Amnesty Journal März/April 2019

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DAS MAGAZIN FÜR DIE MENSCHENRECHTE

AMNESTY JOURNAL JEDE STIMME ZÄHLT EUROPA VOR DER WAHL

MADE IN GERMANY Ruandischer Kriegsverbrecher in Stuttgart vor Gericht

FORT IST FORT Milde Urteile gegen Mitarbeiter von Heckler & Koch

TATBESTAND KUNST Die türkische Justiz geht gegen Kreative vor

02/2019 MÄRZ/APRIL


INHALT

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TITEL: EUROPA VOR DER WAHL Kampf um Europa: Freiheit statt Chauvinismus

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Türkei-EU-Deal: Gefangen auf den griechischen Inseln

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Schweden: Verklagt wegen vereitelter Abschiebung

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Weißrussland/Polen: Rückschiebung von Tschetschenen

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Interview mit Amnesty-Jugendvertreter: »Geht wählen!«

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Kosovaren frustriert über Europa: Jenseits von Schengen

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POLITIK & GESELLSCHAFT Kriegsverbrechen im Kongo: Der Feldherr von Mannheim

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Urteil gegen Heckler & Koch: Liefern und schießen

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Der Schicksalszug. Morgen für Morgen brechen tschetschenische Flüchtlinge aus dem weißrussischen Brest mit dem Zug in Richtung Polen auf – in der Hoffnung auf Asyl.

Freiheit statt Chauvinismus. Ungarns Ministerpräsident Victor Orbán spaltet Europa – und zwingt die Konservativen vor der EUParlamentswahl im Mai zu einer Entscheidung über grundlegende Freiheits- und Vereinigungsrechte.

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Philippinen: Oppositionsführerin Lima kämpft aus der Zelle 42 Tibeter in Nepal: Keine Aussicht auf Rückkehr

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Graphic Report: Die vergessenen Männer von Manus

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KULTUR Russischer HipHop: Die Playlists der Zensoren

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Amnesty-Filmpreis: »Espero tua (re)volta aus Brasilien«

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Streit um Humboldt-Forum: Inventur der Raubkultur

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Türkei: Künstler im Visier der Justiz

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Friedensnobelpreisträger: Muganga, der Heiler

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Die Playlists der Zensoren. HipHop und Rap standen in Russland bislang nicht gerade unter Oppositionsverdacht. Doch seitdem sich die Musikszene politisiert, reagiert der Staat mit Konzertverboten.

Blick Bassy aus Kamerun: Ein Album über Unabhängigkeit 63

RUBRIKEN Panorama 04 Einsatz mit Erfolg 06 Markus N. Beeko über Arbeiten für Amnesty 07 Spotlight: Niger 08 Interview: Ibrahim Manzo Diallo 09 Porträt: Marcelo Catrillanca, Chile 48 Dranbleiben: Amnesty International 49 Rezensionen: Bücher 61 Rezensionen: Film & Musik 62 Briefe gegen das Vergessen 64 Aktiv für Amnesty 66 Impressum 67

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54 Kampf um die Köpfe der Kinder. Der Film »Espero tua (re)volta« der Brasilianerin Eliza Capai gewinnt den Amnesty-Filmpreis auf der Berlinale.

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Einfach schwimmen. Um die Abschiebung eines afghanischen Mannes zu verhindern, weigerte sich Elin Ersson, im Flugzeug ihren Platz einzunehmen.

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Der Feldherr von Mannheim. Aus dem deutschen Exil befehligte Ignace Murwanashyaka ruandische Milizen im Kongo – per Mail und SMS. Jetzt geht das Verfahren gegen den FDLR-Kommandeur vor dem Oberlandesgericht Stuttgart in eine neue Runde. Liefern und schießen. Die milden Urteile gegen Angestellte von Heckler & Koch offenbaren die Komplizenschaft zwischen Rüstungsindustrie und Bundesregierung.

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Titelbild: Demonstration gegen das Ergebnis des Brexit-Referendums, London, Juni 2016. Foto: Andrew Testa / Panos Pictures Fotos oben: Andrew Testa / Panos Pictures  |  Björn Lersson Rosvall / DPR / pa  |  Moritz Richter  |  El Marto  Maxim Zmeyev / AFP / Getty Images  |  Meghan Dhaliwal / The New York Times / Redux / laif  |  Carol Quintanilha

WAS IST DER UNTERSCHIED zwischen der EU und der Organisierten Kriminalität im Kosovo?, lautet ein Witz aus dem jüngsten Land Europas. Die Antwort: Die Organisierte Kriminalität ist organisiert. Spott und Hohn für die europäische Verwaltung gehen im Kosovo allerdings einher mit anhaltender Zustimmung zur EU: Nirgends sonst unter den potenziellen Neumitgliedern auf dem Westbalkan ist der Staatenbund beliebter. 84 Prozent der Kosovaren halten den Beitritt für eine gute Sache, in Bosnien-Herzegowina und Serbien ist es nicht einmal jeder zweite. Um das zu ändern, müsse man in Brüssel stärker auf die Bewohner der einstigen jugoslawischen Teilrepubliken hören, sagt der Theatermacher Jeton Neziraj. 2018 ernannte ihn die EU-Vertretung in Pristina zum »Europäer des Jahres« (Seite 30). Nezirajs Appell gilt vor der Wahl des Europaparlaments im Mai auch mit Blick auf die Bürger der Mitgliedsstaaten: Bei weniger als fünfzig Prozent lag die Wahlbeteiligung 2014. Dass 2016 beim Referendum über den EU-Austritt Großbritanniens die Brexit-Befürworter gewannen, lag nicht zuletzt daran, dass viele junge Briten nicht wählen gingen. »Amnesty muss besser zuhören«, forderte der internationale Generalsekretär Kumi Naidoo wenige Monate nach seinem Amtsantritt (Amnesty Journal, 12/2018). Das gilt auch nach innen: Nachdem sich 2018 zwei Mitarbeiter das Leben genommen hatten, gab die Amnesty-Zentrale in London eine unabhängige Untersuchung in Auftrag, um die eigenen Arbeitsverhältnisse zu beleuchten. Die auf die Beratung von Hilfsorganisation spezialisierte KonTerra Group kam zu dem Schluss, dass im Internationalen Sekretariat in London und in mehreren Regionalbüros Mobbing, Stress und Rücksichtslosigkeit den Arbeitsalltag vieler Kolleginnen und Kollegen bestimmten. In diesem Heft schildern wir die Konsequenzen, die die Amnesty-Führung in London aus den Vorwürfen zieht (Seite 49). Und der Generalsekretär von Amnesty Deutschland, Markus N. Beeko, erklärt in seiner Kolumne auf Seite 7, wie die deutsche Sektion Naidoo beim Neuanfang unterstützt, damit für Amnesty International Aktive sich weiter gut für die Menschenrechte einsetzen können – als Teil einer menschlich organisierten Bewegung. Markus Bickel ist  Verantwortlicher Redakteur  des  Amnesty Journals.

Foto Editorial: Sarah Eick / Amnesty

INHALT

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EDITORIAL

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PANORAMA

Foto: Zohra Bensemra / Reuters

ALGERIEN: PROTESTE ZWINGEN BOUTEFLIKA ZU VERZICHT AUF FÜNFTES MANDAT

Abdelaziz Bouteflika bleibt auf unbestimmte Zeit Präsident Algeriens. Nach dem Verzicht auf eine fünfte Kandidatur bei der Wahl des Staatsoberhaupts gingen die Demonstrationen gegen den seit 1999 herrschenden 82-Jährigen im März in vielen Landesteilen weiter. Bouteflika hatte nach wochenlangen Protesten dem Wunsch der Bevölkerung nach einem friedlichen Neubeginn nachgegeben.Die für April geplante Präsidentenwahl abgesagt. Eine »nationale Konferenz« soll nun bis Jahresende eine neue Verfassung ausarbeiten und Wahlen vorbereiten. Neuer Ministerpräsident ist der bisherige Innenminister Noureddine Bedoui. Schlüsselpositionen in dem von Bouteflika skizzierten Übergangsprozess bleiben von Funktionären der seit 1962 regierenden Nationalen Befreiungsfront (FLN) besetzt.

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VENEZUELA: OPPOSITION KÄMPFT WEITER GEGEN MADURO

Die Konfrontation zwischen Venezuelas Präsident Nicolás Maduro und den ausländischen Unterstützern von Juan Guaidó hält an. Anfang März kündigten die USA neue Sanktionen gegen das Land an, das unter einer schweren Versorgungskrise leidet. Der Präsident der venezolanischen Nationalversammlung Guaidó hatte sich im Januar zum Übergangspräsidenten erklärt. Die Armee gilt als Schlüsselfaktor in dem Machtkampf. Bislang stehen die meisten Generäle noch auf der Seite Maduros. Um Solidarität für Guaidó zu bekennen, forderten Demonstranten Ende Februar Soldaten vor dem Armeestützpunkt La Carlota in Caracas auf, ihre Waffen niederzulegen und humanitäre Hilfe zu ermöglichen. Foto: Jimmy Villalta / Redux / laif

PANORAMA

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EINSATZ MIT ERFOLG

MAURETANIEN Die Aktivisten Biram Dah Abeid und Abdellahi el Housein Mesoud wurden im Dezember 2018 aus dem Gefängnis freigelassen. Sie waren von einem Gericht in der mauretanischen Hauptstadt Nouakchott zu sechs Monaten Haft verurteilt worden, von denen zwei zur Bewährung ausgesetzt wurden. Beide hatten sich in Mauretanien gegen Sklaverei eingesetzt. Da sie bereits mehr als vier Monate im Gefängnis waren, kamen sie am Tag der UrteilsverkĂźndung frei. Abeid bedankte sich bei Amnesty fĂźr die stets bedingungslose UnterstĂźtzung festgenommener Antisklavereiaktivisten.    í˘ą

Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen an den ÂťUrgent ActionsÂŤ, den ÂťBriefen gegen das VergessenÂŤ und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz Folter verhindert, die Freilassung Gefangener bewirkt und Menschen vor unfairen Prozessen schĂźtzt, zeigt unsere Weltkarte. Siehe auch: www.amnesty.de/erfolge

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PARAGUAY Ein Eilaufruf von Amnesty International hat dazu beigetragen, dass die Menschenrechtlerin Amada MartĂ­nez Beschwerde einlegen und fĂźr ihre Gemeinde SchutzmaĂ&#x;nahmen der Staatsanwaltschaft beantragen konnte. MartĂ­nez war im August 2018 von Männern bedroht worden, die Uniformen eines Bauunternehmens trugen. Das Paraguayische Institut fĂźr Indigene Angelegenheiten CristĂłbal erkannte MartĂ­nez nach dem Vorfall als VerhandlungsfĂźhrerin an, wodurch es nun mĂśglich wird, LandansprĂźche geltend zu machen. Sie stammt aus der in Landkonflikte  verwickelten Gemeinde Tekoha Sauce, in der AngehĂśrige der indigenen Avå Guaraní leben.

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Ă„GYPTEN Der ägyptische Fotojournalist Mahmoud Abu Zeid (ÂťShawkanÂŤ) wurde im Februar aus dem Gefängnis entlassen. Im August 2013 war er von der ägyptischen Polizei festgenommen worden. Mahmoud Abu Zeid fotografierte zu diesem Zeitpunkt einen Sitzstreik von Anhängern des gestĂźrzten Präsidenten Mohammed Mursi in Kairo. Ein Gericht sprach den Fotoreporter in einem grob unfairen Massenverfahren aufgrund konstruierter Anklagen schuldig. Im Gefängnis wurde er nach eigenen Angaben gefoltert. AuĂ&#x;erdem hat sich sein  Gesundheitszustand während der Haft zunehmend verschlechtert – er leidet an Hepatitis C.

VEREINIGTE ARABISCHE EMIRATE Im Februar  wurde der jordanische Journalist und Dichter Tayseer al-Najjar aus einem Gefängnis in Abu Dhabi entlassen. Als gewaltloser politischer Gefangener war er im Dezember 2015 in den Vereinigten Arabischen Emiraten festgenommen und wegen eines Facebook-Posts zu drei Jahren Haft und einer Geldstrafe verurteilt worden. Er hätte bereits im Dezember 2018 freigelassen werden sollen. Doch die Haft wurde verlängert, da seine Familie die gerichtlich angeordnete Geldstrafe nicht bezahlen konnte. Inzwischen durfte Tayseer al-Najjar nach Jordanien zurĂźckkehren.

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THAILAND Der bahrainische FuĂ&#x;ballspieler  Hakeem Ali al-Araibi wurde im Februar aus dem Untersuchungsgefängnis in Bangkok entlassen. Er war im November 2018 bei seiner Ankunft auf dem Internationalen Flughafen von Bangkok von den thailändischen BehĂśrden festgenommen worden. Die Festnahme hatte international EmpĂśrung und diplomatische BemĂźhungen fĂźr seine Freilassung ausgelĂśst. In Bahrain drohten dem Regierungskritiker eine zehnjährige Gefängnisstrafe sowie Folter und andere Misshandlungen. Er flog noch am Tag seiner Freilassung nach Australien und bedankte sich bei Menschenrechts organisationen fĂźr ihre UnterstĂźtzung.

EINSATZ MIT ERFOLG

MARKUS N. BEEKO ĂœBER

Foto: Bernd Hartung / Amnesty

INDIEN Der Aktivist Chandrashekhar Azad, der sich fĂźr die Rechte der Dalits einsetzt, wurde im September 2018 aus einem Gefängnis im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh freigelassen. Er befand sich seit November 2017 ohne Anklage in Verwaltungshaft. Grundlage fĂźr seine Inhaftierung war das Gesetz ßber die nationale Sicherheit. Es ermĂśglicht eine Haft von bis zu zwĂślf Monaten. Das Gesetz wird  immer wieder genutzt, um gegen Menschenrechtsverteidiger vorzugehen.

ARBEITEN FĂœR AMNESTY Nach dem Beruf gefragt, folgt auf meine Antwort Âťbei Amnesty InternationalÂŤ, oft der Ausruf: ÂťOh, wie toll!ÂŤ Und dann: ÂťAber ist das nicht auch schrecklich?ÂŤ Ja, fĂźr Amnesty International zu arbeiten, ist toll. In 15 Jahren habe ich es nie bereut. Und ja, es kann schrecklich sein. Die Harry-Potter-Autorin J. K. Rowling, die vor Jahren bei Amnesty in London arbeitete, beschrieb diesen Widerspruch so: Täglich habe sie Beweise dafĂźr gesehen, was Menschen anderen Menschen antun. ÂťFurchtbare AlbträumeÂŤ habe ihr die Arbeit bereitet, sie zugleich aber Âťunfassbar vielÂŤ darĂźber gelehrt, Âťwas menschliche GĂźte vermagÂŤ. Ihre Zeit bei Amnesty sei Âťeine der wahrhaft Demut lehrenden und inspirierenden Erfahrungen meines LebensÂŤ. Rowlings Erfahrungen teilen viele, die bei Amnesty aktiv sind. Aber unverwundbar macht uns das nicht: Im Mai vergangenen Jahres nahm sich unser langjähriger Kollege GaĂŤtan M., Ermittler im Afrika-Team von Amnesty, das Leben. Ein Schock. Amnesty reagierte und beauftragte umfassende, unabhängige Untersuchungen und eine interne Umfrage unter den internationalen Mitarbeitenden. Die Ergebnisse sind schmerzhaft: Durch einen internationalen Umstrukturierungsprozess war GaĂŤtan M. massiven Belastungen, Unsicherheit und extremem Arbeitsdruck ausgesetzt – und wurde damit allein gelassen. Die Dezentralisierung unserer internationalen Arbeit mit dem Ziel, vor Ort besser mit Opfern von Menschenrechtsverletzungen zusammenarbeiten zu kĂśnnen, hatte nicht nur fĂźr ihn, sondern fĂźr viele Kolleginnen und Kollegen zu Unklarheit, Spannungen und Ăœberforderung gefĂźhrt. Befragte sprachen teilweise von einer Âťvergifteten ArbeitsatmosphäreÂŤ, es wurde sogar Ăźber Fälle von Mobbing und Diskriminierung berichtet. Kumi Naidoo, gerade frisch im Amt als neuer internationaler Generalsekretär von Amnesty, tat das Richtige, zog Konsequenzen und stellte im Februar erste MaĂ&#x;nahmen zur Aufarbeitung und Prävention vor. Er hat weitere Schritte angekĂźndigt. Die deutsche Sektion von Amnesty unterstĂźtzt ihn bei diesem Neuanfang auf internationaler Ebene: Amnesty ist gefordert, Wohlbefinden, Sicherheit und ein unterstĂźtzendes Arbeitsumfeld fĂźr die Mitarbeitenden in unserer internationalen Struktur zu gewährleisten. Wir wollen uns daran messen lassen, wie wir weltweit Sorge tragen fĂźr unsere haupt- und ehrenamtlich Aktiven. Dies ist umso wichtiger, weil Amnesty-Kolleginnen und -Kollegen derzeit in vielen Ländern zunehmend Drohungen und Angriffen durch Gegner der Menschenrechte ausgesetzt sind. Der Widerstand gegen Menschenrechtsverletzungen bleibt unser Fokus. Mit vollem Einsatz. Aber wir werden versuchen, kĂźnftig besser aufeinander aufzupassen. Ich bin froh, dass wir in Deutschland 2018 das Wohlbefinden (ÂťwellbeingÂŤ) der Mitarbeitenden in den Blick genommen haben und MaĂ&#x;nahmen zum Schutz vor ĂźbermäĂ&#x;igen Belastungen entwickeln. Peter Steudtner, der vorletztes Jahr in der TĂźrkei inhaftierte Berliner Menschenrechtsaktivist, sagte einmal zu mir, nachdem ich wieder einen langen Arbeitstag an den anderen gereiht hatte: ÂťMarkus, wellbeing is resistance.ÂŤ In diesem Sinne: Passen Sie auf sich und Ihre Mitmenschen auf. Markus N. Beeko ist Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion.

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EU-FLUCHTABWEHR IN NIGER UMSTRITTENER PARTNER IN DER WÜSTE Patrouille im Sand. Ein Konvoi von Reisenden passiert Soldaten auf der Rast nahe des nigrischen Orts Achegour, August 2018.

Der Druck aus Europa wächst: Um zu verhindern, dass Migranten von Libyen aus die lebensgefährliche Reise über das Mittelmeer antreten, hat die Europäische Union ihre Zusammenarbeit mit den Staaten West- und Zentralafrikas intensiviert. Besonders im Fokus steht Niger, das wichtigste Transitland des Kontinents, das bis 2020 eine Milliarde Euro von der EU erhält. Bundeskanzlerin Angela Merkel dankte dem nigrischen Präsidenten Mahamadou Issoufou bei dessen Deutschlandbesuch im August 2018 dafür, dass »Niger beim Kampf gegen die illegale Migration sehr erfolgreich mit uns zusammenarbeitet und hierbei herausragende Arbeit leistet«. Durch Niger laufen wichtige Migra-

»Wenn ich Bezeichnungen wie ›Diktator‹ höre, muss ich schmunzeln, weil ich mich nicht angesprochen fühle.« NIGERS PRÄSIDENT MAHAMADOU ISSOUFOU IM JUNI 2018 IN PARIS

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tionsrouten; die Stadt Agadez im Norden des Landes gilt als Drehkreuz Richtung Libyen. Um diese Route zu kontrollieren und die Wanderungsbewegungen Richtung Mittelmeerküste einzudämmen, hat die EU Niger zu einem ihrer »strategischen Partner« in der Migrationspolitik ernannt. Von den mehr als 7,5 Millionen Migranten in West- und Zentralafrika beherbergte das Land Anfang 2019 rund 1,2 Millionen Menschen. Für die USA und ihre militärischen Verbündeten Frankreich, Italien und Deutschland ist Niger zudem strategisch wichtig im Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Vor allem die Nachbarländer Mali, Nigeria und Libyen sind Rückzugsorte für Al-Qaida im Islamischen Maghreb

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MILLIONEN MIGRANTEN LEBTEN ANFANG 2019 IM NIGER. Quelle: Internationale Organisation für Migration (IOM)

(AQIM), Boko Haram oder die Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Zurzeit bauen die USA am Rande von Agadez ihren größten Militärstützpunkt in Afrika, auch Frankreich betreibt in Niger zwei eigene Basen und teilt sich die in der Hauptstadt Niamey mit den USA. Die Bundeswehr unterhält seit Ende 2018 einen eigenen Stützpunkt auf dem Flughafen der nigrischen Hauptstadt, um die deutschen Soldaten der UN-Mission Minusma im benachbarten Mali zu unterstützen. Bundeskanzlerin Merkel hat bereits angekündigt, Deutschland werde die Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat in diesem Jahr dafür nutzen, eine »robuste internationale Mandatierung« für die Terrorbekämpfung in der Region zu erreichen.

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MENSCHEN KAMEN IM JANUAR UND FEBRUAR 2019 BEI DER FLUCHT ÜBER DAS MITTELMEER UMS LEBEN. Quelle: Internationale Organisation für Migration (IOM)

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Foto: Joe Penney / The New York Times / Redux / laif

SPOTLIGHT


IBRAHIM MANZO DIALLO

»NIGER IST DER POLIZIST EUROPAS« Foto: Markus Bickel

Ibrahim Manzo Diallo gehört dem nigrischen Journalistennetzwerk Alternative Espaces Citoyens (AEC) an. 2003 gründete er die Zeitung Aïr Info, die in Agadez erscheint. Die Wüstenstadt im Zentrum Nigers gilt als Drehkreuz der Migration nach Europa. Interview: Markus Bickel

Im politischen Diskurs verschmilzt oft der Kampf gegen Terrorismus, Drogen- und Waffenhandel mit dem gegen Migranten, alles wird in einen Topf geworfen. Gibt es überhaupt einen Zusammenhang zwischen Terrorismus und Migration? Es ist allein die Politik, die eine Verbindung zwischen Terrorismus und Migration zieht. Sie schafft damit einen Vorwand, um die Repression gegen Netzwerke zu rechtfertigen, die Menschen helfen, nach Norden Richtung Libyen aufzubrechen. So hat es Nigers Präsident Issoufou in einer Rede an die Nation im Dezember 2016 selbst formuliert. Damit ist es ihm gelungen, den Menschen Angst zu machen vor der Migration. Migranten werden als bewaffnete Kämpfer und Drogenhändler denunziert. Auf Druck der Europäischen Union brachte Issoufous Regierung 2015 ein Gesetz ins Parlament ein, das den Transport von Menschen verbietet. Bis zu dem Zeitpunkt lebten fast alle der 180.000 Einwohner von Agadez von der Migration. Sei es als Händler, als Chauffeure oder als Schmuggler. Selbst 2007, als es in Niger zu einem Aufstand kam, hielt die Regierung daran fest, dass der Transport von Menschen legal sei. Doch als 2015 weitaus mehr Migranten Europa erreichten als in den Vorjahren, bat Brüssel Niger darum, den Polizisten für Europa zu spielen. Und diese Rolle haben Regierung und Parlament mit Verabschiedung von Loi N° 2015-36 willig übernommen. Agadez bildet damit praktisch die neue EU-Außengrenze. Im Gegenzug erhält Niger Hunderte Millionen Euro aus Europa, für Soziales, Sicherheit, gute Regierungsführung und eine bessere Stromversorgung. Präsident Issoufou hat von seinem türkischen Amtskollegen gelernt: So wie Erdoğan die Syrien-Krise 2015 wie ein Poker-

SPOTLIGHT

spieler genutzt hat, um viel Geld zu verdienen, erklärte dieser Niger zur Zitadelle, um Europa vor Migranten zu schützen. Das hat funktioniert: Erst im Dezember 2018 stockte die EU ihre Hilfe um weitere 105 Millionen Euro auf. Profitiert die Bevölkerung davon? Kaum. Denn es sind in erster Linie junge Menschen, die von der Migration lebten und die heute arbeitslos sind. Viele von ihnen unterstützten den Aufstand gegen die Regierung 2007. Sie wissen, wie man Waffen benutzt, sie haben eine militärische Ausbildung durchlaufen. Was wir zurzeit erleben, ist eine Migration der Unsicherheit: Weil es in Libyen keine staatlichen Strukturen gibt, aber Milizen im Überfluss, bringen viele Rückkehrer die Gewalt zurück nach Niger. Doch auch die Militärbasen der Franzosen und der Amerikaner machen uns Angst – sie schüren ein Klima der Gewalt, dass dazu führen könnte, dass die Bewohner von Agadez wieder zu den Waffen greifen. Bislang galt Niger als Hafen des Friedens. Das stimmt. Zugleich ist es jedoch in Agadez immer wieder zu Aufständen gekommen, weil der Norden des Landes nicht vom Reichtum des restlichen Landes profitiert. Das zu ändern, ist eines der Ziele unseres Netzwerks Alternative Espaces Citoyens, das nicht nur die schlechte Regierungspraxis in der Hauptstadt Niamey kritisiert, sondern den Nepotismus vieler Bürgermeister auf dem Land, die sich auf die Seite von Issoufou geschlagen haben, um ihren Teil vom Kuchen abzubekommen. Die Zivilgesellschaft hat eine klare Agenda: Sie kritisiert Korruption ebenso wie die Militarisierung der Region durch den Bau neuer Militärbasen. Amerikaner und Franzosen sind schon länger hier, jetzt wollen auch Italiener und Deutsche dafür sorgen, dass die Migration Richtung Europa aufgehalten wird.

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TITEL

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Europa vor der Wahl

Grenzen zu und durch: Die Europäische Union setzt auf Abschottung – an ihren Mittelmeerküsten, aber auch im Osten hinter dem einstigen Eisernen Vorhang. Schwierige Zeiten, und dennoch stehen überall Menschen auf für eine humanere Politik. Denn verändern lässt sich Europa nur von innen. Dabei zählt jede Stimme.

London falling. Protestaktion vor dem britischen Parlament, Januar 2019. Foto: Jenny Matthews / Panos Pictures

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Setzen weiter auf Europa. Oppositionsanhänger in Budapest, Mai 2017.

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Freiheit statt Chauvinismus Ungarns Ministerpräsident Victor Orbán spaltet Europa – und zwingt die Konservativen vor der EU-Parlamentswahl im Mai zu einer Entscheidung über grundlegende Freiheits- und Vereinigungsrechte. Von Anton Landgraf

Foto: Balazs Moha i /MTI via AP / pa

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ieles spricht dafür, den Wahlen zum Europäischen Parlament vom 23. bis zum 26. Mai mehr Beachtung zu schenken als in jenen Jahren, als vor allem Normgrößen für Gurken und Milchquoten die Brüsseler Bürokratie zu beschäftigen schienen. Denn die Gegner der europäischen Integration mobilisieren mit aller Macht gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung, die die Europäische Union zusammenhält. Allen voran der ungarische Präsident Victor Orbán: Bereits vor Monaten erklärte er 2019 zum »historischen Jahr« für all jene, die »Multikulturalismus und Migration« verabscheuen. »Wir sagen ›Auf Wiedersehen‹ zur liberalen Demokratie in Europa«, sagte er im Sommer 2018. Seit geraumer Zeit hat es die ungarische Regierung besonders auf Organisationen und Menschen abgesehen, die sich für die Rechte von Geflüchteten und Migranten einsetzen. Damit sind Orbán und seine rechtsnationale Fidesz-Partei Trendsetter in Europa für eine repressive Regierungspraxis, die Amnesty weltweit konstatiert: Grundlegende rechtsstaatliche Prinzipien werden zunehmend durch restriktive Gesetze ausgehöhlt, um Widerstand aus der Zivilgesellschaft zu unterdrücken. So sieht ein 2018 vom Parlament in Budapest verabschiedetes Gesetz für Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen Freiheitsstrafen von bis zu einem Jahr vor, nur weil sie etwa Rechtsberatung für Asylsuchende anbieten oder Menschenrechtsverletzungen dokumentieren. »Die ungarische Regierung befeuert ein zunehmend feindseliges Klima für Menschenrechtsarbeit und ignoriert grundlegende Freiheits- und Vereinigungsrechte der Menschen«, sagt die Europa-Expertin von Amnesty, Marie Lucas. »Das ist ein fundamentaler Angriff auf die menschenrechtlichen Grundsätze der Europäischen Union.« Orbáns Regierung folgt dabei der Vorstellung einer »illiberalen Demokratie«, die sie als Blaupause für eine künftige Gesellschaftsordnung in ganz Europa betrachtet. Ursprünglich diente das Konzept dazu, nach Jahren wirtschaftsliberaler Reformen wieder eine größere staatliche Lenkung bei ökonomischen Entscheidungen durchzusetzen. Doch schon bald wurden die Werte der »illiberalen Demokratie« auf die kulturelle Sphäre übertragen: Orbán denunziert die EU heute als eine Art totalitäres

EUROPA VOR DER WAHL

Machtzentrum, als »neues Moskau«, das westlich-liberale Vorstellungen zwangsweise auf Ungarn übertragen wolle. Sinnbildlich für die vermeintlichen Machenschaften steht die europäische Flüchtlingspolitik, die angeblich die »kulturelle Identität« des Landes bedrohe. Orbán gibt sich hingegen als Repräsentant eines Volkswillens, dem es um die Reinheit der eigenen Kultur gehe. Das Ende des »Zeitalters der Menschenrechte« hatte er bereits im September 2015 verkündet. Um seine Ansichten zu propagieren, ist ihm fast jedes Mittel recht, wie eine Plakatkampagne der Regierungspartei Fidesz zeigt, die Ende Februar europaweit für Empörung sorgte. Darauf ist EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker gemeinsam mit dem US-Milliardär György Soros abgebildet. Beide würden mit Steuermitteln die illegale Einwanderung nach Europa fördern, heißt es auf dem Plakat. »Sie haben ein Recht darauf zu erfahren, was Brüssel plant.« Die Kampagne bedient nicht nur antisemitische Vorstellungen, indem sie Soros als jüdischen Strippenzieher und Juncker als seine Marionette denunziert, sondern greift gleichzeitig auch die konservative Parteienfamilie in Europa an: Bei den Wahlen zum europäischen Parlament 2014 war Juncker Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei (EVP), zu der auch Orbáns Regierungspartei zählt. Ein Ausschluss von Orbáns FideszPartei wird zunehmend wahrscheinlicher; das nötige Quorum von sieben Mitgliedsparteien aus fünf Ländern, die den Rauswurf der elf Fidesz-Abgeordneten aus der EVP-Fraktion beantragen müssen, war Anfang März erreicht. Aus Protest verließ die traditionsreiche Kroatische Bauernpartei das Bündnis, auch in

Orbán folgt der Vorstellung einer »illiberalen Demokratie« – als Blaupause für Europa. 13


»Sie haben ein Recht darauf zu erfahren, was Brüssel plant«. Wahlplakat der Regierungspartei Fidesz in Budapest, Februar 2019.

Flandern, Luxemburg und Schweden ist vielen Christdemokraten der Geduldsfaden gerissen. Die ungarische Regierung freilich setzt auf die anderen sogenannten Visegrád-Staaten, Polen, Tschechien und die Slowakei, denen sie beim Thema Migration sehr nahesteht. Eine Ausländerfeindlichkeit ohne Ausländer: So wurden in Tschechien nach Angaben des UNHCR 2017 gerade einmal 1.445 Asylanträge gestellt, in der Slowakei waren es im gleichen Jahr 160. Die öffentliche Debatte in den poststaatssozialistischen Ländern erweckt hingegen oft den Eindruck, als würden diese Länder von Flüchtlingen geradezu überrannt. Einige Regierungen dieser Staaten haben zudem erhebliche Probleme im Umgang mit oppositionellen und zivilgesellschaftlichen Kräften. So versucht die polnische Regierung seit geraumer Zeit, die Justiz gleichzuschalten, weshalb die EU ein Rechtsstaatsverfahren eingeleitet hat. Orbán kann mittlerweile auch auf Verbündete und Freunde im westlichen Europa zählen, wie Matteo Salvini, den Innenminister und stellvertretenden Ministerpräsidenten Italiens. Als Vorsitzender der Lega Nord propagierte Salvini jahrelang den

Italiens Innenminister Salvini strebt mit Verbündeten die Mehrheit im EU-Parlament an. 14

Foto: Attila Volgyi / Polaris / laif

Austritt Italiens aus der EU. Seit seinem spektakulären Wahlerfolg ist er jedoch überzeugt, bei den Wahlen zum EU-Parlament eine Mehrheit gewinnen zu können. Zusammen mit befreundeten Parteien in der Europäischen Union will er eine Art »europäische Lega« bilden, um das EU-Parlament zu kontrollieren. Gemeinsam würden sie die »Eliten in Brüssel« wegfegen, um Europa grundlegend zu verändern, kündigten Orbán und Salvini an. Vertragsverletzungsverfahren, mit denen die Rechtsstaatlichkeit in Mitgliedsstaaten wie Polen oder Ungarn geschützt werden soll, soll es dann mit einer neuen EU-Kommission nicht mehr geben. Und in der Flüchtlingspolitik soll Ungarn ganz Europa als Vorbild dienen. Schließlich spielt auch bei der italienischen Regierung die Kritik an der europäischen Migrationspolitik eine herausragende Rolle. Ebenso wichtig ist noch ein anderes Thema. Ihr Aufruf zur »Abschaffung der Armut« ist nach jahrelangen Sparprogrammen in Europa populär. Die kritischen Reaktionen der EU-Kommission helfen Salvini wiederum, sich als furchtlosen Kämpfer gegen das europäische Establishment zu präsentieren. Zudem ermöglicht es das Thema, Verbündete in Süd- und Westeuropa enger an sich zu binden. So forciert Marine Le Pen, die Vorsitzende des französischen Rassemblement National, ein Bündnis mit der Lega. Beide Parteien propagieren soziale Umverteilung von oben nach unten und ein Ende der »wilden Globalisierung«. Selbst in den einstigen sozialdemokratischen Musterländern in Skandinavien präsentieren sich Parteien wie die Schwedendemokraten, die Le Pen und Salvini inhaltlich nahestehen, als die wahren Verteidiger des Wohlfahrtsstaats. Die Frage ist nur, wer von sozialen Leistungen profitieren soll. Minderheiten wie die Roma jedenfalls nicht. Das legt der

AMNESTY JOURNAL | 02/2019


Blieben gern EU-Bürgerinnen. Brexit-Gegnerinnen in London, Juni 2016.

Koalitionsvertrag der italienischen Regierung nahe. Im Kapitel über Sicherheit sind die »Nomadenlager« ein eigener Punkt, abgefasst in offen rassistischem Duktus. Die angeblich »exponentielle Steigerung der Kriminalität durch ihre Bewohner und die extrem schlechten hygienischen Bedingungen« seien »ein schweres soziales Problem«, heißt es darin. Kein Hinweis findet sich hingegen darauf, dass die EU die italienische Regierung seit Jahren dafür verantwortlich macht, Angehörigen dieser Minderheit keinen angemessenen Wohnraum zu bieten. Gut möglich, dass Parteien wie die Lega oder die Fidesz dennoch weiterhin Zulauf erhalten. Doch um ihre Politik zu verwirklichen, brauchen sie Unterstützung bis weit in ein Milieu hinein, das sich in vielen Ländern bislang mehrheitlich an konservativen oder christsozialen Parteien orientiert. In Österreich ist dieser Zusammenschluss bereits gelungen, dort verbindet die Regierungskoalition aus ÖVP und FPÖ ein bürgerliches Milieu bis hin zu rechtsextremen Gruppen. In Deutschland legte die AfD in den vergangenen Jahren zwar deutlich zu, verfügt aber noch nicht über die Machtoptionen wie ihre Freunde in Österreich, Italien oder Ungarn. Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai steht daher für die EU alles auf dem Spiel. Orbán, Salvini und ihre Verbündeten müssten nicht die absolute Mehrheit erringen, um die angestrebte Neuordnung der EU voranzubringen. Sollten ihre Parteien die stärkste Fraktion im künftigen EU-Parlament bilden, könnten sie die EU-Gesetzgebung entscheidend beeinflussen. Ihr Ziel ist es längst nicht mehr, die europäischen Institutionen zu zerschlagen, sondern sie zu transformieren. Wären sie damit erfolgreich, bliebe die EU zwar formal erhalten. Es wäre aber ein Europa, in dem die Menschenrechte nichts zählen würden. 쮿

EUROPA VOR DER WAHL

Foto: Andrew Testa / Panos Pictures

FACTS ABOUT EUROPE Das Europaparlament ist das direkt gewählte, gesetzgebende Organ der Europäischen Union. Im Mai werden seine Mitglieder zum neunten Mal seit 1979 gewählt. Die Abgeordneten wählen den Präsidenten der Europäischen Kommission, d. h. den Leiter des Exekutivorgans der EU. 7.698 Mitarbeiter hat das Europäische Parlament insgesamt. In der Europäischen Kommission sind rund 32.000 Menschen beschäftigt. Zum Vergleich: Für das Land Berlin arbeiten mehr als 110.000 Angestellte und Beamte. Wahlberechtigt bei der Europawahl sind rund 400 Millionen EU-Bürgerinnen und -Bürger. Nach dem Austritt Großbritanniens aus der EU wird sich die Zahl der Sitze im Europaparlament ändern. Statt 751 soll es nur noch 705 Sitze geben. Deutschland besetzt nach wie vor 96  davon.  Die Bevölkerungszahl eines Landes ist für die jeweilige Zahl der Sitze ausschlaggebend. Ein Abgeordneter aus einem bevölkerungsreicheren Land vertritt mehr Bürger als in einem bevölkerungsärmeren. Dabei gilt: Ein Land muss mindestens sechs und darf höchstens 96 Parlamentarier nach Brüssel schicken.  In Deutschland lag die Wahlbeteiligung bei der Europawahl 2014 bei 47,9 Prozent und damit über dem EUDurchschnitt von 43,09. Am höchsten war sie in Luxemburg und Belgien, wo sich 90 Prozent der Wahlberechtigten beteiligten.  EU-weit ist die Wahlbeteiligung 2014 im Vergleich zu 2009 gestiegen. Unter den 60- bis 70-Jährigen lag die Wahlbeteiligung mit 58,2 Prozent am höchsten. Unter den 21- bis 24-Jährigen setzten nur 35,3 Prozent ihr Kreuz.

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Gefangen auf den griechischen Inseln D

er Maßnahmenkatalog hat nur sechs Punkte und einen denkbar einfachen Titel: »Erklärung EU-Türkei, 18. März 2016« steht über den zwei Seiten, die die Pressestelle des Europäischen Rats vor drei Jahren veröffentlichte. Diese Presseerklärung wird landläufig als EUTürkei-Deal bezeichnet. Das Leben Zehntausender Menschen wird von der zweiseitigen Erklärung beeinflusst. Im März wird sie drei Jahre alt. Anlass zum Feiern gibt es nicht. Denn die Beschlüsse des Gipfels zur »Bewältigung der Migrationskrise« im März 2016, an dem neben den EU-Staats- und Regierungschefs der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan teilnahm, führen zu einem monströsen, unmenschlichen Verschiebebahnhof. So gilt bis heute, dass alle »irregulären« Migranten, die auf den griechischen Inseln ankommen, in die Türkei zurückgeschickt werden sollen – in ein Land, in dem im Frühjahr 2019 mehr als 3,6 Millionen Flüchtlinge leben. Im Gegenzug für jeden Syrer, der auf diesem Weg in die Türkei gelangt, sollte eigentlich ein dort lebender Flüchtling in der EU aufgenommen werden. Tatsächlich waren es seit 2016 europaweit etwa 20.000 Geflüchtete, etwa 7.000 allein in Deutschland. Aus Griechenland wurden im gleichen Zeitraum 1.800 Migranten und Flüchtlinge in die Türkei abgeschoben. Doch das weitaus wichtigere Ziel des Deals besteht aus EUSicht darin, die Grenze zur Türkei abzuriegeln. So flossen die ersten drei Milliarden Euro aus Brüssel an Ankara nicht nur, um mehr syrischen Kindern den Schulbesuch in der Türkei zu ermöglichen, sondern auch, um den türkischen Grenzschutz aufzurüsten. Und in der Tat sind die Zahlen der auf den griechischen Inseln ankommenden Menschen seit 2016 rapide gesunken. Die europäischen Regierungen halten deshalb unbeirrt an dem Deal fest. Begründet wurde das Konstrukt damit, dass die Türkei ein sicherer Drittstaat sei und allemal Schutz für Flüchtlinge bieten könne. Dass die Genfer Flüchtlingskonvention in dem Land gar keine umfassende Wirkung entfaltet, wurde als nicht so schlimm bewertet. Ob die Türkei für die auf die griechischen Inseln geflüchteten Menschen sicher ist, wird immerhin für jeden einzeln geprüft. Wer sich jedoch juristisch gegen die Abschiebung wehrt, muss lange auf eine Entscheidung warten.

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Menschen in dieser Warteschleife sind verunsichert und perspektivlos. Aber auch diejenigen, für die die Türkei nicht als sicherer Drittstaat gilt, sind zum Warten verdammt. Ihre Fluchtgründe werden erst in einem weiteren Schritt, dem eigentlichen Asylverfahren, geprüft. Derzeit warten syrische Flüchtlinge bis zu zwei Jahre auf ihre Anhörung. Es wäre zynisch zu glauben, dass beschleunigte Verfahren dafür sorgten, dem Deal menschenrechtliche Züge zu verleihen. Die Europäische Kommission ist vom System der griechischen Hotspots derart begeistert, dass sie die dort praktizierten Zulässigkeitsverfahren als Vorbild für ein künftiges Gemeinsames Europäisches Asylsystem betrachtet. Zwar gelten die Verhandlungen über die Reform des derzeitigen europäischen Asylsystems bislang als gescheitert. Ursächlich dafür ist jedoch nicht der Mangel an praktikablen Ansätzen, sondern fehlende Solidarität bei der Aufnahme von Flüchtlingen innerhalb Europas. Das auf den griechischen Inseln praktizierte Zulässigkeitsverfahren dürfte hingegen bei den Mitgliedsstaaten mehrheitsfähig sein. Dient es doch gerade dazu, sich für Flüchtlinge unzuständig zu erklären. Deutschland müsste dann zum Beispiel prüfen, ob ein Asylantrag nicht vielleicht doch besser in einem sicheren Drittstaat außerhalb der Europäischen Union zu stellen wäre. Warum nicht in Marokko oder Tunesien? Den Preis des Deals zahlen die auf den Inseln gestrandeten Schutzsuchenden, die in der Türkei keine Perspektive gefunden haben und deren Familien möglicherweise längst in Europa leben. Sie hausen unter katastrophalen Bedingungen – ohne angemessene hygienische oder gesundheitliche Versorgung. Auch

Ziel des Deals ist es, die Grenze zur Türkei abzuriegeln. AMNESTY JOURNAL | 02/2019

Foto: Kay Nietfeld / EUrVote via AP / pa

Vor drei Jahren vereinbarten Brüssel und Ankara, die irreguläre Migration aus der Türkei in die EU zu beenden – ein Deal zum Schaden der Geflüchteten. Ein Kommentar von Franziska Vilmar


Überfahrt geglückt, Zukunft ungewiss. Geflüchtete bei der Ankunft in Lesbos, März 2019.

Zugang zu Bildung oder Schutz vor sexuellen Übergriffen sind in den griechischen Insellagern nicht einmal ansatzweise gewährleistet. Anfang 2019 befanden sich knapp 15.000 Menschen in den fünf griechischen Hotspots – doppelt so viele wie vorgesehen. Das neue Grenzschutzmodell setzt auf Abschreckung. Die Überfüllung der menschenunwürdigen Lager weit über ihre Kapazitätsgrenze hinaus, scheint System zu haben. Selbst im Winter steht für viele der unfreiwilligen Inselbewohner nicht einmal ein beheizbarer Container zur Verfügung. Und selbst wenn die griechische Asylbehörde gemeinsam mit dem Europäischen Asylunterstützungsbüro (EASO) entschieden hat, dass Menschen umgehend auf das Festland verteilt werden müssen, harren diese oft noch monatelang im Dreck ihres selbstgemachten Zeltlagers aus. Erst Anfang des Jahres hat das Antifolterkomitee des Europarats die »unmenschlichen und entwürdigenden Bedingungen« in griechischen Flüchtlingslagern kritisiert. Überfüllt, unzureichend ärztlich versorgt und ohne ausreichenden Schutz für Frauen und Minderjährige seien diese. Neu sind diese Erkenntnisse nicht, sondern seit langem bekannt – ohne dass sich etwas verbessert.

EUROPA VOR DER WAHL

Es lohnt sich, die Pressemitteilung nach dem Gipfel der EUStaats- und Regierungschefs mit Erdoğan vom 18. März 2016 noch einmal zu lesen. Darin findet sich auch der folgende Satz: »Es handelt sich hierbei um eine vorübergehende und außerordentliche Maßnahme, die zur Beendigung des menschlichen Leids und zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung erforderlich ist.« Welch Hohn. Die am Deal Beteiligten haben in den vergangenen drei Jahren vor allem menschliches Leid verursacht. Besonders schutzbedürftige Flüchtlinge auf Lesbos und in den anderen EU-Hotspots müssen sofort auf das griechische Festland gebracht und angemessen versorgt werden, bis über ihren Asylantrag entschieden ist. Familienmitglieder müssen rasch zu ihren Verwandten in andere EU-Mitgliedsstaaten reisen dürfen. Flüchtlinge und Migranten müssen endlich unter menschenwürdigen Bedingungen in der EU untergebracht werden. Die Menschen hin-und herzuschieben, sie endlos warten und im Dreck vor sich hin darben zu lassen, lässt sich auch durch das Ausrufen von Ausnahmezuständen nicht rechtfertigen. Niemals. 쮿 Die Autorin ist Amnesty-Fachreferentin für Asylpolitik in Berlin.

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Einfach schwimmen

Einfach stehen geblieben. Elin Ersson im Juli 2018 in Göteborg.

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Um die Abschiebung eines afghanischen Mannes zu verhindern, weigerte sich Elin Ersson, im Flugzeug ihren Platz einzunehmen. Clemens Bomsdorf hat die schwedische Studentin getroffen.

Foto: Björn Lersson Rosvall / DPR / pa

D

ie Frau, die vergangenen Sommer weltweit bekannt wurde, weil sie ein Flugzeug mit einem Asylbewerber an Bord am Abflug vom Flughafen in Göteborg hinderte, beruft sich nicht etwa auf eine große Pazifistin, sondern auf den Fisch Dorie aus dem Animationsfilm »Findet Nemo«. »Einfach schwimmen« hat sich Elin Ersson auf den Unterarm tätowieren lassen, den sie jetzt auf den Tisch eines Cafés in Berlin stützt. Das Zitat ist eine Durchhalteparole, und so wie es die Palettendoktorfisch-Dame Dorie dem kleinen Clownfisch Nemo vorsingt, eine Erinnerung daran, sich nicht die gute Laune verderben zu lassen. Die 21-jährige Schwedin scheint nicht in schlechter Stimmung zu sein – obwohl sie über Dinge spricht, die sie gesellschaftlich stören, darunter die Ignoranz gegenüber der schwierigen Lage von Menschen auf der Flucht. »Auch wenn das Leben manchmal schwer ist, muss man weitermachen«, sagt sie. »Daran erinnert mich der Satz aus ›Findet Nemo‹. Und an meine Schwester, die ihn auch als Tattoo trägt.« Sie will weiter dafür kämpfen, dass Asylbewerber in Europa akzeptiert werden – so definiert sie ihr Weiterschwimmen. Weil sie sich für Geschichte und vor allem die Wikingerzeit interessiert, hat sie sich den Spruch in Runenschrift in den Arm stechen lassen. Ausgerechnet. Denn für diese alte Schrift, deren Buchstaben oft nur aus ein paar in spitzen Winkeln verbundenen Strichen bestehen, interessieren sich noch andere: Nazis und ziemlich rechte Menschen. Für die aber ist Ersson eine Hassfigur, seitdem sie sich im Juli 2018 dabei filmte, wie sie die Abschiebung eines 52-jährigen Afghanen zumindest für einen Moment lang verhinderte. Sie weigerte sich schlicht, ihren Platz im Flugzeug, das vom schwedischen Göteborg nach Istanbul fliegen sollte, einzunehmen. Das tat sie so lange, bis der Pilot sie darum bat, gemeinsam mit dem Mann das Flugzeug zu verlassen. Weil sie einer ersten Aufforderung, sich zu setzen, nicht nachgekommen sein soll, verurteilte das Amtsgericht Göteborg sie im Februar wegen Verstoßes gegen das schwedische Luftfahrtgesetz zu einer Geldbuße von 300 Euro. Das knapp 15 Minuten lange Video beginnt mit einer kurzen Ansprache Erssons. Darin macht sie Passagiere und Zuschauer auf einem Facebook-Livestream darauf aufmerksam, dass mit dem Flugzeug, aus dem sie berichtet, ein Asylbewerber abgeschoben werden soll. Noch bevor sie sagen kann, dass sie den Start verhindern möchte, wehrt sie sich dagegen, dass ihr jemand das Handy abzunehmen versucht – nach gerade einmal elf Sekunden. Doch Ersson bleibt ruhig, behält das Mobiltelefon in der Hand, filmt und spricht weiter. Wieder und wieder erklärt sie, dass dem Asylbewerber ihrer Meinung nach in Afghanistan der sichere Tod drohe. Die Besatzung verschanzt sich hinter dem Hinweis, dass das Flugzeug nur bis Istanbul fliege, sie den Mann also gar nicht direkt nach Afghanistan und damit in den laut Ersson sicheren

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Tod bringen würden. Ein Passagier beschwert sich über ihren Auftritt, weil der zu Verzögerungen führe. Ihre Antwort: »Ein Mensch wird sterben, und du hast bloß Angst, deinen Flug zu verpassen.« Dieser Satz bringt die Gleichgültigkeit vieler auf den Punkt, die sich in ihrem angenehmen Alltag nicht von den Folgen ferner Kriege stören lassen wollen – aber auch die Überheblichkeit von Aktivistinnen wie Ersson. Später schränkt sie ein, dass der afghanische Abschübling nicht sicher, sondern wahrscheinlich getötet werde. Nach gut sechs Minuten erzählt sie, dass ein türkischer Passagier anderen Mitreisenden erklärt habe, dass das, was sie mache, richtig sei. Dann erntet sie Applaus und erzählt gerüht, wie ein ganzes Fußballteam weiter hinten im Flieger aus Solidarität aufgestanden sei. Mehrfach kommen ihr die Tränen. In Schweden hat der politische Rechtsruck dazu geführt, dass die Behörden Geflüchteten inzwischen weniger Hilfe bieten als in der Vergangenheit. Während der damalige konservative Ministerpräsident Fredrik Reinfeldt seine Mitbürger 2014 noch dazu aufgefordert hatte, die Herzen zu öffnen, haben im Wahlkampf im Herbst 2018 selbst Sozialdemokraten mit einer restriktiveren Flüchtlingspolitik geworben. »Man konzentriert sich auf eine Bedrohung, die es so nicht gibt. Als würde ganz Schweden untergehen, wenn wir uns um die Leute kümmern, die auf der Straße landen«, sagt Ersson. Vor allem junge Geflüchtete ohne Familie drohten abzugleiten, fürchtet sie. »Manche von ihnen werden womöglich kriminell oder drogensüchtig. Wenn sie dann im Stadtzentrum abhängen, nimmt man sie auch als solche wahr und schimpft über die Ausländer.« Dabei seien die Umstände das Problem, genauer, dass der Staat nicht genug für sie tue. Doch das würden immer weniger Menschen anerkennen, glaubt sie. »Ich habe früh gemerkt, dass es in Diskussionen schnell zu Situationen kommt, in denen Leute in Verteidigungshaltung gehen und sauer werden.« Das sei der Fall, wenn man nur Standpunkte beziehe, die denen des Gegenübers widersprächen, zum Beispiel, was die Zahl der Asylsuchenden oder das Recht auf Asyl überhaupt angehe. Entscheidend sei deshalb, nicht immer nur von den Sorgen spezifischer Gruppen zu sprechen, sondern Bedürfnisse herauszustellen, die alle Menschen beträfen – etwa Schutz oder die Sehnsucht nach einem Zuhause. »Das macht es leichter, eine gemeinsame Basis zu finden, anstatt gegeneinanderzustehen.« Auf ihrer Suche nach gesellschaftlichem Zusammenhalt polemisiert Ersson deshalb nicht gegen Rechte, sondern findet ihre eigene, beinahe zärtliche Sprache. »Wir müssen uns beruhigen, uns hinsetzen, vielleicht manchmal einfach einen Schritt zurückgehen, um in bestimmten Situationen zu spüren, was wir fühlen – statt einfach nur eine Meinung zu haben.« 쮿

»Ein Mensch wird sterben und du hast bloß Angst, deinen Flug zu verpassen.« Elin Ersson 19


Der Schicksalszug Morgen für Morgen brechen tschetschenische Flüchtlinge aus dem weißrussischen Brest mit dem Zug in Richtung Polen auf – in der Hoffnung auf Asyl. Von Bartholomäus von Laffert mit Fotos von Moritz Richter und Paul Lovis Wagner

Brücke der Hoffnungen und Enttäuschungen. Der Bug bildet die Grenze zwischen Polen und Weißrussland.

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enn es in Brest in Weißrussland zu dämmern beginnt, die Straßenlaternen noch leuchten und sich der Himmel pink verfärbt, kann man beobachten, wie Dutzende senfgelbe Taxis zum 130 Jahre alten Zentralbahnhof schwirren wie Motten zum Licht. Aus den Autos steigen dann Kinder, Frauen, Männer mit bunten Rucksäcken, Sporttaschen und klappernden Ziehköfferchen. Fast alle kommen aus Tschetschenien, alle haben an diesem Morgen ein Ziel: den Zug um 6.22 Uhr, der sie hinüberträgt über den Fluss Bug, über die weißrussisch-polnische Grenze, zehn Kilometer weiter nach Terespol, in die Europäische Union. Dort wollen sie einen Asylantrag stellen. Nacheinander schieben sich die Familien durch die hohen, hölzernen Schwingtüren der Bahnhofswartehalle in Brest. Wie Spieler vor einem Pferderennen drängen sich die Erwachsenen um die gläsernen Kartenhäuschen, in denen müde, junge Frauen in olivfarbenen Uniformen Bahnfahrkarten verkaufen, als wären es Wettcoupons. Vier Euro kostet die Hinfahrt, vier Euro die Rückfahrt, die man als Tschetschene dazu kaufen muss. Die Chance, in Polen einen Asylantrag stellen zu dürfen, stehe derzeit bei etwa 1 zu 80, sagt Fatima A. Die 40-Jährige trägt ein marineblaues Kopftuch und eine schwarz gerahmte Brille. In ihrem ernsten Blick spiegelt sich die Sorge um ihre fünf Kinder wider. Neun Jahre ist Kerim, ihr Ältester, die Jüngste, Maria, ist gerade zwei geworden. Während sich die Erwachsenen drängen, kauern die Kinder zwischen den kunstvoll geschnitzten Wartebänken, den hohen Säulen aus Marmor, unter der stuckverzierten Decke. Kerim jagt Soldaten über den Bildschirm des Smartphones der Mutter, die zwei jüngeren Mädchen schlafen, die achtjährige Leyla bröselt eine Käsestulle auf ihr rosa T-Shirt, auf dem in weißen Lettern #Anyways geschrieben steht. Der sechsjährige Abdullah steht neben Fatima A. am Schalter und fragt: »Mama, fahren wir heute zurück nach Deutschland?« Es ist der zwölfte Morgen, den sie so verbringen, der zwölfte Morgen, an dem Abdullah fragt, der zwölfte Morgen, an dem die Frau am Schalter im gläsernen Kasten unfreundlich ist: Einmal sechs Personen, macht 48 Euro, Wagen Drei, los, los, beeilen Sie sich, der Zug fährt gleich ab! Das hat Tradition. Alle Tschetschenen bekommen Wagen Drei. »Refugee-Transport« nennen sie den Waggon in Brest. Schon am Schalter werden die Flüchtlinge von den Touristen getrennt. Die muslimisch aussehenden Menschen von allen anderen. Die ohne Visa von denen mit. So haben es die Grenzschützer in Polen später leichter, zu entscheiden, wen sie ins Land lassen und wen nicht. Bis zum Mittag werden die allermeisten Familien wieder in Brest zurück sein. Wahrscheinlich wird auch an diesem Mittag eine Familie fehlen. Die Gewinner, die Auserwählten, die Überlebenden – in Brest gibt es viele Namen für diejenigen, die von den polnischen Grenzschützern ausgewählt wurden, einen Asylantrag stellen zu dürfen. Wahrscheinlich ist das harte Vorgehen der polnischen Grenzschützer einer der Gründe, warum in Westeuropa kaum jemand von der tschetschenischen Flüchtlingskrise gehört hat, die sich seit fast vier Jahren an der polnischen Grenze abspielt. Die Krise wird einfach aus der EU ausgesperrt: Rund 50 geflüchtete Familien harren derzeit in Brest aus, schätzt die weißrussische Menschenrechtsorganisation Human Constanta, pro Jahr sind es mehrere Hundert. Die wenigsten schaffen es hinüber.

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90 Tage haben die Tschetschenen Zeit, um Weißrussland Richtung EU zu verlassen. So lange dürfen sich russische Passinhaber ohne Visum in Weißrussland aufhalten – danach werden sie abgeschoben. Zurück nach Tschetschenien.

Die Tschetschenen von Brest Am Rande von Brest steht ein Haus, das kein Rohbau mehr ist, aber außen noch nicht verputzt. Drinnen riecht es nach Kartoffeln und Zwiebeln, nach Menschenschweiß und nach einer Toilette, auf deren Boden daumendick der Urin steht. Sechs Familien leben hier, 29 Menschen in sieben Zimmern. Da ist Patima, 20, aus der tschetschenischen Nachbarprovinz Dagestan, im fünften Monat schwanger, mit ihrem Ehemann Mikhael, 21, der schon frühmorgens eine Wodkafahne hat. Khalid, ein Choleriker, der früher Lastwagen gesteuert hat und heute aus Frust und Traurigkeit seine eigenen Kinder und die der Mitbewohner schlägt. Und da ist Fatima A., die immer wieder sagt, dass sie sich das gar nicht vorstellen kann, dass all das gerade wirklich passiert, weil man sich eine Geschichte wie die ihre allerhöchstens ausdenken könne, aber wahr sein könne sie nicht. »Ich habe viele Jahre in Deutschland gelebt, und ich hatte eine gute Beziehung zu den Leuten dort, zu meinen Vorgesetzten, den Lehrern, den Betreuern«, sagt sie. »Viele Leute haben mir geholfen. Man sagt ja: Nirgends ist es besser als daheim. In Deutschland aber war es besser.« Doch eines Nachts gegen zwei Uhr morgens hätten Polizisten in Uniform die Tür ihrer Wohnung geöffnet. »Meine Kinder wachten auf und bekamen Angst«, erinnert sie sich an den Beginn ihrer Abschiebung. »Ich verstand nicht, was los war. Ich dachte, es liegt ein Missverständnis vor, sie haben sich in der Adresse geirrt. Wie konnte das passieren? Wenn eine Person das Gesetz bricht, dann ist die Abschiebung gerecht, aber wenn man nichts getan hat … Ich dachte nur: Wen sucht ihr? Irrt ihr euch nicht?« Die Polizisten irrten sich nicht. Fast fünf Jahre hatte Fatima A. mit ihrer Familie in einer kleinen Ortschaft in Baden-Württemberg in der Nähe des Städtchens Wehr gleich hinter der Schweizer Grenze gelebt. Die älteren Kinder gingen zur Schule, die jüngeren in den Kindergarten, als im Frühjahr 2018 der Ab-

schiebebescheid kam. Der Vater hatte die Familie da schon verlassen. Er sei nach Frankreich gegangen, glaubt Fatima A., abgeschoben nach Moskau wurden nur sie und die fünf Kinder. Warum sie Tschetschenien vor fünf Jahren verlassen hat, will sie im Detail nicht sagen. Wie viele Tschetschenen in Brest hat sie Angst vor tschetschenischen Spitzeln und davor, dass jemand aus ihrer Heimatstadt ihren Aufenthaltsort erfährt. Nur so viel: Ihr Mann sei als Oppositioneller in ernsthafter Gefahr gewesen. Und: der Abschiebebescheid, das glaubt sie bis heute, muss eine Verwechslung gewesen sein. Ihre Geschichte ist eine von Dutzend Fluchtgeschichten, die uns Tschetschenen in Brest erzählen. Neun Jahre nach dem Ende des Bürgerkrieges lässt der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow Oppositionelle, Islamisten, Homosexuelle und solche, die er dafür hält, verfolgen, einsperren und foltern. Andere flüchten davor, ihren Dienst im russischen Militär in Syrien ableisten zu müssen. Viele Frauen versuchen, einer zutiefst traditionellen und patriarchalen Gesellschaft zu entkommen, in der Zwangsund Kinderehen und Blutrache zum Alltag gehören.

Zermürbendes Ritual in Terespol Jeden Morgen um 7.40 Uhr, 18 Minuten, nachdem sie in Brest in Wagen Drei gestiegen sind, plus eine Stunde Zeitverschiebung, kommen die tschetschenischen Flüchtlinge in Polen an. Genauer gesagt: am Bahnhof in Terespol. Denn nach Ansicht der polnischen Grenzschutzbeamten beginnt Polen erst hinter der Grenzkontrolle. Tag für Tag vollzieht sich hier ein über Jahre einstudiertes Ritual. Zuerst dürfen die Menschen aus den Waggons Eins und Zwei den Zug verlassen, und erst wenn die Passagiere abgefertigt sind, nach 30 Minuten etwa, öffnen sich die Türen von Wagen Drei, dem »Refugee-Waggon«. Dann drängen sich die Menschen durch den schlauchartigen Gang bis zu den Passkontrollhäuschen am Eingang der Wartehalle des Bahnhofs. Manchmal werden sie von den Grenzschützern gefragt, warum sie nach Polen gekommen sind – in den meisten Fällen werden sie jedoch aufgefordert, sich in der Ankunftshalle niederzulassen, um auf den Mittagszug zurück nach Weißrussland zu warten. Jeden Tag würden eine, in seltenen Fällen zwei Familien ausgewählt, denen man erlaubt, einen Asylantrag zu stellen.

WEISSRUSSLAND PoLEN Terespol

Brest

UKRAINE

Gestrandet am Rande der EU. Einreisestempel der polnischen Behörden.

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Keine Jugend in Deutschland. Fatima A. und ihre Kinder in Brest.

Viktoria Radchuk kennt das Procedere gut aus den Erzählungen ihrer Klienten. Die 32-jährige Rechtsanwältin hat über ein Jahr für die weißrussische NGO Human Constanta gearbeitet, die Rechtsberatung für Flüchtlinge in Brest anbietet. »Geht es nach dem Gesetz, ist das Vorgehen der Grenzpolizisten in Polen natürlich illegal«, sagt sie. Es gibt internationale Konventionen, wonach eine Person, die die Absicht hat, in einem Land um politisches Asyl zu bitten, das Recht hat, über die Grenze zu gehen. Es darf nicht sein, dass die Grenzpolizei darüber entscheidet, wer einen Asylantrag stellen darf und wer nicht.« Seit die rechts-konservative PiS 2015 die Regierung übernahm, hat sich die Situation an der Grenze weiter verschlimmert. Aleksandra Chrzanowska arbeitet in der Association for Legal Intervention in Warschau, dem polnischen Pendant zu Human Constanta. Seit 2015 beobachtet die Organisation das Vorgehen der polnischen Grenzschützer in Terespol und schreitet ein, wenn es möglich ist. »Seit dem Sommer 2016 haben wir nicht mehr erfolgreich interveniert. Das war der Zeitpunkt, als die PiS-Regierung ihre Arbeit richtig aufgenommen hat. Im Wahlkampf hatte die Partei gegen Flüchtlinge gehetzt – jetzt musste sie zeigen, dass sie auch keine mehr ins Land ließ.« Im August 2016 sagte der neue polnische Innenminister Mariusz Błaszczak in einem Interview, es gebe in Tschetschenien keinen Krieg mehr, daher sei der Weg über Weißrussland nach Polen lediglich eine neue Migrationsroute für Muslime nach

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Westeuropa. »Solange ich Innenminister bin und Polen von Recht und Gerechtigkeit regiert wird, werden wir Polen keiner terroristischen Bedrohung aussetzen.« Die polnische Grenzpolizei weist alle Vorwürfe, illegal gegen Asylsuchende vorzugehen, zurück. Tatsächlich berichten tschetschenische Asylsuchende in Brest immer wieder davon, dass die polnischen Grenzpolizisten sie in informellen – da sie für offizielle Asylinterviews nicht bevollmächtigt sind – Interviews gefragt hätten, ob sie Verwandte in Europa hätten oder irgendwann einmal vorhätten, in der EU zu arbeiten. Für die Menschenrechtsorganisationen in Polen und Weißrussland ist es derweil schwer, an Beweismaterial zu kommen, da unbeteiligte Beobachter und selbst Anwälte bei den Kontrollen an der Grenze nicht dabei sein dürfen – aus »Datenschutzgründen«, wie der Sprecher der Grenzpolizei schreibt.

Einer, höchstens zwei tschetschenischen Familien wird erlaubt, Asyl zu beantragen. 23


Bahnhof der Hoffnung. Brest, im Westen Weißrusslands.

Es steht Aussage gegen Aussage: Die Asylsuchenden sagen, ihre Bitte um internationalen Schutz sei von den Grenzpolizisten ignoriert und abgewiesen worden. Die Grenzpolizisten erklären, diese Bitten gebe es gar nicht.

Immer wieder abgewiesen In Brest versuchen Fatima A. und ihre Mitbewohner das Haus am Stadtrand möglichst selten zu verlassen. Wenn doch, dann blicken sie hektisch nach links, nach rechts und über die Schulter, als würden sie verfolgt. Wann immer wir Tschetschenen zum Interview treffen, machen sie zur Bedingung, dass wir ihre Namen und Herkunftsorte nicht nennen. Es gibt eine allgegenwärtige Angst, die größer ist als die Angst vor dem Urteil der Grenzschützer in Polen. Es ist die Angst vor der Sicherheitstruppe des tschetschenischen Präsidenten, den sogenannten Kadyrowzy, die für zahlreiche Fälle von Mord und Folter von Regierungsgegnern verantwortlich gemacht werden. Amnesty International hat im vergangenen Jahr die Fälle von zwei tschetschenischen Männern dokumentiert, die aus Brest nach Tschetschenien verschleppt wurden. Im Fall von Artur Aydamirov startete die Organisation im Juli 2018 eine Eilaktion. Der 34-jährige ehemalige Polizist war mit seiner Ehefrau und den drei Kindern nach Brest geflohen, nachdem er erfahren

Die polnischen Beamten bringen Menschen bewusst in Lebensgefahr. 24

hatte, dass er ins Militär eingezogen werde, um im Syrienkrieg für Russland zu kämpfen. Er verschwand am 8. Juni 2018. Augenzeugen berichteten, sie hätten gesehen, wie ihn vier Männer am Fahrkartenschalter des Bahnhofs in Brest abfingen, ihm Handschellen anlegten, ihn in einen Transporter verfrachteten und davonfuhren. Seitdem fehlt von Artur Aydamirov jede Spur. Aleksandra Fertlinska von Amnesty International in Polen sagt zu dem Fall: »Artur hat mit seiner Familie neunmal versucht, nach Polen zu kommen, neunmal wurde er abgewiesen, dann wurde er entführt. Meiner Einschätzung nach verstoßen die polnischen Behörden klar gegen den Grundsatz der Nicht-Zurückweisung und bringen Flüchtlinge damit bewusst in Lebensgefahr.« Fatima A. ist angespannt, die Sorgenfalten in ihrem Gesicht scheinen an diesem Tag noch tiefer, die Augenringe noch dunkler als sonst. Am Vortag hat sie einen Brief der weißrussischen Ausländerbehörde bekommen, der sie dazu auffordert, das Land innerhalb der nächsten zehn Tage zu verlassen und nach Tschetschenien zurückzukehren. Sie will von nun an jeden Morgen den Zug nehmen. Keine Pause. Das heißt weitere zehn Tage um fünf Uhr aufstehen, wettcoupongleiche Fahrkarten kaufen bei einer uniformierten Frau, die unfreundlich sein wird. Zehnmal Warten in der Halle mit den riesigen Marmorsäulen. Die Töchter werden wieder schlafen, Kerim wird virtuelle Soldaten über den Smartphonebildschirm jagen, zehnmal wird Abdullah fragen: »Mama, fahren wir heute zurück nach Deutschland?« Dann piepst es, die hohe, hölzerne Schwingtür zum Bahnsteig öffnet sich, die Schaffnerin von Wagen Drei wünscht auf Russisch »Gute Fahrt und bis später!« – »Nix später, heute Mittag kommen wir nicht mehr zurück«, schimpft Fatima A. auf Deutsch.

Warten auf Zukunft. In der Schalterhalle des Bahnhofs von Brest.

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Patima, 20: »2013 wurde ich zum ersten Mal verheiratet. Ich war damals 15, der Mann war 30 Jahre älter als ich. Ich wollte das nicht, aber wir haben in Tschetschenien die Tradition des Brautraubs: Wenn der Mann eine Frau entführt und sie für einige Tage bei sich versteckt, dann darf er sie heiraten. Zweimal wurde ich schwanger, zweimal sind die Kinder nach der Geburt gestorben, weil die Ärzte Fehler gemacht haben und weil die medizinische Versorgung so schlecht war. Danach hat sich der Mann von mir getrennt. Jetzt erwarte ich zum dritten Mal ein Kind, diesmal von dem Mann, den ich liebe. Er hat mich nach Brest gebracht, damit wir in die EU fahren und ich dort ein gesundes Kind auf die Welt bringen kann. Ich habe unglaubliche Angst, dass wir es nicht rechtzeitig schaffen und das Baby wieder sterben wird.«

Mirza, 28: »Ich war als Zeuge in einem Gerichtsverfahren geladen, in dem zwei junge Männer angeklagt waren, sich einer terroristischen Organisation in Syrien anschließen zu wollen. Mit dem einen bin ich verwandt, ich kenne ihn, ich weiß, dass er unschuldig ist. Damit sie von mir eine Aussage im Sinne der Staatsanwaltschaft bekommen, haben sie mich eingesperrt und gefoltert. Als sie mich freiließen, bin ich mit meiner Frau und meinem Baby nach Brest geflohen. Alle Beweise, die ärztlichen Nachweise von Folterspuren, Youtube-Videos, die Vorladung vor Gericht habe ich in einem Dossier zusammengefasst und an die polnischen Behörden geschickt. Doch statt mir zu helfen, sagen die Polizisten an der Grenze bloß: ›Geh doch nach Kasachstan, Sudan oder in die Türkei.‹ Dabei gibt es einen einzigen Grund, warum ich in die EU will: Sicherheit vor willkürlicher Verfolgung.«

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Unterwegs im »Refugee-Transport«. Reisende zwischen Brest und Terespol.

An diesem Morgen begleiten wir Fatima A. im Zug von Brest nach Terespol. Sie hat meine Fahrkarten besorgt, da ich selbst keine für Wagen Drei, den »Refugee-Transport«, erhalten hatte. Es ist ihr dreizehnter Versuch. 18 Minuten sitzen wir nebeneinander auf den Pritschen der Bahn, die noch aus Sowjetzeiten stammt, sehen hinter den weißen Spitzengardinen die burgähnliche Fassade des Zentralbahnhofs von Brest verschwinden. Angespannt schweigen die Erwachsenen, selbstvergessen plappern die Kinder. 30 Minuten warten wir am Bahnhof in Terespol, bis sich die Türen von Wagen Drei öffnen, wir durch den schlauchförmigen Gang in die Wartehalle gehen dürfen, wo man unsere Pässe und Visa kontrolliert. Ich stehe neben Fatima A., als sie dem polnischen Grenzbeamten auf Russisch mehrmals hintereinander sagt, sie wolle in Polen Asyl beantragen. Die Beamten ignorieren das, fragen stattdessen mich nach meinem Pass, stempeln ihn und schieben mich vor die Tür. Ein letztes Mal sehe ich Fatima A. durch die verspiegelten Glasscheiben der Wartehalle in Terespol. Am selben Abend bekomme ich von Fatima A. eine SMS. Sie schreibt, dass sie mit dem Mittagszug nach Weißrussland zu-

rückgeschickt worden sei. Nur eine schwangere Frau, die ohnmächtig geworden war, und deren Mann hätten sie dabehalten. Und das, obwohl sie auf polnischem Boden, auf EU-Boden, gegenüber einem polnischen Grenzbeamten ihren Willen geäußert hatte, in der EU Asyl zu beantragen. Inzwischen ist Fatima A. zurückgekehrt nach Tschetschenien. Ihr 90-Tage-Aufenthalt für Weißrussland war abgelaufen. Sie verstecke sich in einer Wohnung von Verwandten, die Kinder gingen nicht zur Schule, das sei zu riskant, teilte sie über einen Messenger-Dienst mit. Über einen Bekannten habe sie erfahren, dass es Schlepper gebe, die einen für 4.000 Euro pro Person von Weißrussland nach Deutschland brächten. Sie könne sich das nicht leisten, deshalb werde sie bald zum dritten Mal mit ihren fünf Kindern nach Brest reisen, erneut in den Zug nach Terespol steigen und hoffen, dass die Grenzpolizisten ihr zuhören. Nur ein einziges Mal. 쮿 Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen:  www.amnesty.de/app

Kaum ein Durchkommen. Grenzkontrolle und Wartehalle in Terespol.

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Adlan, 48: »Als ich vor einigen Jahren als Flüchtling in Spanien lebte, half ich einem tschetschenischen Landsmann, eine Wohnung zu finden. Was ich nicht wusste: Dieser Mann wurde beschuldigt, Teil der nationalen Freiheitsbewegung, der Separatisten der Republik Itschkerien, zu sein. Diese Leute werden von vielen Tschetschenen als Helden verehrt, für die Regierung sind sie Terroristen. Am 31. Juli 2018 nahmen mich die tschetschenischen Polizisten in meiner Heimatstadt fest. Begründung: Beihilfe zum Terrorismus – und das obwohl der Mann schon 2009 freigelassen wurde. Nach einigen Tagen in Haft konnte ich bei einem Freigang aus dem Gefängnis fliehen. Ob ich Beweise für meine Geschichte habe? Schauen sie sich doch mal meine Zähne an!«

Rayana, 35, Mutter von sechs Kindern: »Meine beiden älteren Kinder mussten 2012 mitansehen, wie ihr betrunkener Onkel ihren Vater ermordete, indem er ihm eine abgebrochene Glasflasche in den Hals rammte. Danach drohte mir die Familie meines Mannes, wenn mir das Leben meiner Kinder etwas wert sei, dürfe ich auf keinen Fall vor Gericht aussagen. Nach nur sechs Monaten Haft wurde mein Schwager freigelassen. Als er aus dem Gefängnis kam, wollte er sofort die Kinder seines Bruders zu sich nehmen. So schreibt es das islamische Gesetz vor. Deshalb sind wir geflohen. Seit sechs Jahren wechseln wir alle paar Wochen den Aufenthaltsort, eine eigene Wohnung haben wir schon lange nicht mehr. 2017 kamen wir das erste Mal nach Brest, jetzt haben wir noch acht Tage, bis unser Aufenthalt ausläuft. Wir sind wie Gefangene zwischen zwei Welten: Nach Polen kommen wir nicht, aber wenn wir nach Russland zurückgehen, werden wir sterben.«

EUROPA VOR DER WAHL

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»Geht wählen!« Christoph Schuch von der deutschen Amnesty-Jugendvertretung über die Bedeutung der Europawahl.

Zum ersten Mal engagiert sich die deutsche Amnesty-Jugendvertretung im Vorfeld einer Europawahl. Wie kam es dazu? Wir haben keine Lust mehr, länger zuzuschauen, wie Europa weiter auf Abwege gerät. Schließlich lässt sich schon seit mehreren Jahren eine Zunahme von Hass und Gewalt im politischen Leben sowie im Alltag vieler Menschen beobachten. Immer häufiger werden bestimmte Teile der Bevölkerung zur Zielscheibe von Hetzerinnen und Hetzern. Rassismus und Antisemitismus nehmen zu. Eine steigende Zahl an Menschenrechtsverletzungen hat dazu geführt, dass Grundpfeiler der Europäischen Union infrage gestellt werden. Und dagegen wollt ihr etwas tun? Hier entgegenzuwirken, war Anlass für die Amnesty-Hochschulgruppe in Göttingen, vor der Europawahl aktiv zu werden. Grundgedanke war, durch die Teilnahme an Wahlen proaktiv Menschenrechte zu schützen: Ein Parlament, das Menschenrechte ernst nimmt, könnte zum Beispiel dafür sorgen, dass Demonstrationen für die Seenotrettung auf dem Mittelmeer gar nicht mehr nötig sind, weil diese durch entsprechende Gesetze auf legislativem Weg garantiert wird. Mittlerweile ist die Europawahl ein festes Thema in der deutschen Jugendvertretung, aber auch in Arbeitsgruppen, Schülerinnen- und Hochschulgruppen von Amnesty. Wie gut seid ihr mit anderen europäischen Amnesty-Jugendvertretungen vernetzt? Wir sind Teil der European Amnesty Youth Action (EAYA). Das heißt, dass nicht nur die deutsche Jugendvertretung an dem Prozess beteiligt ist, sondern eine ganze Bandbreite von Gruppen in Deutschland und in Europa. Damit setzen wir ein positives Beispiel dafür, wie Vereinspolitik auf demokratische Art und Weise, von unten nach oben, funktionieren kann, sodass am Ende nicht nur geredet, sondern auch etwas getan wird. Wir haben ein Projekt vor uns, das international – in diesem Fall europäisch – gedacht und durchgeführt wird und damit über Grenzen hinweggeht.

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Wie funktioniert der Austausch? Organisation und Austausch finden über eine Onlineplattform statt, auf der in mehreren Arbeitsgruppen an konkreten Aktionen gearbeitet wird. Dabei sehen wir immer wieder, dass es in der Arbeitsweise, aber auch bei den thematischen Schwerpunkten Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern gibt. Diese Vielfalt wirkt sich aber in der Regel konstruktiv und bereichernd auf unsere Arbeit aus. Was uns am Ende eint, ist die gemeinsame Vision von einem menschenrechtsfreundlichen, solidarischen Europa. Was steht bei dieser Europawahl auf dem Spiel? Die Europäische Union ist immer wieder als Friedensprojekt, als Projekt der Demokratie und Menschenrechte bezeichnet worden. Wenn wir heute sehen, dass Flüchtende im Mittelmeer ertrinken, weil die EU und ihre Mitgliedsstaaten nicht handeln, werden diese Prinzipien grundlegend in Frage gestellt. Die Wahl im Mai kann hier eine Kehrtwende sein, um Europa seinen eigentlichen Grundsätzen wieder gerechter werden zu lassen. Diese stehen auf dem Spiel – und damit auch unsere Zukunft. Es geht auch darum, breitere Bündnisse zu schmieden, nicht nur sein eigenes Süppchen zu kochen und Europa gemeinsam wieder auf den richtigen Weg zu bringen. Was sind dabei die wichtigsten Themen? Der Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus ist enorm wichtig. Darüber hinaus geht es um soziale Rechte, die in der Europäischen Union kaum gewährleistet sind, obwohl der Be-

»Uns eint die Vision von einem solidarischen Europa.« Christoph Schuch AMNESTY JOURNAL | 02/2019

Foto: Amnesty

Interview: Gabriele Mittag


Nicht nur zusehen. Schüler streiken vor dem britischen Parlament, Februar 2019.

Dazu braucht es Bündnispartner weit über Europa hinaus. Das gilt für viele Themen. Deshalb müssen wir globaler denken, insbesondere im Hinblick auf die weltweite Verantwortung der Europäischen Union. Dennoch verfügt auch die EU über Kompetenzen, um die geschilderten Entwicklungen aufzuhalten – selbst wenn am Ende radikalere Schritte notwendig sind, um sie komplett zu stoppen. Genau deshalb fordern wir junge Leute auf, wählen zu gehen und ihre Stimme zu erheben. Bei der letzten Europawahl lag die Beteiligung bei 49 Prozent. Wie wollt ihr Menschen dazu bewegen, wählen zu gehen? Das Schlimme ist, dass die Wahlbeteiligung unter jungen Leuten noch deutlich niedriger lag. Wir wollen deshalb Themen

EUROPA VOR DER WAHL

behandeln, die die Jugend bewegen, und diese in passenden Aktionsformaten vermitteln. So planen wir unter anderem einen Smart Mob, eine Kampagne in den sozialen Medien und eine Fotoaktion, bei denen jeweils Interaktion und Partizipation im Vordergrund stehen. Bevormundung wäre der vollkommen falsche Ansatz. Uns geht es um Mitgestaltung und darum, dass jede einzelne Stimme wichtig ist, um gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen. So wollen wir einen Beteiligungsrahmen schaffen. Und verhindern, dass über die Zukunft Europas wie beim Brexit von der älteren Generation allein entschieden wird. 쮿

CHRISTOPH SCHUCH

Foto: Amnesty

griff der Solidarität in den Grundlagentexten und -verträgen zuhauf zu finden ist. Dazu muss man sich nur die Lage von Arbeiterinnen und Arbeitern aus Rumänien anschauen, die für einen Hungerlohn in vielen EU-Staaten schuften. Und nicht zuletzt ist auch der Klimawandel ein Menschenrechtsthema, für das wir uns engagieren wollen, nein müssen! Wir sind die erste Generation, die die Folgen des Klimawandels in hohem Maße zu spüren bekommt, und die letzte, die das Problem mit einer rigorosen politischen Wende in den Griff bekommen kann.

Christoph Schuch ist Referent für Kampagnen, Aktionen und Menschenrechtsbildung der deutschen Amnesty-Jugendvertretung und  Mitglied der Amnesty-Hochschulgruppe in Göttingen. Er studiert dort Philosophie und Rechtswissenschaften. Bei Amnesty International ist er seit 2016 aktiv.

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Foto: Armend Nimani / AFP / Getty Images

Ein Europäer nur auf dem Papier. Der Theatermacher Jeton Neziraj in Pristina, Januar 2019.

Jenseits von Schengen Das Kosovo ist der einzige potenzielle EU-Beitrittskandidat, dessen Bewohner für Reisen in den Schengen-Raum Visa benötigen. Dabei gibt es nirgendwo sonst auf dem Westbalkan mehr Menschen, die an die europäische Idee glauben. Von Dirk Auer, Pristina

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osovos »Europäer des Jahres 2018« ist Anfang vierzig, trägt eine schwarze Brille und ist Gründer von Qendra Multimedia, der wohl wichtigsten Adresse für zeitgenössische Theaterproduktionen des Landes. »Ich habe mich durch die Auszeichnung wirklich geehrt gefühlt«, sagt Jeton Neziraj. Zwar lösen seine politisch provokanten Stücke schon seit Jahren immer wieder heftige Debatten aus, sodass manche Aufführung nur mit Polizeipräsenz stattfinden

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konnte. Doch nun hatte ihm die EU-Vertretung in Pristina schwarz auf weiß bestätigt, dass seine Arbeit in besonderer Weise die europäische Idee und deren Werte fördere. Was danach folgte, zeigt allerdings, dass jene vielbeschworenen Werte tatsächlich nur auf dem Papier stehen. Denn just zum Zeitpunkt der Auszeichnung im Mai 2018 befand sich die Theatergruppe von Qendra Multimedia auf einer Odyssee von Botschaft zu Botschaft, um ein Schengen-Visum zu bekommen und an ei-

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Für die Reise zu einem Festival in Rumänien gaben die EU-Behörden dem »Europäer des Jahres« kein Visum. nem Theaterfestival in Rumänien teilzunehmen. Dies erwies sich jedoch als so kompliziert, dass die Reise abgesagt werden musste – der »Europäer des Jahres« blieb zu Hause. Das sei schon eine ziemlich paradoxe Situation gewesen, sagt Neziraj: »Einerseits bescheinigen sie dir, dass du ein guter Europäer bist. Auf der anderen Seite wird uns die grundlegendste aller europäischen Errungenschaften verweigert: die Reisefreiheit.« Zumal fast alle Projekte von Qendra Multimedia mit EU-Mitteln gefördert werden. Der Frust über das EU-Visumsregime sitzt nicht nur bei Neziraj tief. Kaum ein Gespräch, in dem nicht schon nach kurzer Zeit die Frage gestellt wird, warum eigentlich nur noch Kosovaren ein Visum brauchen, um in die Staaten des Schengen-Raums einzureisen. Für Serbien, Montenegro und Mazedonien fiel die Visumsschranke bereits 2009, für Albanien und Bosnien-Herzegowina ein Jahr später. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass unter den zwei Millionen Einwohnern des Landes eine gewisse Verbitterung herrscht. Zumal die Europäische Union in keinem der EU-Beitrittskandidaten des Westbalkans so beliebt ist wie im Kosovo. 84 Prozent halten den EU-Beitritt für eine »gute Sache«. In Bosnien-Herzegowina sind es nur 45 Prozent, in Serbien 29. Als das Kosovo 2008 mit Unterstützung der USA und wichtiger EU-Länder seine Unabhängigkeit von Serbien erklärte, erinnerte die neue Staatsflagge nicht zufällig an die der EU. Und eine staatliche Kampagne, die unmittelbar danach begann, trug den Titel: »Kosovo – The Young Europeans«. Mehr als ein Jahrzehnt später haben die meisten jungen Kosovaren von diesem Europa allerdings noch nie etwas gesehen. Denn die Hürden, um an ein Visum zu kommen, sind so hoch, dass die meisten es gar nicht erst versuchen. »Das ganze bürokratische Verfahren ist demütigend«, sagt Neziraj. Obwohl seine Werke in zwanzig Sprachen übersetzt sind und auf zahlreichen europäischen Theaterfestivals gezeigt werden, muss er jedes Mal dieselbe entwürdigende Prozedur durchlaufen. Zunächst gilt es monatelang zu warten, bis man einen Termin bei der entsprechenden Botschaft erhält, was kurzfristige Planungen praktisch unmöglich macht. Zu den verlangten Unterlagen zählen unter anderem Steuerbescheinigung, Arbeitsvertrag, Kontoauszüge der vergangenen sechs Monate sowie Hotelbuchungen. Hat man die Unterlagen zusammen, muss man sich in die langen Schlangen vor den Botschaften einreihen und erneut warten. Die Kosten für einen Antrag summieren sich schnell auf etwa 100 Euro – was einem Drittel des durchschnittlichen kosovarischen Monatsgehalts entspricht. Daran etwas zu ändern, hat die EU zwar immer wieder versprochen – Taten folgten jedoch nicht. So läuft etwa der sogenannte Visa-Dialog zwischen Pristina und Brüssel bereits seit 2012. Im Sommer vergangenen Jahres bestätigte die EU-Kommission schließlich, dass das Kosovo alle Bedingungen erfüllt habe; auch das EU-Parlament schloss sich dieser Einschätzung an und empfahl die Aufhebung der Visumpflicht. Doch im Dezember verkündete Erweiterungskommissar Jo-

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hannes Hahn, dass einzelne EU-Staaten weitere rechtsstaatliche Reformen im Kosovo angemahnt hätten. Zudem fürchteten sie eine neue Welle von Asylbewerbern wie 2015, als innerhalb von wenigen Wochen Zehntausende Menschen das Land verließen, um vor Armut, Korruption und fehlenden Perspektiven zu fliehen. Deshalb, so Hahn, sei es unwahrscheinlich, dass der kosovarische Traum vom visumfreien Reisen vor 2020 realisiert werden könne. Damit war für viele Kosovaren der Punkt erreicht, an dem Enttäuschung in Wut umschlug. So zum Beispiel bei Blendon Arifi. Der Student, der noch nie zuvor in seinem Leben politisch aktiv gewesen war, nahm an Heiligabend ein Megaphon in die Hand und zog gemeinsam mit Hunderten anderen Studierenden durch das Zentrum von Pristina. Auf einem ihrer Transparente stand: »Ist Isolation ein Wert der Europäischen Union?« Die Demonstranten hatten ein Geschenk dabei, das sie vor das Tor der EU-Vertretung legten: ein Paket gefüllt mit ihren Reisepässen. Adressiert war es an die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini. »Unsere Pässe sind ja sowieso wertlos«, erzählt Blendon in der Universität von Pristina. Außer den Nachbarstaaten Mazedonien und Albanien hat der junge Politikstudent noch kein fremdes Land besucht. Er weiß, dass er kaum eine der Bedingungen für den Visumantrag erfüllen kann. Doch die Studenten wollen nicht locker lassen und planen schon die nächsten Aktionen: »Wir wollen einfach nur dieselben Rechte haben wie alle anderen«, sagt er. »Das Problem ist, dass die EU-Bürokraten einfach nicht anders können, als in jedem Kosovaren einen potenziellen Asylbewerber zu sehen«, klagt Jeton Neziraj. Dabei wollten die meisten jungen Menschen gar nicht flüchten, sondern lediglich andere Länder kennenlernen, sich vielleicht auch um eine Arbeit bemühen – oder einfach nur ihre Verwandten besuchen, die in Deutschland oder anderen EU-Ländern leben. Auch er lässt nicht locker: Über Facebook machte er vergangenes Jahr publik, dass er, der »Europäer des Jahres«, an den europäischen Visumregeln gescheitert war. Damit hatte er einen Nerv getroffen, die Geschichte schlug in der kosovarischen Öffentlichkeit hohe Wellen. Schließlich teilte ihm ein Vertreter einer westlichen Botschaft mit, er könne ihm persönlich helfen, wenn es wieder einmal Probleme geben sollte. Und da war es an ihm, dem Westler zu erklären, dass es nicht reiche, die Probleme balkantypisch durch persönliche Beziehungen zu klären: »Das Problem muss prinzipiell und für alle gelöst werden.« Nur ein einziges Mal, erzählt Neziraj augenzwinkernd, habe er sich eine Sonderbehandlung herausgenommen. Das war vor drei Jahren, als er eine Einladung zu einer europäischen Schriftstellerkonferenz in Deutschland erhielt, die vom damaligen Außenminister Frank-Walter Steinmeier unterzeichnet war. Wieder sollte er seine ganzen Dokumente zusammentragen, doch dieses Mal erschien er mit leeren Händen in der Botschaft. »Wenn Sie Fragen haben«, sagte Neziraj, »rufen Sie das Ministerium an.« Für einen Moment lag Spannung in der Luft, erinnert er sich. Dann wurde dem Antrag stattgegeben. 쮿

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26. MAI: EUROPAWAHL Alle Menschen haben die gleichen Rechte. Egal, woher sie kommen, wer sie sind oder wie sie aussehen. Das ist die Grundlage für unser friedliches und faires Zusammenleben. Doch quer durch Europa versuchen Politiker_innen, uns mit Hass und Vorurteilen zu spalten. Freiheitsrechte werden eingeschränkt. Und manche stellen sogar die Menschenrechte offen in Frage. Die Europawahl ist unsere Gelegenheit, etwas dagegen zu tun. Gib deine Stimme für ein Europa, das sich gegen Rassismus, Ausgrenzung und Diskriminierung stark macht! Tritt für ein Europa ein, das Menschen in Not Schutz bietet und sich YGNVYGKV HØT (TGKJGKV WPF /GPUEJGPTGEJVG GKPUGV\V | Zeig, dass du am 26. Mai dein X für die Menschenrechte machst! Weitere Informationen rund um die Europawahl ƂPFGUV FW CWH amnesty.de/europawahl

#Vote4HumanRights


(QVQU ,CTGM )QFNGYUMK

Mach ein X (egal wie und womit) und poste dein Foto und zeig allen, dass du bei der Europawahl die Menschenrechte wählst.


POLITIK & GESELLSCHAFT

Keiner blieb verschont. Am 10. Mai 2009 griffen Hunderte FDLR-Kämpfer Busurungi an. Erst fünf Tage später erreichte ein UN-Hubschrauber das

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Der Feldherr von Mannheim Aus dem deutschen Exil befehligte Ignace Murwanashyaka ruandische Milizen im Kongo – per Mail und SMS. Jetzt geht das Verfahren gegen den FDLR-Kommandeur vor dem Oberlandesgericht Stuttgart in eine neue Runde. Von Jamil Balga und Benjamin Winter mit Zeichnungen von El Marto

Dorf im Osten der Demokratischen Republik Kongo.

DR KONGO

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B

esonders schlimm traf es wohl Busurungi. MindesNun geht die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzuntens 96 Zivilisten kamen in der Siedlung um. Sie gen in eine weitere Runde: Nachdem sowohl die Anklage als wurden erschossen, erschlagen, erstochen, mit Maauch Murwanashyaka in Revision gingen, hob der Bundesgecheten zerhackt. Schwangeren wurde der Bauch richtshof im Dezember 2018 das Urteil gegen ihn wegen Rechtsaufgeschlitzt, Mädchen und Mütter vor den Augen fehlern teilweise auf. Das Oberlandesgericht in Stuttgart muss ihrer Väter und Männer vergewaltigt und verschleppt. Einige also erneut ein Urteil sprechen. starben eingeschlossen in ihren brennenden Häusern. MindesAlles hatte am 17. November 2009 begonnen. An diesem Tag tens 700 Hütten und Häuser brannten ab, auch Schulen, Kirchen wurden Murwanashyaka und Musoni von der deutschen Polizei und Gesundheitszentren. Der Ort im Osten der Demokratischen verhaftet. Murwanashyaka war 1989 mit einem Stipendium an Republik Kongo, der im Mai 2009 von den Soldaten der berüchdie Universität Bonn gekommen, hatte später Asyl in Deutschtigten Rebellentruppe FDLR (Demokratische Kräfte zur Befreiland erhalten und sich in einer Mannheimer Kirchengemeinde ung Ruandas) heimgesucht wurde, ist bis heute unbewohnt. engagiert. Angeblich war er gut integriert. Wie sein Stellvertreter Ein Teil des Unrechts wird seit nunmehr zehn Jahren gut Musoni. Er heiratete eine Deutsche, lebte in der Nähe von Stutt9.000 Kilometer weiter nördlich juristisch aufgearbeitet. Der gart und arbeitete als IT-Experte auch für das LandesjustizmiGeneralbundesanwalt beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe ist nisterium. Mit pikanten Folgen: SMS von den Kämpfern im Kondavon überzeugt, dass in Busurungi eins von fünf Massakern go empfing er auf seinem Diensthandy. verübt wurde, für die Ignace Murwanashyaka zumindest mitDie zentralen Fragen im Stuttgarter Verfahren lauten: Inwieverantwortlich ist. »Wir grüßen Sie, Exzellenz«, steht in einer weit hatten die beiden die Kontrolle über die Milizen im Kongo? SMS, mit der ihn FDLR-Kämpfer über die Einzelheiten des Gemetzels in Busurungi informierten. »Haben Dorf in Brand gesetzt«, hieß es im Mai 2009 in einer E-Mail aus dem Kongo. »Grüße die jungen Männer von mir«, bedankte sich Murwanashyaka noch am selben Tag. Das kam vor Ort gut an. Denn Murwanashyaka war damals Präsident des politischen Arms der FDLR. Ihre Kämpfer ziehen seit inzwischen zwei Jahrzehnten mordend, vergewaltigend und plündernd durch den Kongo. Der promovierte Volkswirt Murwanashyaka lebte aber in Mannheim – ein Grund für die deutschen Ermittler, den ruandischen Staatsbürger vor dem Oberlandesgericht Stuttgart wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung anzuklagen. Das Verfahren schrieb Justizgeschichte: Es war der erste Prozess nach dem deutschen Völkerstrafgesetzbuch. Es regelt seit 2002 die Verfolgung von Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, auch wenn sie im Ausland ohne deutsche Beteiligung begangen wurden. Fast unbemerkt von der deutschen Öffentlichkeit ging das Mammutverfahren gegen Murwanashyaka und seinen ebenfalls in Deutschland lebenden Vize Straton Musoni im September 2015 nach mehr als vier Jahren vorerst zu Ende. Murwanashyaka erhielt eine Haftstrafe von 13 Jahren, Musoni bekam 8 Jahre. Amnesty International verfolgte den Prozess mit dem weltweit ersten Urteil gegen Mitglieder der FDLR. Prozessbeobachter werteten über die Jahre mehr als 1.500 Seiten Protokolle aus. Kein Schutz. Kongolesische Truppen am Dorfrand von Busurungi konnten das Dorf nicht verteidigen.

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Nahmen sie die Verbrechen der FDLR zumindest billigend in Kauf? Murwanashyaka habe zwar keine Einzelbefehle erteilt, aber die militärische Strategie der Strafaktionen gegen die Zivilbevölkerung mitentworfen, sagte Bundesanwalt Christian Ritscher in seinem Schlussplädoyer. Für den Ankläger war Murwanashyaka die unumstrittene Autorität der FDLR-Miliz. Er sei kein »Möchtegern-Feldherr auf dem Sofa in Mannheim« gewesen, sondern habe in ständigem Kontakt mit den Militärchefs im Ostkongo die »sadistischen Orgien« der FDLR eindeutig unterstützt. Hätte Murwanashyaka die Gräueltaten also verhindern können? Nein, sagte die Verteidigung. Der heute 55-Jährige sei nur ein FDLR-Repräsentant im Ausland gewesen. Er habe die Miliz zwar beraten, aber keine Macht über ihre Soldaten gehabt. Hintergrund des Konflikts ist der Genozid im Nachbarland Ruanda von 1994. Im Bürgerkrieg flohen viele Hutu in die Demokratische Republik Kongo, vor allem in die Region Kivu im Osten des Landes. Dort gründeten sie im Jahr 2000 die FDLR, um von hier aus die Regierung in Ruanda zu entmachten. Viele

»Haben Dorf in Brand gesetzt«, hieß es 2009 in einer E-Mail an Murwanashyaka. der Milizenchefs sind Hutu-Extremisten, die für den Völkermord verantwortlich gemacht werden. Das Stuttgarter Gericht sah es bei seinem Urteil als erwiesen an, dass Murwanashyaka die FDLR-Verbrechen in zweifacher Weise unterstützte. So besorgte er Telefonkarten und Zubehör für die Satellitentelefone der Soldaten, um die Kommunikation

Feldherr in der Ferne. Per SMS dirigierte Murwanashyaka seine Männer aus Mannheim.

DR KONGO


während der Kämpfe sicherzustellen. Gleichzeitig leistete er laut Gericht auch mentale Unterstützung: Bei seiner Öffentlichkeitsarbeit für die FDLR habe er deren Verbrechen dementiert und bagatellisiert. Dies belegten auch die Zeugenaussagen, Mails, abgehörten Telefonate und SMS. Im Prozess füllten die Protokolle der Telekommunikationsüberwachung der Angeklagten 38 Leitz-Ordner. Tagelang wurden vor Gericht Mails verlesen und Telefonate vorgespielt.

Ohnehin forderte der Prozess einen enormen Aufwand. Um die Vorgänge aufklären zu können, vernahm das Gericht 50 Zeugen, von denen einige sogar von Ruanda nach Stuttgart eingeflogen wurden. Außerdem waren Opfer in Afrika per Videoübertragung zugeschaltet. Vor Ort achteten dabei Beamte des Bundeskriminalamts darauf, dass sie während der Vernehmung nicht von Dritten beeinflusst wurden. Die gesamte Kommunikation in den Kongo lief in der Bantusprache Kinyarwanda ab. Das Verfahren kostete mehr als fünf Millionen Euro. Der Prozess war bahnbrechend, was den Kampf gegen die Straflosigkeit für schwerste Menschenrechtsverletzungen betrifft. Und zeigte gleichzeitig dessen Tücken. Trotz aller Bemühungen war es fast unmöglich, bis ins Detail zu erfahren, welche Verbrechen die FDLR-Milizen auf Geheiß aus Deutschland begangen hatten. Nach mehr als 300 Prozesstagen waren von 16 Anklagepunkten nur noch fünf übrig. Vor allem die Vorwürfe, bei denen es um sexuelle Verbrechen ging, wurden alle im Laufe des Verfahrens eingestellt – trotz der Anhörung von Zeuginnen, die Opfer geworden waren. Neben der Schwierigkeit, die Vorgänge zu beweisen, spielte dabei auch die Prozessökonomie eine Rolle: Die Einstellung erfolgte, um das Verfahren nicht noch weiter in die Länge zu ziehen. Bei der Urteilsverkündung sprach der Vorsitzende Richter von einer »Herkulesaufgabe« und sagte: »So geht es nicht.« Und dennoch entschied der Bundesgerichtshof im Dezember 2018, das Stuttgarter Gericht habe nicht hinreichend belegen können, dass Murwanashyaka die Verbrechen der Milizen objektiv gefördert oder erleichtert habe. Deshalb muss sich das Oberlandesgericht nun erneut damit beschäftigen, ob und wie er verantwortlich gemacht werden kann. Immerhin: Das BGH-Urteil bestätigte, dass die Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung stattgefunden haben, dass es

Kein Erbarmen. 96 Menschen brachte die FDLR im Mai 2009 in  Busurungi um.

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Gerechte Strafe. Im September 2015 verurteilte das Oberlandesgericht Stuttgart Murwanashyaka zu 13 Jahren Haft.

Verbrechen gegen die Menschlichkeit waren und dass die FDLR mit einer systematischen Taktik gegen Zivilisten vorging. Letzteres war im Stuttgarter Verfahren noch verneint worden. In absehbarer Zeit dürften weitere Verfahren nach dem deutschen Völkerstrafgesetzbuch folgen. Da hier viele Syrer leben, bietet sich die Bundesrepublik als Ort für die Aufarbeitung syrischer Kriegsverbrechen an. Menschenrechtsaktivisten und Folterüberlebende aus Syrien haben 2017 gemeinsam mit dem European Center for Constitutional and Human Rights 27 hochrangige Funktionäre der syrischen Geheimdienste und des Militärs angezeigt. Als der deutsche Generalbundesanwalt im Juni 2018 Haftbefehl gegen den Chef des Luftwaffengeheimdienstes erließ, bewerteten sie das als »Meilenstein«, denn es war welt-

DAS WELTRECHTSPRINZIP Das Völkerstrafgesetzbuch trat 2002 in Deutschland in Kraft. Es passt das nationale Recht an das Völkerstrafrecht und insbesondere an das Rom-Statut des Internationalen Straf gerichtshofs an. Es beinhaltet die Straftatbestände Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen sowie seit 2017 das Verbrechen der Aggression.  Es ermöglicht, diese vor deutschen Gerichten zu verfolgen, auch wenn sie nicht auf deutschem Staatsgebiet verübt wurden (Weltrechtsprinzip). Zuständig für die Ermittlungen ist die Generalbundesanwaltschaft mit Sitz in Karlsruhe.

DR KONGO

weit der erste Fahndungsaufruf gegen einen Vertrauten von Baschar al-Assad. Mitte Februar wurden in Berlin und in Rheinland-Pfalz zwei Syrer von Beamten des Bundeskriminalamts festgenommen. Sie sollen für die Folterung von Tausenden Oppositionellen in der Nähe von Damaskus verantwortlich sein. Ein Prozess gegen sie wäre der weltweit erste gegen Mitglieder des syrischen Geheimdienstes. 쮿 Die Autoren sind Mitglieder der Amnesty-Themenkoordinationsgruppe  Völkerstrafrecht. Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen:  www.amnesty.de/app

»MADE IN GERMANY: EIN MASSAKER IM KONGO« Der Künstler El Marto und der Journalist Frederik Richter zeichnen nach, wie der Milizenführer Murwanashyaka aus dem deutschen Exil Massaker im Ostkongo ermöglicht. Das Buch ist im Verlag des gemeinnützigen Recherchezentrums CORRECTIV erschienen.  https://shop.correctiv.org/graphic-novel/

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Foto: Meghan Dhaliwal / The New York Times / Redux / laif

Gibt den Kampf um seinen Bruder nicht auf. Leonel Gutiérrez im September 2016 in Mexiko-Stadt.

Liefern und schießen Die milden Urteile gegen Angestellte von Heckler & Koch offenbaren die Komplizenschaft zwischen Rüstungsindustrie und Bundesregierung. Ein Kommentar von Wolf-Dieter Vogel Ob sich der Wunsch von Leonel Gutiérrez und seiner Familie bewahrheitet? »Wir hoffen, dass dieses Urteil dazu beiträgt, dass es künftig keine deutschen Rüstungsexporte in Länder wie Mexiko und andere Krisenregionen mehr geben wird«, sagte der Mexikaner, nachdem das Stuttgarter Landgericht im Februar zwei frühere Beschäftigte des Kleinwaffenherstellers Heckler & Koch zu Bewährungsstrafen verurteilt hatte. Zudem muss das Schwarzwälder Unternehmen 3,7 Millionen Euro Strafe zahlen, weil es Sturmgewehre von Typ G36 in mexi-

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kanische Bundesstaaten lieferte, obwohl die deutschen Exportbehörden wegen der schlechten Menschenrechtslage keine Genehmigung erteilt hatten. Die Angeklagten seien an der Fälschung von Ausfuhrdokumenten beteiligt gewesen, um den tatsächlichen Verbleib der Produkte zu verschleiern, urteilte das Gericht. Der frühere H & K-Geschäftsführer Peter Beyerle ging straffrei aus. Leonel Gutiérrez lebt im mexikanischen Bundesstaat Guerrero, in den die Waffen nie hätten gelangen dürfen. Doch aus einem der Schwarzwälder G36 wurde wahrscheinlich die Kugel abgefeuert, die seinen Bruder Aldo ins Wachkoma schoss. Der Student war am Abend des 26. September 2014 mit seinen Kommilitonen in der Provinzstadt Iguala von Polizisten und Kriminellen angegriffen worden. Seit den Schüssen ist Aldo ans Bett

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Nicht Menschenrechte in Mexiko, sondern die Interessen der Waffenbauer standen für die Beamten im Wirtschaftsministerium in Berlin an erster Stelle. gebunden, nicht mehr ansprechbar und bewegungsunfähig. Sechs seiner Kommilitonen wurden in jener Septembernacht getötet, 43 Studenten verschleppt. Bis heute ist unklar, was mit den Verschwundenen passiert ist. Unbestritten aber ist: Mindestens sieben mexikanische Beamte waren mit G36 bewaffnet; 38 Gewehre fanden Ermittler am Morgen nach dem Massaker im Polizeirevier von Iguala. Ob die Kugel in Aldos Gehirn aus einer der H & K-Waffen stammt, lässt sich nicht mit absoluter Sicherheit sagen. »Aber außer Zweifel steht, dass in dieser Situation mit den G36-Gewehren geschossen wurde«, sagt der Anwalt Santiago Aguirre. Vor Gericht spielten die tödlichen Konsequenzen des Exports dennoch keine Rolle. Richter Frank Maurer lehnte es ab, die Angehörigen von Aldo Gutiérrez als Nebenkläger zuzulassen. Im Prozess ging es nicht um Mord und Menschenrechtsverletzungen, sondern um Mails, Telefongespräche und Dokumente. Dabei wäre das Gericht genau der richtige Ort gewesen, um den Zusammenhang zwischen der bürokratischen Entscheidung und den blutigen Folgen der illegal gelieferten Waffen herauszuarbeiten. Denn wären die Behörden ihren eigenen Vorgaben gefolgt, hätten sie die Ausfuhr von rund 10.000 Sturmgewehren zwischen 2006 und 2009 schlicht nicht genehmigen dürfen. Doch das taten sie – obwohl die Exportrichtlinien die Lieferung von Waffen in Regionen, in denen damit Menschenrechte verletzt werden können, explizit nicht zulassen. Der Prozess vor dem Stuttgarter Landgericht hat gezeigt, dass das Bundeswirtschaftsministerium (BMWi) alles dafür tat, die Ausfuhren in diesen Jahren zu ermöglichen. Nicht die Wahrung von Menschenrechten in Mexiko, sondern die Interessen der Waffenbauer standen für die Beamten an erster Stelle. So sprach der damals zuständige Referatsleiter Claus W. im Zeugenstand von wirtschaftlichen Problemen bei H & K: »Um das Unternehmen am Leben zu halten, mussten also Exportaufträge die Lücke schließen.« Für den Mitarbeiter einer Behörde, die die Rechtmäßigkeit solcher Ausfuhren im Blick haben sollte, ein entlarvendes Selbstverständnis. Claus W. wusste genau, dass niemand prüfen würde, ob die G36-Gewehre in einer der vier »verbotenen Regionen« landen würde. »Sobald der Export stattgefunden hat, ist nichts mehr mit Sicherstellen«, sagte er. Und: »Fort ist fort.« Der freigesprochene ehemalige H & K-Geschäftsführer Peter Beyerle bestätigte während des Verfahrens, dass der Tipp, die vier Konfliktbundesstaaten gar nicht erst in den Endverbleibserklärungen aufzuführen, aus der Behörde gekommen sei. »Wir würden vorschlagen, nehmen Sie das raus, dann geht es komplikationslos weiter«, habe man ihn seitens des Ministeriums wissen lassen. Tatsächlich landeten von 2006 bis 2009 mehr als 4.500 Sturmgewehre des Typs G36 sowie Maschinenpistolen und Zubehör im Wert von rund 4,1 Millionen Euro in Unruheregionen

DEUTSCHLAND

in Mexiko . Alles deute darauf hin, dass es zwischen H & K und BMWi-Beamten einen modus operandi gab, um die umstrittenen Exporte zu ermöglichen, sagt Rechtsanwalt Holger Rothbauer, der die Waffenbauer im Namen des Friedensaktivisten Jürgen Grässlin 2010 angezeigt hatte. Zwei Jahre später dann reichte er auch gegen das Ministerium Klage ein – allerdings ohne Erfolg: Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren ein. Dabei hätten die Ermittlungen helfen können, jenes System offenzulegen, das solche Exporte erst ermöglicht. Ein System, dass den Export deutscher Panzer, Maschinengewehre oder Mörser in Länder zulässt, in denen nachweislich Menschenrechte verletzt werden: sei es in die Türkei, nach Saudi-Arabien, Ägypten – oder eben Mexiko. Doch das Stuttgarter Gericht beschränkte sich darauf, das Fehlverhalten einzelner H & K-Mitarbeiter zu sanktionieren. Eine Sachbearbeiterin erhielt eine Freiheitsstrafe von 17 Monaten, ein Vertriebsleiter eine von 22 – beide auf Bewährung. Geschäftsführer Beyerle ging wie zwei weitere Angeklagte straffrei aus. Fragen wirft darüber hinaus die Haltung des Gerichts gegenüber den Endverbleibserklärungen auf: So urteilte Richter Frank Maurer lapidar, diese Dokumente seien nicht Bestandteil von Genehmigungsverfahren. Eine Einschätzung, die, sollte sie sich juristisch durchsetzen, das gesamte Rüstungskontrollverfahren ad absurdum führte. Schließlich galten die Papiere bislang als Garantie dafür, dass die tödlichen Waren nicht dorthin gelangen, wohin sie nicht gelangen dürfen. Um das künftig wirklich zu verhindern, wäre ein restriktives Rüstungskontrollgesetz nötig, das Verstöße klar sanktioniert. Denn das Mexiko-Geschäft von Heckler & Koch ist kein Einzel-, sondern der Regelfall – zumindest was den Endverbleib von Kleinwaffen anbelangt. Kontrollieren kann ihn keiner, sodass korrupte Polizisten in Mexiko ebenso das G36 verwenden wie Mitglieder krimineller Banden. Ein Erfolg ist das Stuttgarter Urteil dennoch. Denn Friedensaktivisten, Menschenrechtsverteidigerinnen und kritische Journalisten haben genügend gesellschaftlichen Druck aufgebaut, um Heckler & Koch vor Gericht zu bringen. Erstmals wurde ein deutsches Unternehmen wegen illegaler Waffenexporte verurteilt. Zudem machte das Verfahren einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, in welch repressivem Umfeld die Firma Mitverantwortung trägt für schwere Verletzungen, Morde und gewaltsames Verschwindenlassen von Menschen. Ob das Urteil Bestand hat, wird sich zeigen – Ende Februar legten sowohl die beiden verurteilten Mitarbeiter als auch die Staatsanwaltschaft Revision ein. Damit sich der Wunsch von Leonel Gutiérrez erfüllt, deutschen Rüstungsexporten in Länder wie Mexiko dauerhaft einen Riegel vorzuschieben, sind noch weitere Schritte notwendig. Den Weg dorthin hat dieses Verfahren aufgezeigt, wie der Kläger Jürgen Grässlin sagt: »Illegaler Waffenhandel wird von uns aufgedeckt und von Gerichten sanktioniert.« 쮿

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Wer auf den Philippinen die Politik von Präsident Rodrigo Duterte kritisiert, dem drohen hohe Haftstrafen. Prominentestes Opfer ist die Senatorin Leila de Lima, die seit zwei Jahren aus dem Gefängnis heraus Gesetzentwürfe schreibt. Von Felix Lill, Manila Der Korridor hinter der Eingangstür wirkt wie ein Museum: An der Wand hängen Bilder von Leila de Lima, beschriftet mit Zitaten wie »Ich bin unschuldig« oder »Steht auf für unsere demokratischen Ideale!«. Auch über ihrem verwaisten Schreibtisch prangt ein Porträt, mehrere Menschenrechtspreise lassen ihn wie einen Altar erscheinen. Und der Holzstuhl dahinter ist drapiert mit dem himmelblauen Schal, der zum Markenzeichen der philippinischen Oppositionellen geworden ist. »Wir gestalten die Räume hier so, dass möglichst viel an unsere Senatorin erinnert«, sagt Ferdie Maglalang, der Büroleiter. Wüsste man es nicht besser, könnte man vermuten, hier werde einer Verstorbenen gedacht. Doch auch wenn im Büro mit der Nummer 636 im sechsten Stock des Senatsgebäudes in Manilas Regierungsviertel Pasay City die Mitarbeiter traurig dreinschauen, sobald es um ihre Chefin geht, gibt es hier keinen Trauerfall. Leila de Lima, ihre Vorgesetzte, sitzt lediglich im Gefängnis. Büoleiter Maglalang fasst die Lage so zusammen: »Die Senatorin wird beschuldigt, eine Drogendealerin zu sein. So etwas Absurdes ist heutzutage wohl nur hier möglich.« Hier, das sind die Philippinen, wo seit 2016 Rodrigo Duterte regiert, der einen erbarmungslosen Krieg gegen Drogen führt und offensiv für die Erschießung Drogenabhängiger wirbt. Diejenigen, die Duterte vorwarfen, dass er mit seiner Rhetorik das Problem sozialer Ungleichheit unter den Teppich kehre, und die Tötungen scharf kritisierten, provozierten schnell den Zorn des Präsidenten. Populär wurde Duterte als Bürgermeister der südphilippinischen Stadt Davao. In 22 Jahren gelang es ihm, aus einem sozialen Brennpunkt einen vermeintlich sicheren Ort zu machen.

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Sein rücksichtsloses Vorgehen gegen mutmaßliche Kriminelle weitete er nach seinem Wahlsieg auf nationaler Ebene aus. Je nach Quelle wird die Zahl der Getöteten mit 4.400 bis 23.000 angegeben. Meist werden die Opfer im Dunkeln erschossen, oft in geschlossenen Räumen, in denen es keine Zeugen gibt. Vor öffentlicher Empörung scheint der Präsident dabei wenig Angst zu haben, vor strafrechtlicher Verfolgung hingegen schon: Nachdem der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag 2018 Ermittlungen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit ankündigte, zog Duterte flugs die Ratifizierung des Römischen Statuts zurück, das die Rechtsgrundlage des Gerichts bildet. Dutertes autoritäre Tendenzen zeigen sich auch in seinem Umgang mit unbequemen Stimmen. Schließlich ist die prominente Senatorin de Lima nicht das einzige, sondern nur das hochrangigste Opfer seiner Ausgrenzungspolitik. Über Jahrzehnte engagierte sie sich für Menschenrechte, von 2010 bis 2015 setzte sie sich als Justizministerin auch gegen Drogenhandel in Gefängnissen ein, um die Situation der Häftlinge zu verbessern. Nachdem sie 2016 in den Senat gewählt worden war, eine der zwei Kammern des philippinischen Parlaments, versuchte sie, rechtliche Schritte gegen Dutertes radikale Maßnahmen einzuleiten. Dieser erklärte sie daraufhin zu seinem persönlichen Feind. Im Februar 2017 wurde die 59-Jährige unter

Die Worte der Senatorin sind kämpferisch. Doch draußen geht das Morden weiter. AMNESTY JOURNAL | 02/2019

Foto: Carlo Gabuco

Opposition aus der Zelle


Politik der Abwesenheit. Ferdie Maglalang am Schreibtisch seiner Chefin in Manila, November 2018.

dem Vorwurf des Drogenhandels verhaftet. »Das ist eine Unverschämtheit«, sagt ihr Büroleiter Maglalang. »Sie ist öffentlich gedemütigt. Vor Duterte gab es Tabus im Umgang mit politischen Gegnern. Solche Lügen hat man früher nicht einfach so verbreitet.« Hinzu komme, dass Häftlinge als Zeugen gegen de Lima auftraten, die mit der ehemaligen Justizministerin noch eine Rechnung offen haben könnten. »Dass die Gerichte das zulassen, ist unglaublich«, so Maglalang. Wie so vieles andere: Jeden Tag muss einer ihrer Mitarbeiter ins Gefängnis fahren, um de Lima den parlamentarischen Protokollordner in die Zelle zu bringen. Nur so kann sie weiter Gesetzentwürfe erarbeiten, zum Beispiel zur Sicherung einer unabhängigen Justiz oder für den Klimaschutz. Und auch nur auf diesem Wege lassen sich Medienanfragen beantworten, wie die, die Maglalang zurück ins Büro gebracht hat. Handgeschriebene Antworten sind es, zwölf Seiten lang. Darin schreibt de Lima, dass sie täglich bete und sich an sporadischen Gästen erfreue – sowie an den streunenden Katzen in ihrer Zelle. Im Zusammenhang mit der Regierung fallen Wörter wie »Massenmanipulation«, »Lügen« und »Schlachter.« Warum sie glaube, dass Duterte weiterhin so beliebt ist? »Die Menschen wollten einen Wandel. Und er hat eine Seite der philippinischen Psyche berührt, die erst vor Kurzem überhaupt sichtbar wurde: Soziale Medien haben anonyme Hasspredigten ermöglicht. Die aktuelle Regierung hat sie mit ihrer Rhetorik salonfähig gemacht.«

PHILIPPINEN

Was aus der Meinungsfreiheit im Land wird? »Im Grunde gibt es hier keinen Diskurs mehr. Im Internet haben Trolle die Oberhand gewonnen. Kritiker werden verunglimpft oder verfolgt. Moral, Werte und Prinzipien sind keine Standards mehr. Unterstützer von Duterte werden verteidigt – unabhängig davon, wie sehr sie Frauen, Gläubige oder die philippinische Bevölkerung generell beleidigen.« Worauf die Hinterbliebenen der Erschossenen noch hoffen können? »Früher oder später wird die Gerechtigkeit siegen. Wir müssen ihnen beweisen, dass unsere Leben, die der Verstorbenen und die der Überlebenden, etwas wert sind. Wir sind keine Tiere. Wir sind Menschen. Wir müssen ihnen zeigen, dass wir bessere Filipinos sind als diese Schlachter jemals sein werden.« Die Worte von de Lima lesen sich kämpferisch. Doch draußen geht das Morden weiter. Während die Todesschwadrone, die dem Präsidenten zugeordnet werden, vor allem auf die Drogenkonsumenten losgehen, bleiben Dealer und Produzenten meist verschont. Neben dem Fehlen einer durchdachten Gesundheitspolitik zeigt dieses Vorgehen, dass es Duterte nicht wirklich um die Bekämpfung der Drogenabhängigkeit geht. »Duterte geht es um eine Atmosphäre der Angst, damit er mehr Macht an sich reißen kann«, sagt de Limas Büroleiter Maglalang neben dem altarartigen Schreibtisch. Und dass in den vergangenen drei Jahren auch schon politische Gegner ermordet worden seien. Um de Lima kann man sich Sorgen machen. 쮿

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Verdammt zu bleiben. Lhakdon und Tsekyi vor ihrem Haus in Tashi Ling.

Zwischen Heimat und Hölle Zehntausende Tibeter flohen bereits vor Jahrzehnten nach Nepal, fühlen sich dort aber immer noch als Menschen zweiter Klasse. Aus Tashi Ling Andrzej Rybak (Text und Fotos) Adrette weiße kleine Häuschen reihen sich hintereinander wie Waggons auf einem Güterbahnhof. Im Wind flattern tibetische Gebetsfahnen in den Farben der fünf Elemente: blau, weiß, rot, grün und gelb. Auf den Straßen von Tashi Ling ist an diesem beschaulichen Tag kaum jemand zu sehen: Es ist Samstag, da wird in Nepal nicht gearbeitet. Lhakdon und Tsekyi sitzen auf der Veranda vor ihrem Haus und erinnern sich an die alten Zeiten. »Als wir aus Tibet nach Nepal flohen, haben wir gedacht, dass wir bald zurückkehren werden«, sagt die 88-jährige Lhakdon und rückt ihre bunte Mütze zurecht. »Aber eins ist nach fast sechs Jahrzehnten hier klar: Wir werden unsere Heimat nie wiedersehen und in der Fremde sterben.« Ihre 90-jährige Nachbarin

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Tsekyi lässt eine tibetische Gebetskette durch ihre Finger gleiten und nickt. Nach dem Scheitern des Aufstands gegen die chinesische Annexion folgten 1959 rund 80.000 Tibeter ihrem Dalai Lama ins Exil. Die Mehrheit schlug sich damals nach Indien durch, wo heute noch etwa 70.000 Tibeter leben. Etwa 20.000 gibt es in Nepal, mit fast 30 Millionen Einwohnern eines der ärmsten Länder Asiens. Tashi Ling, ein Viertel der Stadt Pokhara rund 200 Kilometer westlich von Kathmandu, ist eine Art »Klein-Tibet«: Hier leben heute noch mehr als 800 Tibeter in einem Flüchtlingslager. Die Siedlung wurde 1964 mit Hilfe des Schweizer Roten Kreuzes errichtet. Sie hat eine gute Infrastruktur, eine Schule, ein Kloster und einige kleine Restaurants. Und dennoch empfinden vor allem die Jüngeren ihre Situation als vollkommen aussichtslos. Viele würden Nepal lieber heute als morgen verlassen. Doch der Staat verhindert das.

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»Tibeter sind in Nepal Menschen zweiter Klasse«, sagt Kunyu Tsewang. Der 57-Jährige schlägt sich als Touristenführer durch und verkauft Souvenirs. »Obwohl die meisten von uns in Nepal geboren wurden, dürfen wir kein Land besitzen, nicht wählen gehen und nicht einmal Auto fahren.« Der Grund: Die meisten Exiltibeter haben keine offiziellen Dokumente. Die Regierung verweigert ihnen die nepalesische Staatsangehörigkeit – und sogar einen ordentlichen Flüchtlingsausweis. Damit können die Tibeter weder politische Ämter ausüben noch im öffentlichen Dienst arbeiten: Viele Jobs als Lehrer an Schulen oder als Pfleger in Krankenhäusern sind ihnen deshalb verwehrt. Lange haben sich vor allem junge Tibeter gegen die Diskriminierung aufgelehnt, gingen immer wieder auf die Straße. Doch ihre Proteste – zuletzt im März 2010 – wurden brutal niedergeschlagen, die Teilnehmer inhaftiert. »Wir werden von der Polizei streng überwacht«, sagt Tsultrim Dorjee, der Siedlungsvorsteher von Tashi Ling. »Wer politische oder soziale Forderungen stellt, wird sofort festgenommen.« Die Exiltibeter dürfen nicht einmal den Geburtstag des Dalai Lama öffentlich feiern oder tibetische Riten zelebrieren. »Ihre Situation hat sich in den vergangenen zehn Jahren deutlich verschlechtert«, sagt auch Kai Müller, Geschäftsführer der International Campaign for Tibet in Deutschland. »Die Versammlungs-, Religions- und Meinungsfreiheit der Tibeter in Nepal wird heute massiv eingeschränkt.« Die nepalesische Regierung tut so, als gebe es keine Tibeter im Land. Sie lehnt die Anerkennung der Flüchtlinge ab und verweigert jedes Gespräch über eine Einbürgerung, denn sie fürchtet den Konflikt mit China. Die Führung in Peking macht tatsächlich bei jeder Gelegenheit klar, dass sie keine pro-tibetischen Strömungen in Nepal tolerieren werde. Das nördliche Nachbarland hat großen Einfluss in Nepal gewonnen. Chinesische Ingenieure bauen Wasserkraftwerke und reparieren Straßen, die beim schweren Erdbeben 2015 zerstört wurden, mit günstigen Krediten chinesischer Staatsbanken. »Nepal ist von China finanziell völlig abhängig«, sagt Tsultrim Dorjee aus Tashi Ling. »Wir, die Exiltibeter, sind die Leidtragenden.« Die Diskriminierung hinterlässt Spuren: »Viele meiner Freunde wollen nur noch weg«, sagt Tenzin Noryang. »Manche nehmen Drogen, weil sie keinen Job haben und keine Perspektiven sehen.« Auch er trank zu viel, öffnete aber nach einer Entwöhnungskur mit Hilfe der Entwicklungsorganisation USAID eine kleine Nudelfabrik namens Tashi Noodles. Mit vier Mitar-

beitern stellt er nun 200 Kilogramm Pasta pro Tag her, die er an Restaurants und Kunden in der Siedlung verkauft. Stolz zeigt Noryang den Hinterraum eines kleinen Hauses, in dem die Nudeln zum Trocknen hängen. »Das Geschäft läuft gut«, sagt der 37-Jährige. »Wir sind besser und billiger als die nepalesische Konkurrenz.« Gern würde Noryang expandieren, einen großen Laden außerhalb von Tashi Ling öffnen und sogar richtige Spaghetti herstellen. Doch das geht nicht. »Die Regierung lässt mich die Nudeln in Tashi Ling verkaufen, obwohl ich nicht richtig registriert bin«, sagt er. »Für den nepalesischen Markt bräuchte ich aber eine Steuernummer, die ich als Nicht-Staatsbürger nicht bekommen kann.« Die Exiltibeter gelten in Nepal als fleißig und geschäftstüchtig. »Die meisten von uns schlagen sich auch ohne Papiere irgendwie durch«, sagt Tenzin Wungdak. »Wir arbeiten als Bergführer oder Gepäckträger für Touristen, kellnern in Restaurants oder verkaufen Souvenirs.« Weil sie aber weder Arbeitsgenehmigungen besitzen noch gemeldet sind, herrsche unter vielen Tibetern »ein Klima der Angst«, meint Wungdak, der im Souvenirladen seines Vaters arbeitet. »Wir sind der Willkür der Behörden völlig ausgeliefert«, klagt der 38-Jährige. »Ohne ordentliche Papiere sind wir für einige Staatsbedienstete wie Freiwild – und müssen immer wieder Bestechungsgelder zahlen.« Manche Tibeter gehen sogar Scheinehen mit Nepalesen ein, um die Staatsangehörigkeit zu erlangen. Andere kaufen nepalesische Pässe auf dem Schwarzmarkt, um auszureisen. »Drei meiner fünf Kinder leben in Japan«, sagt der Souvenirhändler Jampa, der seinen vollen Namen nicht verraten will. Man könne für 3.000 Dollar in Nepal einen Pass kaufen. Doch er scheut das Risiko: Denn wer auffliegt, landet für mindestens ein Jahr im Gefängnis. 쮿

Durchschlagen ohne Papiere. Händler Kunyu Tsewang in Tashi Ling.

Besser als die Konkurrenz. Tenzin Noryang in seiner Nudelfabrik.

NEPAL

Wer politische oder soziale Forderungen stellt, wird festgenommen.

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GRAPHIC REPORT

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Die vergessenen Männer von Manus

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GRAPHIC REPORT

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PORTRÄT

Foto: Rodrigo Garrido / Reuters

In kleinen Schritten Marcelo Catrillanca kämpft in Chile für die Rechte der Mapuche – und für die Aufklärung des Mordes an seinem Sohn. Von Michael Dopichaj, Santiago de Chile »Schon wieder musste einer unserer Gemeinschaft sterben, in diesem Fall mein Sohn.« Mit diesen Worten trat Marcelo Osblado Catrillanca Queripel im November 2018 vor die Kameras. Nur Stunden zuvor war sein Sohn Camilo Catrillanca vom »Dschungelkommando«, einer Spezialeinheit der chilenischen Militärpolizei, erschossen worden. Immer wieder töten chilenische Sicherheitskräfte Angehörige der indigenen Gruppe der Mapuche, die 1,5 Millionen Menschen umfasst. Da die Beamten nicht der zivilen Justiz unterstehen, sondern Militärrichtern, fallen die Urteile zumeist milde aus. Das aber will Marcelo Catrillanca nicht länger hinnehmen: Gemeinsam mit Mitstreitern fordert er, die Verantwortlichen für die Tötung seines Sohns zur Rechenschaft zu ziehen. Seit November reißen die Proteste gegen die Militärpolizei in der Hauptstadt Santiago de Chile, aber auch in anderen Städten nicht mehr ab, während die Polizei versucht, die Demonstrationen durch den Einsatz von Tränengas und Wasserwerfern zu unterbinden. Die indigenen Mapuche leben vor allem in Araukanien, der ärmsten Region Chiles. Regelmäßig kommt es zu Brandanschlägen auf Gebäude und Lastwagen von Agrar- und Forstunternehmen rund um die Stadt Temuco – aus Protest dagegen, dass der Staat den Mapuche Ländereien weggenommen hat. Die Regierung ist nach dem Übereinkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation verpflichtet, indigene Gruppen zu konsultieren, wenn wirtschaftliche Großprojekte in ihrem Siedlungsgebiet geplant werden. Dem kommt sie jedoch nur bedingt nach. Dass nicht nur Proteste, sondern auch Aufklärung verhin-

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dert werden soll, spürt Marcello Catrillanca seit dem Tod seines Sohnes im November Tag für Tag. Erst hieß es, Camilo Catrillanca sei in einen Autodiebstahl verwickelt gewesen. Das wies sein Vater jedoch zurück – und bekam schließlich Recht. Außerdem war anfangs von einem Feuergefecht mit Unbekannten die Rede, was später aufgetauchte Videos jedoch widerlegten. Aufnahmen von der Polizeioperation sollen zudem vernichtet worden sein. Marcelo Catrillanca nutzt die mediale Aufmerksamkeit in Interviews und Fernsehauftritten, um auf das Leid der Mapuche hinzuweisen, sich gegen Militarisierung und Landraub auszusprechen und Aufklärung und politische Aufarbeitung zu fordern. Kleine Fortschritte gibt es: Der Generaldirektor der Militärpolizei und weitere Führungskräfte wurden entlassen, vier der beteiligten Polizisten sitzen in Untersuchungshaft, und zwei Staatsanwälte sind mit Ermittlungen befasst. Die Justiz greift jedoch weiterhin auf das Antiterrorgesetz zurück, um gegen Mapuche-Aktivisten vorzugehen. Und das, obwohl der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte bereits 2014 entschieden hat, dass unverhältnismäßig lange Untersuchungshaftzeiten, Urteile allein auf der Basis von anonymisierten Zeugen und ein beschränkter Zugang zu Beweismitteln einen Verstoß gegen die Amerikanische Menschenrechtskonvention darstellen, weil sie auf diskriminierenden Stereotypen basieren. 쮿 Mehr über die Lage der Mapuche in Chile unter www.amnesty-chile.de und www.amnistia.cl

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DRANBLEIBEN

Amnesty-Führung kündigt Konsequenzen an und Rücksichtslosigkeit litten. Es herrsche ein »toxisches Arbeitsklima«. Seitens der Vorgesetzten habe es an Respekt und Wertschatzung gefehlt. Der Report wurde Ende Januar veröffentlicht und ist öffentlich zugänglich (www.amnesty.org/en/documents/org60/9763/2019/en/). Der seit August 2018 amtierende internationale Generalsekretär Naidoo hat angekündigt, Konsequenzen aus dem Bericht zu ziehen, dessen Ergebnisse er als »äußerst schmerzhaft« bezeichnete. Es reiche nicht aus, sich zu entschuldigen. Inakzeptable Handlungen, Haltungen und Verhaltensweisen des Managements werde man nicht dulden. (www.amnesty.org/download/Documents/ORG60976 42019english.pdf) Im Brief des Senior Leadership Teams heißt es: »Es war nicht unsere Absicht, andere zu verletzen, aber wir müssen leider eingestehen, dass das passiert ist.« Die KonTerra Group berät unter anderem das Rote Kreuz, die Vereinten Nationen, die Weltbank, Save the Children und Oxfam. Alarmierend seien die Zustände bei Amnesty International, weil sie nach Darstellung der Autoren dramatisch von denen anderer Organisationen abwichen.

Die Verfasser des KonTerra-Reports empfehlen der Amnesty-Führung deshalb, das Management besser zu schulen sowie eine Kultur des Feedbacks und der gegenseitigen Information zu stärken. Nur so sei es möglich, Führung wie Belegschaft professionell für die psychischen Implikationen ihrer Arbeit zu sensibilisieren und wieder gegenseitiges Vertrauen aufzubauen. Notwendig sei es, »eine Fähigkeit zu entwickeln, sich selbst zu beobachten und unbewusste, blockierende Vorstellungen zu überwinden«, um »Innovation, Klarheit und persönliches Gedeihen zu fördern«. Als Grund für die Versäumnisse im Internationalen Sekretariat der Organisation in London nennt der KonTerra-Report massive Probleme während des Dezentralisierungsprozesses von Amnesty, der unter anderem dazu führte, dass fünf Regionalbüros in Afrika, Asien und Lateinamerika geschaffen wurden. Entsprechende Warnhinweise beim Aufbau der Regionalisierung seien nicht ausreichend beachtet und nicht rechtzeitig erkannt worden. »Amnesty muss besser zuhören«,  Amnesty Journal 01/2019

Foto: Amnesty

Die Mitglieder des Senior Leadership Teams (SLT) von Amnesty International haben ihren Rücktritt angeboten. In einem Brief an den internationalen Generalsekretär Kumi Naidoo übernahm das Führungsgremium der Organisation im Februar die Verantwortung für Missstände bei der Personalführung und »ein Klima der Spannungen und des Misstrauens«. Die sieben Abteilungsleiter wollten damit helfen, Naidoo einen Neustart zu ermöglichen, heißt es in dem Schreiben. Nach dem Selbstmord von zwei Mitarbeitern im Mai und Juli 2018 hatte die Amnesty-Führung die auf Hilfsorganisationen spezialisierte Beratungsgesellschaft KonTerra Group beauftragt, die Arbeitsbedingungen im Internationalen Sekretariat und in fünf Amnesty-Regionalbüros zu untersuchen. Der 56 Seiten lange Bericht kommt zu dem Schluss, dass es sowohl in der Organisationszentrale als auch in den Regionalbüros zu gravierenden Versäumnissen im Umgang mit Beschäftigten gekommen ist. Zahlreiche Interviews mit Mitarbeitern auf internationaler Ebene hätten gezeigt, dass Amnesty-Angestellte unter Mobbing, Stress

Übernehmen Verantwortung. Das Senior Leadership Team und der internationale Generalsekretär Kumi Naidoo (3. v. r.) im Januar 2019 in London.

PORTRÄT

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DRANBLEIBEN

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KULTUR

Provokanter Musikgeschmack. Solidaritätskonzert für den Rapper Husky im November 2018 in Moskau.

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Die Playlists der Zensoren HipHop und Rap standen in Russland bislang nicht gerade unter Oppositionsverdacht. Doch seitdem sich die Musikszene politisiert, reagiert der Staat mit Konzertverboten. Aus Moskau Ute Weinmann

Foto: Maxim Zmeyev / AFP / Getty Images

RUSSLAND

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ährend Oppositionelle und politisch auffällige Gruppen schon lange staatlichen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt sind, sah sich die nichtkonforme Musikszene in Russland bislang eher nur mit punktuellen Gängeleien konfrontiert. Das Jahr 2018 setzte hier neue Maßstäbe. Als subversiv gelten nicht nur protestierende Jugendliche, sondern nun auch ihr Musikgeschmack. Da ist zum Beispiel der Rap. Er fand in Russland erst vor kurzem Anerkennung als fester Bestandteil moderner Kultur – und geriet gleich ins Visier der Sicherheitsbehörden. Von Dutzenden Konzertverboten im ganzen Land betroffen waren diverse Musiker. Schlagzeilen machte jedoch erst die Festnahme von Husky, mit bürgerlichem Namen Dmitri Kusnezow. Nach mehrmaligen erzwungenen Konzertabsagen verlegte der Rapper im November 2018 in Krasnodar spontan seinen Auftritt von einem Club, in dem der Strom abgedreht worden war, auf die Straße. Letztlich kam er mit einer Administrativhaft davon, die er nicht einmal komplett absitzen musste. Denn der Fall sorgte nicht nur für Aufsehen, sondern für echte Solidarität. Die ganz großen Stars der Szene, Oxxxymiron, Basta und Noize MC organisierten ein gemeinsames Konzert für ihren inhaftierten Kollegen, das zugleich eine Kampfansage zur Verteidigung ihrer eigenen künstlerischen Freiräume war. Die Konzertverbote initiierten Abgeordnete aus Gebietsparlamenten, Bürgermeister, aber auch Elternvereinigungen. Im sozialen Netzwerk VKontakte gibt es eine Gruppe mit fast 166.000 Mitgliedern, über die detaillierte Anleitungen verbreitet werden, wie »moralisch bedenkliche« Konzerte verhindert werden können. Songbeispiele werden gleich mitgeliefert, wie diese Liedzeilen des Hip-Hoppers Allj: »In der

Mittelschule wurde ich gerne angefasst. Die Schule habe ich bei ihnen zu Hause geschwänzt« oder »Ecstasy, bring mich weg«. Drogen, Sex und der Gebrauch tabuisierter, in der Umgangssprache aber durchaus geläufiger Schimpfwörter gelten aus Sicht selbsternannter Moralapostel als anstößig und sollen eine entsprechende Maßregelung nach sich ziehen. Im Fall von Husky wurden auch Extremismusvorwürfe erhoben. Gegen Oxxxymiron liegt eine Beschwerde bei der russischen Aufsichtsbehörde vor, verfasst von einer Privatperson, die auch gegen andere Musiker aktiv geworden ist. Einer der Videoclips des Rappers zum Thema Amoklauf in Schulen habe als Auslöser für die Tragödie in einem Berufskolleg auf der Krim gedient. Dabei erschoss ein Student Mitte Oktober 21 Menschen. Polizeiliche Maßnahmen versprechen aus Sicht der Hardliner schnelle Erfolge. Zumal wenn jedes nicht von Staats wegen kontrollierte Handeln generell unter dem Aspekt der Sicherheitsgefährdung steht. Doch das russische Innenministerium ließ verlautbaren, der Zentralapparat habe seinen Regionalstellen keinerlei Anweisungen zur Unterbindung von Konzerten erteilt. Was nicht heißt, dass der Punkt in Moskau nicht auf der Tagesordnung stand. Zumindest berichtete das Nachrichtenportal URA.RU über eine Direktive des Innenministers Wladimir Kolokolzew, die Polizeikräften den Besuch von Konzerten untersage, auf denen anarchistische und staatskritische Inhalte propagiert würden. Das Portal verwies dabei auf eigene Quellen im Sicherheitsapparat. Bei Verstoß gegen die Direktive würden Sanktionen bis hin zur Entlassung folgen. Welche Definition der Vorschrift zugrunde liegt und welche Musikgruppen und Solokünstler künftig zu meiden seien, ist unklar. Pavel Chikov, Leiter der Menschenrechtsorganisation Agora, geht davon aus, dass die Sicherheitsbehörden anhand der Auswertung individueller Playlists von Jugend-

Kurzzeitig inhaftiert. Dmitri Kusnezow  alias Husky. Foto: Artyom Geodakyan / TASS / dpa / pa

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Nur heimliche Auftritte. Anastasia Kreslina  von Ic3peak. Foto: Anton Basanayev / AP / pa

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lichen in sozialen Netzwerken eine schwarze Liste zusammengestellt haben. Akuten Handlungsbedarf habe man vermutlich gesehen, nachdem ein Berufsschüler Ende Oktober im Gebäude des Inlandsgeheimdienstes FSB in Archangelsk einen selbstgebauten Sprengsatz gezündet hatte und dabei ums Leben gekommen war. Wenige Minuten zuvor verwies der Jugendliche in einer Nachricht über den Messengerdienst Telegram auf Folterpraktiken des FSB, zudem sympathisierte er offenbar mit dem Anarchismus. Den meisten populären Rappern, Hip-Hoppern und sonstigen Musikschaffenden geht politischer Tiefgang jedoch ab. Auch das mag der Grund dafür sein, weshalb kulturelle und musikalische Bezüge bei der auffallend hohen Beteiligung von Schülern und Studenten an oppositionellen Kundgebungen der vergangenen Jahre außen vor blieben. Inzwischen lässt sich jedoch eine zunehmende Politisierung der Musikszene beobachten. Das auch im Ausland erfolgreiche Elektronik-Duo Ic3peak veröffentlichte im Oktober seinen ersten offen politischen Videoclip mit dem Titel »Kein Tod mehr«, der bis Mitte Februar über 18 Millionen Klicks auf Youtube verzeichnete. Anastasia Kreslina singt darin »Ich begieße meine Augen mit Kerosin, lass es brennen, lass es brennen« – den Sitz der russischen Regierung im Rücken – während Nikolaj Kostyljow ein Streichholz zündet und fallen lässt. Seither steht das Duo unter Beobachtung des FSB und ist gezwungen, konspirative Maßnahmen zu ergreifen, um Polizeieinsätzen bei Konzerten zuvorzukommen. Iwan Dremin, besser bekannt unter seinem Bühnenpseudonym Face, forderte alle Rapper auf, sozialkritische Alben zu veröf-

Die Menschenrechtsorganisation Agora geht von einer schwarzen Liste kritischer Musiker aus. fentlichen. Seine jüngsten Werke zeugen von deutlicher Dissidenz. Er nennt darin Russland ein Gefängnis und prangert die allgegenwärtige Armut im Land an. In der russischen Führung dürfte diese Tendenz wenig Anklang finden, trotzdem setzte sie der Entwicklung vorerst kein Ende. Klassische Vereinnahmungstaktiken wie die Lockung mit staatlichen Fördermitteln und Einbindung loyaler Rapper in einen beim Jugendparlament angesiedelten frisch geschaffenen Kulturrat, ja selbst Einsätze von Polizei und FSB in Verbindung mit Denunziation vermögen kurzfristig kaum etwas bewirken. Andererseits: Der auf Provokation angelegte Rap ähnelt dem russischen Rock der späten Sowjetzeit. Einst von den Herrschenden verschmäht und bekämpft, hat jener sein die Gesellschaft aufrüttelndes Potenzial längst eingebüßt. 쮿

Im Visier der Behörde. Oxxxymiron. Foto: Maxim Zmeyev / AFP / Getty Images

RUSSLAND

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Kampf um die Köpfe der Kinder Der Film »Espero tua (re)volta« der Brasilianerin Eliza Capai gewinnt den Amnesty-Filmpreis auf der Berlinale. Von Jürgen Kiontke

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ão Paulo, 2018: »Wer sich mit uns anlegt, legt sich mit Satan an!« Macela, ihre Freunde Nayara, Koka und viele andere Schüler und Studierende São Paulos sind wütend: Gerade eben hat der Gouverneur die Schulen geschlossen und dafür ein Gefängnis eröffnet. Dabei hat Brasilien schon die dritthöchste Anzahl an Häftlingen weltweit. Die Polizei schlägt wahllos auf Demonstranten ein, und gerade erst ist ein Gegner der Proteste mit seinem Auto mitten in eine Demonstration gefahren. Die jungen Leute haben es satt, deshalb haben sie die Universität besetzt. Sie wollen ein Bildungssystem, das nicht nur die Klassenverhältnisse zementiert, indem es arme Schüler in schlecht ausgestattete Schulen pfercht, während die Oberschicht ihre Kinder auf Privatschulen schickt. Wie ihre Freunde hat sich Macela eine rote Pappnase aufgesetzt und bringt die Bildungsmisere knapp auf den Punkt: »Die Polizisten können nicht mal die Preisschilder auf den Tränengasgranaten lesen, die sie werfen.« Eliza Capais Film »Espero tua (re)volta«, zu Deutsch etwa »Du bist dran«, ist ein hochenergetisches Video, das immer wieder zu der wütend-engagierten Macela zurückkehrt. Die Kamera filmt wilde Straßenszenen, geht in enge Flure von Schulen, schaut Demonstranten über die Schulter. In Rückblenden erfährt man vom historischen Kontext, lernt Aktivisten und Ziele kennen. Es sind die Proteste der jungen Generation Brasiliens, die 2013 mit Fahrpreisdemonstrationen begannen, aber schon kurze Zeit später das Thema Bildung in den Mittelpunkt stellten. »Wie wird unsere Zukunft aussehen?«, fragen die Protagonisten zwischen Uni-Besetzung und lautstarkem Straßeneinsatz. Sie wollen wissen: »Wirst du frei und du selbst sein können? Werden Mädchen respektiert werden? Werden die Schulbücher schwarze Menschen erwähnen?« Waren es 2015 noch Schulen, die besetzt wurden, um damit mehr Bildungsgerechtigkeit zu fordern, ist es 2016 bereits ein Lokalparlament. Es hatte sich eine Massenbewegung geformt, da hatte die brasilianische Politik ihren krassen Rechtsruck noch gar nicht erfahren. »Das alles passiert mit der ersten Frau als Brasiliens Präsidentin«, heißt es im Film. Will sagen: Eigentlich haben wir doch unsere Ziele erreicht. Was damals virulent war, bricht heute auf: Das Land hat mit Jair Bolsonaro ein extrem rechtes Staatsoberhaupt gewählt. »Er will Frauen an den Herd, Schwule und Lesben zurück in den Schrank. Er prahlt mit Gewalt und droht Minderheiten«, sagt Capai. Bolsonaro lässt keinen Zweifel daran, für wessen Interessen er steht. Es kann also alles noch viel schlimmer kommen.

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Es scheint, als habe der mit 5.000 Euro dotierte AmnestyFilmpreis dieses Jahr einen besonders würdigen Preisträger gefunden – feiert doch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ihr 70. Jubiläum. Ihr Artikel 26 behandelt das Recht auf Bildung. Aktueller könne ein Film derzeit kaum sein, befand denn auch die Jury, zu der die Schauspielerin Pegah Ferydoni, die Produzentin und Regisseurin Feo Aladag und Amnesty-Generalsekretär Markus N. Beeko gehörten. Sie zeichneten Regisseurin Capai im Februar bei den Berliner Filmfestspielen aus. Insgesamt waren 18 Filme für den Preis nominiert, darunter Werke wie etwa »Born in Evin« von Maryam Zaree über die Geschichte ihrer Geburt im berüchtigten Foltergefängnis von Teheran, und »Talking About Trees« von Suhaib Gasmelbari über die aktuelle politische Lage im Sudan. Starken Eindruck hinterließen auch Rodd Rathjens »Buoyancy« über Sklavenarbeiter auf asiatischen Fischkuttern und »Midnight Traveler«, in dem Regisseur Hassan Fazili seine Flucht aus Afghanistan mit dem Handy dokumentiert hat. Capais Film war einen Tick überzeugender: »Stellen Sie sich vor, Ihre Kinder gehen auf die Straße, weil die Regierung ihre Schulen schließen will – und werden mit Tränengas beschossen und mit Schlagstöcken malträtiert«, hieß es in der Begründung der Jury. »Öffentliche Schulen schließen, das betrifft immer vor allem arme und sozial benachteiligte Familien.« Der Film breche mit konventionellen Erzählstrukturen und begleite in seiner non-linearen dokumentarischen Form junge Menschen bei ihrem Ringen um Demokratie. »Er berührt Themen, die wirklich relevant sind«, sagte Jurorin Feo Aladag. »Es ist ein Film, der uns mitnimmt, der trotz Schwere des Inhalts Hoffnung und Kraft gibt. Und der ein Aufruf zum Optimismus ist, indem er sagt: ›Du hast eine Stimme. Sie kann gehört werden.‹ Ich denke, das macht einen Film aus, der in unserer Auswahl läuft – und das macht auch Amnesty International aus.« Solidarität und demokratische Werte leben, selbstbewusst Ziele und Träume artikulieren, das falle vielen Brasilianern offensichtlich schwer, stellte Regisseurin Eliza Capai fest. Sonst hätten nicht so viele Bolsonaro gewählt und sich auch noch über

Kinder gehen auf die Straße, weil die Regierung ihre Schulen schließt – und werden verprügelt. AMNESTY JOURNAL | 02/2019


Fotos: Carol Quintanilha, Eliza Capai, Bruno Miranda

Summa cum laude. Szenen aus »Espero tua (re)volta«.

seinen Sieg gefreut. Kulturschaffenden falle die Arbeit derzeit nicht leicht, Bolsonaro habe direkt das Kulturministerium geschlossen. »Viele sind sogar glücklich mit dem rechten Hardliner, da sieht man das Ergebnis unserer Bildungspolitik«, so die Regisseurin. Diktatur und Sklaverei seien noch in so manchen Köpfen. »Da fällt es vielen schwer, die Vorstellung einer gerechten Gesellschaft zu entwickeln.« Seine Wähler hätten für Bolsonaro gestimmt, obwohl er Minderheiten und Armen den Krieg erkläre, kurz: Individuen in Menschen erster und zweiter Klasse einteile. Der Preis schaffe internationale Aufmerksamkeit, sagte Capai in ihrer Dankesrede, und die sei derzeit enorm wichtig. Fundierte Informationen über Brasilien erhalte man mittlerweile eher über die internationale Presse als über inländische Medien. Sie appellierte besonders an die Deutschen, Brasiliens Entwicklung kritisch zu begleiten. »Wie es ist, wenn Extremisten auf legalem Wege in die Regierung gelangen, das weiß niemand besser als die Deutschen.« Bereits im vergangenen Jahr war mit Karim Aïnouz ein Bra-

AMNESTY-FILMPREIS

silianer Träger des Amnesty-International-Filmpreises. Der Regisseur hatte die Verleihung genutzt, um einen Offenen Brief brasilianischer Kulturschaffender zu verlesen, der auf die Zustände in seinem Heimatland aufmerksam machte. Mit Aïnouz verbindet Capai eine eigene Geschichte: Seine Filme hätten sie inspiriert, selbst zu drehen. Auch in ihren früheren Werken beschäftigte sich die 40-jährige Dokumentarfilmerin mit sozialen Themen und alternativen Erzählformen, etwa in »Tão longe é aqui« (»Here Is So Far«, BRA 2013), der auf Begegnungen mit Frauen während einer siebenmonatigen Reise durch Afrika basiert. Ihr Film »O jabuti e a anta« (»The Tortoise and the Tapir«, BRA 2016) handelt von den riesigen, umweltzerstörenden Wasserkraftwerken im Regenwald Brasiliens. Sie selbst sagt, ihr Ziel sei es, »Stimmen aus den Randzonen der Gesellschaft zu verstärken und dem Publikum nahe zu bringen.« 쮿 »Espero tua (re)volta« (Your Turn). BRA 2019.  Regie: Eliza Capai

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Preußischer Kulturbesitz? Der Thron des kamerunischen Königs Njoya kam als angebliche Schenkung an den deutschen Kaiser 1908 nach Berlin. Rechts von ihm demonstriert Rudolf Oldenburg, Leiter der Deutschen Kamerun-Gesellschaft, koloniale Ansprüche.

Inventur der Raubkultur Die deutsche Kulturpolitik steht unter Druck. Wenige Monate vor Eröffnung des Humboldt-Forums in Berlin fordern Forscher und NGOs einen neuen Umgang mit dem Raubgut in deutschen Museen und Sammlungen. Von Uta von Schrenk

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an ist unter sich an diesem Abend im Berliner Centre Français, mal wieder. Auf dem Podium die Wissenschaftler Bénédicte Savoy und Felwine Sarr, die für den französischen Präsidenten eine Machbarkeitsstudie über die Restitution afrikanischen Kulturerbes geschrieben haben, im Publikum postkoloniale Aktivisten und Mitglieder der afrikanischen Gemeinde Berlins. Eingeladen hat die Berater Emmanuel Macrons jedoch keineswegs das politische Berlin, sondern eine Bürgerinitiative – Berlin Postkolonial.

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Dabei sahen sich die Staatsministerinnen für Kultur im Auswärtigen Amt und Bundeskanzleramt, Michelle Müntefering und Monika Grütters, durchaus bemüßigt, auf den französischen Bericht zu reagieren und »markante Schritte« zur Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte sowie »Lösungen bis hin zu Rückgaben« in Aussicht zu stellen. Die deutsche Kulturpolitik steht unter Druck, seitdem Macron im Frühjahr 2018 konkrete Restitutionen angekündigt hat. Erheblich zu diesem Druck beigetragen hat aber auch die für Ende

AMNESTY JOURNAL | 02/2019


Foto: Helene Oldenburg / Basel Mission Archives

des Jahres erwartete Eröffnung des Humboldt-Forums – ausgerechnet im dann wieder aufgebauten Berliner Stadtschloss des letzten deutschen Kaisers und obersten Kolonialherren. Kern des kulturellen Prestigeobjekts wird eine der größten deutschen ethnologischen Sammlungen sein, darunter Tausende koloniale Kulturgüter. Die Sammlung umfasst 25.000 Objekte des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst. Wie aber den Ruch einer »kolonialen Trophäenschau«, so postkoloniale Kritiker, loswerden? Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und damit verantwortlich für die Sammlungen, versucht es mit der Flucht nach vorn. »Wir wollen Objekte bei der Eröffnung des Humboldt-Forums zeigen, von denen wir jetzt schon wissen, dass wir sie danach zurückgeben werden.« Ein Teil der Ausstellung soll sich mit dem MajiMaji-Krieg und der Kolonialgeschichte Tansanias beschäftigen. Er wurde mit tansanischen Partnern gemeinsam kuratiert. Dieser Krieg sei »eines der blutigsten Kapitel deutscher Kolonialgeschichte, aber hier kaum bekannt«, sagt Parzinger. Es gibt in Deutschland weitaus mehr als die tansanischen Objekte, die das Humboldt-Forum zeigen will. Hier lagern Tausende afrikanischer Kulturgüter in Museumsdepots, in öffentlichen wie privaten Sammlungen oder werden auf Kunstauktionen gehandelt. Dort, in Namibia, Tansania oder Kamerun, stehen einstige Königspaläste leer, fehlen rituelle Gegenstände für Zeremonien oder sind historische Begebenheiten in Vergessenheit geraten, weil es nichts mehr gibt, das an sie erinnert. »Wir fordern die schnellstmögliche Rückgabe aller Kulturgüter, die eine rituelle oder religiöse Bedeutung haben«, sagt Moctar Kamara, Vorsitzender des Zentralrats der afrikanischen Gemeinde in Deutschland. »Es kann nicht sein, dass ein Afrikaner nach Berlin kommen muss, um etwas über seine Geschichte zu erfahren.« Die europäischen Kolonialisten haben in Afrika »tabula rasa« gemacht, sagt Kamara, »sie haben für die völlige Zerstörung afrikanischer Kultur gesorgt« – und alles, was gefiel, mitgehen lassen, ob mit Gewalt, sanftem Druck oder findigem Handel. »Wir müssen uns unsere eigene Kultur zurückerobern«, sagt Kamara, »und das geht nicht ohne die Benin-Bronzen oder den Königsthron aus Kamerun und andere kulturell oder rituell bedeutende Objekte«. Dass in der Debatte um die Rückgabe afrikanischer Kulturgüter immer wieder nur wenige prominente Beispiele genannt werden, kommt nicht von ungefähr. Zum Großteil wissen die afrikanischen Staaten nicht einmal, was sie zurückfordern könnten. Denn es fehlt an Überblick, was geraubt wurde. Dieses Wissen hüten bislang die europäischen Museums- und Sammlungsbeauftragten – wenn überhaupt. Denn auch hier fehlt es an Überblick, was in den Depots vorhanden ist. »Extrem intransparent« sei der bisherige Umgang mit den kolonialen Sammlungen, beklagt der Historiker Christian Kopp von Berlin Postkolonial. Insofern ist das Brisante an dem Bericht, den die deutschfranzösische Kunsthistorikerin Savoy und der senegalesische Ökonom Sarr im Auftrag des französischen Präsidenten verfasst haben, nicht die Empfehlung, das geraubte afrikanische Kulturerbe zurückzugeben. Das hat eine französische Regierungskommission bereits 1980 empfohlen. Es ist der 9.000-seitige Anhang, den die Kunsthistorikerin und der Ökonom dem Präsidenten zur baldigen feierlichen Übergabe an jene afrikanischen Staaten empfehlen, die einst französische Kolonien waren. Tausende Seiten Inventarlisten französischer Museen über geraubte afrikanische Kulturgegenstände wären somit geteiltes Herrschaftswissen. Unmittelbar nach Lektüre des Berichts, der be-

KOLONIALISMUS

Viele afrikanische Staaten wissen nicht, was sie zurückfordern könnten. Es fehlt an Transparenz. reits einige prominente Kulturgüter auflistet, bereiten die ersten afrikanischen Staaten Rückgabeforderungen vor. »Diese maximale Transparenz ist ein wichtiger Teil des Berichts«, sagt Christian Kopp, »Vorbedingung für eine Diskussion ist das Wissen darum, wo welche Objekte liegen«. Die Frage, ob der französische Regierungsbericht als Vorbild auch für Deutschland taugt, wird unter Museumsmitarbeitern, Forschern und Kulturpolitikern nun eifrig diskutiert. Immerhin hatte die Bundesregierung im Koalitionsvertrag festgelegt, die Rolle Deutschlands im Kolonialismus aufzuarbeiten. »Der Bericht von Savoy und Sarr hat da eine Bresche geschlagen«, sagt Larissa Förster. Die Ethnologin, die zur Provenienz afrikanischer Kulturgüter forscht und mit Kollegen in einem Appell eine umfassende Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus fordert, wünscht sich dringend »mehr Geschwindigkeit in der Sache«. Sie schlägt ein analoges Instrument zur »Gemeinsamen Erklärung« vor. Mit dieser bekennen sich Bundesregierung, Länder und kommunale Spitzenverbände zur Auffindung und Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz. »Es kann doch nicht den einzelnen Sammlungsverantwortlichen oder Sammlungen abverlangt werden, die moralisch-ethische Entscheidung für oder wider eine Rückgabe alleine zu tragen«, sagt Förster. Da brauche es schon eine breitere Rückendeckung der Politik. Schließlich seien Bund, Länder und Gemeinden Träger der öffentlichen Museen und Sammlungen und damit entscheidungsbefugt – egal, ob es sich um konkrete Rückgaben oder um die Bewilligung von Geldern für nötige Provenienzforschung handele. »Die Erforschung der Provenienzen ist nur langfristig zu leisten«, betont Parzinger. Bestände müssen gesichtet, die Herkunft fraglicher Objekte geklärt, Inventarlisten veröffentlicht werden – eine Aufgabe von Jahrzehnten. »Es kann nicht sein, dass nun wieder zehn Jahre Provenienzrecherche betrieben und erst dann gehandelt wird«, sagt Kopp. Schließlich müssten die Forscher ja nicht bei Null beginnen, viele Objekte lagerten in den Sammlungen unter dem Stichwort »Kriegsbeute«. »Die Rückgaben müssen sukzessive laufen, und die Verhandlungen darüber schnellstmöglich beginnen, selbst wenn dann im ersten Jahr nicht gleich Hunderte von Objekten restituiert werden könnten.« Ohnehin, sagt Kopp, müsse in vielen Fällen nicht mehr recherchiert werden, die Sachlage sei klar. Es fehle vielmehr an politischem Willen zur Rückgabe. Seit Juni 2017 fordert etwa der namibische Staat von Deutschland die Wappensäule vom Kreuzkap zurück. Das ursprünglich portugiesische Herrschaftszeichen, für Namibia Beweis kolonialer Landnahme, wurde von den deutschen Kolonialherren in ihre Heimat verbracht, nachdem sie das afrikanische Gebiet für sich beansprucht hatten. Die Wappensäule steht heute im Deutschen Historischen Museum – immer noch. 쮿

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Zahlreiche Oppositionelle aus dem Kulturbereich sind in der Türkei wegen angeblicher Propagandadelikte oder Aufwiegelung zum Staatsstreich angeklagt. Aus Istanbul Sabine Küper-Büsch

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xemplarisch ist der Fall zweier türkischer Schauspielerlegenden. Der 75-jährige Bühnenkünstler Müjdat Gezen wurde an Heiligabend 2018 zusammen mit seinem Kollegen, dem preisgekrönten Schauspieler und Kabarettisten Metin Akpinar (77), festgenommen und der Staatsanwaltschaft übergeben. Die beiden hatten sich kurz zuvor in einer Talkshow des oppositionellen Fernsehsenders Halk TV kritisch über den Verfall der Demokratie in der Türkei und die Rolle von Präsident Recep Tayyip Erdoğan geäußert. Gezen hatte im Fernsehstudio gesagt: »Ständig droht er jedem mit dem Zeigefinger und weist die Leute in ihre Schranken. Du kannst unseren Patriotismus nicht schmälern, Recep Tayyip Erdoğan, sondern solltest selbst deine Grenzen kennen.« Akpinar hatte die Demokratie als einzige Staatsform gelobt, die individuelle Bürgerrechte gewährleiste, und vor einer weiteren Polarisierung der Gesellschaft gewarnt. Er verwies dabei in der für seine Rollen typisch spöttischen Art auf das Schicksal anderer politischer Führer, die in faschistischen Zeiten dann selbst an den Füßen aufgehängt oder von den eigenen Genossen vergiftet worden seien. »Das passt doch gar nicht zu uns. Das ist doch unwürdig«, hatte er zum Schluss gesagt. Die Staatsanwaltschaft ermittelt nun wegen Aufwiegelung zum Staatsstreich, Todesdrohungen und Präsidentenbeleidigung. Sollten die beiden betagten Künstler schuldig gesprochen werden, müssten sie den Rest ihrer Tage im Gefängnis verbringen. Zahlreiche Kulturschaffende, Künstler und Musiker sowie Hunderte Journalisten und Akademiker sind in der Türkei wegen schwerer Verbrechen angeklagt. Ihnen wird vorgeworfen, Propaganda für Terrororganisationen betrieben oder die Absicht gehabt zu haben, den Staat zu stürzen. Die angeblichen »Tatbestände« und ihre juristische Ahndung haben rechtsstaat-

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liche Dimensionen längst verlassen. Die Kriminalisierung der künstlerischen Opposition ist vielmehr Teil einer gezielten Einschüchterungspolitik. Über den Stil von Satire lässt sich streiten. Offenkundig ist jedoch, dass die Opposition in der Türkei noch nie so wenig zu lachen hatte wie in diesen Tagen. Satire sei in der Türkei immer ein toleriertes Mittel der Kritik gewesen, betont Sefer Selvi. Der Karikaturist erhielt für seine mutigen politischen Zeichnungen im November 2018 in Berlin den Karikaturpreis der deutschen Bundesrechtsanwaltskammer. Seit seiner Rückkehr von der Preisverleihung fühlt er sich nicht mehr sicher. Ein unbekannter Maskierter tauchte im Dezember vor seiner Wohnungstür auf, der gleiche Mann wurde noch mehrfach in seiner Straße gesichtet. Selvi fühlt sich verfolgt. »Das Schlimmste ist die Ungewissheit«, sagt der Chefredakteur der Satirezeitschrift LeMan, Tuncay Akgün. »Es ist immer sehr schwer einzuschätzen, ob jemand hinter solchen Merkwürdigkeiten steckt und um wen es sich dabei handelt.« Die Redaktion der Zeitschrift, bei der auch Sefer Selvi publiziert, arbeitet seit zweieinhalb Jahren hinter Stahltüren. Regierungsnahe Hooligans hatten im Juli 2016 versucht, das Redaktionsgebäude zu stürmen und den Zeichnern über die sozialen Medien ein Schicksal wie das der ermordeten französischen Kollegen von Charlie Hebdo angedroht. Auslöser war ein kritisches Titelbild zum niedergeschlagenen Militärputsch. Die Grenzen der Meinungsfreiheit werden in der Türkei mittlerweile machtpolitisch bestimmt. Regierungsnahe Medien treten ungeschoren verleumderische Kampagnen los, die nicht selten die Grundlage späterer Anklagen bilden. Prominentes

Die Grenzen der Meinungsfreiheit werden machtpolitisch bestimmt. AMNESTY JOURNAL | 02/2019

Foto: Yasin Akgul / AFP / Getty Images

Tatbestand Kunst


Von der Bühne ins Verhör. Der Schauspieler Müjdat Gezen nach seiner Anhörung vor Gericht, Istanbul am 24. Dezember 2018.

Beispiel hierfür ist der türkische Geschäftsmann und Kunstmäzen Osman Kavala. Ende Februar forderte der Istanbuler Generalstaatsanwalt für ihn und 15 weitere Angeklagte lebenslange erschwerte Haft. Kavala wurde bereits im Oktober 2017 festgenommen. Er ist Besitzer des freien Kunstraums Depo in Istanbul und förderte dort viele künstlerische Programme für Minderheiten. Heute kolportieren regierungsnahe Medien ohne Beweise, dass Kavala ein Spion des Westens sei und gar zu den Drahtziehern des gescheiterten Militärputsches von 2016 gehöre. Er soll auch die Proteste, die sich 2013 wegen eines Bauprojektes im Istanbuler Gezi-Park entzündeten, angezettelt haben. Im Dezember wurden zwanzig Personen aus dem weitesten Umfeld von Kavalas Firma Anadolu Kültür festgenommen. Darunter auch Mitglieder der Istanbuler Kammer für Architekten und Ingenieure, die Teil eines unabhängigen Forums während der Gezi-Proteste waren. »Die Regierung hatte 2013 nicht damit gerechnet, dass sich so viele Menschen mit Protesten wegen eines kleinen Parks solidarisieren würden«, sagt Ali Hacıalioğlu, Generalsekretär der Kammer. »Aber der Park war auch nur das Symbol für eine vor allem auf Bereicherung abzielende Machtpolitik in der Türkei. Damit möglichst viele Leute weiter an das Märchen von Entwicklung und Fortschritt glauben, werden Einzelne nun als Kriminelle diffamiert und politisch motiviert strafverfolgt.«

TÜRKEI

»Die Gewaltenteilung ist ausgehebelt«, sagt die Architektin Gül Köksal. »Wir leben quasi unter Dauernotstandsgesetzen.« Präsidentendekrete dienen etwa dazu, Staatsdiener ohne Begründung aus dem Dienst zu entlassen. Gül Köksal verlor mit 50 anderen Akademikern 2016 per Präsidentendekret und ohne Begründung ihre Stelle als Dozentin an der staatlichen Universität Kocaeli. Zudem ist sie seit dem 28. Januar wegen Terrorpropaganda angeklagt, weil sie eine Friedenspetition unterschrieb, die sich vor allem gegen die Kurdenpolitik der Regierung wandte. Allein in Istanbul müssen sich momentan 628 Wissenschaftler wegen der gleichen Vorwürfe verantworten, heißt es auf der Solidaritätsplattform für die Akademiker. Für das Frühjahr plant Gül Köksal zusammen mit der Architektenkammer der südostanatolischen Stadt Diyarbakır eine »Woche der Kunst im öffentlichen Raum«. Fast die gesamte Altstadt wurde dort in den vergangenen zwei Jahren abgerissen, nachdem die Leitung der prokurdischen Stadtverwaltung wegen des Verdachtes auf Unterstützung einer terroristischen Vereinigung abgesetzt und durch eine kommissarische, regierungsnahe ersetzt wurde. »Wir werden versuchen, die Vernichtung von Kulturgütern durch Film- und Zeichenworkshops in Diyarbakır sichtbar zu machen«, sagt Köksal. Sie ist überzeugt davon, dass trotz der drohenden Strafverfolgung nur das Schaffen von Öffentlichkeit der Autokratie entgegenwirken kann. 쮿

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Muganga, der Heiler Die Autobiografie des kongolesischen Gynäkologen und Friedensnobelpreisträgers Denis Mukwege liegt nun auf Deutsch vor. Von Maik Söhler

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Foto: Fabian Weiss / laif

r sieht sich als Heiler. Das Nobelpreiskomitee erkannte in ihm einen Kämpfer gegen Kriegsverbrechen und verlieh ihm im Dezember 2018 den Friedensnobelpreis, weil er sein Leben der Verteidigung von Opfern sexueller Gewalt gewidmet habe und »das führende, einigende Symbol des Kampfes zur Beendigung der sexuellen Gewalt in Krieg

Da für die Frauen. Friedensnobelpreisträger Denis Mukwege.

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und bewaffneten Konflikten« sei. Das Regime unter Joseph Kabila aber identifizierte ihn als Gegner. Im Januar wurde Kabila zwar als Präsident der Demokratischen Republik Kongo abgewählt, aber mit Félix Tshisekedi übernahm jemand die Macht, der Kabila hoch achtet. Und so wird Denis Mukwege, wo immer er sich im Land bewegt, wohl weiterhin unter dem Schutz von UN-Soldaten stehen müssen. Denis Mukwege gilt als einer der kompetentesten Ärzte weltweit in der Behandlung von Opfern sexueller Gewalt. Er leitet das Panzi-Hospital in Bukavu im Osten des Kongo und hat Tausende Frauen behandelt, die von Soldaten oder Milizionären vergewaltigt und genital schwer verletzt wurden. Da auch Soldaten und Verbündete der kongolesischen Armee zu den Tätern gehören, steht ihm die Staatsmacht feindlich gegenüber. »Meine Stimme für das Leben« heißt die Autobiografie Mukweges, die nun auf Deutsch vorliegt. Es ist ein Werk, das von Hoffnung geprägt ist und bei dem doch Skepsis bleibt. Hoffnung, weil Mukwege die Herausforderungen seines Lebens meist frohen Mutes angeht; Skepsis, weil die Lage im Kongo kaum Hoffnung verspricht. Zwar liegt die Zeit des »Zweiten Kongokrieges«, an dem zeitweise sieben Nachbarländer beteiligt waren und in dem die sexuelle Gewalt gegen Frauen äußerste Brutalität erreichte, mehr als 20 Jahre zurück. Doch die Grausamkeiten mancher Milizen dauern an – und die Folgen für die Opfer. Zu körperlichen Schmerzen und psychischen Traumata gehört oft auch der gesellschaftliche Ausschluss der vergewaltigten Frauen. Deswegen lautet Mukweges Fazit: »Die Gräueltaten müssen aufhören. Die Frauen müssen sich in ihrer Gemeinschaft wieder sicher fühlen können. (…) Dafür kämpfe ich und setze mein Leben aufs Spiel.« In einem Buch voller Gräuel – Morde, Folter, Vergewaltigungen, Verstümmelungen – bleibt am Ende die Erkenntnis, dass auch jene, die die Folgen dieser Taten lindern wollen, einer grauenhaften Bedrohung ausgesetzt sind. Einen Mordversuch hat Mukwege bereits überlebt, ebenso Maschinengewehr- und Artilleriebeschuss; einem Angriff auf seine erste Arbeitsstelle, das Krankenhaus Lemera (ebenfalls im Ostkongo), entging er nur knapp. Dass er noch lebe, verdanke er Gott, schreibt Mukwege, der seit Jahrzehnten gläubiger Christ ist und in einer evangelischen Gemeinde predigt. Seine Autobiografie ist mehr als eine Aneinanderreihung persönlicher und beruflicher Erfolge und Rückschläge. In den besten Passagen erzählt das Buch nebenher die Geschichte des Kongo und seiner Nachbarstaaten, behandelt Kolonialismus und Rassismus, sieht Gemeinsamkeiten und Unterschiede afrikanischer und europäischer Entwicklung. Schon als Achtjähriger erklärte Mukwege seinem Vater, ein Muganga werden zu wollen, ein Heiler. Sein Vater bestärkte ihn darin. Mukwege beschreibt den Vater als einen Mann, dessen Haltung zur Welt sich in Bescheidenheit und Dankbarkeit ausgedrückt habe. Es scheint, als sei beides auf den Sohn übergegangen, denn diese Eigenschaften prägen den Ton des Erzählers in »Meine Stimme für das Leben«. Denis Mukwege: Meine Stimme für das Leben. Aus dem Französischen von Ulrich Probst und Heide Müller.  Brunnen Verlag, Gießen 2018. 272 Seiten, 22 Euro.

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Analyse der Ausgrenzung

Richtig helfen

So manches, was derzeit aus dem akademischen Bereich der postkolonialen Forschung auf den außeruniversitären Tisch kommt, ist nicht ganz gar und teils gänzlich ungenießbar. Kaum nachvollziehbare Theoreme werden in einer Sprache vorgetragen, die mehr ausschließt als zur Diskussion einlädt. Aus dem Nachlass des 2014 verstorbenen jamaikanisch-britischen Soziologen und Kulturwissenschaftlers Stuart Hall ist nun mit »Das verhängnisvolle Dreieck« ein Werk erschienen, das sich zwar als schwere Kost erweist, aber dennoch die Lektüre lohnt. In diesem Buch überwindet Hall das soziolinguistische Denken seines Studienbereichs und versucht, »Rasse, Ethnie und Nation« analytisch zu fassen. Denn diese Begriffe sind es, die »das verhängnisvolle Dreieck« bilden, in dem gesellschaftliche Hierarchien und mit ihnen Rassismus und Nationalismus entstehen. Wer erweiterte Kenntnisse in politischer Theorie, Philosophie, Sprach- und Kulturwissenschaft mitbringt und sich nicht von Begriffen wie »Signifikanten«, »Signifikaten« oder »Äquivalenzketten« abschrecken lässt, den erwartet ein Buch, das gekonnt darüber aufklärt, wie Ausgrenzung funktioniert und dass sie überwunden werden kann. Halls Hoffnung speist sich sehr pragmatisch aus Millionen Migranten in der Diaspora, die wissen, dass Identität sich ständig verändert und die seit Jahrzehnten »eine Heimat in den Zwischenräumen der Welt« gefunden haben.

»Nur wer um die eigenen Rechte weiß, wird auch dafür eintreten können.« Es ist dieser unscheinbare Satz, der die Kritik von Thomas Gebauer und Ilija Trojanow an Charity-Galas und anderen Formen der »Wohltätigkeit« von Superreichen bündelt und für ein fundamental anderes Verständnis von humanitärer Hilfe plädiert. Die beiden Autoren haben mit »Hilfe? Hilfe!« eine kritische Bestandsaufnahme vorgelegt, die gründlich abrechnet mit Begriffen wie »social business« und »wirkungsorientiertem Spenden«, aber auch mit »Philanthrokapitalisten« wie Bill Gates. All diesen Formen und Akteuren privater und institutionalisierter humanitärer Hilfe stellen Gebauer und Trojanow ein lautes und deutliches »Es geht auch anders« entgegen, zu dem Selbstorganisation, soziale Rechte und eine »Globalisierung von unten« gehören. Gebauer ist seit Jahrzehnten in der humanitären Hilfe aktiv, unter anderem für Medico International, Trojanow hat sich als Journalist und Schriftsteller immer wieder sozialen Themen gewidmet. Ihre Abrechnung mit dem »Hilfsbusiness« fällt kenntnisreich aus, und sie zielen auf nichts Geringeres als eine radikale Veränderung des weltweiten Systems der Hilfe in Krisen und Notlagen. Das Buch setzt einiges an Wissen voraus und enthält leider sehr viele Floskeln. Dennoch finden sich gute Argumente für all jene, die in der humanitären Hilfe die Opfer im Mittelpunkt sehen wollen – und nicht Unternehmer, Berater und Spender.

Stuart Hall: Das verhängnisvolle Dreieck. Aus dem Englischen von Frank Lachmann. Suhrkamp, Berlin 2018. 212 Seiten, 28 Euro.

Thomas Gebauer/Ilija Trojanow: Hilfe? Hilfe! Wege aus der globalen Krise. Fischer, Frankfurt/Main 2018. 256 Seiten, 15 Euro.

Die Rache der Religiösen

Jagd auf Indigene

Maschhad, Iran, im Jahr 2000. Said Hanai, Maurer, Familienvater und Bürger der Stadt, ermordet mindestens 16 Prostituierte. Eine Verbrechensserie, wie sie überall auf der Welt vorkommen könnte? Nicht ganz. Denn Maschhad ist die Hochburg des schiitischen Klerus und Hanai begründet seine Morde damit, er habe die Vorschriften des Korans nur wortgetreu befolgt. Prostituierte seien »sündhaft«, die Strafe dafür sei nun mal der Tod. Das geht selbst den iranischen Mullahs und ihren Richtern zu weit. Hanai wird der Taten überführt, vor Gericht gestellt, zum Tode verurteilt und im Jahr 2002 gehenkt. Es gab Proteste gegen die Hinrichtung, da nicht wenige Bürger Maschhads die Morde guthießen. Der im französischen Exil lebende iranische Cartoonist Mana Neyestani zeichnet in seiner neuen Graphic Novel »Die Spinne von Maschhad« die Geschichte des Falles nach. Eine junge Journalistin spricht mit dem Täter, seiner Familie, Familien von Opfern und dem Richter über Religion, Rachemotive und den Alltag in Maschhad. Dabei entstehen mit präzisem und feinem Strich gezeichnete Bilder, die die Protagonisten vielschichtig und ambivalent porträtieren. Neyestani gewährt zudem einen hintergründigen Einblick in eine Gesellschaft, die sich religiöser Dogmatik längst unterworfen hat – teils freiwillig, teils unter Zwang.

»Ich heiße Daboka. Ich lebe im Bauch des großen Waldes.« Die Sprache, in der Marion Achards jugendliche Protagonistin erzählt, klingt karg und ungewohnt. Und doch entwickelt die kurze Erzählung des Mädchens einen Sog, dem man sich schon nach wenigen Seiten nicht mehr entziehen kann. Zu vereinnahmend ist der Rhythmus, zu schockierend das Schicksal Dabokas, das – inspiriert von einer wahren Begebenheit – den Blick auf die Massaker an indigenen Amazonasvölkern und die Zerstörung des Regenwaldes lenkt. »Der Wald ist grausam stumm. Als wäre die ganze Natur erstarrt, fassungslos, betäubt von der Dummheit der Menschen.« Nur Augenblicke zuvor hat Daboka gemeinsam mit ihrer kleinen Schwester Loca ihre Familie und die anderen Mitglieder ihrer Gemeinschaft tot aufgefunden. Erschossen. Die Mörder, die für eine Firma arbeiten, die mitten im ecuadorianischen Regenwald Erdöl fördert, nehmen die beiden Mädchen mit in ihre »zivilisierte« Welt. Während sich Loca nach und nach an die fremde Umgebung anpasst, wünscht sich Daboka immer sehnlicher in ihre Heimat zurück. Doch obwohl es dem Mädchen am Ende gelingt, mit ihrer Schwester in den Wald zurückzukehren, bleibt die Frage: Sind wir Menschen tatsächlich skrupellos, geldgierig und dumm genug, den Regenwald und seine Bewohner auszulöschen?

Mana Neyestani: Die Spinne von Maschhad.  Aus dem Französischen von Christopher Schuler.  Edition Moderne, Zürich 2018. 164 Seiten, 22 Euro.

Marion Achard: Am Ende des Regenwaldes. Aus dem Französischen von Anna Taube. Magellan, Bamberg 2019. 96 Seiten, 11 Euro. Ab 12 Jahren.

Bücher: Maik Söhler, Marlene Zöhrer BÜCHER

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Das dunkle Paradies

Stimme der Albinos

Auf der Suche nach den ökologischen Grundlagen der Wirtschaft verschlägt es Regisseurin Jasmin Herold nach Fort McMurray im hohen Norden Kanadas. Hier befindet sich eines der größten Ölsandvorkommen der Welt. Das »schwarze Gold« zieht Menschen aus aller Herren Länder an, denn die Förderung beschert allen, die dort arbeiten, ein hohes Einkommen. Die Arbeiter sind stolz auf das, was sie geschafft, oder genauer gesagt, angeschafft haben: ihre Eigenheime und intelligenten Kühlschränke. »I love oil sands« steht auf ihren T-Shirts. Die dunkle Seite des Paradieses: Die Ureinwohner sind schon lange vertrieben, und die Gewinnung des Schweröls aus Teersand setzt lebensgefährliche Gifte frei, die Natur, Tiere und Menschen krank machen. Schallkanonen sollen Vögel davon abhalten, sich auf der Oberfläche eines Sees niederzulassen – denn dann sterben sie. Als Herold sich bei der Recherche in ihren späteren Co-Regisseur Michael Beamish verliebt, wird sie selbst zur Betroffenen. Denn Michael leidet – wie viele andere hier – an Krebs. »Dark Eden« wirft einen konzentrierten Blick auf die Zerstörung der Lebensgrundlagen – von oben sieht das Gelände so tot aus wie ein unbewohnbarer Planet. »Um die Maschine am Laufen zu halten, geht die ganze Welt drauf«, sagt Beamish. Ein intensiver Film über das Paradox, dass der Mensch die Umwelt und sich selbst ruiniert, um ein scheinbar besseres Leben zu führen.

Salif Keita, Malis »goldene Stimme«, verkündet seinen Abschied. Dieses Jahr wird er 70, »Un autre blanc« soll sein letztes Album sein. Zum großen Finale hat er eine illustre Schar afrikanischer Stars um sich versammelt, darunter Angelique Kidjo aus Benin, den Reggaesänger Alpha Blondy aus Cote d’Ivoire und den südafrikanischen Township-Chor Ladysmith Black Mambazo. Kommerziell produziert, schwingt sich Salif Keita auf seinem Alterswerk zu alter Größe auf, besingt die Mutterliebe und seinen Stolz, Afrikaner zu sein, singt gegen den Krieg in Syrien, kritisiert religiöse Führer, die Gott für irdische Zwecke missbrauchen und bedankt sich bei allen, die ihn in den vergangenen 50 Jahren begleitet haben. Gewidmet ist das Album seinem Lebensthema: dem Kampf für die Menschenrechte von Albinos in Afrika. Auch Salif Keita begegnete, vor allem am Anfang seiner Karriere, aufgrund seiner genetisch bedingten Pigmentstörung offener Diskriminierung. In vielen afrikanischen Ländern leben Albinos gefährlich. Vor allem im Südosten Afrikas, in Malawi, Mosambik, Tansania und Simbabwe, behaupten selbsternannte Medizinmänner, Körperteile von Albinos hätten magische Kräfte. Ritualmorde an Albinos sind dort zum Politikum geworden. Aber auch in Mali sorgte 2018 der Fall eines fünfjährigen Mädchens, das entführt und ermordet wurde, für Entsetzen. Ihrem Andenken widmete Salif Keita seine Veröffentlichung.

»Dark Eden«. D 2018. Regie: Jasmin Herold, Michael Beamish. Kinostart: 11. April 2019

Salif Keita: Un autre blanc (naive / believe)

Der Preis der Arbeit

Politische Lauten

Es ist ein Kampf um Grundbedürfnisse und um Würde: Knapp zwei Jahre zuvor hatte der Autoteilezulieferer Perrin mit den 1.100 Angestellten eines Werks in der französischen Provinz ein Abkommen unterzeichnet: Die Arbeiter nahmen Lohnkürzungen in Kauf, dafür sollte die Arbeit für fünf Jahre gesichert sein. Doch jetzt müssen Gewerkschafter Laurent Amédéo und seine Mitstreiter erkennen, dass die Abmachung nichts wert ist: Der deutsche Mutterkonzern drängt auf Schließung des profitablen Werks. Die Arbeiter wollen sich nicht kampflos den Gesetzen des Marktes beugen. In der strukturschwachen Region gibt es keine Arbeit, manchen droht gar Obdachlosigkeit, aus der Politik kommen lediglich schöne Worte. Die Beschäftigten streiken, protestieren vor dem Firmensitz, werden von Ordnungskräften verprügelt, manche gar festgenommen. Arbeitnehmerrechte sind Menschenrechte: Der Spielfilm »En Guerre – Streik« ist eine zweistündige Tour de Force durch einen harten Arbeitskampf. Dabei stellt der Film die Gewerkschafter in den Mittelpunkt und schildert auch, wie sich Belegschaften mitunter gegenseitig fertigmachen. Einigkeit und Solidarität herzustellen, ist für Amédéo beinahe die schwierigste Aufgabe. Dass der Kampf um ein menschenwürdiges Dasein auch in einem entwickelten Industrieland tödlich enden kann, wird mit drastischen Bildern gezeigt. Wenn es einen Film zu den Motiven der »Gelbwesten« gibt, dann dieser.

Das Trio Joubran besteht aus den drei Brüdern Samir, Wissam und Adnan, die aus der Stadt Nazareth im heutigen Israel stammen. Sie sind Sprösslinge einer namhaften Familie von Instrumentenbauern und Musikern und alle drei Virtuosen an der Oud, der arabischen Laute. Seit 2005 sind sie als Trio unterwegs und verbinden ihre arabischen Maqam-Kompositionen mit andalusischen Motiven und jazziger Improvisation. Ihr sechstes Album »The Long March« hat eine deutlich politische Botschaft, auch wenn es ein fast reines Instrumentalalbum ist. Es eröffnet mit einem Gedicht von Mahmoud Darwish, dem 2008 verstorbenen palästinensischen Poeten, dessen Lesungen die Brüder einst musikalisch begleiteten. Das Stück »Carry the Earth« ist vier jungen Cousins gewidmet, die 2014 von einer Rakete getötet wurden, als sie am Strand von Gaza Fußball spielten. Als Background-Sänger tritt Roger Waters auf. Der Titel des Songs bezieht sich auf die Zeilen von Darwish: »Die Toten, die sterben, tragen die Erde, wenn die Reliquien fort sind”. Der Titel des Albums erinnert wohl nicht zufällig an den »Marsch der Rückkehr«, mit dem die Bewohner des Gazastreifens im Jahr 2018 auf ihre verzweifelte Situation aufmerksam machten. Immer wieder protestierten sie am Grenzzaun zu Israel, forderten ein Ende der über zehnjährigen Blockade und eine Rückkehr in die Städte und Dörfer, aus denen ihre Familien einst vertrieben worden waren. Die israelische Armee schlug die Proteste blutig nieder.

»En Guerre – Streik«. F 2018. Regie: Stéphane Brizé. Darsteller: Vincent Lindon, Olivier Lemaire.  Kinostart: 25. April 2019

Le Trio Joubran. The Long March (Cooking Vinyl / Sony Music)

Film: Jürgen Kiontke | Musik: Daniel Bax 62

AMNESTY JOURNAL | 02/2019


Blick zurück in die Zukunft Der kamerunische Musiker Blick Bassy thematisiert auf dem Album »1958« die Folgen des Unabhängigkeitskampfes für sein Land. Von Daniel Bax

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Foto: David Balicki

or mehr als 60 Jahren, im September 1958, wurde der Unabhängigkeitskämpfer Ruben Um Nyobé in Kamerun von französischen Kolonialtruppen erschossen. Um Nboyé gilt als »vergessener Vater des Kamerun« – vergessen, weil sein Name in seiner Heimat noch bis vor kurzem bei Androhung von Gefängnisstrafe in der Öffentlichkeit nicht genannt werden durfte. Auch darum ist er in Europa weit weniger bekannt als andere afrikanische Befreiungsikonen, wie Patrice Lumumba aus der Demokratischen Republik Kongo oder Kwame Nkrumah aus Ghana. Dabei sprach Um Nyobé 1952 als erster Kameruner vor den Vereinten Nationen und forderte ein Ende des britisch-französischen Mandats. Zwei Jahre bevor Kamerun in die Unabhängigkeit entlassen wurde, wurde er ermordet, im Alter von 45 Jahren. An ihn erinnert nun der Songwriter und Sänger Blick Bassy auf seinem neuen Album, das schlicht mit der Jahreszahl 1958 betitelt ist. Darin schlägt der Musiker, der inzwischen in Frankreich lebt, einen Bogen von der Vergangenheit in die heutige Zeit. Blick Bassy startete seine musikalische Laufbahn in der Jazzfusion-Band Macase, die über Kamerun hinaus Bekanntheit erlangte. 2005 siedelte er nach Paris über, um eine Karriere als Solokünstler zu starten. Mit Erfolg: 2009 erschien sein Debüt, mit seinem dritten Album »Akö« gelang ihm der Durchbruch. Dass Apple seinen darauf enthaltenen Song »Kiki« nutzte, um damit eine Werbekampagne für das »iPhone 6« zu begleiten, sorgte für einen zusätzlichen Karriereschub. Seitdem ist Blick Bassy in Frankreich ein Star und auf Konzertbühnen weltweit unterwegs. Nebenbei hat er auch noch einen Roman veröffentlicht, einen Talentwettbewerb ins Leben gerufen, Labels und Produktionsfirmen gegründet und Erklärvideos über das Musikgeschäft ins Netz gestellt, kurz: Er ist ein Multitalent. Blick Bassys Markenzeichen sind sanfte Balladen, in denen Elemente aus Folk und Soul mit traditionellen Rhythmen und dörflichen Traditionen aus Westafrika verschmelzen. Geschmeidig und weich ist seine Stimme, die er schon als Kind im Kirchenchor trainierte, und zart ist auch die Instrumentierung auf »1958«, die von Bassys Gitarrenspiel, Cello, Keyboards und Bläsern getragen wird. Der Song »Mpodol« trägt den Spitznamen von Um Nyobé im Titel: Er bedeutet so viel wie »der, der die Stimme seines Volkes in sich trägt«. »Maqui« erzählt vom Mut der Freiheitskämpfer, die sich gegen die französische Kolonialmacht auflehnten. In »Poche« klagt Blick Bassy Korruption und den Ausverkauf seines Landes an. In »Ngui Yi« kritisiert er Kameruns Jugend, die sich von den Konsumversprechen des Westens blenden lässt. Und im Song »Ngwa«, vorab als Single ausgekoppelt, befragt er die Geister der Ahnen, was aus ihrem Land geworden ist. Im Video wird Bassy, als Stellvertreter seines Kontinents, von einer Horde Ritter gejagt. Der Song will eine Meditation über den Zustand des Kontinents sein. Was wäre gewesen, wenn die Kolonialmächte nicht jeden Widerstand brutal unterdrückt hätten? Wie kann sich Afrika angesichts Europas fortwirkender Übermacht behaupten? Für Bassy ist klar: Nur wer die eigene Geschichte kennt und daraus lernt, kann seine Zukunft gestalten.

Blick Bassy: 1958 (No Format /  Tot ou tard / Indigo) Traditionelle Rhythmen, politische Botschaften. Blick Bassy.

FILM & MUSIK

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MACH MIT: BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt, oder man lässt sie verschwinden. AMNESTY INTERNATIONAL veröffentlicht regelmäßig an dieser Stelle drei Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden.

Foto: privat

Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes.

SÜDSUDAN / KENIA DONG SAMUEL LUAK UND AGGREY EZBON IDRI Dong Samuel Luak, ein bekannter südsudanesischer Anwalt und Menschenrechtler, wurde zuletzt am 23. Januar 2017 in der kenianischen Hauptstadt Nairobi gesehen, als er gerade in einen Bus nach Hause einsteigen wollte. Er kam jedoch nie dort an. Aggrey Ezbon Idri (Foto) wurde zuletzt am 24. Januar 2017 um etwa 8 Uhr morgens im Stadtteil Kilimani von Nairobi gesehen. Dong Samuel Luak und Aggrey Ezbon Idri waren bis zu ihrem »Verschwinden« scharfe Kritiker der südsudanesischen Regierung und äußerten ihre Ansichten auf Facebook. Sowohl die südsudanesischen als auch die kenianischen Behörden bestreiten, die Männer in Haft zu halten oder ihren Aufenthaltsort zu kennen. Amnesty International liegen jedoch Informationen vor, wonach Dong Samuel Luak und Aggrey Ezbon Idri am 25. Januar 2017 in eine Hafteinrichtung des Geheimdienstes NSS in der südsudanesischen Hauptstadt

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Juba gebracht wurden. Zwei Tage später wurden sie an einen anderen Ort gebracht. Ihr derzeitiger Aufenthaltsort ist unbekannt, doch alles deutet darauf hin, dass die kenianischen und südsudanesischen Sicherheitskräfte gemeinsam für das »Verschwinden« der beiden Männer verantwortlich sind. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den kenianischen und südsudanesischen Präsidenten und bitten Sie sie, unverzüglich Informationen über den Verbleib von Dong Samuel Luak und Aggrey Ezbon Idri bekanntzugeben und die Gründe für ihre anhaltende Inhaftierung – falls sie sich in staatlichem Gewahrsam befinden – zu veröffentlichen. Sofern keine Rechtsgrundlage für ihre Inhaftierung besteht, müssen sie umgehend freigelassen werden. Fordern Sie außerdem beide Regierungen auf, dafür zu sorgen, dass die beiden Männer Zugang zu Rechtsbeiständen ihrer Wahl erhalten und ihnen Familienbesuche erlaubt werden. Bitten Sie die kenianische Regierung, eine gründliche, zielführende und unparteiische Untersuchung des Verschwindenlassens der Männer durchzuführen und die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen.

Schreiben Sie in gutem Arabisch, Englisch oder auf Deutsch an: Präsident Salva Kiir Mayardit c/o Botschaft der Republik Südsudan I. E. Frau Beatrice Khamisa Wani Noah Leipziger Platz 8, 10117 Berlin Fax: 030 - 206 44 59 19 E-Mail: info@embassy-southsudan.de (Anrede: Your Excellency / Exzellenz) (Standardbrief: 0,70 €) Präsident der Republik Kenia H. E. Uhuru Kenyatta, Office of the President Harambee Avenue, Nairobi, KENIA Twitter: @UKenyatta (Anrede: Your Excellency / Exzellenz) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,90 €)

Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Kenia S. E. Herrn Joseph Kipng’etich Magutt Markgrafenstraße 63, 10969 Berlin Fax: 030 - 25 92 66 50 E-Mail: office@kenyaembassyberlin.de (Standardbrief: 0,70 €)

AMNESTY JOURNAL | 02/2019


USA VALQUIRIA Im März 2018 flohen die 39-jährige Valquiria und ihr siebenjähriger Sohn Abel (Name geändert) aus Brasilien und baten an der Grenze von Mexiko zu den USA in El Paso, Texas, um Schutz. Valquiria gab an, wiederholt Morddrohungen von Drogenhändler_innen erhalten zu haben, die gedroht hätten, sie und ihren Sohn zu finden und zu töten, egal wohin sie in Brasilien flüchten würden. Am 17. März, nach einer gemeinsam in Haft verbrachten Nacht, trennten die US-Behörden Mutter und Kind ohne Angabe von Gründen. »Sie sagten mir: ›Du hast hier keinerlei Rechte, und du hast kein Recht, bei deinem Sohn zu bleiben‹«, berichtete Valquiria. »In dem Moment bin ich gestorben. Es wäre besser gewesen, wenn ich tot umgefallen wäre, denn ich wusste nicht, wo mein Sohn war, was er gerade

macht. Das ist das schlimmste Gefühl, das eine Mutter haben kann. Wie kann eine Mutter nicht das Recht haben, bei ihrem Sohn zu sein?« Am 27. März bezeichnete eine USAsylbeamtin Valquirias Geschichte als glaubwürdig. Ihr Asylantrag wurde jedoch am 10. September abgelehnt. Sie legte daraufhin – immer noch in Haft und getrennt von Abel – Widerspruch gegen den Bescheid ein. Valquiria befindet sich derzeit in der texanischen Hafteinrichtung »El Paso Processing Center«. Sie hat ihren Sohn im März 2018 das letzte Mal gesehen. Er lebt inzwischen bei seinem Vater in den USA, der ebenfalls einen Asylantrag gestellt hat. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den zuständigen Büroleiter bei der Einwanderungs- und Zollbehörde, in denen Sie ihn auffordern, Valquiria umgehend und bis zur Entscheidung über ihr Rechtsmittel aus humanitären Grün-

Briefentwürfe auf Englisch und Deutsch finden Sie unter www.amnesty.de/briefe. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie sie bitte an: info@amnesty.de

Foto: privat

VEREINIGTE ARABISCHE EMIRATE AHMED MANSOOR Am 31. Dezember 2018 bestätigte die Staatssicherheitskammer des obersten Bundesgerichts in Abu Dhabi die zehnjährige Haftstrafe gegen den Menschenrechtsverteidiger Ahmed Mansoor. Er wurde unter anderem wegen »Beleidigung von Rang und Ansehen der Vereinigten Arabischen Emirate und ihrer Symbole« und »Verbreitung von Falschinformationen, um den Ruf der Vereinigten Arabischen Emirate im Ausland zu schädigen« für schuldig befunden. Die Rechtsmittel von Ahmed Mansoor sind nun ausgeschöpft. Er kann nicht weiter gegen sein Urteil vorgehen. Der Menschenrechtler

BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN

den freizulassen, und ihn bitten, dafür zu sorgen, dass Valquiria und ihr Sohn psychosoziale Betreuung erhalten. Schreiben Sie in gutem Englisch oder auf Deutsch an: Mr. Marc Moore ICE Enforcement & Removal Operations El Paso Field Office 11541 Montana Ave Suite E El Paso, TX, 79936, USA E-Mail: Marc.J.Moore@ice.dhs.gov (Anrede: Dear Mr. Moore / Sehr geehrter Herr Moore) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,90 €)

Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika S. E. Herrn Richard Allen Grenell Pariser Platz 2, 10117 Berlin Fax: 030 - 83 05 10 50 (Standardbrief: 0,70 €)

AMNESTY INTERNATIONAL Zinnowitzer Straße 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0, Fax: 030 - 42 02 48 - 488 E-Mail: info@amnesty.de, www.amnesty.de

befindet sich seit März 2017 als gewaltloser politischer Gefangener in Haft. Amnesty International fordert seine unverzügliche und bedingungslose Freilassung sowie die Aufhebung seines Schuldspruchs und seiner Strafe. Ahmed Mansoor ist Blogger, Dichter und ein bekannter Menschenrechtsverteidiger. 2015 wurde ihm der renommierte Martin-Ennals-Preis für Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger verliehen. Seit 2006 dokumentierte er die Menschenrechtslage in den Vereinigten Arabischen Emiraten und sprach sich in seinem Blog, in den sozialen Medien und in Interviews mit internationalen Medien öffentlich für die Durchsetzung internationaler Menschenrechtsstandards aus. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an das Staatsoberhaupt der Vereinigten Arabischen Emirate, in denen Sie darum bitten, den Schuldspruch sowie die gegen Ahmed Mansoor verhängten Strafen aufzuheben und den Menschenrechtler umgehend und bedingungslos

freizulassen, da er sich nur deshalb in Haft befindet, weil er sein Recht auf freie Meinungsäußerung wahrgenommen hat. Schreiben Sie in gutem Arabisch, Englisch oder auf Deutsch an: His Highness Sheikh Khalifa bin Zayed Al Nahyan Ministry of Presidential Affairs Corniche Road, Abu Dhabi POB 280, Abu Dhabi VEREINIGTE ARABISCHE EMIRATE E-Mail: ihtimam@mopa.ae oder webmaster@mopa.ae (Anrede: Your Highness / Eure Hoheit) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,90 €)

Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Vereinigten Arabischen Emirate S. E. Herrn Ali Abdulla Mohamed Saeed Alahmed Hiroshimastraße 18–20, 10785 Berlin Fax: 030 - 51 65 19 00 E-Mail: BerlinEmb.Amo@mofaic.gov.ae (Standardbrief: 0,70 €)

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AKTIV FÜR AMNESTY

versuchen, einen Vorteil für sich herauszuschlagen, ist es sehr schwierig, sich auf gemeinsame Werte zu einigen. Das Gute ist aber, dass es in Kenia nicht nur Korruption gibt, sondern auch viele Whistleblower. Zurzeit sind 8.000 Fälle vor Gericht, in denen es um Korruption und wirtschaftliche Straftaten geht.

Foto: Sarah Eick

Lassen sich die Interessen von Wirtschaft und Menschenrechtlern vereinen? Historisch sind sie ja eher Gegenspieler. Doch als wir im Sommer 2018 eine Reihe von Führungskräften aus den Bereichen Finanzen, Immobilien und Technologie fragten, wo sie Übereinstimmung sehen, antworteten sie ohne zu zögern: Unternehmen brauchen gebildete, zufriedene Menschen, um ihren Geschäften nachgehen zu können. Außerdem brauchen sie integre Menschen, die ihren Arbeitgeber nicht bei der erstbesten Gelegenheit bestehlen. Kenianische Firmen verlassen sich darauf, dass Menschenrechtsorganisationen moralische Werte verteidigen. An vielen Punkten sind wir uns also einig. Wenn Unternehmen aber ihr Personal nicht ausreichend bezahlen und schlechten Arbeitsbedingungen aussetzen, dürfen wir keine Kompromisse eingehen.

Fördert Außergewöhnliches. Irũngũ Hughton im Januar 2019 in Berlin.

»MENSCHENRECHTE SIND DAS BESTE MITTEL GEGEN TERRORISMUS« Irũngũ Houghton ist seit 2018 Direktor von Amnesty International in Kenia. Der 53-jährige Historiker arbeitete zuvor für die Society for International Development und die Entwicklungshilfeorganisation oxfam. Interview: Hannah El-Hitami

2018 landete Kenia auf dem Korruptionsindex von Transparency International auf Platz 144 von 180 Staaten. Was bedeutet das für die Arbeit von Amnesty in Kenia? Korruption ist eine der Hauptursachen für Menschenrechtsverletzungen. Vor allem sozioökonomische Rechte, z. B. auf Bildung, Gesundheit oder Wasser, sind in Gefahr, weil Gelder von öffentlichen Institutionen unkontrolliert in private Hände gelangen. Außerdem hat Korruption Auswirkungen auf die Geisteshaltung von Menschen: Wenn in einer Gesellschaft alle ständig

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Einer der Hauptarbeitsbereiche von Amnesty in Kenia ist die Menschenrechtsbildung. Wir haben bereits in dreißig Schulen Menschenrechts-AGs aufgebaut. Wir versuchen, einen monatlichen Kalender aufzustellen, der jungen Menschen das ganze Jahr über ermöglicht, etwas über Menschenrechte zu lernen, zum Beispiel durch Essay-Wettbewerbe oder kreative Festivals. Sie sollen aber auch direkt in ihren Schulen aktiv werden. Kürzlich habe ich eine Schule besucht, in der sich Jugendliche dafür einsetzten, dass die Angestellten der Kantine Arbeitskleidung bekommen, anstatt in ihrer privaten Kleidung das Essen zubereiten zu müssen. In Kenia kommt es immer wieder zu Anschlägen der Al-ShabaabMiliz. Die Islamisten griffen unter anderem 2015 die Hochschule von Garissa an und im Januar ein Luxushotel in Nairobi. Wie wirkt sich das auf die menschenrechtliche Situation im Land aus? Terroristische Angriffe zerstören immer wieder das Recht auf Versammlungsfreiheit, Meinungsfreiheit und Bildung. Doch leider schränkt die Regierung als Reaktion darauf Verfassungsrechte ein. Wir hingegen sehen die Menschenrechte und die Verfassung als bestes Mittel gegen den Terrorismus. So betrachten wir z. B. den Plan der Regierung, eine DNA-Datenbank anzulegen und mit GPS-Daten zu verknüpfen, mit großer Sorge. Gibt es dennoch Grund zu optimismus? Ja, denn nach jeder außergerichtlichen Hinrichtung gibt es Menschen, die dagegen protestieren und Gerechtigkeit einfordern. Jedes Zuhause, das von den Behörden rechtswidrig zerstört wurde, hat Menschen veranlasst, es wieder aufzubauen und vor Gericht zu ziehen. Ich sage den Schülerinnen und Schülern immer, dass selbst die größten Menschenrechtsikonen ganz gewöhnliche Menschen waren. Nur die Umstände brachten sie dazu, etwas Außergewöhnliches zu tun. Unsere Aufgabe als Amnesty ist es, ihnen dafür das Werkzeug an die Hand zu geben. Mehr über die Arbeit von Amnesty in Kenia erfahren Sie unter www.amnestykenya.org

AMNESTY JOURNAL | 02/2019


Mehr als 1.500 Gäste – und viele Gewinner, darunter die deutsche Design-Legende Peter Schmidt, der für sein Lebenswerk ausgezeichnet wurde: Im Februar fand in Frankfurt am Main die Verleihung des German Design Award statt. Der Preis des Rats für Formgebung zählt zu den anerkanntesten Design-Wettbewerben weltweit. Allein in diesem Jahr gab es in den Bereichen Produkt-und Kommunikationsdesign 5.400 Einreichungen aus 63 Ländern. In 55 Kategorien vergab der 1953 gegründete Rat 50 Gold-Auszeichnungen. Gewinner in der Sparte der Kunden- und Mitgliederzeitschriften (Excellent Communications Design Editorial), für die auch das Amnesty Journal nominiert war, wurde der Fünfjahresbericht »Anstifter« der Braunschweigischen Stiftung, die sich für bürgerschaftliches Engagement im Braunschweigischen Land einsetzt. Das Amnesty Journal wurde in Frankfurt mit einer besonderen Erwähnung ausgezeichnet. Was die Juroren überzeugte, war »die Mischung aus plakativen Bildern und Illustrationen«, die für »ein hohes Maß an Aufmerksamkeit« sorge. Das sei »eine wichtige Voraussetzung, um bestimmte Themen überhaupt erst bewusst zu machen«. Zu den Mitbewerbern in der Sparte der Kunden- und Mitgliederzeitschriften zählten unter anderem die Magazine von Audi, Porsche und Edeka. »Die jährlichen Preisträger stehen nicht nur beispielhaft für den wirtschaftlichen und kulturellen Wert herausragender Gestaltung, sondern bieten auch Orientierung und repräsentieren aktuelle Themen und Gestaltungsrichtungen«, sagte der Hauptgeschäftsführer des Rats für Formgebung, Andrej Kupetz, bei der Preisverleihung in Frankfurt.

HER MIT DEM HEFT

Sie haben das Amnesty Journal zufällig in die Hände bekommen und Lust auf weitere Ausgaben? Das Journal landet alle zwei Monate bei all jenen im Briefkasten, die die Arbeit von Amnesty International mit mindestens 5 Euro pro Monat oder als Mitglied unterstützen. Mehr Infos unter: www.amnesty.de/ foerdererwerden und www.amnesty.de/mitglied-werden

Foto: Amnesty

PLAKATIVE BILDER ÜBERZEUGEN JURY

Gestalten und schreiben. Heiko von Schrenk und Markus Bickel.

AKTIV FÜR AMNESTY

Mitglieder von Amnesty International versuchen auf vielfältige Art und Weise, Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme zu geben. Dazu zählen Aktionen und Veranstaltungen in vielen deutschen Städten. Wenn Sie mehr darüber erfahren oder selbst aktiv werden wollen: http://blog.amnesty.de oder www.amnesty.de/kalender

IMPRESSUM Amnesty International Deutschland e.V. Zinnowitzer Str. 8 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 E-Mail: info@amnesty.de Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redak tion Amnesty Journal Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin E-Mail: journal@amnesty.de  Adressänderungen bitte an:  info@amnesty.de Redaktion: Markus Bickel (V.i.S.d.P.), Jessica Böhner, Lea De Gregorio,   Anton Landgraf,  Pascal Schlößer

AKTIV FÜR AMNESTY

Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit   lbrecht, Dirk Auer, Jamil Balga, Daniel A Bax, Markus N. Beeko, Clemens Bomsdorf, Michael Dopichaj, Hannah El-Hitami, Oliver Grajewski, Jürgen Kiontke,  Sabine Küper-Büsch, Bartholomäus von Laffert, Anton Landgraf, Felix Lill, Gabriele Mittag, Wera Reusch, Andrzej  Rybak, Uta von Schrenk, Maik Söhler, Wolf-Dieter Vogel, Franziska Vilmar, Ute Weinmann, Benjamin Winter, Marlene Zöhrer Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck und Verlag: Hofmann Druck, Nürnberg GmbH & Co. KG

Bankverbindung: Amnesty International Bank für Sozialwirtschaft  IBAN: DE23 3702 0500 0008 0901 00 BIC: BFS WDE 33XXX  (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00) Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und  erscheint sechs Mal im Jahr.  Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.

und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, für die  Verbreitung im Internet oder für Vervielfältigungen auf CD-Rom.

ISSN: 2199-4587

Für  unverlangt eingesandte Artikel oder Fotos übernimmt die Redaktion keine Verantwortung. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder. Die  Urheberrechte für Artikel

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Wana Limar für Amnesty International

DISKRIMINIERUNG IST SEIT 70 JAHREN VERBOTEN.

ABER UNGLEICHBEHANDLUNG HAT SYSTEM. Foto: Heiko Richard

JETZT UNSERE MENSCHENRECHTE SCHÜTZEN AUF AMNESTY.DE


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