breiten Grinsen in einen Airbus der Lufthansa. Ein rundlicher Mann mit großem Herzen, der seine Baseballkappe niemals absetzt. Ein ehemaliger Kleinkrimineller, der dem alten Leben abgeschworen hat und sich in Berlin ehrenamtlich um unbegleitete minderjährige Flüchtlinge kümmert. An diesem eiskalten Morgen ist er schlimm verkatert. Die Nacht hat er mit Kumpels und drei Litern Bier rumgebracht. Die Aufregung. Der Zielflughafen: Erbil im Nordirak. Eine Freundschaft und ein Versprechen sind die Auslöser für diese Reise. Im Jahr 2012 lernt Khamis die Frankfurter Jesidin Tamara in Berlin kennen. Ihre Freundschaft droht zu zerbrechen, als am 3. August 2014 Milizen des sogenannten Islamischen Staates (IS) über ihre Glaubensschwestern und -brüder im Nordirak herfallen. »Unentwegt musste ich an sie denken«, erzählt Khamis. Doch den Mut, sie anzurufen, hat er zunächst nicht. Zu sehr schämt er sich dafür, dass diese Verbrechen im Namen seiner Religion begangen wurden. Erst Monate später traut er sich, doch Kontakt zu seiner Freundin aufzunehmen. Sie lebt mittlerweile in Frankreich, hat geheiratet und erwartet ein Kind. Und sie erzählt ihm vom Wasser aus der Quelle in Lalisch, dem heiligsten Ort der Jesiden im Nordirak, das sie für die Taufe ihres Kindes benötigt. Tamara darf selbst nicht in den Irak fahren. Die 25-Jährige ist eine Staatenlose. Eine von Tausenden, die in Deutschland nur geduldet werden, dort zur Schule gegangen sind, arbeiten, Steuern zahlen, sich integriert haben. In einem Land, das sich nicht zu ihnen bekennen will. Also bietet Khamis seiner Freundin an, das heilige Wasser zu besorgen.

Im Namen des Islam Er hat sich Großes vorgenommen, denn er will mit dieser Reise nicht nur seiner Freundin helfen, sondern auch zeigen, dass ein Großteil der Muslime nicht hinter dem Islamischen Staat steht. Er weigert sich, Terroristen und Fundamentalisten die Deutungshoheit darüber zu überlassen, was einen Muslim ausmacht. Es nervt ihn, dass Muslimen ständig vorgeworfen wird, sich nicht deutlich genug von den Gräueltaten zu distanzieren, die Terrororganisationen wie der IS im Namen des Islam verüben. »Für mich spielt es keine Rolle, welcher Religion jemand angehört. Tamara ist einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben, und sie braucht meine Hilfe.« Dieser Freundschaftsdienst ist sein Antrieb. Zudem gibt es noch einen weiteren Grund. Mohammed Khamis hat einen Hang zur großen Geste – und sehnt sich nach Anerkennung. Mit dieser Reise will er seiner Umgebung beweisen, dass er etwas draufhat. Den Redakteuren großer Zeitungen, die seine Texte nicht drucken. Den Lektoren, die seine Bücher nicht verlegen wollen. Den Leuten, die ihn für einen Schwätzer halten. Seinen Kumpels. Mit seinem Buch »Ansichten eines Banditen« und einigen Talkshowauftritten hat er es in seinem Berliner Kiez zu lokaler Berühmtheit gebracht. Wenn RTL, Sat 1 oder die Bild Integrationsversager, Drogendealer, Schulhofschläger, Salafisten oder libanesische Bandenmitglieder suchen, klopfen sie bei Khamis an. Denn er kennt sie alle. Ein befreundeter Journalist riet ihm, nicht nur das heilige Wasser zu besorgen, sondern auch das Herzland der Jesiden zu besuchen: die Region um das Sindschar-Gebirge, wo der IS be-

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sonders schlimm gewütet hat. Nur wenn er die Massengräber, die zerstörten Dörfer und Städte, die Tunnel und Sprengfallen der Terrormiliz mit eigenen Augen sehe, könne er tatsächlich begreifen, was damals dort geschehen ist. Ja, denkt Khamis, gute Idee. Noch wirkt alles wie ein großes Abenteuer. Aufregung, Bauchkribbeln, etwa Angst? »Nö«, sagt Khamis, denn das drängendste Problem des Augenblicks ist, dass im Flieger keine Filme gezeigt werden und er deshalb nicht wisse, was er mit den vier Flugstunden nach Erbil anfangen soll. Dann ergibt er sich dem Kampf gegen die Langeweile. Als Khamis endlich am Flughafen in Erbil steht und zwei Kampfhubschrauber sieht, die in Richtung der umkämpften Stadt Mossul fliegen, sagt er: »Boah, wie bei Rambo.« Im Hotel trifft er Adiba Qasim, die ihn die kommende Woche begleiten wird. Qasim ist eine zierliche, schöne und meinungsstarke 22-jährige Jesidin, die vor drei Jahren von den Mordgesellen des IS aus ihrer Heimat vertrieben wurde. Monate verbrachte sie als Flüchtling in den Lagern des Nordiraks und der Türkei. Schwestern und Brüder flohen über das Mittelmeer und die Balkanroute nach Deutschland. Ihre Eltern hat sie seit drei Jahren nicht gesehen. Viele Familienangehörige, Freunde, Schulkameraden, Bekannte, Nachbarn, erzählt sie, seien damals entführt, getötet, verkauft oder vergewaltigt worden. Seit zwei Jahren arbeitet Qasim für internationale Journalisten, übersetzt, organisiert, vermittelt Gesprächspartner. Ohne ihre Hilfe käme Khasim nicht weit. Sie kennt die Gegend und hat die Genehmigungen der kurdischen Autonomiebehörde besorgt, um die unzähligen Checkpoints auf dem Weg nach Sindschar zu passieren, jene Stadt, die zum Symbol für den Massenmord an den Jesiden geworden ist. Seit November 2015 ist Sindschar zwar befreit. Doch der IS kontrolliert noch immer Dörfer und Weiler nur wenige Kilometer entfernt. Qasim stammt aus dem Nachbarort Khanasor, aus dem sie im August 2014 wenige

Minuten vor dem Eintreffen des IS entkommen konnte. Sie hat sofort zugesagt, mit Khamis zu arbeiten, als sie hörte, was er für seine Freundin Tamara tun möchte.

Gekommen, um zu verstehen Vorerst ist der Abstecher in das irakische Krisengebiet zweihundert Kilometer nördlich von Erbil nur ein ungeschriebenes Kapitel des Buches, das er nach dieser Reise veröffentlichen möchte. Was erwartet Mohammed Khamis von den kommenden Tagen? Hat er Angst, als Muslim diskriminiert zu werden? Dass ihn die Opfer des IS wegen seines Glaubens in moralische Sippenhaft nehmen? Wie wird er auf das, was im Namen seiner Religion angerichtet wurde, reagieren, auf die Zerstörungen, das Leid, die Flüchtlinge? Mohammed Khamis zuckt mit den Schultern und sagt: »Mir ist sehr wichtig, zu zeigen, dass das, was hier passiert ist, nicht im Namen meiner Religion passiert ist. Ich möchte dem jesidischen Volk sagen, dass die Art meiner Auslegung meiner Religion nicht erlaubt, einen Menschen zu unterdrücken, zu töten, zwangsweise zu verheiraten oder zu vergewaltigen.« Qasim schlägt vor, dass er sich Michael anstatt Mohammed nennen könnte, um sich eventuellen Ärger zu ersparen. »Nein. Ich verleugne mich nicht.« Schließlich sei er hier, um zu verstehen. Das mit dem Verstehen ist jedoch so eine Sache. Ihm ist bewusst, dass es nach den Massakern des IS nicht einfach werden könnte, die Jesiden davon zu überzeugen, dass der Islam eigentlich nur eines lehrt: Frieden. Khamis möchte auf der Fahrt nach Sindschar von Qasim wissen, was ihr im Sommer 2014, als der IS den Nordirak überrannte, zugestoßen ist. Die junge Frau holt tief Luft und beginnt zu erzählen. »Am 3. August 2014 habe ich siebzig Familienmitglieder verloren. Wir wissen nicht, was aus ihnen geworden ist, wo sie sind. Vor dem Krieg war ich ein kleines Mädchen, ein Jahr später eine alte Frau. Ich habe viel verloren, aber ich kann nicht hassen.«

»Vor dem Krieg war ich ein kleines Mädchen, ein Jahr später eine alte Frau.« Adiba Qasim 36

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»Mir ist wichtig, zu zeigen, dass das nicht im Namen meiner Religion passiert ist.« Mohammed Khamis Aneinander vorbei Khamis hört zu, nickt und sagt dann: »Das war keine religiöse Sache, was hier passiert ist. Meine Religion erlaubt das nicht. Wo auch immer du hinsiehst, Muslime sind so nicht.« »Ich weiß, Mohammed.« »Verurteilst Du uns?«, fragt er misstrauisch. »Ich sage nicht, dass alle Muslime verantwortlich sind. Die IS-Kämpfer kamen nicht aus Saudi-Arabien. Es waren Iraker. Es waren unsere Nachbarn«, antwortet Qasim. Jedes Mal, wenn sie Muslime und den Islam erwähnt, verengen sich die Augen von Khamis, das höfliche Lächeln erstarrt zur Maske. »Das kann ich nicht glauben. Die IS-Typen sind doch Ausländer, sie sind Kinder von Alkoholikern, Kinder ohne Väter, Verlierer. Die denken, dass sie beim IS den großen Larry spielen können«, erklärt er seine Sicht der Dinge. Natürlich wisse sie, sagt Qasim, dass auch Muslime unter dem IS leiden. Gerade erst war sie in einem Flüchtlingslager nahe Mossul. Dort habe sie mit Waisenkindern gesprochen, deren Eltern vom IS getötet wurden. »Ich musste die ganze Zeit weinen«, sagt sie, Tränen steigen ihr in die Augen. Aber sie erzählt auch, wie irakische und türkische Muslime ihr auf der Flucht geholfen haben. »Sie gaben mir zu essen, ließen mich in ihren Häusern schlafen.« Irgendwann merken beide, dass sie aneinander vorbeireden. Die junge Jesidin, die alles verloren hat – Heimat, Freunde, Familie, Jugend – und die in eine ungewisse Zukunft blickt. Und neben ihr Mohammed Khamis, der Großstadtjunge, der Menschen in Gut und Böse sortiert, die Zwischentöne ignoriert und sich durch Qasims Schilderungen persönlich angegriffen fühlt. Es ist nicht leicht, nach Sindschar zu gelangen. Noch immer werden Teile des Nordiraks vom IS beherrscht, obwohl die Terrormiliz militärisch fast besiegt ist. Die befreiten Gebiete sind nur mit Genehmigung der kurdischen Autonomiebehörde zu erreichen. Dutzende Checkpoints, an denen Khamis seinen Pass vorzeigen muss und skeptische Blicke erntet, wenn die Soldaten

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seinen Namen lesen. Es ist eine Fahrt entlang der Schlachtfelder der vergangenen drei Jahre. In weitem Bogen umfährt man Mossul, stundenlang geht es über einsame Landstraßen und durch menschenleeres Niemandsland entlang der syrischen Grenze. Verlassene Dörfer, von Bomben zerstörte Häuser, deren Bewohner schon vor langer Zeit geflohen sind; in die Flüchtlingslager der Türkei, in den Irak oder über das Mittelmeer nach Europa. Sieben Stunden dauert die Fahrt von Erbil nach Sindschar, bis sich am Horizont das Massiv eines Tafelberges aus dem Dunst schält. Am Fuß des Berges liegt die gleichnamige Stadt: Sindschar, das traditionelle Zentrum der Jesiden. Als der Wagen die Serpentinenstraße hinunterrollt, blickt Mohammed Khamis fassungslos aus dem Fenster. An den Flanken des Berges leben noch immer Tausende Flüchtlinge in Zelten. Am Straßenrand stehen ausgebrannte Fahrzeuge, auf dem Asphalt liegen noch immer Kleidungsstücke von auf der Flucht ermordeten Jesiden. »Sieht aus wie eine Hollywood-Kulisse hier«, murmelt Khamis und bittet den Fahrer, anzuhalten. Er steigt aus und fotografiert die Fahrzeugwracks. Die Erkenntnis, dass hier im August 2014 mehr als fünftausend Jesiden innerhalb weniger Tage vom IS getötet, vergewaltigt oder entführt wurden, sickert ins Bewusstsein der Reisenden. Adiba Qasim zeigt auf einige Dörfer am Horizont. »Dort ist Daesh«, sagt sie, und wenn sie den arabischen Namen für den IS verwendet, hört es sich an, als würde sie ausspucken. Zu frisch sind die Erinnerungen an die Tage, als sie nicht wusste, ob sie überleben würde. Der letzte Anschlag des IS liegt zwei Monate zurück. Als der Wagen in die Stadt hineinfährt, knetet Mohammed Khamis nervös seine Hände. Und regt sich trotzdem auf, als er erfährt, dass es in Sindschar keinen Internetempfang gibt. »Kein Netz? Das halte ich nicht aus«, sagt er. Fünf Tage nicht online sein? Auf keinen Fall. »Ich bin internetsüchtig«, gibt er zu. Kurz darauf der nächste Schock. In der Peschmerga-Kaserne kommt der Strom aus Generatoren – und dies nur ein paar Stunden am Tag. Die Toilette ist ein schmutziges Loch im Boden. Aus der Dusche kommt eiskal-

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Jeder Schritt durch diesen Tunnel ist Beweis und stumme Anklage zugleich: im Namen des Islam. tes Wasser. Geschlafen wird auf dem Boden. Und als er erfährt, dass die ehemalige Schule einst als Hauptquartier des IS genutzt wurde, muss er sich vor lauter Schreck erst mal setzen. »Ich soll dort schlafen, wo IS-Kämpfer geschlafen haben? Das kann ich nicht. Das ist entweihter Boden.« Muss er aber.

»Hammed, du redest mit einer Jesidin« Immerhin, es gibt dann doch Internet. Das besänftigt, ein bisschen. Am Abend geraten der Deutsche und die Jesidin erneut aneinander. Khamis erklärt seine Interpretation des Begriffs Namus, ein zentraler Wert in orientalischen Gesellschaften. Er bedeutet so viel wie: Achtung, Ehre, Würde. Khamis stellt die These in den Raum, dass der IS den geschändeten jesidischen Frauen ihre Ehre, ihr Namus, genommen habe. Qasim runzelt die Stirn und widerspricht vehement. »Nein, die Frauen haben nicht ihre Ehre verloren.« Ehrlos seien nur die Täter: Der IS, Muslime. Und die kurdischen Soldaten, die vor den anrückenden Horden des IS geflohen sind und die Jesiden schutzlos zurückgelassen haben. Sie erklärt Khamis, dass Hunderte jesidische Frauen wieder mit ihren Familien zusammengeführt wurden, nachdem sie aus den Händen des IS befreit worden waren. Dass von IS-Kämpfern gezeugte Kinder nicht verstoßen werden. Dass die jesidische Gesellschaft den Opfern nicht weiteres Unrecht zufügen will. »Hmm«, mault er trotzig. »Ich glaube trotzdem, dass den Frauen die Ehre genommen wurde. Deswegen möchte ich mit einer Jesidin darüber sprechen.« »Hammed, du redest mit einer Jesidin«, antwortet Qasim resigniert. Anschließend starren beide schweigend die rotglühenden Heizstäbe des kleinen Zimmerofens an, der gegen die Kälte anbollert. Als dem Generator kurz vor Mitternacht der Diesel ausgeht und das Licht erlischt, glaubt Khamis, dass der IS angreift. Die Nähe zur Front, die skeptischen Blicke, wenn er seinen Namen nennt, das ungewohnte, entbehrungsreiche und unbequeme

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Frontleben – es ist enorm viel, was in sehr kurzer Zeit auf ihn einprasselt. Nach einer Nacht, in der Mohammed Khamis viel gefroren und große Ängste ausgestanden hat, trifft er Oberst Alaa Ahmed. Der Peschmerga-Kommandeur, 36 Jahre alt, trägt Schnurrbart, eine gebügelte Uniform und begrüßt den Besucher aus Deutschland mit einem festen Händedruck. Er will ihm seine Heimatstadt zeigen. Das, was von ihr übrig ist. In einem Truppentransporter fahren sie durch die Geisterstadt. Links und rechts von Luftschlägen und Autobomben zerstörte Häuser. Autowracks, Schuttberge. »Das sieht aus wie bei Black Hawk Down«, sagt Khamis und blickt fasziniert auf die Trümmerlandschaft, die einst eine Stadt mit 40.000 Einwohnern war. Dann stupst er Qasim mit dem Ellenbogen in die Seite und sagt: »Auch wenn alles in Schutt und Asche gelegt ist, sieht es doch wunderschön aus. Wie Kunst. Wie internationale Kunst.« »Nein, schön war Sindschar früher«, antwortet Qasim kurz angebunden und verdreht die Augen. »Ja klar, ich weiß, was Du meinst, aber sieh es Dir aus meiner Perspektive an«, murmelt Khamis und beginnt zu fotografieren. Vor einem zerstörten Straßenzug im Zentrum hält der Wagen. Oberst Alaa führt Khamis und Qasim durch den Eingang eines verfallenen Hauses und bleibt vor einem Loch im Boden stehen. Es ist der Eingang zum Tunnelsystem, das die Terrormiliz unter die Stadt getrieben hat. »Keine Sorge, wir haben die meisten Gänge von Sprengfallen gesäubert«, sagt er und knipst eine Taschenlampe an. Mehr als vierzig Tunnel haben er und seine Leute nach der Befreiung Sindschars gefunden. So konnten sich die Kämpfer des IS ungesehen und sicher vor Luftangriffen in der Stadt bewegen Dann steigt er in den dunklen Schacht hinab. Khamis und Qasim folgen ihm. Es ist stickig hier unten, die abgestandene Luft macht das Atmen schwer. Khamis hustet. Staub und Steine rieseln von der Decke, als die drei gebückt durch den Tunnel gehen. Im Lichtkegel der Taschenlampen entfalten sich die Überbleibsel eines Lebens im Untergrund: Konservenbüchsen, Töpfe mit Joghurt

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und Honig, Korane, ein Gebetsteppich. Auf dem Boden liegen ranzige Matratzen, Frauengewänder und Damenbinden. »Hier hat Daesh Sexsklavinnen gehalten«, erklärt Oberst Alaa und zeigt auf einen Haufen Einwegspritzen mit Flagyl, ein Medikament gegen vaginale Entzündungen. Jeder Schritt durch diesen Tunnel ist ein Beweis und stumme Anklage zugleich: im Namen des Islam.

Sprengfallen und ein Stapel Korane Zwanzig Minuten später klettern sie auf der anderen Straßenseite wieder aus dem Tunnel ans Tageslicht. Qasim schüttelt Staub aus ihren blonden Locken, Oberst Alaa klopft seine Uniform ab. Khamis hustet und entdeckt an einer Hauswand ein Graffito, auf dem steht: Der Islamische Staat wird bleiben, so Gott will. »Das scheint ja nicht geklappt zu haben«, sagt Khamis und kichert. Da es Freitag ist, bittet er Oberst Alaa, ihn zu einer Moschee zu führen. Es sei ihm ein großes Bedürfnis, für die Opfer des Genozids zu beten. »Religionen sind da, um gut zu sein, aber nicht um zu töten oder jemanden zu unterdrücken oder seiner Freiheit zu berauben oder zu vergewaltigen. Dafür ist keine Religion da. Schon gar nicht meine.« Alaa Ahmed nickt anerkennend und führt Khamis in die zerstörte Altstadt von Sindschar. Auf dem Weg zur Moschee fragt der Oberst, ob Khamis einen toten IS-Kämpfer sehen möchte. Klar, warum nicht. Im Eingang eines Hauses liegt der halbverweste, halb mumifizierte Körper eines Mannes. Der Wind weht Verwesungsgeruch heran. »Ein Verräter«, sagt der Oberst und muss würgen, als er zu nahe an den Kadaver herantritt. »Wir haben ihn getötet«, sagt er gleichmütig. Seine Leiche werde zur Abschreckung liegengelassen und nicht beerdigt. Der Tote war ein Bewohner Sindschars, der sich dem IS angeschlossen und mitgeholfen hatte, seine jesidischen Nachbarn zu ermorden. »So einen wollen wir nicht in unserer Erde

haben.« Auf die Frage, ob ein Zusammenleben mit Arabern wieder möglich sei, schüttelt der Oberst den Kopf. Dann gelangen sie an eine halb zerfallene Moschee. Im Schutt findet Khamis einen zerschlissenen Gebetsteppich, breitet ihn auf dem Boden aus und kniet sich zum Gebet nieder, während der Oberst das Gebäude inspiziert. Unter der Gebetskanzel findet er einen Stapel Korane und trägt sie in den Wagen. Die heiligen Bücher sollen nicht im Dreck liegen, sagt er. Gerührt bedankt sich Khamis für diese noble Geste. Da friert Alaa plötzlich in seiner Bewegung ein. Vor ihm am Boden hat er einen Benzinkanister entdeckt, aus dem rote Drähte ragen. Eine Sprengfalle des IS. »Krass!«, sagt Khamis und schießt Fotos mit seinem Smartphone, während der Oberst einen Sprengmeister in die Moschee beordert. Eigentlich, sagt Alaa Ahmed entschuldigend, sollte die Stadt längst von Minen und Sprengfallen gesäubert sein. Den restlichen Nachmittag schlendern sie gemeinsam durch die Altstadt von Sindschar. In einer Ruine findet der Oberst eine weiße Gebetskappe, klopft sie vom Staub frei und überreicht sie Khamis als Souvenir. »Die schenke ich meinem Vater«, sagt der Berliner stolz und drückt die Kopfbedeckung wie eine Trophäe an sich. »Der weiß gar nicht, dass ich hier bin.« Zum Abschied lädt der Kommandeur zum Tee in seine Stube und dankt, dass Khamis einer Glaubensschwester helfen möchte. Als Khamis das Büro des Kommandeurs verlässt, sieht er, wie ein Peschmerga die Korane aus der Moschee in einem Lagerfeuer verbrennt. Khamis möge die Bücherverbrennung bitte nicht falsch verstehen, sagt der Kämpfer. Khamis antwortet: »Ich hätte das auch gemacht, damit die Korane nicht noch dreckiger werden. Das löst sich einfach in Asche auf. Ich bin sehr dankbar«, sagt er und schüttelt dem verdutzten Mann die Hand. Abends chattet er mit seinen Freunden in Berlin, sendet Sprach- und Textnachrichten mit Emojis und der Fotoausbeute des Tages. Dann ruft plötzlich Tamara an.

Zwischendurch ein Selfie

Erschöpft. Peschmerga-Offizier Alaa Ahmed, Sindschar.

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Khamis erzählt ihr von dem Toten, dem Tunnel und der Sprengfalle, von den Menschen, die ihm begegnet sind: »Ich fühle mich sehr leer. Ich denke an die Menschen, die hier ihr Leben lassen mussten. Haben die sich gewehrt, hatten die überhaupt eine Chance? Es ist so unmenschlich, was hier passiert ist.« Es hat sich vieles angestaut – und das muss jetzt raus. Tamara beginnt zu weinen. »Danke für alles, was du für mich tust, Mohammed«, sagt sie leise und legt auf. An den folgenden Tagen will Khasim möglichst viel Stoff für seinen Blog und das neue Buch sammeln. Auf der Ladefläche eines Pritschenwagens fährt er an einen Frontabschnitt, um kurdische Kämpfer zu besuchen. Wind und Regen peitschen ihm ins Gesicht. Ein Erdwall ist die Schnittstelle zwi-

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»Das waren keine Muslime, die euch umgebracht haben. Das waren schlechte Menschen.« Mohammed Khamis schen Kalifat und Kurdistan. Er sagt freundlich guten Tag, dann ballert ein gelangweilter Kämpfer zu Khasims großer Freude mit seinem Maschinengewehr auf eine Stellung des IS. Wenig später trifft er in einem der wenigen unzerstörten Häuser eine Flüchtlingsfamilie, die nicht weiß, wie sie die kommenden Wochen überstehen soll. Er besucht ein Massengrab, aus dem die von der Sonne ausgebleichten Knochen und Schädel ermordeter jesidischer Frauen ragen. Und muss schon nach wenigen Minuten wieder verschwinden, weil einer seiner kurdischen Leibwächter nur ein paar hundert Meter entfernt einen IS-Kämpfer entdeckt hat. Zwischendurch immer mal ein Selfie. Er sinnt über den Titel nach, den er seinem Blog geben könnte. »Durchs wilde Kurdistan hört sich gut an. Aber der ist ja leider schon vergeben.« Die Nachricht, dass ein deutscher Muslim Tausende Kilometer an die Grenzen des Kalifats gereist ist, um seiner jesidischen Freundin ihren größten Wunsch zu erfüllen, hat sich herumgesprochen. Überall begegnen ihm die Menschen voller Offenheit, Gastfreundschaft, Respekt und Dankbarkeit. Die Kommandeurin eines jesidischen Frauen-Bataillons erzählt ihm, wie sie

Menschen vor Kälte sterben sah und wie der IS jesidische Kinder enthauptete. Dann bricht sie in Tränen aus. »Jeder Mensch, der einem Jesiden hilft, dem danken wir«, gibt sie Khasim zum Abschied mit auf dem Weg. Ein Jesiden-General lädt ihn zu einer Flasche Whiskey ein. Auch Qasim ist gerührt von Mohammeds Mission. »Trotzdem glaube ich nicht, dass Hammed wirklich begriffen hat, was hier geschehen ist«, sagt sie. Das ist der Knackpunkt in Mohammeds Mission. Nach fünf Tagen im Kriegsgebiet machen sie sich auf die Rückreise. Das nächste Etappenziel: die heilige Quelle von Lalisch. Während der Fahrt scrollt Khasim auf seinem Smartphone durch die Fotos, die er unterwegs gemacht hat und die er später auf Facebook und in seinem Blog veröffentlichen will. Er ist zufrieden mit sich und seiner Mission. Bis der Fahrer das Radio anschaltet. In dem Sender diskutieren an diesem kalten und regnerischen Februarnachmittag ein Islamgelehrter und ein jesidischer Prediger darüber, wie es zu dem Massenmord an den irakischen Jesiden kommen konnte. Die Männer suchen nach Belegen für die Aussagen des Propheten, zitieren Koranstellen und erörtern Hadithe, jene Überlieferungen Mohammeds, mit denen die Terrormilz ihre Taten rechtfertigt. Dass es gottgefällig sei, gefangene Frauen als Sklavinnen zu benutzen und zu verkaufen. Denn der Endsieg des Islam sei nah, »wenn das Sklavenmädchen seinem Gebieter gebiert«. In der Logik des Islamischen Staates ist es schon Gotteslästerung, diese Schilderungen zu leugnen oder anzuzweifeln. Und da die Jesiden einen gefallenen Engel in der Gestalt eines Pfaus anbeten, seien sie Teufelsanbeter, die man nicht nur versklaven dürfe, sondern auch töten müsse. Sure 2, Vers 191: »Und erschlagt die Ungläubigen, wo immer ihr auf sie stoßt, und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben; denn Verführung zum Unglauben ist schlimmer als Totschlag.« Da ist sie wieder, die allgegenwärtige Anklage: Im Namen des Islam.

Entweiht. Korane und Sprengfalle in einer Moschee in Sindschar.

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Deshalb verlangt Qasim von Khamis, dass er sich verdammt noch mal anhört, was da im Radio läuft. »Damit du verstehst, was uns angetan wurde.« »Nein! Nein! Das höre ich mir nicht an. Und du kannst mich dazu nicht zwingen«, faucht Khamis. »Das waren keine Muslime, die euch umgebracht haben. Das waren schlechte Menschen. Das hat nichts mit mir zu tun, und hör auf, meine Religion mit Schmutz zu bewerfen.« »Du hast nichts verstanden, Hammed«, schreit Qasim. »Du bist ein Aufschneider und Lügner. Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben.« »Ich steige aus, wenn du das nicht ausstellst, Adiba. Ich will das nicht hören«, sagt Khamis mit kaum unterdrücktem Zorn, blickt aus dem Fenster, an dem die braune Einöde Kurdistans vorbeizieht – und sieht schließlich doch ein, dass es keine schlaue Idee ist, an der syrischen Grenze auszusteigen. Dann bezichtigt Khamis die junge Jesidin, sie wolle ihn zwingen, seiner Religion abzuschwören. Und dass dies ebenso schlimm sei wie das, was der sogenannte Islamische Staat ihrem Volk angetan habe. Qasim sieht den Deutschen fassungslos an. »Hammed, das ist im Namen deiner Religion geschehen. Dies ist unsere Realität, mit der wir jeden Tag leben müssen. Du hast gesagt, du willst verstehen. Dann versuche es zumindest.«

Eisiges Schweigen Khamis murmelt noch beleidigt, dass Adiba eine Islamhasserin sei und dass er den Rest der Reise auch allein klarkomme. Er fordert Dankbarkeit ein, dass er ein Zeichen gegen den Hass setzen möchte. Adiba wirft ihm vor, dass er nicht fähig sei, seine in Deutschland vorgefertigte Meinung der Realität anzupassen. Und dass er nur aus Eigennutz in den Irak gekommen sei. Am Ende des Streits dreht Qasim das Radio lauter, Khamis setzt wütend seine Kopfhörer auf, hört »Nothing Else Matters« von Metallica und fühlt sich unverstanden. Danach herrscht eisiges Schweigen. Am nächsten Morgen erreichen sie die Pilgerstätte Lalisch. Khamis, noch immer bockig, redet kein Wort mit Qasim, die nur den Kopf schüttelt. Ein mürrischer jesidischer Geistlicher füllt Wasser aus der heiligen Quelle in drei Plastikflaschen und weiht einige Gebetsketten, die Khamis unterwegs gekauft hat. Geschenke für Tamaras Familie. Khamis möchte das Heiligtum schnellstmöglich verlassen. »Ich will nur noch nach Hause«, sagt er. Beim Abschied in Erbil reicht er Qasim trotzdem die Hand, bedankt sich für ihre Hilfe und presst eine Entschuldigung hervor. Qasim, so sagt er später, sei auch nur eine Gefangene ihrer Erlebnisse. Eine traumatisierte Frau. Kein Wunder, dass sie auf den Islam nicht gut zu sprechen sei. Aber jetzt sei er froh, den Irak zu verlassen. »Seit dem Streit habe ich mich nicht mehr sicher gefühlt«, sagt er. Und somit endet das irakische Abenteuer mit dem unguten Gefühl, dass etwas schiefgegangen ist. Hat sich die Reise gelohnt? Khamis überlegt, kaut auf seiner Unterlippe. »Ich glaube schon. Ich habe das Wasser. Das ist das Wichtigste.« Jetzt muss er die kostbaren Flaschen nur noch bei Tamara abliefern, um sein Versprechen zu halten. Von Erbil fliegt er zurück nach Berlin und drei Tage später weiter nach Paris. Von dort geht es mit dem Mietwagen in die französische Kleinstadt Troyes, in der Tamara seit zwei Jahren mit ihrem Ehemann und ihrer elf Monate alten Tochter Liana lebt. Erst mit dem Abstand

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Beteiligter Beobachter. Mohammed Khamis.

einiger Tage, auf einer französischen Autobahn, ist es ihm möglich, die Woche im Irak zu reflektieren. Vielleicht habe er Qasim unrecht getan, hätte mehr Verständnis zeigen müssen. »Ich war überfordert. Es kam mir vor, als würde sie meine Absichten infrage stellen.« Er sei gekommen, um einen interreligiösen Dialog zu schaffen, aber »ich wollte mich nicht zwingen lassen, über den Islam zu reden. In dieser Situation hat mein Verstand ausgesetzt«. Er wünschte, er hätte damals im Auto anders reagiert. Heute würde er sich dem Gespräch stellen. Nicht als Muslim, sondern als Mensch, und schiebt die Erklärung hinterher, dass ein Muslim, der seine Religion anprangere, dem Islam abschwört. »Meine Religion ist das Heiligste in meinem Leben.« Als Tamara die Wohnungstür öffnet und Mohammed erblickt, fällt sie ihm um den Hals und drückt ihn innig. »Ich werde nie vergessen, was du für mich getan hast«, flüstert sie in sein Ohr und wischt eine Träne weg. Tamaras Vater, der zu Besuch ist, nimmt Khamis in den Arm und sagt, dass er von nun an zur Familie gehöre. Minutenlang dreht und wendet sie die Wasserflaschen, drückt sie an sich, als wären sie ein Goldschatz. »Man kann sich gar nicht vorstellen, was das für mich bedeutet. Wir stehen ewig in deiner Schuld. Du hast bewiesen, dass es Menschlichkeit und Freundschaft auf dieser Welt noch gibt«, sagt Tamara. Dann tröpfelt sie etwas Wasser auf den Kopf ihrer Tochter Liana. Anschließend grillen sie gemeinsam, trinken Wodka, stoßen an auf eingelöste Versprechen und interreligiöse Freundschaften. Denn nur so, prosten sie sich zu, lasse sich der Hass in der Welt bewältigen. Den ganzen Abend steht der Ehrengast im Mittelpunkt des Geschehens, zeigt Fotos und erzählt von seinen Abenteuern im Irak. Mohammed Khamis hat nun sein Versprechen eingelöst – und fühlt sich endlich wieder gut.

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Durchgestartet Mitte 2018 sollen Frauen in Saudi-Arabien endlich Auto fahren dürfen. Das ist auch ein Erfolg für Manal al-Sharif, die sich schon 2011 hinters Steuer setzte – und dafür ins Gefängnis kam. Hannah El-Hitami hat sie in Berlin getroffen.

Vorsichtig optimistisch. Manal al-Sharif in New York, Juni 2017.

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Foto: Nathan Bajar / The New York Times / Redux / laif

Manal al-Sharif kann es kaum fassen: Im Oktober strahlte das saudi-arabische Staatsfernsehen zum ersten Mal die Aufzeichnung eines Konzerts der legendären ägyptischen Sängerin Umm Kulthum aus, die 1975 gestorben ist. »Alle saßen vor dem Fernseher«, sagt sie. »Obwohl sie die Konzerte ja jederzeit über ausländische Sender oder im Internet sehen können.« In Saudi-Arabien verändert sich etwas, ist sich die 38-Jährige sicher, man könne wieder durchatmen. So durften Frauen im September zum ersten Mal das Stadion der Hauptstadt Riad betreten, als dort ein Fest zum Nationalfeiertag stattfand. Doch das wichtigste Signal war wohl das königliche Dekret zur Abschaffung des Fahrverbots für Frauen Ende September. Ab Juni 2018 sollen die knapp 14 Millionen Bürgerinnen des Königreichs ihre Fahrzeuge selbst steuern dürfen, sobald sie das 18. Lebensjahr vollendet haben. Den Führerschein können sie dann ohne die Erlaubnis eines männlichen Vormunds beantragen. Die Aufhebung des Verbots ist jedoch keine rein frauenrechtliche Errungenschaft. Der im Juli zum Kronprinzen ernannte Mohammed Bin Salman hat eine »Vision 2030« für das Land entworfen, die unter anderem vorsieht, dass Frauen künftig etwa ein Drittel der Arbeitskräfte stellen sollen – bisher sind es lediglich 22 Prozent. Ohne selbst zur Arbeit zu fahren, wird das nicht möglich sein, ist sich die IT-Expertin und Aktivistin Manal al-Sharif sicher: »Die Frauen sind gebildet, sie sind bereit zu arbeiten, aber Mobilität ist ein riesiges Problem.« Sie selbst sei auf der Straße sexuell belästigt und verfolgt worden, als sie eines Abends keinen Fahrer fand und sich zu Fuß auf den Heimweg machen musste. Auch im Auto fühlten sich viele Frauen nicht sicher: »Fast jede Frau, die ich kenne, ist schon von einem Fahrer belästigt worden«, schreibt sie in ihrer Autobiografie »Losfahren«, die wenige Wochen vor Verabschiedung des königlichen Dekrets auf Deutsch erschien. Manal al-Sharif hat nicht viel Zeit, sie ist auf Lesereise durch Deutschland, Österreich und die Schweiz. 13 Veranstaltungen in nur elf Tagen. In ihrem Buch berichtet sie von ihrem Leben als Mädchen in Mekka, wo sie 1979 geboren wurde. Außerdem beschreibt sie, wie sie sich 2011 aus Protest gegen die männliche Vormundschaft hinters Steuer setzte und durch die Küstenstadt al Khubar fuhr. Wenige Tage später wurde sie festgenommen und verbrachte neun Tage in Untersuchungshaft, ehe sie – auch auf internationalen Druck hin – freigelassen wurde. Weil sie danach Morddrohungen erhielt, gab sie ihre Stelle bei der staatlichen Ölfirma Aramco auf. Dort hatte sie als eine der ersten saudi-arabischen Frauen gemeinsam mit Männern im Büro gearbeitet. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihrem jüngeren Sohn in Australien. Doch engagiert sie sich weiterhin für Frauenrechte in ihrem Heimatland. »Wir haben nie aufgegeben«, sagt sie. »Wir haben Frauen ermutigt, ihren Führerschein im Ausland zu machen und Unterschriften gesammelt. Wir haben Kampagnen und Studien durchgeführt, um auf das Thema aufmerksam zu machen. Und jetzt haben wir es tatsächlich geschafft«, erzählt sie in einem syrischen Restaurant in Berlin. Ginge es nach dem Willen der saudischen Führung, dürfte sie das eigentlich gar nicht sagen. Manal al-Sharif erzählt, dass der Staatssicherheitsdienst sie nach Verkündung des Dekrets angerufen und vor jeglicher Äußerung gewarnt habe. Zunächst habe sie sich daran gehalten. Doch als sie feststellte, dass Frauen, die sich zuvor nie engagiert hatten, in sozialen Medien plötzlich die Regierung lobten und gleichzeitig Aktivistinnen wie Manal al-Sharif angriffen, habe sie ihr Schweigen gebrochen. Schließlich ist es auch ein Sieg der saudischen Frauen und

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ihrer männlichen Verbündeten, die schon vor mehr als einem Vierteljahrhundert begannen, sich gegen das Fahrverbot aufzulehnen. Bereits 1990 waren 47 Frauen in 15 Fahrzeugen durch Riad gefahren – weil sie es satt hatten, immer von Männern abhängig zu sein. Seitdem nahmen entschlossene Frauen das Steuer immer wieder selbst in die Hand, trotz des Risikos, inhaftiert zu werden und damit Job oder Familie zu verlieren. Die Versuche der Sicherheitskräfte, Manal al-Sharif und andere Aktivistinnen zum Schweigen zu bringen, zeigen, dass diese Gefahr immer noch nicht völlig gebannt ist. Das kleine Zugeständnis geht bislang nicht mit einer Verbesserung der menschenrechtlichen und politischen Lage im Königreich einher – im Gegenteil. Die Situation hat sich seit der Ernennung des 32jährigen Mohammed bin Salman zum Kronprinzen sogar verschlechtert: So wurden allein im September mehr als zwanzig prominente Geistliche, Autoren, Journalisten, Akademiker und Menschenrechtler festgenommen. Außerdem werden vermehrt Todesurteile vollstreckt. »Seit Juli 2017 ist die saudische Regierung im Exekutionsrausch«, sagt Lynn Maalouf, Nahost-Expertin von Amnesty International. »Im Durchschnitt wurden jede Woche fünf Personen hingerichtet.« 2016 waren es nach Informationen von Amnesty International mindestens 154 Menschen, im Jahr zuvor mindestens 158. Die Sorge der Sicherheitsbehörden, Gegner des Dekrets zu provozieren, macht ebenfalls deutlich, wie schmal der Grat ist, auf dem sich das Land bewegt – zwischen religiösem Konservatismus einerseits und dem Wunsch vieler Bürgerinnen und Bürger nach gesellschaftlicher Modernisierung andererseits. Die Königsfamilie ist auf wirtschaftlichen Fortschritt ebenso angewiesen wie auf die Legitimation durch konservative Geistliche. Manal al-Sharif hat den religiösen und kulturellen Konservatismus lange Jahre am eigenen Leib erlebt und wurde zeitweise selbst zur salafistischen Islamistin, wie sie in ihrer Autobiografie schreibt. Vor allem die Kapitel über ihre Kindheit sind düster und bedrückend und passen so gar nicht zu der fröhlichen und optimistischen Autorin. Darin beschreibt sie, wie sie und ihre Schwester ständig von den Eltern geschlagen wurden, wie sie als junge Mädchen dem Horror der weiblichen Genitalverstümmelung unterzogen wurden und wie ihnen mit zunehmendem Alter mehr und mehr verboten wurde. Doch habe es auch wunderschöne Zeiten gegeben, beteuert die 38-Jährige. »Mein US-Verleger wollte unbedingt, dass das Buch so traurig wie möglich wird«, erzählt sie. »Ich habe viel mit ihm gestritten. Ich will, dass die Leute es lesen, wütend werden und sich engagieren. Aber ich will auch Hoffnung geben.« Sie sieht die Zukunft ihres Heimatlandes optimistisch und würde gern dorthin zurückkehren. Dazu fehlt nur das Visum für ihren Sohn. Der gilt nach saudischem Recht jedoch nicht als Familienmitglied, weil ihre im Ausland geschlossene Ehe mit einem Brasilianer nicht anerkannt wird.

Fast jede saudische Frau ist schon von einem Fahrer belästigt worden. 43


Razzien unterm Regenbogen Wenn seine ägyptischen Freunde Manu Abdo auf Fotos wiedersehen, sagen sie: »Oh, du bist ja glücklich!«. Und sie klingen überrascht. Erst dann merkt Abdo, wie unglücklich er während seiner letzten Monate in Kairo 2016 war. Wie er jedes Mal voller Furcht aus dem Fenster blickte, wenn er eine Polizeisirene hörte, und dachte: »Vielleicht holen sie heute mich.« Weil der 35-jährige Journalist schwul ist, hat er Ägypten aus Angst vor Verfolgung verlassen – im März wurde ihm deswegen in Deutschland politisches Asyl gewährt. Bereits seit einem Jahr lebt er nun hier: zuerst in Berlin, dann in Münster und jetzt in Köln. Während hierzulande endlich die ersten gleichgeschlechtlichen Ehen geschlossen werden können, sehen sich homo- und bisexuelle sowie transgeschlechtliche Menschen in Ägypten einer Gefahr ausgesetzt, die viele von ihnen bisher nicht kannten. So hielten im September Fans der libanesischen Band Mashrou’ Leila bei einem Konzert die Regenbogenflagge hoch – aus Solidarität mit dem schwulen Sänger Hamod Sinno und der LGBTISzene. Als die Bilder auf Facebook, Instagram und Twitter erschienen, hagelte es massenweise Hasskommentare. Ein bekannter ägyptischer Fernsehmoderator verglich Homosexualität mit Terrorismus. Kurz darauf griff die Polizei durch: Mehr als siebzig Menschen sind laut Amnesty International bis November wegen ihrer vermeintlichen Homosexualität inhaftiert worden, weil sie das Konzert von Mashrou’ Leila besuchten oder aus Solidarität mit den Festgenommenen eine Regenbogenflagge auf ihr Facebook-Profil setzten. 17 mussten bereits vor Gericht erscheinen, ihnen drohen Strafen wegen unmoralischen Verhaltens. Um ihre angebliche Homosexualität zu beweisen, mussten einige von ihnen auf Polizeistationen Analtests über sich ergehen lassen. Amnesty International stuft diese Untersuchungsmethode als Folter ein. Bislang stellte gleichgeschlechtlicher Sex im ägyptischen Gesetz gar keine Straftat dar; die meisten Urteile erfolgten in der Vergangenheit wegen »Unzucht« oder »sexueller Ausschweifungen«. Doch das soll sich nun ändern: Ende Oktober reichten Abgeordnete einen Gesetzesentwurf im Parlament ein, der Strafen zwischen ein und drei Jahren für »zwei oder mehr Individuen«

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vorsieht, »die pervertierte sexuelle Beziehungen unterhalten«. Im Wiederholungsfall drohen sogar fünf Jahre Haft. Auch die Anstiftung zu solchen Handlungen soll mit Freiheitsentzug geahndet werden. Als »zutiefst diskriminierend« kritisierte die Amnesty-NordafrikaExpertin, Najia Bounaim, die Vorlage. In Ägypten war es für Schwule und Lesben noch nie einfach, doch zumindest in der Hauptstadt Kairo habe man relativ offen leben können, erinnert sich Abdo, den es 2010 deswegen aus der konservativen Küstenstadt Port Said in die Nil-Metropole gezogen hatte. Dort begann er für die britische Tageszeitung The Guardian zu schreiben. »In Kairo wollte ich endlich frei leben«, erzählt er in einem Café in Berlin und ergänzt lachend: »Natürlich nicht frei frei, sondern im ägyptischen Sinne frei.« In Kairo existierte damals eine lebhafte Schwulenszene. Zwar gab es auch unter dem 2011 gestürzten Präsidenten Hosni Mubarak Verhaftungswellen, wie im Falle der sogenannten Cairo 52: 2001 wurden 52 vermeintlich schwule Männer bei einer Bootsparty auf dem Nil festgenommen, 21 erhielten Haftstrafen von drei Jahren. Doch vor allem in den Monaten rund um den Beginn der Revolution im Januar 2011 habe eine außergewöhnliche Aufbruchsstimmung geherrscht, erzählt Abdo. In Cafés und Bars konnte man sich treffen. Wurde eine Einrichtung geschlossen, fand sich schnell ein neuer Treffpunkt. Hinzu kamen Partys in Wohnungen sowie gewisse Straßenecken und Brücken, wo vor allem homosexuelle Männer auf Partnersuche gingen. Die permanente Furcht vor der Polizei begann erst, als 2013 Armeechef Abdel Fattah al-Sisi den islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi aus dem Amt putschte. »Das Jahr unter der Foto: Benno Schwinghammer / dpa / pa

In Ägypten geraten Schwule und Lesben zunehmend ins Visier der Polizei. Die Verhaftungswelle wird von einer Hetzkampagne regimenaher Medien begleitet. Von Lena Khalifa

Die permanente Furcht vor der Polizei begann erst unter Präsident Sisi. AMNESTY JOURNAL | 12/2017-01/2018


Flagge zeigen. Konzert von Mashrou’ Leila in Kairo, September 2017.

Herrschaft der Muslimbrüder war das beste Jahr für uns«, sagt Abdo und bemerkt selbst, wie unwahrscheinlich das klingt. Die Lage der Community sei unter dem 2014 zum Präsidenten gewählten Feldmarschall schlimmer denn je, schreibt die Egyptian Initiative for Personal Rights. Demnach wurden von Herbst 2013 bis März dieses Jahres 232 Homosexuelle und Transgender festgenommen. Oft sind bei den Razzien Journalisten regierungstreuer Medien dabei, die Homosexualität als vom Westen importierte Bedrohung ägyptischer Werte darstellen. Nach dem Konzert von Mashrou’ Leila verbot der Oberste Rat für Presseregulierung die »Propagierung von Homosexualität« in den Medien. Es handle sich um eine »schändliche Krankheit, die verborgen werden muss«, so die Medienaufsichtsbehörde. Mit Protest ist kaum zu rechnen, denn der Einfluss islamischer und koptischer Religionsgelehrter, die sich gegen Homosexuelle aussprechen, ist groß. Eine der Inhaftierten gab an, auf der Wache von Mitgefangenen geschlagen worden zu sein, nachdem Polizisten sie als Unterstützerin Homosexueller bezeichnet hatten. Auch Abdos Eltern wissen nicht, dass er schwul ist. Sie denken, er sei aus politischen Gründen geflohen, wegen seiner Arbeit als Journalist. Nur einer Schwester, die in Italien lebt, hat er die Wahrheit erzählt. »Sie hat es akzeptiert und sehr liebevoll reagiert«, sagt er mit einem traurigen Lächeln. »Es ist schön ein Familienmitglied zu haben, das Bescheid weiß.«

ÄGYPTEN

Sein Leben in Kairo war zuletzt nur noch ein Versteckspiel. Viermal musste er umziehen, weil Nachbarn von seiner sexuellen Orientierung erfuhren und ihn nicht in ihrem Haus duldeten. Mehrfach wurde er zusammengeschlagen, von Polizisten eingeschüchtert und gedemütigt, erzählt er. Mit der Zeit begann er, sich vor sich selbst zu ekeln: »Ich fühlte mich wertlos und fing an, mich absichtlich in Gefahr zu bringen und ungeschützten Sex zu haben, weil ich mich so hasste.« Wenn er diese Geschichten erzählt, redet Abdo ganz ruhig. Wie ein Journalist eben, der über Schwulenfeindlichkeit berichtet, nicht über seine eigenen Erfahrungen. So auch, als er von der entwürdigenden Untersuchung auf einer Polizeiwache in Kairo kurz nach der Revolution vom Januar 2011 berichtet. Damals lockten Beamte ihn in eine Falle, so wie sie es bis heute durch vermeintliche Flirts auf der Straße oder fingierte Verabredungen über falsche Benutzerkonten auf Dating-Apps wie Grindr oder Tindr tun. In Abdos Fall war der Lockvogel ein junger Mann, der ihn auf der Kasr-al-Nil Brücke im Zentrum der ägyptischen Hauptstadt ansprach: Er habe keinen Schlafplatz für die Nacht, sagte er ihm. »Der war überhaupt nicht mein Typ, aber ich hatte Mitleid und bot ihm an, ein paar Stunden in meiner Wohnung zu bleiben«, erinnert sich Abdo. Vor der Haustür wurde er dann festgenommen.

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Gefangen auf Lesbos

Zwei Jahre nach der Massenflucht übers Mittelmeer kommen abermals Tausende auf den griechischen Ägäis-Inseln an. Auf den Winter sind die Behörden nicht vorbereitet. Von Alexander Bühler (Text) und Giorgos Moutafis (Fotos), Mytilini

Ein wenig Wärme. Moria, Oktober 2017.

Schon am frühen Morgen pfeift der Wind über das Hafenbecken von Mytilini und fährt den Flüchtlingen aus Afghanistan, Syrien und dem Irak unter ihre Jacken. Ein paar Dutzend von ihnen haben sich hier, in der Hauptstadt der griechischen Insel Lesbos, versammelt. Sie wollen nicht mehr im überfüllten, sechs Kilometer entfernten Lager Moria bleiben, das ihnen von der griechischen Regierung als Unterkunft zugewiesen wurde. Sie spüren, wie sie dort kaputtgehen, wie durch die zermürbend langsame Bearbeitung ihrer Asylanträge der Frust in ihnen hochkocht. Seit dem Sommer kommt es immer wieder zu Gewaltausbrüchen in Moria, dem nordwestlich von Mytilini gelegenen Lager. Hier, in der Hafenstadt, werden die Neuankömmlinge nach ihrer Ankunft auf Lesbos von den griechischen Behörden registriert, ehe sie in das mit hohen Zäunen abgeriegelte Lager geschickt werden. Dort sind es der Ärztemangel, der Mangel an Nahrung, an Toiletten und Duschen, der die vor Krieg oder Armut geflohenen Menschen in den Protest treibt. An diesem Herbstmorgen betrachten die Flüchtlinge in Mytilini staunend die Militärkapelle der griechischen Marine, deren Angehörige zu den Klängen der Nationalhymne wie jeden Sonntag die blau-weiße Landesfahne hissen. Polizeibeamte beobachten durch die Scheiben ihrer gut geheizten Fahrzeuge die Demonstranten. Als die Flüchtlinge sich für ein Foto versammeln, halten sie Plakate hoch. Die jüngste Protestierende ist ein vier Jahre altes

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afghanisches Mädchen. »Ich möchte nach Athen«, steht auf ihrem Karton geschrieben, daneben hat sie eine Blume gemalt. Ende zwanzig seien er und seine Frau, sagt der Vater des Kindes – schiitische Hazara aus der Region Herat, die von den Taliban kontrolliert werde. Er trägt eine zerschlissene blaue Jacke. Seit drei Monaten harre er mit seiner Familie nun schon in Moria aus, ohne zu wissen, wann sie die Insel endlich wieder verlassen können. Oder ob überhaupt. Die ältere der beiden Töchter schmiegt sich an ihre Eltern, eine offene Wunde bedeckt ihre rechte Wange. Die Folge eines Mückenstichs, der sich entzündet hat; wohl auch wegen der schlechten hygienischen Situation in Moria, wie der Vater vermutet. Eigentlich könnte eine Salbe, wie sie in jeder Apotheke erhältlich ist, dagegen helfen. Doch in Moria gibt es diese nicht – die Ausstattung ist schlecht, und die wenigen Ärzte sind überfordert, sie verteilen den Bewohnern zufolge nur Kopfschmerztabletten.

Nichts gelernt Wegen der katastrophalen medizinischen Lage auf den ÄgäisInseln schlagen inzwischen auch renommierte Hilfsorganisationen Alarm: so im Oktober Ärzte ohne Grenzen, die der Regierung in Athen und der Europäischen Union vorwarfen, für einen psychosozialen Notstand unter den Asylsuchenden verantwortlich zu sein. Gewalt, Vernachlässigung und die schlechten Lebensbedingungen in den Auffanglagern auf den griechischen

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Wenig Schutz vor Wind und Wetter. Moria.

Inseln seien für den dramatisch schlechten Seelenzustand vieler Patienten maßgeblich verantwortlich. Nur eine rasche Verlegung auf das Festland könne einen besseren Zugang zur dringend benötigten Gesundheitsversorgung ermöglichen. Die Situation auf Lesbos zeigt, dass die europäischen Behörden nichts aus der Massenflucht irakischer, syrischer, afghanischer und pakistanischer Flüchtlinge 2015 über das Mittelmeer gelernt haben. Den Preis dafür zahlen die Schutzsuchenden. Zwar sind die Zahlen niedriger als vor zwei Jahren, als an manchen Tagen mehr als 3.000 Menschen auf Holzkähnen und Schlauchbooten die Ägäis-Inseln erreichten. Doch im windstillen September waren es auch dieses Jahr in manchen Wochen mehr als 400 am Tag, die sich auf die Boote und Kähne türkischer Schlepper begaben. Allein auf Lesbos landeten im Oktober 2.216 Menschen – so viele wie zuletzt vor Inkrafttreten des sogenannten Flüchtlingsdeals zwischen der Türkei und der Europäischen Union. Von Januar bis Anfang November kamen dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR zufolge bereits 25.000 Migranten und Flüchtlinge auf dem Seeweg in Griechenland an. Von einem »merklichen Anstieg« spricht der griechische Migrationsminister Giannis Mouzalas. Sollte die Türkei das im März 2016 mit der EU ausgehandelte Abkommen platzen lassen, wäre das für sein Land eine »Katastrophe«. Denn laut Abkommen sollen die in der Ägäis angekommenen Flüchtlinge nach erfolgreichem Asylverfahren in anderen EU-Staaten angesiedelt werden – den Ab-

GRIECHENLAND

gelehnten droht die Abschiebung in die Türkei. Die Realität sieht freilich anders aus: Nicht einmal ein Drittel der 106.000 Flüchtlinge, denen eine Umsiedlung versprochen wurde, seien bislang in anderen europäischen Ländern untergekommen, bemängelte Amnesty International im Herbst. Statt wie angestrebt für eine zügige Bearbeitung der Anträge zu sorgen, lässt die EU die nach gefährlicher Flucht Krieg und Armut entkommenen Menschen weiter warten – im Durchschnitt neun Monate, viele länger als ein Jahr. Und das auf Inseln mit einer Aufnahmekapazität von weniger als 9.000 Plätzen. Ein Leben im Ausnahmezustand, der die Neuankömmlinge auf Lesbos und den anderen Ägäis-Inseln Chios und Samos, Leros und Kos im Dezember und Januar mit voller Wucht treffen dürfte. »Der Winter bricht an, auch für die Flüchtlinge in Griechenland«, warnte ein Bündnis aus vierzig europäischen Initiativen, darunter Sea Watch und Borderline Europe, nachdem ein

Die Diskrepanz zwischen freundlicher Rhetorik und Abschottung ist groß. 47


Vorboten des Winters. Flüchtlinge auf Lesbos.

vierjähriges syrisches Mädchen in Moria Anfang Oktober gestorben war. »Letztes Jahr sind bereits sechs Menschen wegen der katastrophalen Zustände in einem Flüchtlingslager auf der Insel Lesbos ums Leben gekommen. Das darf sich nicht wiederholen.« Doch dass die Europäische Union in ihrer Flüchtlingspolitik andere Prioritäten setzt, zeigt sich nur wenige Meter entfernt von den protestierenden Afghanen am Hafenbecken von Mytilini. Die britische »HMS Valiant« liegt hier vor Anker und zwei griechische Küstenwachschiffe, auf deren Rumpf in frisch aufgemalten Buchstaben »Border Patrol« steht, sowie ein Boot der italienischen Guardia Costiera.

Viel Geld für die Fluchtabwehr 150 Euro am Tag soll die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache Frontex griechischen Polizisten zahlen; Beamte aus anderen europäischen Staaten erhalten für ihre Arbeit im Mittelmeer zusätzlich zum nationalen Sold weitere Aufschläge. Viel Geld für die Flüchtlingsabwehr, das in den von der Europäischen Union 2016 auf den italienischen und griechischen Inseln eingerichteten Hotspots fehlt. Dort, wo eigentlich für eine menschenwürdige Betreuung und Versorgung der Flüchtlinge gesorgt werden soll. Das aber ist nur selten der Fall, wie Mitarbeiter von Hilfsorganisationen berichten. Dabei haben NGOs wie Lesvos Solidarity in unabhängig betriebenen Unterkünften wie dem Pikpa-Camp in Mytilini bewiesen, dass Flüchtlinge zu durchaus geringen Kosten anständig versorgt werden können. Aber die autonom

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organisierten Auffanglager können nur wenige der Geflohenen aufnehmen, die sich vor dem Kälteeinbruch fürchten. Bereits Anfang November waren 3.000 Menschen in Moria untergebracht. Ausgelegt ist das Lager für 1.800. Die Diskrepanz zwischen freundlicher Aufnahmerhetorik und realer Abschottungspolitik beleuchtet auch Basil Roth von der Hilfsorganisation Lighthouse Relief. »Wir verfügen lediglich über ein einziges Nachtsichtgerät, mit dem man ein paar Kilometer weit sehen kann«, sagt der Leiter eines Teams, das ankommende Flüchtlinge aus Seenot rettet. »Das ist nichts im Vergleich zur Ausstattung von Frontex.« Ausgerechnet jetzt, wo der stürmische Winter bevorsteht, gingen seiner Organisation die Gelder aus, sodass Rettung nur eingeschränkt möglich sei. Hinzu käme, dass Frontex darauf bestehe, schiffbrüchige Flüchtlinge selbst zu retten, obwohl deren Boote dafür gar nicht ausgelegt seien, sagt Roth. Das habe bereits dafür gesorgt, dass mehr als doppelt so viele Menschen auf Frontex-Beibooten untergebracht worden seien als vorgesehen – ein lebensbedrohliches Vorgehen. Andere Helfer berichten, wie Mitarbeiter der europäischen Grenzagentur den verbliebenen privaten Seenotrettern das Leben so schwer wie möglich machten: Seit einigen Monaten müssen sie jede Mission von der griechischen Rettungsleitstelle genehmigen lassen – ganz gleich, in welcher Gefahr sich die Menschen auf See gerade befänden. Haben diese es dann erst einmal ans rettende Ufer von Lesbos geschafft, sorgen die mangelhafte Vorbereitung und die schlechte Ausstattung der griechischen und europäischen Be-

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Isoliert. Das Lager Moria.

hörden dafür, dass nachhaltige Hilfe nicht in Sicht ist. Dicht an dicht stehen die Zelte der Flüchtlinge in Moria aneinander, ausreichend Toiletten oder Duschen gibt es nicht, fließendes Wasser nur drei Stunden am Tag. Wer krank oder gebrechlich ist, muss selbst sehen, wie er an sein Essen kommt. Statt der benötigten 5.000 Essensrationen pro Tag hat die Lagerverwaltung beim Caterer nur 4.000 bestellt, berichten griechische Journalisten. Um die Flüchtlinge unterzubringen, ist die Lagerverwaltung inzwischen auf den angrenzenden Olivenhain ausgewichen. Hier sind rund 300 allein reisende Männer untergebracht, viele von ihnen in leichten, winddurchlässigen Sommerzelten. Auf den abgeschabten Plastikboden haben sie Wolldecken gelegt, um sich zumindest ein wenig gegen die Kälte zu schützen. Nachts lodern hier kleine Feuer, stickig hängt der Qualm feuchten Feuerholzes über dem Lager. Neben den Wegen liegen Plastikabfälle.

Kalte Zelte, nasse Böden Ein irakischer Kurde bittet in sein Zelt, in dem ein Mitbewohner Insektengift versprüht, um die Mücken zu verscheuchen. Ein anderer zeigt auf seinem Handy einen Film vom Vortag, an dem es geregnet hat: Unter dem Zeltboden laufen Sturzbäche den Hang herab, die das Zelt mitzureißen drohen. Die Umstehenden werden still, sie wissen nicht, wie sie mit dieser Lage ohne Hilfe klarkommen sollen. Denn ihre Zelte sind – wie die im Lager auch – nicht gegen Kälte isoliert. Bislang hat die Lagerverwaltung lediglich Holzpaletten unter die Zelte legen lassen. Aber

GRIECHENLAND

selbst von denen gab es nicht genug, um alle Zelte zumindest notdürftig zu isolieren. Im Sommer kam es aufgrund der Zustände in Moria zu Unruhen, die Bewohner randalierten und zündeten Zelte an. Die Polizei griff hart durch, Beamte prügelten auf am Boden liegende Bewohner ein. Ausgerechnet die Angestellten des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen flüchteten daraufhin durch einen kleinen Tunnel aus dem Lager. Denn an den EASOMitarbeitern entlädt sich der Frust der Flüchtlinge über das lange Warten auf ihre Asylbescheide häufig als Erstes. Auf dem Platz nahe des Hafens von Mytilini hat die Polizei den Flüchtlingen an diesem Herbstsonntag unterdessen das Angebot unterbreitet, sie angesichts eines heranziehenden Unwetters nach Moria zurückzubringen. Einige Frauen und Kinder akzeptieren resigniert und steigen in den wartenden Bus ein. Ein paar Männer bleiben zurück und sprechen davon, notfalls in den Hungerstreik zu treten. Alles sei besser als Moria, als die unmenschliche Behandlung dort, sagen sie.

Unter den Zeltböden laufen Sturzbäche den Hang herab. 49


Vor einem Jahr schlossen Regierung und FARC-Guerilla in Kolumbien Frieden. Noch immer warten Tausende Opfer auf Gerechtigkeit. Von Sara Fremberg und Annelen Micus Als im Dezember 2016 der Friedensvertrag zwischen der kolumbianischen Regierung von Präsident Manuel Santos und der linken Guerilla-Organisation FARC-EP (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia – Ejército del Pueblo) in Kraft trat, begann eine neue Etappe des Friedensprozesses in Kolumbien. Das Abkommen war vier Jahre lang verhandelt und gegen den Widerstand rechtskonservativer Kräfte durchgesetzt worden. Verschiedene Opfergruppen waren stark beteiligt und eine Kommission für Genderthemen kommentierte die Vertragsentwürfe – was als weltweit einmalig gelten kann. Der Kompromiss wurde auch durch anhaltende internationale Unterstützung möglich – sowohl während der Verhandlungen wie durch Verleihung des Friedensnobelpreises an Präsident Santos Ende 2016. Ein wichtiger Erfolg: Beide Seiten erklärten sich dazu bereit, sich vor einem Sondergericht und einer Wahrheitskommission für ihre Verbrechen zu verantworten. Auf diesem Weg sollen FARC-Mitglieder, staatliche Sicherheitskräfte und andere Akteure, die den Konflikt finanziert und unterstützt haben, für Verbrechen zur Verantwortung gezogen werden. Den Opfern und ihren Familien wird ein Mindestmaß an Aufarbeitung garantiert, den Tätern werden reduzierte Strafen sowie resozialisierende und integrative Maßnahmen versprochen, wenn sie freiwillig und umfassend zur Aufklärung beitragen. Nach Angaben des Zentralregisters für Opfer von politischer Gewalt in Kolumbien waren seit den 1960er Jahren im Zuge des Konflikts mehr als 8,5 Millionen Menschen von Menschenrechtsverletzungen betroffen – vor allem Zivilpersonen. Mehr als 250.000 Menschen wurden getötet, 60.000 gelten als verschwunden, 32.000 wurden entführt, mehr als sieben Millionen vertrieben. Der Friedensvertrag enthält umfassende Regelungen zur Dokumentation und Aufarbeitung dieser Verbrechen, zur Bestrafung der Täter und zu Möglichkeiten der Wiedergutmachung für die Opfer. Die Demobilisierung und Reintegration der

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FARC-Kämpfer, institutionelle Reformen und eine kohärente Erinnerungspolitik sind ebenfalls Teil des Abkommens. Ein Jahr nach dem Friedensschluss sind tatsächlich einige Fortschritte erkennbar: 2017 gab es keine Gefechte mehr mit Beteiligung der FARC – im August gab sie offiziell ihre letzten Waffen ab. Im Gegenzug durfte sie sich im September als Partei Fuerza Alternativa Revolucionaria del Común politisch neu konstituieren. Im Oktober 2017 trat zudem ein zunächst bis Januar befristeter Waffenstillstand zwischen der Armee und der zweitgrößten Guerilla-Gruppe des Landes, dem ELN (Ejército de Liberación Nacional), in Kraft. Beobachtern zufolge hat die FARC einen Großteil der Verpflichtungen des Friedensvertrags erfüllt. 7.000 Kämpfer sind aus ihren Lagern in den Bergen und im Regenwald in 26 sogenannte Übergangszonen gezogen, in denen sie sich ansiedeln und ein ziviles Leben aufbauen können. Allerdings ist dort die humanitäre Situation prekär, weil die Regierung keine angemessenen Unterkünfte und sanitäre Anlagen zur Verfügung gestellt hat. Hinzu kommt, dass zentrale Elemente des Friedensvertrags, wie das Integrale System für Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Nichtwiederholung, bislang nur mangelhaft umgesetzt wurden. Zwar sind die Richter des Sondergerichts und die Mitglieder der Wahrheitskommission gewählt, über ihre konkreten Befugnisse wird jedoch seit Monaten im Parlament und vor dem Verfassungsgericht verhandelt – ohne nennenswerte Fortschritte. Das Land verzeichnet weiterhin ein hohes Maß an Gewalt. Die Hauptursachen sind der Drogenhandel sowie die soziale

Die FARC hat die meisten Verpflichtungen des Vertrags erfüllt. AMNESTY JOURNAL | 12/2017-01/2018

Foto: Mads Nissen / Politiken / laif

Der Frieden hat nicht nur Freunde


Resozialisierung. FARC-Kämpfer in El Carmen del Darién, April 2017.

und wirtschaftliche Benachteiligung ganzer Bevölkerungsschichten aufgrund einer ungerechten Landverteilung. Seit Ende 2016 wurden mehr als 100 Menschenrechtsverteidiger ermordet, die Rechte ihrer Gemeinschaften und die Umsetzung des Friedensabkommens eingefordert hatten und deshalb von Paramilitärs und Drogenbanden bedroht wurden. Außerdem wurden in den ersten zehn Monaten dieses Jahres mehr als 30 frühere FARC-Kämpfer und deren Familienangehörige getötet. Obwohl der Vertrag eine Landreform und Maßnahmen gegen den Anbau illegaler Substanzen vorsieht, geht die Regierung diese nur halbherzig an. Staatliche Stellen haben es bisher versäumt, die vereinbarten Alternativen zum Drogenanbau zu schaffen. Stattdessen greifen die Sicherheitskräfte hart gegen Bauern durch, die Koka anbauen. Anfang Oktober schlugen sie eine Demonstration von Kleinbauern in Tumaco mit Waffengewalt nieder, dabei wurden sieben Menschen getötet. Die Bewohner der Regionen, die am stärksten vom Konflikt betroffen waren und sind – darunter viele afro-kolumbianische und indigene Gemeinschaften – spüren bislang wenig von den angekündigten Verbesserungen und Wiedergutmachungsmaßnahmen. Hinzu kommt, dass in den ehemals von den FARC besetzten Gegenden inzwischen Banden und paramilitärische

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Gruppen ihre Kontrolle mit Gewalt ausgebaut haben, insbesondere, was den Drogenhandel betrifft. Ein wichtiges Zeichen für den Frieden setzte im Oktober das Verfassungsgericht. Es bestätigte ein Gesetz, wonach die Grundprinzipien des Friedensvertrags in der Verfassung verankert werden – und in den kommenden drei Regierungsperioden nicht angetastet werden dürfen. Im März 2018 stehen Parlamentswahlen an, im Mai die Präsidentschaftswahl. Die rechtskonservativen Kritiker des Abkommens um den ehemaligen Präsidenten Álvaro Uribe Vélez mobilisieren bereits für den Wahlkampf. Sie drohen offen mit der Kündigung des Vertrags und hetzen gegen Friedensbefürworter, aber auch gegen die FARC, die laut Friedensvertrag in den kommenden zwei Legislaturperioden auf jeden Fall mit jeweils fünf Sitzen im Senat und in der Abgeordnetenkammer vertreten sein wird. So gesehen hat das Ringen um den Frieden gerade erst begonnen. Er hat nur dann eine Chance, wenn alle staatlichen Organe das Abkommen umsetzen, wenn sie die humanitäre Situation in den Konfliktregionen mittelfristig verbessern und effektive Maßnahmen zum Schutz von Menschenrechtsaktivisten ergreifen.

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Stadt der brennenden Diebe In bolivianischen Städten nehmen Bewohner das Recht selbst in die Hände – mangelnde Polizeipräsenz gilt als eine der Hauptgründe für die Lynchjustiz. Von Knut Henkel, El Alto (Text und Fotos) Eine mannshohe graue Puppe hängt am Strommast neben der Casa de la Solidaridad in El Alto. Um den Hals baumelt ein Schild mit der Aufschrift: »Ladrón pillado será quemado«. Die Drohung, jeden ertappten Dieb zu verbrennen, »ist durchaus ernst gemeint«, betont Federico Chipana. Der Leiter und Gründer des Kulturzentrums in Boliviens zweitgrößter Stadt will Jugendliche eigentlich zu weniger Gewalt erziehen. Nicht ganz einfach in der rauen Realität El Altos, der inzwischen zweitgrößten Stadt Boliviens. »Hier wird jeder Fremde argwöhnisch beobachtet. Die Leute haben Angst um ihr Eigentum, denn Einbrüche sind häufig, die Polizei taucht hier fast nie auf«, schildert Chipana die Verhältnisse im Problemviertel Villa Paulina, dem achten Distrikt von El Alto. Hierhin ziehen viele der Neuankömmlinge, die in der am schnellsten wachsenden Kommune des Andenstaats ihr Glück suchen. Erst vor 32 Jahren wurde El Alto auf dem Hochplateau über der Hauptstadt La Paz gegründet – und hat längst die Eine-Million-Einwohner-Marke überschritten. Zu wenig Polizei und Richter, korrupte Polizisten und Richter. Nicht nur in Bolivien, auch in anderen Staaten Lateinamerikas ist das Vertrauen in das eigene Rechtssystem geschwunden: Guatemala, Venezuela oder Mexiko gelten auch als Hochburgen der Selbstjustiz. Bürgerwehren oder spontan zusammengekommene Meuten nutzen hier die rechtsfreien Zonen, die der Staat hinterlassen hat. Laut der Ombudsstelle für Menschenrechte wurden 2014 landesweit 35 Fälle von brutaler Selbstjustiz mit insgesamt zehn Toten registriert. 2015 waren es 32 Fälle, darunter fünf Tote. Aktuellere Zahlen gibt es nicht. Experten wie der bolivianische Soziologe Jorge Derpic gehen davon aus, dass die Dunkelziffer der Lynchmorde deutlich höher liegt als die offiziell registrierten Fälle. Er hält die mangelhafte Polizeipräsenz in einigen Regionen Boliviens für die Hauptursache der Lynchjustiz. Vier von zehn Bolivianern halten inzwischen laut Umfragen Selbstjustiz für angebracht. Die Befürworter berufen sich dabei auch auf die unter dem linken Präsidenten Evo Morales erlassene neue Verfassung, die die Anwendung von »Justicia Comunitaria« (Gemeinschaftsjustiz) erlaubt. Traditioneller indigener Rechtsprechung und damit der Schlichtung von Konflikten auf lokaler Ebene sollte so mehr Raum gegeben werden. »Das Ahnden von Kapitaldelikten gehört aber nicht dazu«, sagt Nelson Cox, Ombudsmann für Menschenrechte in Cochabamba, der viertgrößten Stadt Boliviens. Cox warnt vor einem Kreislauf von Gewalt und Straflosigkeit: »Die Justiz hat an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Da nehmen die Leute das Recht in die eigenen Hän-

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de«. Das Problem: Der Staat sage nicht deutlich genug Nein zur Selbstjustiz. Die Straßen bestehen in Villa Paulina aus Schotter, die Strommasten sind noch neu, viele Grundstücke spärlich bebaut. »Hier arbeiten die Neuankömmlinge verbissen an ihrer Zukunft und verteidigen, was sie haben«, sagt der Leiter des Kulturzentrums Chipana. In seiner Casa treffen sich Jugendliche, um Theater zu spielen oder um zu diskutieren. Oder die Nachbarn kommen hier zusammen, um Probleme im Stadtteil zu beratschlagen. Davon gibt es reichlich. Gewalt ist eines – in den Familien, aber auch auf der Straße. Das ist das zentrale Thema in einem Theaterstück, das die Jugendlichen selbst geschrieben haben und nun in Schulen aufführen. Das Stück handelt von der Perspektivlosigkeit der nachwachsenden Generation und von der Gewalt in der Familie, vor allem gegen Frauen – auch die Lynchmorde spielen eine Rolle. In der Arbeiterstadt El Alto gibt es besonders viele Fälle: Neben eine der Puppen mit den eindringlichen Warnungen hat in Villa Paulina jemand »Von Nachbarn überwachte Zone« auf eine Backsteinwand geschrieben. »Vor allem in den armen Neubauvierteln wie Villa Paulina oder dem benachbarten San Luis de San Roque spielen die Leute heute selber Polizei. Da wird patrouilliert, verdächtigt, verurteilt und gemordet«, sagt Chipana und deutet auf eine verblichene Tageszeitung, die an einer Stellwand hängt. Der Fall eines von einer aufgebrachten Menge zusammengeschlagenen und mit Benzin übergossenen Mannes aus dem benachbarten San Luis de San Roque wird darin detailliert beschrieben. Federico Chipana kennt auch aus Villa Paulina viele dieser Vorkommnisse. Besonders schockiert hat ihn aber der Fall von Carlos Llano. »Mein Bruder wurde im März 2016 in San Luis de San Roque sieben Stunden lang von einer aufgebrachten Menschenmenge geschlagen, gewürgt und schließlich angeÖffentliche Drohung. El Alto.

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zündet«, sagt Tatiana Llano mit brüchiger Stimme. Die 25-Jährige gilt in El Alto als aktive Kämpferin gegen die Lynchjustiz. Viele Details der Ermordung ihres Bruders hat sie recherchiert. Und sich dabei weder von Drohungen noch von Geldangeboten abhalten lassen, Gerechtigkeit einzuklagen. »Ich will nicht, dass mein Bruder als Dieb, der aufgeknüpft wurde, in Erinnerung bleibt. Davon gibt es schon zu viele«, sagt sie mit einer Mischung aus Trauer und Entschlossenheit. An einem Dienstagmittag hatte ihr 32-jähriger Bruder das Haus seiner Eltern in Villa Horizonte verlassen. Zwei, vielleicht drei Stunden später erreichte der schmächtige Mann San Luis de San Roque. Einer Nachbarin fiel der unter Schizophrenie leidende Carlos Llano auf. Mit lauten Rufen »Ein Dieb, ein Dieb, fangt die Ratte« habe sie die Nachbarschaft alarmiert, worauf sich mehr als ein Dutzend Personen auf die Jagd nach Carlos Llano machten. Schließlich stolperte er und fiel so der Menge in die Hände. »Es gab überhaupt keinen Grund, ihn als Dieb zu verdächtigen«, betont seine Schwester. Sie hat anhand von Gesprächen mit Zeugen, Polizei und Staatsanwaltschaft den Ablauf der Geschehnisse rekonstruiert. Die Leiche konnte sie nur noch anhand von Turnschuhen und Hosen identifizieren. Ein Bein und ein Arm seien, so Tatiana Llanos, von Hunden bis auf die Knochen abgenagt gewesen. Bilder, die die junge Juristin nicht vergessen kann. Gegen fünfzehn potenzielle Täter wird derzeit ermittelt. Tatiana Llanos glaubt, dass das nur passierte, weil sie bei Polizei und Staatsanwalt immer wieder nachgehakt hat. Dort gibt es wenig Personal.

Vier von zehn Bolivianern halten Selbstjustiz für angebracht. Die Folgen: Die Aufklärungsquote bei Verbrechen ist niedrig. Und: Polizei wie Justiz genießen wenig Glaubwürdigkeit. Im Fall Carlos Llanos kommt hinzu, dass die Polizisten im Viertel mit Schweigen konfrontiert wurden. Niemand wollte etwas gesehen haben. Einige Nachbarn stritten sogar ab, dass es einen Toten gegeben habe, berichtet die Zeitung La Razón. Zwei Tage nach dem Kollektivmord entdeckten die Beamten Gräben und Erdwälle auf der Straße, die den Zugang zum Tatort versperrten. Kein Wunder, dass in den vergangenen Jahren im ganzen Land kaum einer der Lynchmorde aufgeklärt wurde. Erschwerend kommt hinzu, dass Polizei und Staatsanwaltschaft im Ruf stehen, die Hand aufzuhalten. Mehr Polizisten wünscht sich auch Tatiana Llanos: »Gesetze werden nicht durchgesetzt, weil die Polizei abseits der städtischen Zentren kaum vorhanden ist«, sagt sie und klagt, »die Justiz ist von Korruption durchdrungen«. Das will Llanos nun ändern. Ihr Berufswunsch: Staatsanwältin.

Berufswunsch Staatsanwältin. Tatiana Llano.

BOLIVIEN

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PORTRÄT

Die Waffen nieder Es war ein kalter Dezembertag, als Moon Myungjin 2010 vor dem Verteidigungsministerium in Seoul ankündigte, den Kriegsdienst zu verweigern. »Kein Lebewesen verdient es, getötet zu werden«, sagte er vor Freunden und Gesinnungsgenossen. Südkorea und seine Nachbarstaaten sollten die Aufrüstung stoppen, von der nur politische Eliten und die Rüstungsindustrie profitierten. »Meine Kriegsdienstverweigerung ist das Mindeste, was ich tun kann, um gegen diesen Teufelskreis aus Gewalt Stellung zu beziehen.« Noch am selben Abend feierte Moon Myungjin seinen Beschluss, den obligatorischen Wehrdienst nicht abzuleisten, im Kreise seiner Unterstützerinnen und Unterstützer – obwohl klar war, dass die Behörden ihn nicht ungestraft davonkommen lassen würden: Gut hundert Tage später, am 30. März 2011, wurde er wegen Kriegsdienstverweigerung verurteilt und inhaftiert. Das Land mit seinen fünfzig Millionen Einwohnern unterhält eine Armee von 650.000 Männern und Frauen – die fünftgrößte der Welt. Zwischen 21 und 24 Monate beträgt die Wehrpflicht, nur zwei Prozent jedes Jahrgangs werden ausgemustert. Als Alternative bleibt nur die 18-monatige Gefängnisstrafe. Die nahm auch Moon Myungjin in Kauf, der in einem längeren Prozess zu dem Entschluss gekommen war, dass der Dienst an der Waffe nichts für ihn sei. Erste Gedanken machte er sich bei Protesten gegen den amerikanischen Einmarsch im Irak 2003, an dem auch südkoreanische Soldaten beteiligt waren. Seine Haltung festigte sich drei Jahre später während seines Pädagogikstudiums, als er an einer Demonstration gegen den Ausbau einer US-Militärbasis im südkoreanischen Pyeongtaek teilnahm. Dort erlebte er, wie das Militär brutal gegen friedliche Aktivistinnen und Aktivisten vorging, die sich der Vertreibung von Bauern entgegenstellten. »Man hat uns immer erzählt, die Armee sei dazu da, das Volk vor dem Feind zu schützen«, er-

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Foto: privat

Weil er den Kriegsdienst verweigerte, musste Moon Myungjin in Seoul ins Gefängnis. Nun setzt sich der Südkoreaner für die Abschaffung der Wehrpflicht ein. Von Lena Khalifa innert sich der heute 33-Jährige bei einem Auftritt in Berlin. »Doch nur weil ich nicht die Meinung der Regierung teilte, wurde ich selbst zum Feind.« Als Feind gilt er immer noch, obwohl seit seiner vorzeitigen Entlassung aus der Haft im Juni 2012 mehr als fünf Jahre vergangen sind. Amnesty hatte sich für die Freilassung des Pazifisten eingesetzt, der bereits vor Verbüßung seiner Strafe für die südkoreanische Nichtregierungsorganisation World Without War tätig war. Heute reist er für die Gruppe und das südkoreanische Menschenrechtsbildungszentrum Deul um die Welt und wirbt um Verständnis für den Kampf der südkoreanischen Friedensaktivisten, die einen Zivildienst als Alternative zum Dienst an der Waffe fordern. Wegen seiner Vorstrafe darf er nicht mehr als Lehrer arbeiten. Dabei hatte er Kindern beibringen wollen, Menschen zu lieben und zu achten: »Soldat sein bedeutet aber, Menschen nicht zu achten, sie nicht als Menschen zu sehen und schließlich eine Waffe auf sie zu richten und zu schießen.« 2016 waren nach Informationen von Amnesty etwa 400 Kriegsdienstverweigerer in südkoreanischen Gefängnissen inhaftiert. Die meisten von ihnen sind Zeugen Jehovas. Angesichts der politisch angespannten Lage auf der koreanischen Halbinsel wird der Militärdienst als eine »heilige Pflicht« betrachtet. Auch deshalb hüten sich viele Verweigerer davor, ihren Entschluss mit allzu vielen Menschen zu teilen, da ihnen soziale Ausgrenzung und berufliche Einschränkungen drohen. Moon Myungjin nimmt das in Kauf – und die kleinen Veränderungen in Südkorea geben ihm Recht. Zwar hat Präsident Moon Jae-in seine Ankündigung, eine zivile Alternative zum Wehrdienst einzuführen, noch nicht umgesetzt. Doch entschieden 2016 Bezirksgerichte zugunsten von vier Männern, die den Kriegsdienst verweigert hatten. Bereits im Jahr zuvor waren sechs Verweigerer in erster Instanz freigesprochen worden.

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DRANBLEIBEN

Lateinamerika gefährlichster Kontinent für Journalisten Nirgendwo auf der Welt leben und arbeiten Reporter und Redakteure unter so gefährlichen Bedingungen wie in Süd- und Mittelamerika. Mexiko führt mit elf Morden im Jahr 2017 die Todesliste an. Selbst in Kriegsgebieten wurden weniger Medienschaffende getötet: In Syrien waren es acht, im Irak sieben. Weltweit betrug die Zahl nach Angaben von Reporter ohne

Grenzen bis Ende Oktober 48. Nicht nur in Mexiko, wo Polizei und Justiz Gewaltverbrechen an Journalisten so gut wie nie verfolgen, können sich die Täter sicher fühlen. Reporter ohne Grenzen fordert deshalb von den Vereinten Nationen, einen Sonderbeauftragten für den Schutz von Journalisten einzusetzen. Dieser sollte direkt dem UN-Generalsekretär unter-

stehen – und befugt sein, selbst zu ermitteln, wenn staatliche Stellen ihrer Verfolgungspflicht nicht nachkommen. Seit 2007 sind weltweit mehr als 700 Journalisten wegen ihrer Arbeit getötet worden, allein in Syrien waren es 48 seit Beginn des Konflikts 2011. »Immer auf die Presse«, Amnesty Journal 06-07/2017

Myanmars Militärs leugnen ethnische Vertreibungen

»Flucht vor den Buddhisten«, Amnesty Journal 08-09/2017

Foto: Sergey Ponomarev / New York Times / Redux / laif

Die Militärführung unter General Min Aung Hlaing hat die Streitkräfte Myanmars von Verbrechen an den muslimischen Rohingya freigesprochen. »Die Sicherheitskräfte haben nicht auf unschuldige Dorfbewohner geschossen und keine sexuelle Gewalt an Frauen begangen. Sie haben keine Dorfbewohner festgenommen, geschlagen und getötet«, stellte ein im November vorgelegter Untersuchungsbericht fest. Die Darstellung der Militärführung widerspricht den Berichten geflohener Rohingya sowie den Erkenntnissen der Vereinten Nationen. 600.000 Menschen sind seit August ins Nachbarland Bangladesch vertrieben worden. Amnesty International hatte bereits im Oktober Tötungen, Deportationen, Folter und sexualisierte Gewalt durch die Sicherheitskräfte dokumentiert und uneingeschränkten Zugang für die Vereinten Nationen und andere unabhängige Beobachter in das Konfliktgebiet im Bundesstaat Rakhine gefordert. Zudem müsse Oberbefehlshaber Min Aung Hlaing »dafür sorgen, dass seine Truppen keine weiteren Gräueltaten begehen«, sagte die Asien-Expertin von Amnesty, Anika Becher. Verzweifelt und vertrieben. Rohingya im September in Cox Bazar, Bangladesch.

Karlsruhe fordert drittes Geschlecht Das Bundesverfassungsgericht hat ein drittes Geschlecht für den Eintrag im Geburtenregister verlangt. Intersexuellen Menschen, die weder männlich noch weiblich sind, solle damit ermöglicht werden, ihre geschlechtliche Identität positiv eintragen zu lassen, entschieden die Karlsruher Richter im November. Zur Begründung verwies das Gericht auf das

PORTRÄT

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DRANBLEIBEN

Persönlichkeitsrecht. Deutschland wäre mit einer Neuregelung das erste europäische Land, in dem die Registrierung eines dritten Geschlechts möglich wäre. Der Gesetzgeber muss nun bis Ende 2018 eine Neuregelung schaffen, in die als drittes Geschlecht neben »männlich« und »weiblich« noch »inter«, »divers« oder eine andere »positive Bezeichnung des

Geschlechts« aufgenommen wird. Der Beschluss werde »die Akzeptanz geschlechtlicher Vielfalt in der Gesellschaft hoffentlich steigern«, sagte Maja Liebing, Amnesty-Expertin für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender und Intersexuellen (LGBTI). »Zurechtgeschnitten«, Amnesty Journal 02-03/2017

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KULTUR

Im Netz der Zensur

Gefährdet. Kirill Serebrennikov, der im August 2017 festgenommene Direktor des Moskauer Theaters Gogol-Center.

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Das staatliche Vorgehen gegen regierungskritische Künstler wie den Theatermacher Kirill Serebrennikov oder die Punkband Pussy Riot zeigt: Russland hat ein wirksames Geflecht der Zensur etabliert. Von Barbara Kerneck

Foto: Yuri Kozyrev / NOOR / laif

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RUSSLAND

ate Blanchett, Volker Schlöndorff und der Pianist Igor Levit – Prominente aus aller Welt haben die Petition zugunsten des Moskauer Starregisseurs Kirill Serebrennikov unterzeichnet. Empört sind sie über die demütigenden Umstände, unter denen man den 48-jährigen, homosexuellen Künstler und bekennenden Buddhisten Ende August 2017 festnahm. Nicht in Moskau, wo er wohnt und an dem für ihn geschaffenen Theater Gogol-Center inszenierte, sondern während einer Dienstreise nach Sankt Petersburg, von wo man ihn erst wieder heimbugsierte. Und dann noch die elektronische Fußfessel während seines Hausarrests! Man wirft dem regierungskritischen Serebrennikov vor, umgerechnet rund eine Million Euro staatlicher Fördergelder für seine Experimentierbühne Plattform unterschlagen zu haben. Schon lange bezichtigen Oppositionelle ihrerseits Präsident Wladimir Putin und dessen Regierung der Korruption. Die ließ im Gegenzug ihre politischen Gegner, wie den Rechtsanwalt und Präsidentschaftskandidaten Alexei Navalny, wegen ähnlicher Vergehen anklagen. Parallel zu dieser Entwicklung politisierte sich das russische Kulturleben. Noch in den Jahren 2011/12 waren in den russischen Großstädten Zehntausende von gut ausgebildeten jungen Leuten auf die Straßen geströmt, um gegen Wahlfälschungen zu protestieren. Seither wird jeder politische Protest im Keim erstickt. Der von der politischen Entscheidungsfindung abgeschnittenen jüngeren Generation erscheint das öffentliche Leben heute öde. Nur im Kulturbetrieb, in Theatern und bei Performances ist noch etwas los. Wie bei Serebrennikovs Aktion »Stalins Trauerprozession« am 22. Dezember 2016 im Gogol-Zentrum. Eine theatrale Nachstellung der Ereignisse vom 5. März 1953, an dem in Moskau nicht nur Stalin starb sondern auch der Komponist Sergej Prokofjew. Das Stadtzentrum war wegen der zu dem aufgebahrten Tyrannen drängenden Bürger unpassierbar. Doch gegen deren Strom trugen sechs Konservatoriumsstudenten Prokofjews Leichnam zur eigenen Trauerfeier. Die Einnahmen des Abends spendete Serebrennikov der 2016 in Moskau gegründeten Stiftung Erinnerung für die Opfer der sowjetischen politischen Verfolgungen. Am 30. Oktober dieses Jahres hat diese in Moskau ihr erstes Denkmal errichtet: die »Mauer der Trauer«, ein monumentales Relief.

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Foto: Amnesty

In Ungnade. Maria Alyokhina und Nadezhda Tolokonnikova von Pussy Riot im November 2014, rechts der Journalist Mikhail Kaluzhsky.

Serebrennikovs Fall hat Vorgänger. Erstmals protestierten die Weltöffentlichkeit und zahlreiche Prominente 2003 gegen gerichtliche Verfolgung von Kulturschaffenden im neuen Russland. Vierzig bildende Künstler und Künstlerinnen hatten damals an einer Ausstellung namens »Vorsicht Religion« teilgenommen – im Sacharow-Zentrum, einer unabhängigen kulturellen Begegnungsstätte. Russisch-orthodoxe Fundamentalisten verwüsteten den Raum und die Kunstwerke. Verurteilt wurden aber nicht die Vandalen, sondern die Veranstalter der Ausstellung: wegen Beleidigung der Gefühle der Gläubigen. Es blieb noch bei Geldstrafen. Der Philosoph Michail Ryklin erinnert sich: »Die Staatsduma klagte damals in einem Brief die Künstler im Voraus wegen Beleidigung des gesamten russischen Volkes an. Das Parlament aber folgt bei uns heute immer den Befehlen der Exekutive«. Für die Duma-Petition stimmten 265 von 267 anwesenden Abgeordneten, von denen wohl kaum jemand die Ausstellung gesehen hatte. »Dahinter konnte nur direkt die russische Regierung stehen«, meint Ryklin, sie habe von Unzulänglichkeiten, vor al-

»Das heutige System ist tausendmal schlauer als das sowjetische.« Grigory Kofman 58

lem von den sozialen Problemen im eigenen Staat ablenken müssen und neue Sündenböcke gebraucht. Ein ähnliches Gerichtsverfahren gegen Kuratoren folgte 2006. Bei beiden Prozessen drängten sich fanatische orthodoxe Gläubige, bärtige Männer in härenen Kitteln neben bezopften Frauen in Gerichtskorridoren und -sälen, dazu Kosaken mit Säbeln. Diese Statisten bedrohten die Angeklagten physisch und grölten: »Jidden raus aus Russland!« Dass sich der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche von diesen Ausschreitungen nicht distanzierte, auch dagegen protestierte schließlich die Frauengruppe Pussy Riot mit ihrem Punk-Gebet in der Moskauer Christus-Erlöser-Kirche. Zwei der Sängerinnen wurden 2012 wegen »Rowdytums aus religiösem Hass« zu je zwei Jahren Lagerhaft verurteilt. »Die russisch-orthodoxe Kirche konnte sich seit der Ära des Kommunismus nicht mehr aus ihrer Rolle als Unterabteilung des Staatsapparates befreien«, sagt Mikhail Kaluzhsky, bis vor drei Jahren noch Leiter der Theaterprogramme des SacharowZentrums. In deren Rahmen rollte der Schweizer Regisseur Milo Rau 2013 diese drei Gerichtsverfahren mit Originalakteuren neu auf und drehte dabei seinen Film »Die Moskauer Prozesse«. Aggressive Proteste radikaler Gläubiger brachten seine Arbeit allerdings fast zum Erliegen. Heute lebt Mikhail Kaluzhsky mit seiner Familie in Berlin. »Wir wären nur sehr ungern noch länger in jenem Land geblieben«, sagt er. Der Journalist und Theatermacher hat eine Liste von in Russland aktuell gebräuchlichen Zensurinstrumenten erstellt. Auch wenn Russland seiner Verfassung zufolge angeblich noch immer frei von Zensur ist: Gerade Gesetze bilden heute

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Foto: Anton Novoderezhkin / ITAR-TASS / pa

»Selbstzensur spielt eine wichtigere Rolle als die von oben.« Maria Stepanova

ihre wichtigste Grundlage. 2010 wurde zuerst die »Beleidigung religiöser Gefühle Gläubiger« verboten, danach die »Verbreitung von Informationen, welche der Gesundheit und Entwicklung von Kindern schaden«, und ergänzend dazu die »Propaganda homosexueller Beziehungen«. 2014 verbot der russische Gesetzgeber das Fluchen im öffentlichen Raum. Seit Neuestem darf nicht mehr jeder rechtmäßige Käufer einer legalen Filmkopie diese auch zeigen. Die Vorführung bedarf jetzt einer zusätzlichen Lizenz. Nach den gesetzlichen Druckmitteln stehen auf Kaluzhkys Liste die gern genutzte »Stimme des Volkes« – und finanzielle Hebel. Die finanzielle Situation russischer Theater kennt Grigory Kofman, vormals künstlerischer Leiter des Russischen Theaters Berlin, aus dem Effeff. Etwa sechzig von ihnen haben bereits an dem europäischen Theaterfestival »LIK« teilgenommen, das der gebürtige St. Petersburger seit Jahren in Nordwestrussland organisiert. Diese Theater klagen notorisch über Geldmangel, und hier setzt dann die Zensur an: »Hinter den Kulissen kommt dann die Antwort: Sie müssen eben Ihr Repertoire ändern!«, erklärt Kofman. »Allerdings hat mir kein Regisseur eines Privattheaters je gesagt: Ich habe dieses oder jenes Stück abgesetzt, weil …, aber ich bin mir sicher, dass es so läuft. Das heutige System ist tausendmal schlauer als das sowjetische, nicht so grob und direkt.« Zum Vorwurf, Serebrennikow habe sich finanzielle Unregelmäßigkeiten zu Schulden kommen lassen, sagt Kofman: »Kein Kulturunternehmen in Russland hat ›saubere Kassen‹. Eine ›saubere‹ Abrechnung im heutigen System ist unmöglich. Es gibt so viele Vorschriften und Abrechnungsschemata, dass man als Leiter immer versuchen muss, zu schummeln.«

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»Heutzutage spielt die Selbstzensur bei uns eine wichtigere Rolle als die von oben«, hat auch Maria Stepanova beobachtet, die Chefredakteurin von Russlands unabhängigem Internetkulturmagazin colta.ru. Ihr Medium finanziert sich durch Crowdfunding. »Das Wichtigste für die da oben ist, über eigene Claqueure zu verfügen«, sagt sie und spielt dabei vermutlich auf die gläubigen Randalierer und rechtsextreme Rockergruppen an. »Die so Agierenden müssen gar nicht formell mit dem Staat verbunden sein, ihr Vorgehen hat die Aufgabe, Angst zu erzeugen. Diese Atmosphäre der Angst verändert unsere Gesellschaft.« In ihrem Arbeitsalltag habe es viele Fälle gegeben, »in denen mich ein Kurator oder Galeriebesitzer bat, über den einen oder anderen Aspekt seiner bevorstehenden Ausstellung lieber nichts zu schreiben, denn sonst bekäme er ›Probleme‹«. Die Zensur erfasst den gesamten russischen Alltag, auch kleine Buchgeschäfte, Galerien und Kulturhäuser. Die noch unlängst in den Städten prangenden bunten Graffiti sind übertüncht. Ein junger russischer Künstler auf Auslandsreise erzählt: »Ein paar kleine Galerien oder Kulturhäuser haben Vortragsabende über unliebsame Kunst zugelassen, zum Beispiel zu aktueller sozialkritischer Kunst. Am nächsten Tag drohte man den Leiterinnen mit Entlassung.« Dafür präsentierten die staatlichen Kunsthallen jetzt immer mehr Ausstellungen mit Sozialistischem Realismus, »die uns zeigen, wie schön es damals war«, so der Künstler. Auch der Buchmarkt und die Bibliotheken verarmen. Nur ein Beispiel: Aus der großen Moskauer Buchhandlung Respublika verschwand historische Literatur, »weil sie überprüft werden müsse«, wie es offiziell hieß. Die Glorifizierung der Sowjetgeschichte ist in vollem Gange. Auch wenn zur Einweihung der »Mauer der Trauer« in Moskau Präsident Putin persönlich erschien – landesweit wird das Gulag-Gedenken verdrängt. In der im Osten an den Ural grenzenden Region Perm hat man das seit 1995 von einer Nichtregierungsorganisation getragene Gulag-Museum Perm 36, das sich mit politischer Repression in der Sowjetzeit befasste, graduell verstaatlicht. 2013 musste deshalb das dortige Festival »Pilorama«, zu dem auch Amnesty International regelmäßig inhaltliche Beiträge leistete, seine Aktivitäten einstellen. Die Ursache hierfür mögen die freiheitlichen gesellschaftspolitischen Diskussionen wie auch die Auftritte von Popstars auf dem Festival gewesen sein, die bei der russischen Obrigkeit in Ungnade gefallen waren. Der Stückeschreiber und Theatermacher Mikhail Kaluzhsky ist dem Zensurterror entkommen. Für das russische Kulturleben fürchtet er aber, dass es »in Provinzialität versinkt«. Die Medien seien schon weitgehend gleichgeschaltet, nun wählten die Machthaber die Kultur als Arena für ihre Konflikte. »Gleichzeitig«, sagt Kaluzhsky, »knöpfen sie sich die Geschichte vor. Die nächsten Opfer werden Historiker sein.«

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Blut für die Welt Der Schweizer Milo Rau hat einen Dokumentarfilm über sein Theaterprojekt »Kongo-Tribunal« gedreht. Er erzählt vom Kampf um Rohstoffe in der Demokratischen Republik Kongo – und der Inszenierung einer Wahrheitsfindung. Von Jürgen Kiontke

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o die Politik versagt, muss es die Kunst richten. Der Film »Das Kongo Tribunal« dokumentiert eine Gerichtsverhandlung auf einer Theaterbühne. Das Gericht, das hier tagt, ist zwar nur symbolisch, doch bleibt seine Arbeit nicht wirkungslos. Denn es schafft Öffentlichkeit für einen Konflikt, der mit der modernen Welt und ihrer Kommunikation zu tun hat. Seit mehr als 20 Jahren tobt ein Bürgerkrieg in der Demokratischen Republik Kongo, einem der rohstoffreichsten Länder der Erde. Rund sechs Millionen Menschen wurden seither getötet. Es geht um wichtige Rohstoffe, an allererster Stelle um Coltan, den Grundstoff des Metalls Tantal, ohne das kein Handy funktioniert. Coltan ist das Konfliktmaterial schlechthin: Wer mobil telefoniert, hat Blut an den Händen. Es ist eine Auseinandersetzung ohne Grenzen, Gerechtigkeit, Schutz. Der Abbau des Erzes wird von Milizen kontrolliert und von Kindern unter schlimmsten Bedingungen geleistet, ein Umstand, der von Amnesty International seit Jahren kritisiert wird.

Gesteuert wird der Rohstoffhandel von internationalen Konzernen, die in Europa und den USA ansässig sind. Funktionierende staatliche Strukturen im Kongo wären ihnen im Wege: Je weniger Barrieren und Kontrollen es gibt, desto eher lassen sich die Preise drücken. Die Konkurrenz der Milizen sorgt für erschwingliche Güter. Eine Situation, von der jeder im Kongo betroffen sein und in Konflikte hineingezogen werden kann. Lösungen sind nicht in Sicht. Seit einigen Jahren widmet sich der Schweizer Regisseur und Autor Milo Rau dieser Krise mit einem der ambitioniertesten Theaterexperimente, das je auf die Bühne kam. Er lud im Kriegsgebiet Opfer, Milizionäre, Regierungsmitglieder, Oppositionelle, Unternehmer und Vertreter internationaler Organisationen zur Teilnahme am Kunstprojekt »Kongo Tribunal« ein. Er setzte damit eine Idee der Philosophen Jean-Paul Sartre und Bertrand Russell fort: In den sechziger Jahren wurden USamerikanische Kriegsverbrechen im Vietnamkrieg vor einer unabhängigen Jury in Europa verhandelt – ohne juristische Folgen, dafür in aller Öffentlichkeit. Die Legalität des »Russell-Tribunals« bestehe in seiner absoluten Machtlosigkeit und zugleich in seiner Universalität, war sich Sartre sicher. Das Gleiche treffe auf »Das Kongo Tribunal« zu, glaubt Rau. Das Urteil der Jury werde keinerlei Rechtskraft haben. Aber es entstehe das Porträt einer entfesselten Weltwirtschaft. Dem symbolischen Gericht gehörten kongolesische und internationale Experten sowie zwei Juristen des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag an.

Weltpolitik mit den Mitteln des Theaters. Zuschauer, Ankläger und Involvierte (Filmszenen aus »Das Kongo Tribunal«).

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Fotos: Realfiction Filme

Aber nicht spektakulär und anklagend, sondern beschaulich beginnt Raus Film: mit Luftaufnahmen von einem sehr schönen und sehr grünen Land, auf dessen Hügeln kleine Siedlungen liegen. Doch schon bald folgen Bilder eines Blutbads, dessen Zeuge Rau und sein Team zufällig während einer Recherchereise wurden: des Massakers von Mutarule in der Nähe der ostkongolesischen Stadt Bukavu im Juni 2014. Mehr als 30 Menschen fielen ihm zum Opfer. »Dies ist der Grund, warum wir ›Das Kongo Tribunal‹ durchgeführt haben: Um zu verstehen, warum Mutarule, warum all diese Vertreibungen und Massaker stattgefunden haben und weiter stattfinden«, sagt Rau. Und es waren Hunderte. Denn unter dem Grün liegen Rohstoffe, und wo sie gefunden werden, muss die Bevölkerung mit ihren Ackerflächen weichen. Der Film dokumentiert Raus Inszenierung einer Wahrheitsfindung. Ein theatrales Tribunal, sagt Rau, bei dem nichts Kunst, aber alles echt sei: vom Minenarbeiter über den Rebellen und zynischen Minister bis zum Anwalt aus Den Haag spielten sämtliche Teilnehmer nur sich selbst. Gleichzeitig entstehe in dem Film etwas, was eigentlich dokumentarisch gar nicht darstellbar sei: ein Porträt der Weltwirtschaft, eine sehr konkrete Analyse all der Faktoren und Hintergründe, die dazu führen, dass der Bürgerkrieg im Ostkongo seit mehr als 20 Jahren andauert – und welche Kräfte ein Interesse daran haben, dass dies so bleibt. Und so teilt sich die Erzählung: Das Massaker im Dorf Mutarule, die gewaltsamen Enteignungen und Zwangsumsiedlungen der Minenarbeiter stehen bei der Gerichtsverhandlung im Kongo im Fokus. Am zweiten Spielort in Berlin geht es um die Verwicklungen der Europäischen Union, der Weltbank, der multinationalen Unternehmen in den Konflikt, analysiert werden sie von einer Jury um die belgische Afrikakorrespondentin Colette Braeckman, den Menschenrechtsanwalt Wolfgang Kaleck, die Soziologin Saskia Sassen und den Gewaltforscher Harald Welzer. Es werden Handelsvereinbarungen beleuchtet, die für die EU lu-

»DAS KONGO TRIBUNAL«

Internationale Multis, durch Bestechung an Goldund Coltan-Konzessionen gekommen, vertreiben die Bevölkerung. krativ, aber für die Minenarbeiter und ihre Familien verheerend sind. Das Motto der Europäer: Unsere Rohstoffe liegen in Afrika. Wer verübt die Morde? Oft genug bilden Menschen, die in den Minen keine Anstellung finden, Banden und überfallen ihre Nachbarn. Die Minenarbeiter wiederum bewaffnen sich, um sich und ihre Familien zu schützen. Menschen sind im Weg, weil eine neue Mine gegraben werden muss. Menschen sind im Weg, weil man ihr Wasser für die Metallgewinnung braucht. Dies alles sind Mikrokonflikte, die sich jederzeit ausweiten können. Die infernalische Situation, wie sie sich in der betroffenen Region rund um die ostkongolesischen Städte Bukavu und Goma präsentiere, sei aus ästhetischer Sicht eine vielleicht einmalige Konstellation, sagt Rau. Das sei nicht zynisch gemeint. In dem Konflikt zeige sich eindrücklich und exemplarisch, wie hoch die menschlichen Kosten des globalen Handels mit Rohstoffen seien: »Internationale Multis, durch Bestechung an ihre Gold- und Coltan-Konzession gekommen, vertreiben die Bevölkerung, und wer nicht von alleine geht, wird durch europäische oder amerikanische Monopolgesetze vom Markt gedrängt.« Weltpolitik mit den Mitteln des Theaters – die Produktion entwickelt durchaus ihre Eigendynamik. Es bleibe ihm bis heute unverständlich, warum zwei Regierungspolitiker der Provinz Südkivu, der Bergbauminister Albert Murhi und der Innenminister Jean-Julien Miruho, beide indirekt mitverantwortlich für das Massaker in Mutarule, freimütig an dem Tribunal teilnahmen, sagt Rau. Beide waren im Zuge des Projekts recht schnell ihre Posten los. »Gott nimmt die Treppe, nicht den Aufzug«, heißt es einmal im Film. Bis heute wundert sich Rau über so manches: »Wie es möglich war, dieses im Herz des Bürgerkriegsgebiets durchzuführen – vor tausend Zuschauern, aufgezeichnet von sieben Kameras, an einem Ort, an dem es kaum genug Strom für ein paar Glühbirnen gibt.« Und dass nicht nur kongolesische Regierungspolitiker und ihre Opfer, sondern auch die Armee und Rebellengruppen, die UNO, NGOs, die Vertreter der Weltbank und damit sämtliche westlichen Industrienationen vor die Schranken des Theatertribunals traten – und oft genug unverblümt ihre Verbrechen zugaben. »Die Soldaten der Armee vergewaltigen doch auch«, sagt ein Milizenführer im Film unumwunden. Sollte sich Gerechtigkeit etwa irgendwann ganz von allein einstellen, wie bei den beiden Provinzministern? Das dann wohl doch nicht. Es kommen auch Menschen mit weniger Gottvertrauen in diesem Film zu Wort: »Jetzt wollen wir ein richtiges Tribunal.« »Das Kongo Tribunal«. CH/D 2017. Regie: Milo Rau. Kinostart: 16. November 2017. www.the-congo-tribunal.com

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Auf der Tonspur der Erbsubstanz Residente, der Sänger und Komponist von Lateinamerikas Rap-Duo Calle 13, ist auf eine musikalische Entdeckungsreise zu seinen Urahnen gegangen. Herausgekommen ist ein Album für Weltbürger. Von Knut Henkel

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uf die Idee, einen großen DNA-Test zu machen, ist René Pérez Joglar durch einen Kollegen gekommen: »Wir saßen nach einem Konzert von Calle 13 hinter der Bühne, als er mir erzählte, dass moderne DNA-Tests detailliert aufzeigen können, woher deine Urahnen stammen. Das hat mich nicht mehr losgelassen«, sagt der 39-jährige Sänger und Komponist aus Puerto Rico. René Pérez Joglar, Künstlername Residente, ist die eine Hälfte des Rap-Duos Calle 13 – die andere ist Eduardo José Cabra Martínez, genannt Visitante. Gemeinsam haben sie mit kreativen Beats und kritischen Texten Lateinamerikas Musikszene im Sturm erobert und mittlerweile 24 LatinGrammy-Awards gewonnen. Sie füllen ganze Stadien und haben bereits mit Salsa-Veteran Rubén Blades, Weltmusikerin Susana Baca oder Popstar Shakira zusammengearbeitet. Da kam etwas Inspiration gerade recht: »Mit Calle 13 war ich damals in einer Komfortzone, ich wurde bequem und das ist etwas, was einem Künstler nicht passieren sollte«, sagt Residente. Der DNA-Test, der ihm bestätigte, dass seine Urahnen aus knapp einem Dutzend Länder auf vier Kontinenten kommen, brachte ihn auf die Idee, Musik auf der Fährte seiner Erbsubstanz zu machen. Zudem entschloss er sich, den Prozess und die Zusammenarbeit mit den Musikern in den Ländern, die er besuchte, auch zu dokumentieren. »Den Film haben wir im März beim Filmfestival South by Southwest in Austin vorgestellt, derzeit verhandeln wir über die Optionen, ihn online zu zeigen, und am Buch schreibe ich noch«, erklärt Residente. Sich weiterentwickeln will der Rapper, mit dessen Texten sich bereits Schulklassen und Universitätsseminare beschäftigen. Auf seinem Solodebüt nach sechs erfolgreichen Alben mit Calle 13 liefert er neue Texte zum Zusammenleben der Spezies Mensch. »Es ist ziemlich lächerlich, dass Menschen behaupten, sie seien rein und stammten aus diesem oder jenem Land«, sagt Residente, »alle Menschen stammen von einer schwarzen Mutter ab«. Das hat er mit dem Video zu »Somos Anormales« auch gleich selbst in Szene gesetzt. Da lässt er eine afrikanische Frau aus dem Ei schlüpfen und sie schwarze, braune und weiße Kinder in Serie gebären. Ein von treibenden Beats untermaltes Manifest gegen jegliche Form von Rassismus. Doch diese Perspektive teilt Residente ganz und gar nicht: »Ich habe nie irgendetwas gegen etwas gemacht, ich schreibe, komponiere, agiere für et-

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was: für eine geeinte Welt ohne rassistische Grenzen.« Diese Haltung prägt auch das Werk von Calle 13. Im September 2005 machte das Duo mit dem Protestsong »Querido FBI« gegen die Ermordung eines puerto-ricanischen Unabhängigkeitskämpfers durch das F.B.I. auf sich aufmerksam. Sie rappten über die Schicksale von Migranten, die auf ihrem Weg aus Mittelamerika durch Mexiko in die USA von Kriminellen ausgeplündert wurden oder in der Wüste verdursteten. Sie nahmen die Korruption in Nord und Süd ins Visier und gingen den kolumbianischen Ex-Präsidenten Álvaro Uribe Vélez als obersten Paramilitär des Landes live im Fernsehen an. Das hat dem Duo – und mehr noch Residente als dessen Stimme – enormen Respekt bei der Linken des südamerikanischen Kontinents und bei der Jugend verschafft. Das Konzert 2010 in Havanna vor der US-Botschaft mit 500.000 Menschen oder das »Konzert der Hoffnung« 2014 in Bogotá zum Friedensprozess mit der FARC-Guerilla auf der überfüllten Plaza de Bolívar zeugen davon genauso wie ihre Auftritte in Puerto Rico, dem 51. Bundesstaat der USA. Für dessen Unabhängigkeit engagiert sich René Pérez Joglar. Er ist in der Hauptstadt San Juan aufgewachsen und hat mehrfach über die »peinliche Nationalhymne« gelästert. Mit »Hijos del Cañaveral« bietet er nun eine inoffizielle Hymne für Puerto Rico an. Das melodiöse Stück schließt sein Debütalbum ab und ist Ausdruck seiner Hoffnung, dass die Insel in US-Obhut sich doch noch einmal entkolonialisieren werde. »Ehrlichkeit ist das Fundament eines Künstlers. Ich beobachte, reflektiere, beziehe Stellung und äußere mich – nicht nur zu Lateinamerika«, erklärt Residente, der sich für Amnesty International und das Kinderhilfswerk Unicef engagiert. Residente ist mit fünf Geschwistern aufgewachsen, seine Mutter war Schauspielerin, sein Stiefvater Musiker und politisch engagierter Anwalt. Dank dieses Umfelds zeichnet alle Geschwister Rhythmusgefühl und kritisches Denken aus. So ist Residentes Schwester Ileana Cabra Joglar, alias PG-13, auf jeder Tour dabei. Auf seiner derzeitigen Solotournee vermisst Residente seinen Stiefbruder Visitante. Kein Wunder, denn zum Programm gehören neben den neuen Residente-Songs auch die gemeinsam komponierten Hits von Calle 13. Die werden mit atemberaubendem perkussivem Druck auf die Bühne gebracht – neben den beiden Schlagzeugern sind auch noch Pauken, Congas und Bongos im Einsatz. Das Ergebnis ist ein druckvolles Klanggewitter, über dem die markante Stimme von René Pérez Joglar schwebt. Auch in den Tourpausen steht Residente unter Strom. So fanden die Videoarbeiten für »Guerra«, das Antikriegsstück, das die Crew in zweieinhalb Wochen in Nagorny-Karabach aufnahm, mal eben zwischen den Konzerten in Spanien und Deutschland statt. Das intensive, von Frauenchören geprägte Stück, ist einer der herausragenden Songs des Albums. Das Klirren fallender Patronenhülsen darin nistet sich länger im Ohr ein, als einem lieb ist.

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Foto: Promo

»Ich schreibe, komponiere und agiere nicht gegen, sondern für etwas: für eine geeinte Welt ohne rassistische Grenzen.« Residente

Weltbürger. Rapper Residente.

RESIDENTE

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»Ich bin nicht die Putzfrau der Nation« Interview: Uta von Schrenk

Seit mehr als 30 Jahren entfernen oder verfremden Sie rechtsextreme Schmierereien. Wie oft haben Sie seither Hand angelegt, um deutschen Beton ein wenig menschenfreundlicher zu gestalten? Das ist schwer zu sagen. Seit 2007 habe ich allein über 78.000 Sticker entfernt. Ich habe insgesamt knapp hundert Ordner mit den Fotos aller Hassparolen, Aufkleber und Spuckies, die ich übermalt oder abgekratzt habe. Seitdem 2015 knapp 900.000 Flüchtlinge nach Deutschland kamen, nimmt die Hasskriminalität drastisch zu – sehen Sie das auch an Wänden, Brücken und Unterführungen? Man sieht es, leider. Die meisten rechten Parolen wenden sich heute vor allem gegen Flüchtlinge: Bösartige Karikaturen von muslimischen Männern, die eine junge, blonde Frau vergewaltigen, Schmierereien wie »Scheißdreckflüchtlinge« oder Schildchen mit einer verschleierten Frau, auf denen »Unerwünscht« steht. Flüchtling ist heute ein Schimpfwort und darunter wird jeder subsumiert, der nicht vermeintlich deutsch aussieht: Frauen mit Kopftuch, schwarze und dunkelhäutige Menschen. Früher habe ich einen Ordner mit Hassparolen in einem Jahr gefüllt. Heute brauche ich dazu nur noch ein Vierteljahr. Allein aus dem August habe ich fast 300 Fotos. Rechtsextreme Standpunkte werden auch in der Politik wieder offen vertreten, die AfD ist in den Bundestag gewählt worden. Wie wird dies den öffentlichen Raum verändern? Rechtsextremismus und Rassismus sind wieder salonfähig – das ist das fatale Signal, das von dieser Wahl ausgeht. Und das wird die Auseinandersetzung mit den Rechten verschärfen. Ich habe immer einen Ceranfeldschaber, Farbspray und dicke Buntstifte dabei. Es reicht nicht, eine Kampagne für Toleranz und das Recht auf Asyl auf Facebook oder im Internet anzuklicken. Diese Haltung muss auch auf der Straße sichtbar werden. Es ist keine Meinungsfreiheit, wenn Nazis Hassparolen an Wände schmieren. Meinungsfreiheit hat Grenzen, nämlich dann, wenn sie menschenverachtend wird. Meine – unbeabsichtigten – Schäden beim Entfernen von Aufklebern oder Hassparolen, die kann man reparieren. Den Schaden an der Seele, den jemand nimmt, der solch einen Hass gegen sich gerichtet sieht, kann man nicht wiedergutmachen.

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Was hat Sie sensibilisiert? Mein Schlüsselerlebnis war ein Sticker bei mir zu Hause um die Ecke, am Wannsee: »Freiheit für Rudolf Hess«. Das war 1986, ich war auf dem Weg zur Arbeit und hatte nichts dabei, um ihn abmachen zu können. Ich habe mich den ganzen Tag geärgert. Mit Nichtstun kann man nichts erreichen – diese Erkenntnis hat mir damals einen Adrenalinschuss versetzt. Ich habe dann den Kriegsverbrecher nach Feierabend von der Wand geholt. Was bei Ihrer Arbeit auffällt, ist die Leichtigkeit, mit der Sie zu Werke gehen: Ein Herzchen oder Blümchen – und mit wenigen Handgriffen wird aus einer Hassparole ein tolerantes Graffito. Lässt sich ein solch mühseliges Unterfangen nur mit Humor und gestalterischem Willen ertragen? So gut wie diese jungen Künstler von PaintBack, die in Berlin rechtsradikale Parolen in wundervolle Graffiti verwandeln, bin ich nicht. Ich habe auch gar nicht diesen Anspruch und auch nicht den Rahmen: Wenn ich nach Halberstadt oder Freital fahre, gibt es eine Menge zu tun. Ich kann da keine bis ins Detail gearbeitete Eule oder ein üppiges Wandgemälde entwerfen. Was ich machen kann, sind freche Gesichter aus Keltenkreuzen oder Herzchen aus Hakenkreuzen. Ich versuche den Hass in etwas Freundliches, Zugewandtes zu verwandeln. Das ist keine Kunst, aber ohne Kreativität geht es auch nicht. Dabei bezeichnen Sie sich ausgesprochen nüchtern als »Politputze«. Als ich in der Nähe eines Imbissstandes im Wedding Naziparolen von einer Wand entfernte, fauchte mich die Betreiberin an, doch gleich alles zu putzen. Wie verächtlich. Da habe ich gesagt: Ich bin hier nicht die Putzfrau der Nation, ich bin die Politputze. Ich mache nur den rechten Dreck weg. Können Sie heute überhaupt noch vor die Tür gehen, ohne Hassparolen wahrzunehmen? Nein. Ich sehe ständig und überall Hakenkreuze, Nazisticker, Flüchtlinge-raus-Geschmiere. Am Hauptbahnhof komme ich immer an dem Briefkasten am Ausgang Europaplatz vorbei. Der

»Ich versuche den Hass in etwas Freundliches zu verwandeln.« Irmela Mensah-Schramm AMNESTY JOURNAL | 12/2017-01/2018

Foto: Gordon Welters / laif

Irmela Mensah-Schramm entfernt seit Jahrzehnten Hassparolen aus dem öffentlichen Raum in Deutschland.


IRMELA MENSAH-SCHRAMM Irmela Mensah-Schramm, 71, ist ehemalige Heilpädagogin und lebt in Berlin. Seit 1986 entfernt sie rassistische und antisemitische Parolen und hat dafür mehrere Auszeichnungen erhalten – 1996 die Bundesverdienstmedaille. Diese gab sie zurück, nachdem sie erfuhr, dass auch ein früheres SS-Mitglied und späterer NPD-Politiker mit der Ehrung bedacht wurde. Immer einen Ceranfeldschaber in der Handtasche. Irmela Mensah-Schramm in Bernau bei Berlin.

ist Tag für Tag mit Hass vollgeklebt. Also mache ich keine Reise mehr, ohne nicht vorher oder hinterher diesen Postkasten zu putzen. Ich habe auch schon im langen Abendkleid, auf dem Heimweg von der Oper etwas abgekratzt. Die Dokumentation Ihrer eigenhändig entfernten Hassparolen hat es bis ins Deutsche Historische Museum geschafft. Die Ausstellung über antisemitische und rassistische Aufkleber von 1880 bis heute wandert, unter anderem war sie im Museum für Kommunikation in Frankfurt am Main, im NS-Dokumentationszentrum in München und in der Friedrich-Ebert-Gedenkstätte Heidelberg. Dabei ist mir aufgefallen, wie wenig sich die meisten Besucher für die Hasspropaganda der Gegenwart interessieren – selbst wenn ich sie darauf anspreche. Schockierend. Die Leute sehen sich lieber die historischen Spuckies aus den dreißiger und vierziger Jahren an, für die Gegenwart sind sie blind. Im Ausland dagegen ist das Interesse an meiner Sammlung sehr groß. Wenn schon viele Museumsbesucher so wenig Interesse zeigen, wie reagieren dann die Bürger auf der Straße, die Sie bei der Arbeit beobachten? Ich erlebe viel Zuspruch, aber auch bedrückende Situationen. Ich sei schlimmer als die Nazis, man sollte mich vergasen, heißt es immer öfter. In Rudow, im Süden Berlins, hat ein Vater seine Kinder demonstrativ vor mir in den Arm genommen, als ich einen Nazi-Aufkleber abgekratzt habe. Als ob er sie ausgerechnet vor mir schützen müsste! Ein älterer Herr wollte mich schlagen, als ich den Schriftzug »Dresden unvergessen« mit Far-

IRMELA MENSAH-SCHRAMM

be übersprüht habe – seine Frau konnte ihn gerade noch zurückhalten. 1992 habe ich am S-Bahnhof Friedenau an einer Plakatwand den Schriftzug »Türken vergasen« mit schwarzem Buntstift übermalt – da ist ein Wachschützer auf mich losgegangen. Am Ende lag ich auf dem Bahnsteig und musste mit einem Schädel-Hirn-Trauma ins Krankenhaus. Oben drauf habe ich noch eine Anzeige bekommen wegen Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung und Körperverletzung! Da habe ich meinerseits Anzeige erstattet. Das Verfahren wurde aber eingestellt – gegen meinen Willen. Sie sind diejenige, die strafrechtlich verfolgt wird? Das passiert regelmäßig. Als ich in Bautzen auf einem Verteilerkasten den Schriftzug »Nationaler Sozialismus« um das Wort »Nationaler« gekürzt habe, hat ein Bundespolizist außer Dienst seine Kollegen alarmiert und mich wegen Sachbeschädigung angezeigt. Zuletzt stand ich in Berlin vor Gericht, weil ich in einem Fußgängertunnel den Pegida-Spruch »Merkel muss weg« in »Merke! Hass weg!« abgewandelt hatte. Das sollte mich 1.800 Euro kosten. Das Verfahren wurde im Sommer eingestellt. Ihre Widersacher haben bereits Todesdrohungen gegen Sie geklebt, ein Rechtsextremer attackierte Sie mehrmals mit seinem Motorrad – und dennoch putzen Sie weiter? Ich bin nicht angstfrei. Die Frage ist nur, welche Angst in mir größer ist. Und ich habe mehr Angst vor dieser gegenwärtigen hasserfüllten Stimmung, als dass mir alter Frau auf der Straße jemand etwas antut.

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Rächer des Rechtsstaats Der ghanaische Journalist Anas Aremeyaw Anas arbeitet mit drastischen Methoden, um Korruption und Menschenrechtsverletzungen aufzudecken. Von Hannah El-Hitami

Schützende Exzentrik. Anas Aremeyaw Anas hinter Perlenvorhang.

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as wie die Ansage eines Superhelden aus einem eher seichten Blockbuster klingt, sind die Worte des ghanaischen Journalisten Anas Aremeyaw Anas in dem Filmporträt »Chameleon«: »Wo du dich auch versteckst, wenn du ein Krimineller bist, werde ich dich finden. Ich komme über den Landweg, über das Meer oder aus der Luft. Wo immer du bist, ich werde kommen.« Tatsächlich wird der ungewöhnliche Reporter in Ghana von vielen als Held gefeiert – und präsentiert sich in den Medien auch gern selbst als Gerechtigkeitskämpfer, als geheimnisvoller Rächer des Rechtsstaates. Anas ist Undercoverjournalist, der wohl bekannteste auf dem afrikanischen Kontinent. Wie er aussieht, weiß niemand: Bei öffentlichen Auftritten verbirgt er sein Gesicht hinter Perlenvorhängen, Kabelsalat oder Häkeldeckchen. Diese Exzentrik mag zu seinem Kultstatus beigetragen haben. Manche wollen glauben, er sei kein Mensch und könne durch Wände gehen. Im übertragenen Sinne stimmt das sogar: Mit versteckter Kamera ist Anas in seinen 17 Jahren als Undercoverjournalist in Räume und Situationen vorgedrungen, die der Öffentlichkeit sonst verborgen bleiben. Für seine investigative Arbeit ließ er sich in einer psychiatrischen Einrichtung behandeln, ins Gefängnis sperren und ging monatelang noch einmal zur Schule, um Übergriffe an einem Gymnasium aufzudecken: »Ich musste sogar eine Freundin auf dem Campus haben«, erzählt Anas vergnügt am Telefon. »Wir gingen zusammen in Clubs und Bars. Aber das war natürlich

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alles Teil meiner Arbeit.« Besonders gern erinnert er sich an gefährliche Missionen: als er sich als Felsen tarnte, um Kakaoschmuggler zwischen Ghana und der Elfenbeinküste zu schnappen oder in die Rolle eines arabischen Kronprinzen schlüpfte, um chinesische Menschenhändler in Ghana aufzuspüren. Unter dem Namen Joseph Jesus Christ trat er sogar einer christlichen Sekte in der ghanaischen Ashanti-Region bei, um den Kindesmissbrauch dort ans Licht zu bringen. Anas setzt sich als Journalist für Recht und Gerechtigkeit in seiner Heimat und in benachbarten Ländern ein. Seine kühne Mission: »Naming, shaming and jailing« – also aufspüren, bloßstellen und hinter Gitter bringen. Die drei Worte sind sein Mantra, er erwähnt sie bei jeder Gelegenheit, wenn er in Schulen, Universitäten oder bei Konferenzen auftritt – und sich von seinen Fans bejubeln lässt. Die Stimme des stets sorgfältig gekleideten Mittdreißigers ist ruhig und fest, als er am Telefon von seiner Arbeit spricht. Wie viele Missionen er bereits erfüllt hat, weiß er nicht. »Ich habe nicht mitgezählt, aber es waren sehr, sehr viele.« An Selbstbewusstsein mangelt es ihm nicht. »Meine Geschichten hatten einen großen Einfluss, nicht nur auf Ghana, sondern auf Afrika und die ganze Welt.« Tatsächlich hat der Star der ghanaischen Medien zahlreiche Menschen vor Gericht und ins Gefängnis gebracht. Dafür erhielt er auch internationale Anerkennung, unter anderem Kofi Annan und Barack Obama lobten seinen furchtlosen Einsatz für Recht und Gerechtigkeit. In seiner wohl prominentesten Story

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Foto: Tiger Eye Foundation

»Aufklärung ist wichtig. Man muss aber beweisen, dass das Gesetz funktioniert.« Anas Aremeyaw Anas

»Ghana in the Eyes of God« traf sein Kampf gegen das Unrecht sogar die Justiz selbst. Die dreistündige Dokumentation wurde 2015 veröffentlicht – wie immer übergab er das Ergebnis seiner Recherche nicht nur den Behörden und der Regierung, sondern zeigte es auch kostenlos in öffentlichen Filmvorführungen. Zwei Jahre lang hatte Anas Justizbeamte mit versteckter Kamera gefilmt. Er zeigte 34 Richterinnen und Richter, die Geld oder sexuelle Gefälligkeiten annahmen, um im Gegenzug Prozesse zu manipulieren. Zwölf der korrupten Beamten waren am Hohen Gericht des Landes tätig und wurden infolge des Skandals suspendiert. Durch das Bloßlegen korrupter Strukturen will er seinen Landsleuten den Glauben an die Justiz zurückgeben – denn ohne sie würde Chaos herrschen, davon ist Anas überzeugt: »Ich vertraue nicht allen Justizbeamten, aber ich glaube an den Rechtsstaat.« Am Ende seiner Recherche steht daher nicht allein die mediale Veröffentlichung, sondern immer die Kooperation mit den Behörden. Oft sind seine Aufträge von internationalen Medienunternehmen wie Aljazeera finanziert oder von der ghanaischen Tageszeitung The New Crusading Guide, bei deren Vorläufer er seine journalistische Karriere begann. Doch es kommt auch vor, dass seine Projekte staatlich unterstützt werden, dann verschwimmt die Grenze zwischen Journalismus und Ermittlung. Ohnehin wird Anas stets im entscheidenden Moment von Polizeibeamten begleitet, die die überführten Übeltäter festnehmen.

GHANA

Anas’ moralischer Rahmen ist klar abgesteckt: Wer gegen Gesetze verstößt und der Gesellschaft schadet, hat darin keinen Platz. Er sei da radikal, sagt er selbst. Als Beispiel nennt er den Aberglauben, der in Tansania zur Ermordung und Verstümmelung zahlreicher Albinos führt. Ihrer Haut, ihren Haaren und Knochen werden magische Kräfte zugeschrieben. »Niemand kann Menschenleben erschaffen, also hat niemand das Recht, die Körperteile eines Albinos abzuhacken. Wer so etwas tut, hat in unserer Gesellschaft nichts zu suchen«, sagt Anas. 2012 hatte er die Attrappe eines Albinoarmes herstellen lassen und mit versteckter Kamera Männer aufgespürt, die mit gemahlenen Knochen von Albinokindern handelten. In einem Video hält er einem der Händler den vermeintlich abgehackten Körperteil unter die Nase, bis dieser weinend schwört, nie wieder Knochenpulver zu verkaufen. Dann lässt er ihn festnehmen. Dass Vergehen wie diese nicht nur auf den illegalen Machenschaften Einzelner, sondern auf tief verwurzeltem Irrglauben oder gesellschaftlichen Normen beruhen können, lässt ihn nicht an seinem Vorgehen zweifeln. »Wir versuchen seit so vielen Jahren, Menschen aufzuklären, haben aber noch immer nichts verändert«, regt er sich am Telefon auf. »Aufklärung ist wichtig, aber nicht genug. Man muss beweisen, dass das Gesetz funktioniert. Man muss beweisen, dass die Bösen zur Rechenschaft gezogen werden.« Anas spricht oft von den Bösen, von den »Bad Guys«, den Gaunern, denen er das Handwerk legt. Wer ihm zuhört, gewinnt den Eindruck, dass Gut und Böse klar definiert sind und man nur harte Fakten braucht, damit das Gute gewinnt. Dabei nutzt er selbst Methoden, die durchaus an einen Überwachungsstaat erinnern. »Niemand bringt einem Journalisten bei, sich zu verkleiden, in anderer Leute Privaträume einzudringen und dort Kameras zu installieren«, sagt Kwesi Pratt, Chefredakteur der ghanaischen Insight News, im Dokumentarfilm »Chameleon«. »Andererseits hat Anas entscheidend dazu beigetragen, Korruption in unserer Gesellschaft aufzudecken.« Anas lebt gefährlich. Er müsse regelmäßig den Wohnort wechseln, um sich zu schützen, sagt er. »Menschen drohen, mich zu töten, mich zu entführen. Das ist völlig normal, wenn du in diesem Teil der Welt Reporter bist«, erklärt Anas cool. Dass er mit seiner Arbeit auch andere in Gefahr bringt, scheint ihn nicht zu irritieren. Als Anas einem Abtreibungsarzt auf der Spur ist, der seine verzweifelten Patientinnen vor der Abtreibung zum Geschlechtsverkehr nötigt, filmt er mit versteckter Kamera das Behandlungszimmer. Auf die Frage eines Journalisten, ob das Videomaterial nicht auch die Frauen in Gefahr bringen werde, die aus der Not heraus eine illegale Abtreibung durchführen lassen wollten, antwortet Anas mit seiner üblichen Gelassenheit: »Das überlasse ich voll und ganz der Staatsanwaltschaft. Was immer sie entscheidet, werde ich respektieren.«

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Kichern über die Apokalypse Der Sieger schreibt die Geschichte? Von wegen. Die USA verloren den Vietnamkrieg und behielten trotzdem die Deutungshoheit. Viet Thanh Nguyen hält mit »Der Sympathisant« humorvoll dagegen. Von Maik Söhler

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Viet Thanh Nguyen: Der Sympathisant. Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Müller. Blessing, München 2017. 528 Seiten, 24,99 Euro.

Foto: United Artists

uf den ersten Blick haben Folter und Geschichtsschreibung nichts gemein. Auf den zweiten Blick sieht es anders aus: »Beim Verhör geht es zuerst um den Geist, erst dann um den Körper«, sagt ein CIA-Mann in Viet Thanh Nguyens Roman »Der Sympathisant«, als er Verhörtechniken des US-Geheimdienstes an südvietnamesische Verbündete vermittelt. Da ist Saigon, die Hauptstadt des Südens, noch nicht an den Vietcong gefallen. Nur wenige Jahre später ist es soweit, US-Militärs und -Diplomaten müssen Saigon Ende April 1975 unter starkem Beschuss verlassen. Mit ihnen dürfen auch einige US-treue Südvietnamesen in die USA reisen. Viet Thanh Nguyen widmet sich diesen Südvietnamesen, indem er einen namenlosen Erzähler in ihrem amerikanischen Exil platziert, der ausgerechnet für das Drehen des Vietnam-Spielfilms »Apocalypse Now« als Authentizitätsberater angeheuert wird. Es ist zwar eine klare Niederlage, die die USA in Vietnam erfahren, doch den folgenden Kampf um die Deutung der Ereignisse – also um den Geist – gewinnen die USA. Egal in welchen Medien, ob in Büchern oder Filmen, im Zentrum der Aufarbeitung stehen die USA, während sich die Vietnamesen mit Statistenrollen abfinden müssen. Ein Produkt dieses Geistes ist Francis Ford Coppolas »Apocalypse Now« aus dem Jahr 1979. Und nun soll also der Protagonist dieses Romans dem mächtigen USGeist im Kino einen winzigen Hauch des realen Vietnams geben. An diesen Stellen sprüht »Der Sympathisant« nur so vor Lust am Spott, und der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Autor, der selbst 1975 mit seinen Eltern aus Saigon in die USA

kam, spielt elegant mit der euphemistischen Rolle Hollywoods bei der Bewältigung der ersten militärischen Niederlage der USA. Nguyens Protagonist ist ein Spion des kommunistischen Vietnams, der die in Kalifornien lebenden Exilvietnamesen beobachten soll. »Ich bin ein Spion, ein Schläfer, ein Maulwurf, ein Mann mit zwei Gesichtern«, lautet der erste Satz des Romans. Ein Spionageroman ist »Der Sympathisant« aber nur am Rande, vielmehr besteht das Buch aus feinfühliger Prosa, die den »zwei Gesichtern« nachspürt, die das Verhältnis von US-Amerikanern und Vietnamesen prägen. Nicht nur der »Geist« des Krieges wird erkundet, sondern auch seine biografischen Folgen. Hohe südvietnamesische Armeeangehörige erfahren in Los Angeles Demütigungen »durch das, was hier im Exil aus ihnen geworden war. Als Küchenhilfe, Kellner, Gärtner, Feldarbeiter, Fischer, Hilfsarbeiter, Wachmann oder einfach als Arbeitslose oder Unterbeschäftigte verschmolzen diese schäbigen Exemplare von Lumpenproletariern mit dem Hintergrund, vor dem sie gerade standen.« Viet Thanh Nguyen arbeitet sich filigran durch die vielen Schichten materieller und kultureller Migrationsmissverständnisse und behält dabei die vietnamesischen Neuankömmlinge und die US-Mehrheitsgesellschaft gleichermaßen im Blick. Seine sprachliche Präzision und sein teils offener, teils versteckter Humor beeindrucken immer wieder. Als der Protagonist schließlich nach Vietnam zurückkehrt und sein Handeln dort vor einem Politkommissar rechtfertigen muss, antwortet dieser: »Wir haben jetzt die Macht, und wir brauchen jetzt keine Franzosen oder Amerikaner mehr, die uns verarschen. Wir verarschen uns jetzt ganz wunderbar selbst.« Wir lernen: Gerechtigkeit kann auch seltsame Formen annehmen.

Der US-amerikanische Blick auf Vietnam. Dennis Hopper in »Apocalypse Now«, 1979.

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Ankommen in Europa

Entrechtetes Archipel

Die Migration nach Europa hält an und mit ihr bleiben auch einige politische und rechtliche Fragen: Welche Bedeutung wird den Menschenrechten in der europäischen und nationalen Migrationspolitik gegeben? Wie viele Menschen können unter welchen Bedingungen zuwandern? Wer erhält Asyl, wer wird »geduldet«, wer abgeschoben? Wo handelt der Einzelstaat und wo die EU? All diesen Fragen stellt sich das Sachbuch »Flucht, Migration und die Linke in Europa«. Die Herausgeber Michael Bröning und Christoph Mohr arbeiten für die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung. Und so stehen auch über weite Strecken des Buches der Umgang und die Erfahrungen sozialdemokratischer Parteien in Europa mit Flucht und Migration im Vordergrund. Darüber hinaus fallen auch Schlaglichter auf Parteien und soziale Bewegungen aus dem linksliberalen Spektrum. Das Werk besteht aus zwei Teilen: Zum einen werden die tatsächliche Politik und die Handlungsoptionen linksliberaler Parteien quer durch Europa analysiert, zum anderen erfolgen »politische Einordnungen« zu Themen wie Migration und Gewerkschaften, Rassismus und Rechtspopulismus, Globalisierung und Grenzen. Von linksaußen bis liberal findet sich so gut wie jeder Standpunkt, dennoch kreist die Debatte vor allem um ein Wort: Integration. Ein intellektuell anregendes Buch, das sich einfachen Antworten auf drängende Fragen verweigert.

Ein kleines Buch holt inmitten der stürmischen Weltenläufe ein längst vergessenes Unrecht zurück ins Gedächtnis: »Die Stille von Chagos« heißt der nun ins Deutsche übersetzte Roman der auf Mauritius lebenden Theaterautorin und Journalistin Shenaz Patel. Und genau dort, auf Mauritius, mitten im Indischen Ozean, spielen große Teile der Handlung. Doch steht nicht Mauritius im Zentrum des Buches, sondern das einige Flugstunden entfernte Chagos-Archipel, eine Gruppe kleiner Eilande rund um die Hauptinsel Diego Garcia. Das Archipel gehört zum britischen Überseegebiet, die Briten haben es an die USA verpachtet, die dort eine Militärbasis unterhalten und sie bis heute als Luftwaffenstützpunkt nutzen – zuletzt im Krieg gegen den Irak und Afghanistan. Die Einwohner, die Chagossianer, wurden zwischen 1967 und 1973 gegen ihren Willen umgesiedelt und leben seither teils auf den Seychellen, teils auf Mauritius. Viele Chagossianer verstehen bis heute nicht, wie es dazu kommen konnte und warum ihnen der Weg zurück versperrt ist. Über ihr Unverständnis, ihre Sehnsüchte und Wünsche schreibt Shenaz Patel und bezieht auch die Nachfahren mit ein, die auf Mauritius ökonomisch und sozial einen schweren Stand haben. Die Vertreibung lässt sich auch mit diesem Buch nicht rückgängig machen, dem Vergessen aber stellt sich »Die Stille von Chagos« entschieden entgegen.

Michael Bröning/Christoph P. Mohr (Hg.): Flucht, Migration und die Linke in Europa. Dietz, Bonn 2017. 400 Seiten, 26 Euro.

Shenaz Patel: Die Stille von Chagos. Aus dem Französischen von Eva Scharenberg. Weidle, Bonn 2017. 160 Seiten, 18 Euro.

Putins Russland

Weltrettung nächste Woche

Sicher ist: Die Wahrung der Menschenrechte in Russland hat schon bessere Zeiten erlebt. Margareta Mommsen, emeritierte Professorin für Politikwissenschaft, widmet 40 Seiten ihres Sachbuches »Das Putin-Syndikat« Menschenrechtsverletzungen im russischen »Unrechtsstaat«. Sie untersucht die Ermordung der Journalistin Anna Politkowskaja, des abtrünnigen Agenten Alexander Litwinenko und des Oppositionellen Boris Nemzow und benennt mit den Bereichen »selektive Justiz«, »organisiertes Verbrechen« und »Geheimdienstmethoden« gleich drei Faktoren, die der Rechtsstaatlichkeit in Russland entgegenstehen. Ansonsten fällt die Deutung von Wladimir Putins Politik schwer: Wegen der Annexion der Krim wird Russland vom Westen ökonomisch sanktioniert, zugleich aber hat Putin der Welt mit dem Militäreinsatz in Syrien gezeigt, dass Russland als Akteur in politischen Krisen nicht übergangen werden sollte. Mommsen macht das Beste aus solchen Widersprüchen. Sie analysiert nüchtern das Personal, die Bündnispartner, die Strukturen, politischen Strategien und Themen, den Personenkult um Putin und die antiliberale Ideologie – all das präge die aktuelle Präsidentschaft und die Zukunft Russlands. Putins wichtigste Partner dabei sind Geheimdienstler und Militärs. Ein Who-iswho und ein analytisches Buch zugleich.

»Gibt es einen Weg, all das noch zu retten?« Mit dieser Frage beginnt Peer Martin alle vier Kapitel seines schmalen Erzählbandes. Als Ich-Erzähler trägt er eine Liste mit Fragen mit sich herum: Fragen, die groß und gewichtig sind, Fragen, die die Zukunft der Welt betreffen. Auf der Suche nach Antworten spricht er mit seiner Hündin, einem Au-pair-Mädchen aus Deutschland, einem Flüchtling aus Somalia und seinem zehnjährigen Sohn. Fragt sie, was zu tun ist, gegen Hunger, Klimawandel, Fremdenhass, Rechtsruck, Fanatismus, Terror und Krieg und stellt dabei dem Schrecken der aktuellen Entwicklungen immer wieder die Schönheit Kanadas, das Land in dem der Autor lebt, entgegen. Konfrontiert die eigenen Zweifel und Ängste mit Ideen und Ansichten der anderen und verhandelt so kontrovers und nachvollziehbar Fragen des Miteinanders und Möglichkeiten des Handelns. »Wir machen das als Projekt, die Weltrettung, nächste Woche«, erzählt der zehnjährige Sohn. Und erklärt dem Vater, wie jeder Einzelne seinen Beitrag zur Weltrettung leisten kann, indem er sich eine für ihn lösbare Teilaufgabe aussucht. So, wie seine Klassenkameradin, die sich für die Umwelt einsetzt, indem sie Dosen sammelt. Und genau dazu animiert »Was kann einer schon tun?« – sich seiner eigenen Möglichkeiten bewusst zu werden, selbst aktiv zu werden, im Kleinen wie im Großen.

Margareta Mommsen: Das Putin-Syndikat. Russland im Griff der Geheimdienstler. C.H. Beck, München 2017. 251 Seiten, 14,95 Euro.

Peer Martin: Was kann einer schon tun? Oetinger, Hamburg 2017. 112 Seiten, 8,99 Euro. Ab 12 Jahren.

Bücher: Maik Söhler, Marlene Zöhrer BÜCHER

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Epischer Bilderreigen

Ungarisch-jüdische Fantasie

Einen ungewöhnlichen und sehr aufwendigen Dokumentarfilm hat der chinesische Künstler Ai Weiwei gedreht. Mehr als 65 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht, und um diese Flüchtlingskrise mit wahrhaft internationalem Ausmaß ins Bild zu setzen, drehte Ai Weiwei mit einem Dutzend verschiedener Kameramänner und zahlreichen Filmcrews in 23 Ländern: in Myanmar bei den Rohingya, auf Lesbos bei den Flüchtlingen in der Mittelmeerregion, in Lagern im Irak, im Berliner Flughafen Tempelhof und an vielen anderen Orten. Lockere Szenen sind dem Spektakel-Manager Ai Weiwei dabei ganz und gar nicht fremd: So lässt er sich schon mal von Flüchtlingen die Haare schneiden oder wird selbst als Friseur aktiv. Sein Film macht Anleihen bei Multimedia-Formaten: Aktuelle Informationen, wo und wie viele Menschen festsitzen, werden per Schlagzeile eingeblendet. Darüber hinaus setzt Ai Weiwei Drohnen ein, lässt sie über riesigen Flüchtlingsstädten etwa in Jordanien aufsteigen. »Human Flow« will ein epischer Bilderreigen dieser Orte der politischen Gegenwart sein und stellt Fragen zur Zeit: Kann sich die globale Gesellschaft zu einem Ort der Offenheit und Freiheit entwickeln? Um die moderne Völkerwanderung zu zeigen, bedient sich der Film beeindruckender wie erschreckender Szenen – die der Regisseur immer wieder selbst betritt. Das mag stilistisch gewagt sein. An dem Thema aber kommt niemand vorbei.

Das »Glashaus«, benannt nach seinem gläsernen BauhausTreppenhaus, ist ein Gebäude im Zentrum von Budapest. Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht im März 1944 quartierte der Schweizer Diplomat Carl Lutz hier – und in 75 weiteren Gebäuden der Stadt – Zehntausende verfolgter ungarischer Juden ein. Mit einem System von »Schutzbriefen« ermöglichte er ihnen die Ausreise nach Palästina und rettete sie damit vor ihrer Ermordung im Holocaust. Als der New Yorker Trompeter und Klezmer-Pionier Frank London (The Klezmatics) den Auftrag erhielt, zum Gedenken an den Holocaust in Ungarn eine musikalische Hommage an die ungarisch-jüdische Tradition zu komponieren, scharte er eine bemerkenswerte All-Star-Kapelle um sich. So entstand das »Glass House Orchestra«, das Instrumental-Virtuosen ungarischer, argentinischer oder israelischer Herkunft zusammenbringt. Mühelos wechseln die Musiker von der getragenen Suite zum Hochgeschwindigkeitsstück und tauchen die Zuhörer so in ein Wechselbad der musikalischen Emotionen. Ihr »Astro Hungarian Folk Punk« vereint ungarische Cimbalon-Traditionen, Gipsy-Folk, Klezmer, Jazz und Neue Musik unter einem Dach. Die Leitfrage lautete: Wie würde die ungarisch-jüdische Musik von heute klingen, wenn es den Zivilisationsbruch des Holocaust nicht gegeben hätte? Die Antwort ist ein Ausflug in ein Paralleluniversum jenseits von Raum und Zeit und ein Feuerwerk der musikalischen Fantasie, die bekanntlich keine Grenzen kennt.

»Human Flow«. D 2017. Regie: Ai Weiwei. Kinostart: 16. November 2017

Frank London Glass House Orchestra: Astro-Hungarian Jewish Music (piranha)

Momente der Hoffnung Birhat filmt die schlafende Schwester. Als das Flugzeug kommt, schreckt das Mädchen panisch auf. Delovan versucht, Medikamente für seinen kranken Vater zu bekommen. Basmeh sagt: Viele aus unserer Familie sind tot. Leben an der Grenze im Jahr 2015: Der kurdische Filmemacher Bahman Ghobadi ist mit seiner Kamera in die Flüchtlingslager von Kobanê in Syrien und Şingal im Irak gegangen – um sie dort an andere weiterzugeben: Acht Kinder drehen mit seiner Kamera ihren eigenen Film. Um ihre Geschichten zu erzählen, müssen die kleinen Regisseure nicht weit gehen: Sie fangen in ihrem Zelt an zu drehen, interviewen die Großmutter, den Onkel. Die haben Schreckliches von den Überfällen des Islamischen Staates auf die Jesiden zu berichten. Eine Mutter sagt: Ein Mädchen hat großes Glück, wenn es stirbt, und dadurch nicht dem IS in die Hände fällt. Im Hintergrund laufen dessen Propagandavideos. In Ghobadis Filmprojekt »Life on the Border« indes drehen junge Menschen, die ihr Leben noch vor sich haben sollten, aber viel zu oft von seinem Ende berichten können. So wie jene beiden Geschwister, die ihr Elternhaus in Kobanê aufsuchen: Sie finden dort ihre Puppen – und den Leichnam des Vaters. Trotz der Trauer ist Ghobadis Film auch ein hoffnungsfrohes Projekt – »Auch wir werden unser eigenes Leben leben«, sagen die jungen Menschen. Hier sind verantwortungsvolle, reflektierte junge Leute am Werk. »Life on the Border«. IRQ 2015. Regie: Hazem Khodeideh u. a. Derzeit in den Kinos.

Deutsch-arabische Harmonie Als »Pianist in den Trümmern« wurde der syrisch-palästinensische Pianist Aeham Ahmad bekannt. Während der Krieg in Syrien im Winter 2014/15 eskalierte, rollte er jeden Tag im zerstörten Flüchtlingslager Jarmuk bei Damaskus sein Klavier auf die Straßen, um dort, umringt von Kindern und Erwachsenen, dem Irrsinn und der Hoffnungslosigkeit des Krieges zu trotzen und Trost zu spenden. Videoaufnahmen seiner Auftritte erregten in den sozialen Netzwerken und den Medien international Aufmerksamkeit. Als islamistische Milizen sein Klavier zerstörten und es in Jarmuk zu gefährlich für ihn wurde, floh Aeham Ahmad über die Türkei, Griechenland und den Balkan nach Deutschland. Hier lebt der heute 29-jährige Musiker als anerkannter Flüchtling. Auch seine Familie konnte er nachholen. Mit dem Kasseler Jazzpianisten und Komponisten Edgar Knecht und dessen Trio hat er nun sein erstes Album aufgenommen: »Keys to Friendship« (»Schlüssel zur Freundschaft«) besteht aus Jazzbearbeitungen von deutschen und nahöstlichen Volksliedern und Gedichten. Arabische Akkordfolgen treffen auf Jazz-Improvisationen, Momente der Freude auf Trauer und tiefe Melancholie. Heraus stechen die Neubearbeitung von »Die Gedanken sind frei« oder des arabischen Schlaflieds »Nani«. Aeham Ahmad meets Edgar Knecht: Keys to Friendship (o-tone music / edel)

Film: Jürgen Kiontke | Musik: Daniel Bax 70

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Foto: Janto Djassi

Bombenmusik. Diese Kassetten überdauerten den Angriff auf Hargeysa in Somalia.

Geborgene Schätze Auf dem Sampler »Sweet as Broken Dates« kann man ein halbes Jahrhundert somalischer Musikgeschichte wiederentdecken. Die Aufnahmen wurden vor der Bombardierung Hargeysas, der Hauptstadt des autonomen Teilstaats Somaliland, gerettet. Von Daniel Bax

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ls sich am 14. Oktober 2017 an einer der belebtesten Kreuzungen von Mogadischu ein Lastwagenfahrer in die Luft sprengte, starben mehr als 350 Menschen. Weil aber Somalia weit weg ist und seit dem über 25-jährigen Bürgerkrieg als »failed state« gilt, fiel die weltweite Anteilnahme eher verhalten aus. Es war nur eine weitere schreckliche Meldung aus einem Land, aus dem seit Jahren fast nur von Bürgerkrieg, Staatszerfall, Piraten und Terror zu hören ist. Dass Somalia einmal für Lebensfreude und Musik stand, ist heute kaum noch vorstellbar. Dabei war Mogadischu, die alte Handelsstadt, einst eine boomende, kosmopolitische und vibrierende Metropole, in der sich ostafrikanische, arabische und indische Einflüsse mischten. Welche Aufbruchsstimmung dort einmal geherrscht hat, daran erinnert jetzt der Sampler »Sweet as Broken Dates«. Die beiden Soundschürfer Nicolas Scheikholeslami und Vik Sohonie, Gründer des New Yorker Labels Ostinato Records, stöberten im April des vergangenen Jahres im umfangreichen Kassettenarchiv der »Red Sea Cultural Foundation« in Hargeysa, der Hauptstadt des international nicht anerkannten Teilstaats Somaliland, um vergessene Schätze aus der goldenen Ära der somalischen Popmusik zu bergen und diese erstmals einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

FILM

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MUSIK

In der somalischen Musik hat Poesie traditionell einen großen Stellenwert, hinzu kommen orientalische und indische Einflüsse. Moderne Orchester wie die Iftiin Band und die Sharero Band ließen sich von Bollywood-Soundtracks, Rock’n’Roll und Rhythm’n’Blues aus den USA inspirieren. Die Stars der somalischen Musikszene der siebziger und achtziger Jahre spielten damals im Nationaltheater, in den Nachtclubs und Nobelhotels am Indischen Ozean auf. Die Dur-Dur-Band begeisterte ihre Fans mit Disco-Funk und Afro-Soul, bevor ihre Mitglieder durch den Bürgerkrieg über die ganze Welt verstreut wurden. Eine tragende Rolle spielten Sängerinnen wie Faadumo Qaasim, Sahra Dawo oder Hibo Nuura. Und natürlich darf die somalische Supergruppe Waaberi nicht fehlen. Die somalische Musikszene florierte unter dem sozialistischen Militärregime. Da es keine private Musikindustrie gab, sind Live-Mitschnitte von Konzerten oder Aufnahmen fürs Radio fast die einzigen Zeugnisse jener Zeit. Um ein Haar wären viele davon für immer verloren gegangen. Denn als Somalias Diktator Siad Barre 1988 die Stadt Hargeysa bombardieren ließ, um die aufkeimende Unabhängigkeitsbewegung im Norden Somalias niederzuschlagen, nahm er auch den dortigen Radiosender ins Visier. Zum Glück schafften Mitarbeiter des Senders kurz vor dem Angriff Tausende von Kassetten und Masterbänder, auf denen ein halbes Jahrhundert somalischer Musikgeschichte dokumentiert ist, aus dem Gebäude, vergruben sie oder brachten sie in Nachbarländer. Nun kann man diese Aufnahmen, entstaubt, digitalisiert und mit einem liebevoll gestalteten, opulenten Booklet versehen, wieder neu entdecken. Sweet as Broken Dates: Lost Somali Tapes from the Horn of Africa (Ostinato Records)

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Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt, oder man lässt sie »verschwinden«. AMNESTY INTERNATIONAL veröffentlicht regelmäßig an dieser Stelle drei Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden. In diesem Monat stellen wir drei Fälle aus dem internationalen Briefmarathon vor, um den Druck auf die Behörden über den gesamten Monat Dezember aufrechtzuerhalten. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie bitte eine digitale Kopie an: info@amnesty.de

AMNESTY INTERNATIONAL Zinnowitzer Straße 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 Fax: 030 - 42 02 48 - 488 E-Mail: info@amnesty.de www.amnesty.de Spendenkonto Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE 233 702050 0000 8090100 BIC: BFSWDE33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00)

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Foto: Selina Nelte / Amnesty

BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN

MADAGASKAR CLOVIS RAZAFIMALALA Clovis Razafimalala setzt sich seit vielen Jahren für den Schutz des Regenwaldes in Madagaskar ein. Im September 2016 inhaftierten ihn die Behörden unter dem Vorwurf, er habe bei Protesten zur Zerstörung öffentlichen Eigentums aufgerufen. Zahlreiche Personen können jedoch bezeugen, dass sich Clovis Razafimalala zum Zeitpunkt der Protestveranstaltung in einem Restaurant aufhielt und weder an dem Protest teilgenommen hat noch die ihm vorgeworfenen Taten begangen haben kann. Die Zeug_innen wurden jedoch in dem Verfahren nicht angehört. Im Juli 2017 verurteilte ihn ein Gericht zu fünf Jahren Haft auf Bewährung. Das bedeutet, dass er jederzeit ins Gefängnis kommen kann, wenn er sich weiter engagiert. In Madagaskar blüht der illegale Handel mit Palisanderholz und anderen geschützten Holzarten. Das Geschäft ist sehr lukrativ – es geht um Milliarden US-Dollar – und wird von der Regierung geduldet. Clovis Razafimalala hat den Schmuggel mit Edelhölzern angeprangert und wurde deshalb wiederholt bedroht. 2009 gab es sogar einen Brandanschlag auf sein Haus. Außerdem bot man ihm mehrfach Geld an, um ihn zum Schweigen zu bringen. Er lehnte die Bestechungsversuche jedoch ab und setzte sich weiter für den Schutz des Regenwaldes ein. Clovis Razafimalala sowie einige Umweltorganisationen sind der Ansicht, dass er wegen seines Engagements für den Umweltschutz unter konstruierten Vorwürfen angeklagt und verurteilt wurde. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Justizminister von Madagaskar und bitten Sie ihn, das Urteil gegen Clovis Razafimalala umgehend aufzuheben. Schreiben Sie in gutem Madagassisch, Französisch oder auf Deutsch an: Justizminister Charles Andriamiseza Ministry of Justice 43 Rue Joel Rakotomolala Faravohitra – Antananarivo, MADAGASKAR E-Mail: spminjus@yahoo.fr Facebook: http://amn.st/60028tymn (Anrede: Son Excellence Monsieur le Ministre / Sehr geehrter Herr Justizminister) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,90 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Madagaskar Frau Florence Isabelle Rafaramalala ep. Ratsimba (Geschäftsträgerin a. i.) Seepromenade 92, 14612 Falkensee Fax: 033 - 22 23 14 29 E-Mail: info@botschaft-madagaskar.de (Standardbrief: 0,70 Euro)

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Foto: privat

Foto: Anaïs Taracena / Amnesty

HONDURAS INDIGENEN-ORGANISATION MILPAH

ÄGYPTEN HANAN BADR EL-DIN

In Honduras werden Mitglieder einer Organisation bedroht und tätlich angegriffen, die sich für die Rechte der indigenen Gemeinschaft der Lenca einsetzen. Das Leben der Lenca ist untrennbar mit ihrem Land verbunden. Doch dieses Land ist durch Wasserkraftwerke, Bergbauvorhaben und andere Großprojekte massiv bedroht. Die Organisation MILPAH (Movimiento Indígena Independiente Lenca de La Paz) verteidigt die Rechte der indigenen Gemeinschaft und kämpft gegen die rücksichtslose Ausbeutung von Bodenschätzen. Sie hat unter anderem gegen den Bau von Wasserkraftwerken in Intibucá und La Paz protestiert. Für ihr Engagement zahlen die Mitglieder der Organisation einen hohen Preis: Sie werden verleumdet, tätlich angegriffen und mit dem Tode bedroht. Die Behörden verfolgen die Täter_innen so gut wie nie. Honduras ist eines der weltweit gefährlichsten Länder für Menschen, die sich für Umweltschutz und die Rechte von Indigenen einsetzen. 2016 wurde die bekannte Aktivistin Berta Cáceres ermordet, die gegen ein Wasserkraftwerk protestiert hatte. Honduras muss die Mitglieder von Landrechts- und Umweltschutzorganisationen besser schützen und die Täter_innen strafrechtlich verfolgen. Auch die Interamerikanische Menschenrechtskommission hat Schutzmaßnahmen für MILPAH angeordnet.

Hanan Badr el-Din setzt sich gegen das Verschwindenlassen ein, denn ihr Ehemann zählt zu den vielen Personen, die in Ägypten in den vergangenen Jahren verschwunden sind. Im Mai 2017 wurde sie bei der Suche nach ihrem Mann festgenommen und fälschlicherweise der »Mitgliedschaft in einer verbotenen Gruppierung« angeklagt. Ihr drohen mindestens fünf Jahre Haft. Hanan Badr el-Din hatte ihren Mann zuletzt im Fernsehen gesehen, als er nach Protesten im Juli 2013 verwundet in eine Klinik kam. Doch als sie ihn dort besuchen wollte, war er nicht auffindbar. Sie suchte Polizeiwachen, Gefängnisse, Krankenhäuser und Leichenhallen auf, um etwas über sein Schicksal zu erfahren – ohne Erfolg. Gemeinsam mit anderen Betroffenen gründete Hanan Badr el-Din daher im Jahr 2014 die Organisation »Familienkoalition der Opfer des Verschwindenlassens« und forderte öffentlich Aufklärung über das Schicksal der Verschwundenen. Diese Menschenrechtsarbeit dürfte der wahre Grund für ihre Inhaftierung und strafrechtliche Verfolgung sein. Die ägyptischen Sicherheitskräfte haben in den vergangenen Jahren Hunderte Menschen verschwinden lassen. Die Regierung bestreitet dies jedoch. Die Opfer sind meist politische Aktivist_innen, Protestierende oder Studierende, bis hin zu minderjährigen Schüler_innen.

Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den honduranischen Präsidenten und bitten Sie ihn, dafür zu sorgen, dass die Mitglieder von MILPAH sowie andere Menschenrechtsverteidiger_innen ausreichenden Schutz gemäß ihren Wünsche erhalten.

Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den ägyptischen Präsidenten und bitten Sie ihn, Hanan Badr el-Din umgehend und bedingungslos freizulassen und alle Anklagen gegen sie fallen zu lassen.

Schreiben Sie in gutem Spanisch, Englisch oder auf Deutsch an: Präsident Juan Orlando Hernández Presidente de la República Casa Presidencial, Bulevar Juan Pablo II Tegucigalpa, HONDURAS E-Mail: info@presidencia.gob.hn Twitter: @JuanOrlandoH (Anrede: Estimado Señor Presidente / Dear President / Sehr geehrter Herr Präsident) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,90 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Honduras S. E. Herrn Ramón Custodio Espinoza Cuxhavener Straße 14, 10555 Berlin Fax: 030 - 39 74 97 12 E-Mail: informacion.embahonduras.de@gmail.com (Standardbrief: 0,70 Euro)

BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN

Schreiben Sie in gutem Arabisch, Englisch oder auf Deutsch an: Präsident Abdel Fattah al-Sisi Office of the President Al Ittihadia Palace Kairo, ÄGYPTEN Fax: 002 02 - 23 91 14 41 E-Mail: p.spokesman@op.gov.eg (Anrede: Your Excellency / Exzellenz) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,90 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Arabischen Republik Ägypten S. E. Herrn Badr Ahmed Mohamed Abdelatty Stauffenbergstraße 6–7, 10785 Berlin Fax: 030 - 477 10 49 E-Mail: embassy@egyptian-embassy.de (Standardbrief: 0,70 Euro)

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AKTIV FÜR AMNESTY

»EIGENTLICH SIND WIR DER REGIERUNG DANKBAR« Wegen der umstrittenen Auflagen für Nichtregierungsorganisationen in Ungarn hat die EU-Kommission im Oktober die zweite Stufe des Vertragsverletzungsverfahrens gegen die Regierung von Victor Orbán eingeleitet. Júlia Iván ist seit Januar 2017 Direktorin der ungarischen Sektion von Amnesty International.

Wie steht Amnesty Ungarn zu dem neuen NGO-Gesetz? Wir haben mit der Mitgliedschaft entschieden, uns nicht an die neuen Regulierungen zu halten. Das Gesetz zwingt uns, persönliche Daten unserer Spender aus dem Ausland offenzulegen, wenn wir mehr als 23.000 Euro pro Jahr erhalten – angeblich, um NGOs transparenter zu machen. Dabei sind wir längst verpflichtet, unsere jährlichen Ausgaben und Einnahmen offenzulegen. Das Gesetz ist also unnötig und stigmatisierend. Was steckt in Wirklichkeit dahinter? Nächstes Jahr sind Wahlen, und das Flüchtlingsthema hat sich langsam erschöpft. Die Regierung braucht also neue Feindbilder. Der Erzfeind Viktor Orbáns ist momentan der Philanthrop George Soros. Alle Menschenrechtsorganisationen werden als seine Agenten betrachtet.

Foto: Attila Kleb

Interview: Hannah El-Hitami

Cool und entschlossen. Júlia Iván.

Ist die Entwicklung in Ungarn Teil eines globalen Trends? Ja. Weltweit schaffen Machthaber unfreie Systeme, in denen Minderheiten und Andersdenkende unter Druck gesetzt werden. Orbán hat selbst gesagt, dass er die Türkei als Vorbild für einen Staat sieht, in dem die Mehrheitsmeinung Gesetz ist. Viele Staatsoberhäupter folgen der gleichen nationalistischen und populistischen Linie.

Welche Auswirkungen hat das NGO-Gesetz schon heute auf die Arbeit von Amnesty? Schulen und andere Institutionen wagen es bereits nicht mehr, uns einzuladen. Die Spielräume für unsere Arbeit werden also kleiner. Rechtliche Konsequenzen von staatlicher Seite hat es bislang aber nicht gegeben.

Wie arbeiten Sie angesichts dieser Widrigkeiten weiter? Das ist zurzeit wirklich schwierig. Aber das Gute ist: Die ungarische Gesellschaft ist durch diese Debatte auf zivilgesellschaftliche Organisationen aufmerksam geworden, man spricht nun darüber. Bislang schafften viele Organisationen den Schritt in die Öffentlichkeit nicht, weil sie nicht genug Geld für Kampagnen und Werbung hatten.

Mit welchen Schritten ist zu rechnen? Im Falle einer Anklage droht uns eine Geldstrafe von bis zu 2.000 Euro – oder sogar die Auflösung. Wenn es dazu käme, müssten wir uns registrieren. Aber wir haben bereits vor dem Verfassungsgericht geklagt, da das Gesetz gegen die Versammlungsfreiheit verstößt. Sollten wir dort unterliegen, würden wir vor den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof ziehen.

So gesehen belebt das Vorgehen Orbáns die Zivilgesellschaft? Ja, eigentlich sind wir der Regierung fast dankbar, dass wir so viel Aufmerksamkeit bekommen. Auch Menschen, die uns vorher nicht unterstützt haben, sehen nun, dass NGOs die letzten sind, die Kritik an der Menschenrechtspolitik Orbáns üben. Hoffentlich schafft das auf lange Sicht bewusstere Bürger, die verstehen, wie wichtig eine funktionierende Zivilgesellschaft ist.

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AMNESTY JOURNAL | 12/2017-01/2018


AUSGEZEICHNETE RECHERCHE Alles fing an mit einer Recherche für das Amnesty Journal. »Der Tod aus dem Schwarzwald« lautet der Titel des im März 2012 veröffentlichten Artikels, in dem unser Autor Wolf-Dieter Vogel belegt, dass das Oberndorfer Rüstungsunternehmen Heckler & Koch Sturmgewehre vom Typ G36 an vier mexikanische Bundesstaaten geliefert hat, für die keine Exportgenehmigungen vorlagen. Und mehr noch: Bei einer Polizeioperation in Guerrero im Dezember 2011 sollen die deutschen Waffen widerrechtlich zum Einsatz gekommen sein; zwei Studenten wurden erschossen. Mindestens zwölf Beamte hätten die G36-Gewehre verwendet, bestätigte ein Anwalt dem Amnesty Journal. Der Fall hatte Konsequenzen. In Me-

xiko wurden mehrere Polizisten verhaftet, einige Beamte suspendiert. Doch zum Einsatz kamen die G36-Gewehre weiter. Auch beim Massaker an Studenten in Iguala im Dezember 2014 trugen Sicherheitskräfte die Sturmgewehre, wie WolfDieter Vogel herausfand. Fast die Hälfte der 9.652 zwischen 2006 und 2010 aus Deutschland gelieferten G36 sind laut Unterlagen des mexikanischen Verteidigungsministeriums, die Vogel vorliegen, in die vier »verbotenen« Bundesstaaten gelangt. Wegen der illegalen Waffenlieferungen soll nun im Frühjahr 2018 vor dem Landgericht Stuttgart der Prozess gegen ehemalige Mitarbeiter sowie den früheren Geschäftsführer von Heckler & Koch beginnen.

Der fiktiv gehaltene ARD-Spielfilm »Meister des Todes« des Regisseurs Daniel M. Harrich griff Vogels Recherchen 2016 auf – und wurde nun mit dem Marler Medienpreis in der Kategorie Film ausgezeichnet. Darin sieht der Protagonist, ein exzellenter Schütze, wie von ihm an der Waffe angelernte Polizisten in Guerrero zwei Studenten erschießen. Dann wendet er sich an einen Friedensbewegten und wird zum Kronzeugen gegen seinen ehemaligen Arbeitgeber, ein baden-württembergisches Rüstungsunternehmen.

HER MIT DEM HEFT!

Sie haben das Amnesty Journal zufällig in die Hände bekommen und Lust auf weitere Ausgaben? Das Journal landet alle zwei Monate bei all jenen im Briefkasten, die die Arbeit von Amnesty International mit mindestens 5 Euro pro Monat oder als Mitglied unterstützen. Mehr Infos unter: www.amnesty.de/foerdererwerden und www.amnesty.de/mitglied-werden

Foto: Patrick Seeger / dpa / pa

AKTIV FÜR AMNESTY

Durch ganz unterschiedliche Veranstaltungen geben AmnestyMitglieder den Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme. Diese Aktionen vor Ort sind ein unentbehrlicher Teil der Arbeit von Amnesty International. Mehr Informationen darüber finden Sie auf http://blog.amnesty.de und www.amnesty.de/kalender

Tödliche Exportware. G36 bei Heckler & Koch in Oberndorf.

IMPRESSUM Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V. Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 E-Mail: info@amnesty.de Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion Amnesty Journal Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin E-Mail: journal@amnesty.de Adressänderungen bitte an: info@amnesty.de Redaktion: Markus Bickel (V.i.S.d.P.), Jessica Böhner, Hannah El-Hitami, Anton Landgraf, Katrin Schwarz

AKTIV FÜR AMNESTY

Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit Albrecht, Daniel Bax, Markus N. Beeko, Alexander Bühler, Sara Fremberg, Manuela Reimann Graf, Knut Henkel, Barbara Kerneck, Lena Khalifa, Jürgen Kiontke, Annelen Micus, Ramin Nowzad, Arndt Peltner, Wera Reusch, Lena Rohrbach, Annemarie Schlack, Uta von Schrenk, Maik Söhler, Carsten Stormer, Patrick Walder, Elisabeth Wellershaus, Kathrin Zeiske, Marlene Zöhrer, Andreas Zumach Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck und Verlag: Hofmann Druck, Nürnberg GmbH & Co. KG

Bankverbindung: Amnesty International Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE23 3702 0500 0008 0901 00 BIC: BFS WDE 33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00) Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und erscheint sechs Mal im Jahr. Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.

und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, für die Verbreitung im Internet oder für Vervielfältigungen auf CD-Rom.

ISSN: 2199-4587

Für unverlangt eingesandte Artikel oder Fotos übernimmt die Redaktion keine Verantwortung. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder. Die Urheberrechte für Artikel

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© Rebecca Hendin

DEIN BRIEF KANN LEBEN RETTEN Jedes Jahr fordern Hunderttausende Menschen weltweit anlässlich des Internationalen Tages der Menschenrechte am 10. Dezember Regierungen auf, gewaltlose politische Gefangene freizulassen und Unrecht zu beenden. Außerdem schicken sie Solidaritätsnachrichten an Menschen, deren Rechte verletzt werden. Die unzähligen Briefe zeigen den Betroffenen und ihren Familien, dass sie nicht allein sind. Und sie machen Regierungen Druck: Einen einzelnen Brief können die Behörden ungelesen wegwerfen, aber Tausende von Schreiben, die auf die Einhaltung der Menschenrechte pochen, lassen sich nicht ignorieren! Zu Unrecht inhaftierte Menschen werden freigelassen, diskriminierende Gesetzestexte geändert und politische Aktivistinnen und Aktivisten in ihrer Arbeit unterstützt und gestärkt. briefmarathon.de

BRIEFMARATHON 29. 11.–10. 12. 2017 SEI DABEI!


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