Amnesty Journal Ausgabe April/Mai 2018

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das MagaZin fÜr die MensChenreChte

aMnesty journaL es kann jeden treffen Leben in Ägypten unter abdeL fattah aL-sisi

vorbereitet sein peter steudtner über resilienz und repression

tatort ManiLa dutertes drogenkrieg spaltet die philippinen

aLLes nur gekLaut deutsche Museen wehren sich gegen rückgaben

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2018 apriL/ Mai


INHALT

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titeL: Ägypten unter sisi Nadeem-Zentrum: Direkt aus dem Kühlschrank

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Streubomben: Schmutziger Krieg auf dem Sinai

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Abdel Fattah al-Sisi: Der Superkandidat

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Deutsche Ägyptenpolitik: Kuschelkurs mit Kairo

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Akademische Unfreiheit: Belagerte Hochschulen

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Frauenrechte: »Auf der Straße mache ich mich unsichtbar« 24 Fotoreportage: Freiheit ist ein schönes Ding

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poLitik & geseLLsChaft Philippinen: Der Tote trägt ein rotes Hemd

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Vietnam: Keine Fotos, bitte

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Pakistan I: Verschleppt in Karatschi

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Pakistan II: »Jeder weiß, wer die Mörder sind«

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Türkei I: Im Zweifel für den Ankläger

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Peter Steudtner und Magdalena Freudenschuss: »Solidarität lässt sich nicht einsperren«

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Türkei II: Schulen ohne Syrer

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Uganda I: Griff ins Leere

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Uganda II: Von Liebe kein Wort

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Unbeugsam. Die Gründerinnen des ägyptischen Nadeem-Zentrums für die Opfer von Gewalt und Folter werden im April mit dem AmnestyMenschenrechtspreis ausgezeichnet.

»Auf der Straße mache ich mich unsichtbar.« Kairo gilt für Frauen als gefährlichste Millionenstadt der Welt, fast jede Ägypterin ist schon sexuell belästigt worden. Ein Gespräch mit der Theatermacherin und Autorin Nora Amin.

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kuLtur Koloniale Raubkunst: Alles nur geklaut

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Amnesty-Filmpreis zur Berlinale: Landen und bleiben

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Ausstellung »Rassismus«: Die Entdeckung des Vorurteils

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Ägypten: Die Puppen sprechen lassen

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#MeToo-Debatte: Die Übergriffe der Anderen

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China: Die ganze Welt kein Lied

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DR Kongo: Körper, keine Waffen

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Von Liebe kein Wort. Eine Million Flüchtlinge aus dem Südsudan bauen sich in Uganda ein neues Leben auf. Die Schwachen und Alten können dabei nur auf den Schutz einer neuen Gemeinschaft hoffen. So wie Jemima Poni, 70 Jahre, und Joel Roba, 71.

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rubriken Panorama 04 Einsatz mit Erfolg 06 Markus N. Beeko über Deutschland und Ägypten 07 Spotlight: Kolumbien – Der Krieg schläft nur 08 Interview: Paula Gaviria 09 Porträt: Soraya Gutiérrez Argüello 62 Dranbleiben: Heckler & Koch, El Salvador, Indien 63 Rezensionen: Bücher 77 Rezensionen: Film & Musik 78 Briefe gegen das Vergessen 80 Aktiv für Amnesty 82 Impressum 83

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ner Hygiene-Museum Die Entdeckung des Vorurteils. Das Dresd smus auseinander. Rassi von g ehun setzt sich mit der Entst Das scheint 2018 noch immer nötig.

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brot, freiheit …

Der Superkandidat. Gehirnwäsche wie in George Orwells Roman »1984« prägt die Medien Ägyptens unter Präsident Abdel Fattah al-Sisi, schreibt der ägyptische Talkshow-Star Bassem Youssef.

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Der Tote trägt ein rotes Hemd. Präsident Rodrigo Duterte hat die Philippinen radikal verändert. Der Internationale Strafgerichtshof ermittelt nun wegen des Einsatzes von Todesschwadronen im Drogenkrieg.

Alles nur geklaut. Tausende aus den ehemals deutschen Kolonien entwendete Kulturobjekte und Gebeine lagern noch in deutschen Museen. Die Politik wehrt sich gegen Rückgaben.

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Titelfoto: Einsatz der ägyptischen Polizei bei einem Fußballspiel in Alexandria am 9. Juli 2017. Foto: Amr Abdallah Dalsh / Reuters Fotos oben: Dana Smillie  |  Mahmoud Khaled / AFP / Getty Images  |  Ferenc und Bast Carlo Gabuco  |  Klaus Petrus  |  akg-images / pa  |  EHRC / Ben Nott Foto Editorial: Sarah Eick / Amnesty

inhaLt

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editoriaL

… und soziale Gerechtigkeit forderten die Demonstranten vom Tahrirplatz Anfang 2011. Ein Aufbruch, der bis heute nachhallt: Zwei ägyptische Präsidenten sind seitdem gestürzt worden, und keiner weiß, wer der nächste sein wird. Denn so fest der herrschende auch im Sattel zu sitzen scheint, so sehr hängt seine Macht doch vom Stillhalten der Bevölkerung ab. Die wächst Jahr für Jahr gewaltig: Hundert Millionen Menschen leben inzwischen in Ägypten, die meisten in Armut entlang des fruchtbaren schmalen Streifens am Nil. Dass das Regime Präsident Abdel Fattah al-Sisis nicht nur Oppositionelle mit harscher Repression in Schach hält, können Sie in unserer Titelgeschichte lesen. Darin porträtieren wir die Macherinnen des Nadeem-Zentrums für die Rehabilitierung von Opfern von Gewalt und Folter in Kairo. Diese widersetzen sich den staatlichen Schikanen und helfen jedem, der sich an sie wendet. Für ihr Engagement zeichnet Amnesty International Deutschland die aufrechten Ärztinnen und Psychiaterinnen im April mit dem Menschenrechtspreis 2018 aus. Ihr Fazit: Die Gewalt des Sicherheitsapparats kann jeden treffen – einfache Bürger ebenso wie Dissidenten. Über Ägyptens starke Frauen spricht in diesem Heft auch die Theatermacherin Nora Amin, die den revolutionären Geist nach dem Sturz Hosni Mubaraks in Performances und Straßentheateraufführungen weitertrug. Bebildert haben wir das Gespräch mit Auszügen aus der Graphic Novel »Stinkefinger« – zumindest gestalterisch ein Lichtblick in düsteren Zeiten. Und auch der satirische Blick des einst von Millionen Ägyptern bewunderten TalkshowModerators Bassem Youssef lädt zum Lachen ein. »Es heißt ja, dass die Anzahl und Größe der Fotos eines Führers umgekehrt proportional sind zur Freiheit eines Landes«, schreibt er treffend aus dem Exil in den USA. Dort lebt er, weil er unter Sisi als Staatsfeind gilt und nicht mehr frei arbeiten kann. Viele der Aufständischen vom Tahrirplatz haben, wie Nora Amin und Bassem Youssef, mittlerweile die Flucht aus Ägypten ergriffen – wenn sie es sich denn leisten konnten und nicht vorher im Gefängnis gelandet sind. Ihr Schlachtruf von 2011 ist heute berechtigter denn je: Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit! Markus Bickel ist Verantwortlicher Redakteur  des  Amnesty Journals.

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PANORAMA

Foto: Bassam Khabieh / Reuters

syrien: arMee vor einnahMe ost-ghoutas

Die syrische Armee hat ihre Offensive gegen Vororte östlich von Damaskus ausgeweitet. Mithilfe russischer Kampfjets nahm sie im März weite Teile des lange von Regimegegnern gehaltenen Gebiets Ost-Ghouta ein. Nach Angaben der Organisation Ärzte ohne Grenzen sollen bei dem Vormarsch seit Februar mehr als tausend Menschen getötet worden sein. In der seit den frühen Jahren des Aufstands gegen Baschar al-Assad belagerten Enklave leben rund 400.000 Menschen. In Städten wie Duma (Foto) fehlt es an Nahrung, Trinkwasser, Medikamenten und Strom.

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saudi-arabien: soZiaLe freiheiten, poLitisChe fesseLn

Kronprinz Mohammed bin Salman öffnet das 32-Millionen-Einwohner-Land weiter: Im März gab das Kulturministerium die Lizenzbestimmungen für die Eröffnung von Kinos bekannt. Im Januar durften Frauen erstmals ein Fußballstadion besuchen; ab Juni sollen sie Auto fahren dürfen. Fahrbahnkunststücke wie in Tabuk (Foto) sind unter jungen Saudis populär. Viele politische Gefangene aber bleiben in Haft. Im Januar wurden die Gründer der Union für Menschenrechte, Mohammed al-Oteibi und Abdullah al-Attawi, zu langen Haftstrafen verurteilt. Foto: Mohamed Al Hwaity / Reuters

panoraMa

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EINSATZ MIT ERFOLG

usa Nur Stunden vor Thomas Whitakers geplanter Hinrichtung am 22. Februar hat der Gouverneur des US-Bundesstaats Texas, Greg Abbott, das Todesurteil in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt. Whitaker hatte 2003 versucht, seine Eltern und Brüder ermorden zu lassen. Der Vater und ein Bruder überlebten die Schüsse des angeheuerten Mörders Christopher Brashear, der 2007 zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Sie sprachen sich gegen das Todesurteil für Thomas Whitaker aus, was einer der Gründe für die Umwandlung war.    í¢±

tÃœrkei Der deutsch-türkische Journalist  Deniz Yücel ist am 16. Februar nach einem Jahr Haft aus dem Istanbuler Silivri-Gefängnis entlassen worden. Am Tag seiner Freilassung hatte die Istanbuler Staatsanwaltschaft erstmals eine Anklageschrift vorgelegt, in der sie bis zu 18 Jahre Haft wegen »Propaganda für eine Terrororganisation«â€‚und »Aufstachelung des Volkes zu Hass und Feindseligkeit«â€‚forderte. AnschlieÃ&#x;end wurde Yücel aus der Untersuchungshaft entlassen und verlieÃ&#x; noch am  selben Tag die Türkei.    í¢²

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veneZueLa Der gewaltlose politische Gefangene Villca Fernández erhält endlich die zwingend notwendige medizinische Versorgung, die ihm seit Juni 2017 verwehrt wurde. Ende Januar brachten Mitarbeiter des venezolanischen Geheimdienstes den Aktivisten und  Studentenführer in ein Militärkrankenhaus in Caracas, wo er wegen einer Reihe gesundheitlicher Probleme, darunter Bluthochdruck und Taubheit im Gesicht, behandelt wurde. Seitdem wurde er mehrmals im Krankenhaus  behandelt. Fernández ist seit Anfang 2016 wegen eines Twitter-Posts inhaftiert.

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Äthiopien Die Regierung in Addis Abeba hat im Februar 746 Häftlinge begnadigt und freigelassen. Einer von ihnen ist der gewaltlose politische Gefangene Eskinder Nega. Der Journalist war 2011 festgenommen worden, weil er Artikel veröffentlicht hatte, in denen er den Schutz der Meinungs- und Vereinigungsfreiheit forderte. Er wurde auf der Grundlage des Antiterrorgesetzes angeklagt und zu einer 18-jährigen Haftstrafe verurteilt. Auch seine ebenfalls als Journalistin tätige Frau Serkalem Fasil wurde schon mehrfach inhaftiert.

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kaMbodsCha Hun Vannak und Doem Kundy wurden im Februar nach fünf Monaten Haft aus dem Gefängnis der Provinz Koh Kong entlassen. Die beiden sind Mitglieder der Nicht regierungsorganisation Mother Nature Cambodia. Im September 2017 waren sie wegen ihres friedlichen Engagements für den Umweltschutz festgenommen worden. Anfang  dieses Jahres wurden sie zu je einem Jahr Haft wegen »Anstiftung zu einer Straftat«â€‚und  »Verletzung der Privatsphäre«â€‚verurteilt. 

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Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen an den ÂťUrgent ActionsÂŤ, den ÂťBriefen gegen das VergessenÂŤ und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz Folter verhindert, die Freilassung Gefangener bewirkt und Menschen vor unfairen Prozessen schĂźtzt, zeigt unsere Weltkarte. Siehe auch: www.amnesty.de/erfolge

einsatZ Mit erfoLg

Markus n. beeko Ăœber

Foto: Bernd Hartung / Amnesty

iran Das Todesurteil von Saman Naseem ist endgĂźltig aufgehoben worden. Er war 2011 im Alter von 17 Jahren inhaftiert worden und entging mehrere Male nur knapp einer Hinrichtung wegen Blasphemie. Ende Januar  erhielt er im Oroumieh-Gefängnis im Nordwesten des Irans die Bestätigung, dass er stattdessen eine Haftstrafe von fĂźnf Jahren verbĂźĂ&#x;en muss. Sein Anwalt geht davon aus, dass er bald freigelassen werden sollte, da er bereits länger als fĂźnf Jahre inhaftiert ist. 

deutsChLand und Ă„gypten FĂźnf Jahre sind seit der MachtĂźbernahme des damaligen Armeechefs Abdel Fattah al-Sisi vergangen. Der Sicherheitsapparat des heutigen Präsidenten hat das Land im WĂźrgegriff, Zehntausende politische Gefangene sitzen in Haft. Täglich verschwinden Menschen, es kommt zu auĂ&#x;ergerichtlichen Hinrichtungen. Folter und Misshandlungen sind an der Tagesordnung. Der UN-Ausschuss gegen Folter kam im Juni 2017 zu dem Schluss, dass Folter in Ă„gypten Âťsystematische PraxisÂŤ sei. Doch die Regierung leugnet das: Die einzige Spezialklinik des Landes fĂźr FolterĂźberlebende wurde von den BehĂśrden geschlossen, die GrĂźnderinnen erhielten Ausreiseverbot – Amnesty International in Deutschland zeichnet die mutigen Frauen des Nadeem-Zentrums im April mit dem Menschenrechtspreis aus. Das ist die Realität in Ă„gypten heute und zu der gehĂśrt, dass die Bundesregierung eine Kooperationspolitik mit diesem Folterstaat betreibt. Und damit eine Politik, die mit der FĂśrderung von weltweiter Stabilität und der Stabilisierung der internationalen Ordnung offensichtlich wenig zu tun hat. Doch die Bundesregierung versucht, den Beziehungen zu Ă„gypten einen normalen Anstrich zu verleihen. Ob beim Besuch der Bundeskanzlerin in Kairo oder bei der G20-Konferenz zur Afrika-Partnerschaft 2017 in Berlin – es dominierten die Themen wirtschaftliche Zusammenarbeit, Terrorismusbekämpfung und Migrationskontrolle. Um Rechtsstaatlichkeit, den Schutz vor Menschenrechtsverletzungen sowie vĂślkerrechtliche Verpflichtungen ging es, wenn Ăźberhaupt, nur am Rande. Die Regierung in Kairo kann sich so in ihrem autoritären Kurs bestätigt fĂźhlen. So drohen Vertretern von Organisationen, die ohne Genehmigung Rechercheergebnisse verĂśffentlichen, durch ein neues NGO-Gesetz fĂźnf Jahre Gefängnis. Das mit Ă„gypten vereinbarte Zusatzprotokoll zum Kulturabkommen, das die Arbeit der deutschen politischen Stiftungen regelt, legitimiert die gegen die Zivilgesellschaft gerichtete Politik. Und das Sicherheitsabkommen sichert dem fĂźr Menschenrechtsverletzungen verantwortlichen Sicherheitsapparat UnterstĂźtzung zu. Ein derartiger Kuschelkurs mit der ägyptischen Regierung ist nur durch auĂ&#x;enpolitische Hilflosigkeit oder die zynische Inkaufnahme von Menschenrechtsverletzungen und damit einer weiteren Destabilisierung der internationalen Ordnung zu erklären. Beides sollte nicht die Grundlage der Politik der Bundesrepublik sein – nicht in Zeiten, in denen Trump, Putin & Co. versuchen, die internationale Ordnung zu schwächen; nicht in Zeiten, in denen ErdoÄ&#x;an oder Modi dieses Vakuum nutzen, um eine Politik der Ausgrenzung und Repression entgegen allen internationalen Normen durchzusetzen. Wer sich wie Deutschland um einen Sitz im UN-Sicherheitsrat bewirbt, muss klarstellen, auf wessen Seite er steht – auf der der internationalen Ordnung und der Menschenrechte oder auf der derer, die fĂźr schwerste Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind und sich vor nationalen und internationalen Gerichten verantworten mĂźssten. Markus N. Beeko ist Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion.

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SPOTLIGHT

Foto: Mads Nissen / Politiken / laif

KOLUMBIEN: der krieg sChLÄft nur Trügerischer Frieden. FARC-Kämpfer in Silver Vidal Mora, Caracol, April 2017.

Ende Mai wird in Kolumbien ein neuer Präsident gewählt. Friedensnobelpreisträger Juan Manuel Santos, der 2016 den Friedensvertrag mit der FARC-Guerilla ausgehandelt hatte, tritt nicht wieder an. Dem Kandidaten der nach ihrer Umwandlung in die Partei Fuerza Alternativa Revolucionaria del Común (Alternative revolutionäre Kraft des Volkes), FARC, werden kaum Chancen ausgerechnet. Bei den Parlamentswahlen im März erhielt sie weniger als ein Prozent. Aus dem Regierungslager tritt Humberto de la Calle an, der Chefunterhändler des Friedensvertrags. Bei den gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften, linken Rebellen und rechten Paramilitärs kamen in Kolumbien seit Mitte der 1960er Jahre mehr als 220.000 Menschen ums Leben.

»Unsere Nachforschungen bestätigen, dass die Morde nach einem klaren Muster verübt werden.« WILLIAM SPINDLER, UNHCR

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Trotz der Unterzeichnung des Abkommens Ende 2016 hält die Gewalt in Kolumbien an. In einigen Gebieten kam es seither immer wieder zu Kämpfen zwischen Angehörigen der ELN-Guerilla (Ejército de Liberación Nacional), paramilitärischen Gruppen und Sicherheitskräften, die versuchten, das nach der Demobilisierung der FARC-Kämpfer entstandene Machtvakuum zu füllen. Opfer der Gewalt sind vor allem indigene und afrokolumbianische Gemeinden sowie Menschenrechtsverteidiger, Umweltschützer und Personen, die sich für das Friedensabkommen einsetzten. Die Zivilbevölkerung fühlt sich insbesondere auf dem Land von der Regierung allein gelassen. Auch viele ehemalige FARCKämpfer sind frustriert über den schlep-

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penden Fortschritt des Friedensprozesses. Im November 2017 sagte Jean Arnault, der Leiter der UN-Mission zur Überwachung des Friedensvertrags in Kolumbien, dass sich nur noch 45 Prozent der knapp 8.000 FARC-Rebellen in den 26 Demobilisierungszonen aufhielten. Dort hatten sie sich Anfang 2017 niedergelassen, um ihre Waffen abzugeben und sich auf ein ziviles Leben vorzubereiten. Wegen fehlender Zukunftsperspektiven kehrten seitdem viele in die einstigen Kampfgebiete zurück, unter anderem, um sich den rund 400 zurückgebliebenen FARC-Dissidenten anzuschließen. Diese waren nach dem Friedensschluss im Dschungel geblieben und hatten ihre Dienste kriminellen Organisationen angeboten.

MensChenreChtsverteidiger WURDEN 2017 GETÖTET. ZAHLREICHE MORDE WURDEN PARAMILITÄRISCHEN GRUPPEN ZUGESCHRIEBEN.

Quelle: Amnesty

waffen HABEN DIE FARC-KÄMPFER BIS JUNI 2017 ABGEGEBEN. IHR ARSENAL UMFASSTE EINST 14.000 gewehre und pistoLen sowie 6.000 weitere waffen WIE GRANATWERFER UND MÖRSER.

Quelle: UN

aMnesty journaL | 04-05/2018


pauLa gaviria

»frieden ist etwas persönLiChes« Foto: Hannah El-Hitami

Auch wenn die FARC-Guerilla 2017 ihre Waffen abgegeben hat, stockt der Friedensprozess in Kolumbien. Die Reintegration der einstigen Kämpfer zieht sich in die Länge. Paula Gaviria ist Menschenrechtsbeauftragte im Präsidialamt von Staatsoberhaupt Juan Manuel Santos. Interview: Hannah El-Hitami und Matthias Schreiber

Ist der Friedensprozess gescheitert? Einiges hätte besser laufen können, aber wir sind auf einem guten Weg. Wir haben den politischen Konflikt beendet, die Waffen aus dem Verkehr gezogen und Kindersoldaten befreit. Neue Instrumente für die Übergangsjustiz wurden geschaffen, auch wenn sie noch nicht hundertprozentig funktionieren. Was muss die Regierung noch leisten? Für die Glaubwürdigkeit des Prozesses ist es sehr wichtig, dass wir die entwaffneten Kämpfer resozialisieren. Sie dachten, sie könnten in den sogenannten Übergangszonen nach Unterzeichnung des Friedensabkommens direkt neue Projekte beginnen. Das muss einfach schneller gehen als bisher, damit sie nicht das Vertrauen verlieren.

besteht jedoch darin, dass die Menschen die historische Bedeutung der Wahl erkennen. Wie schafft man es, dass die Menschen sich mit dem Friedensprozess identifizieren? Durch intensive Medienarbeit und öffentliche Debatten, die den Opfern eine Stimme geben. Außerdem muss ein Gesetz verabschiedet werden, das Bewohnern der am meisten vom Konflikt betroffenen Regionen eine besondere Vertretung im Parlament verschafft.

Warum dauert es so lange? Wir haben in Kolumbien eine große Ehrfurcht vor dem Gesetz. Alles muss auf legalem Wege erfolgen. Darum liegen sehr viele Entscheidungen beim Kongress, und das dauert eben. Leider findet der Prozess dadurch auf einer politischen und juristischen Ebene statt, auf der Bürgerinnen und Bürger nicht mitreden können. Dabei sollten gerade sie den Frieden als ihr persönliches Anliegen begreifen. Hinzu kommt, dass wir uns inmitten eines Wahlkampfes befinden, in dem der Friedensprozess politisch instrumentalisiert wird.

Mehr als 100 Menschenrechtsverteidiger wurden 2017 ermordet. Wie will die Regierung künftig die Zivilgesellschaft schützen? Für den Präsidenten ist der Schutz dieser Menschen ein wichtiges Anliegen. Dafür wurden eigens eine Kommission, eine neue Polizeieinheit und eine Spezialeinheit geschaffen, die bei der Staatsanwaltschaft angesiedelt ist. Statistisch ist bereits erkennbar, dass Morde an Menschenrechtsverteidigern schneller aufgeklärt werden als andere. In der Hälfte der 111 Fälle, die seit November 2016 bei der Staatsanwaltschaft liegen, gab es Fortschritte, 103 Personen wurden festgenommen. Natürlich ist auch das nicht perfekt, aber viel effektiver als die bisherige Arbeit der Staatsanwaltschaft. Wir müssen deutlich machen, dass Täter zur Rechenschaft gezogen werden.

Welche Bedeutung hat die Präsidentenwahl im Mai? Sie ist wie eine zweite Volksabstimmung über den Friedensvertrag. Wir hoffen zwar, dass die nächste Regierung sich ebenfalls für den Friedensprozess engagieren wird, aber besser ist es, so viel wie möglich vor der Wahl zu erledigen. Gesetze, die bis dahin nicht vom Parlament verabschiedet wurden, wird der Präsident per Dekret erlassen. Die größte Herausforderung

Wie erklären sie sich die anhaltende Gewalt? Die FARC war in vielen Regionen in den Drogenhandel involviert. Im Zuge des Friedensvertrages sind die Kämpfer aus diesem Geschäft ausgestiegen und haben ihre Waffen abgegeben. Dadurch haben andere Akteure ihren Platz eingenommen und bedrohen in einigen Fällen Menschen, die den Drogenanbau abschaffen wollen.

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TITEL

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Ägypten unter Sisi

Die Revolution auf dem Tahrirplatz begann 2011 am Tag der Polizei. Dankbarkeit gegenüber den Beamten empfinden aber längst nicht alle Ägypter. Denn ein halbes Jahrzehnt nach dem Sturz des ersten frei gewählten Präsidenten hat der Sicherheitsapparat das Land wieder fest im Griff. Ob oppositionell oder arm: Jeden kann es treffen.

Verehrt und verhasst. Kairo am 25. Januar 2016, dem Tag der Polizei. Foto: AP / pa

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Direkt aus dem Kühlschrank 12

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Das ägyptische Nadeem-Zentrum für die Opfer von Gewalt und Folter wird im April mit dem AmnestyMenschenrechtspreis ausgezeichnet. Von Cornelia Wegerhoff, Kairo

Foto: Dana Smillie

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Archiv der Unterdrückung. Das Nadeem-Büro in Kairo,  Januar 2018.

Ägypten

m Hof vor dem Hauseingang sind Teppiche ausgelegt. Knapp ein Dutzend Männer neigt sich zum muslimischen Nachmittagsgebet. Der alte Hauswächter im langen Gewand und der Verkäufer vom Kiosk nebenan stehen in der Reihe. Und der Spitzel der ägyptischen Sicherheitsbehörden. »Es ist der Mann da vorne links«, raunt Aida Seif al-Dawla. Später erzählt sie von den teils absurden Umständen der Observierung: »Alle bei uns im Zentrum kennen die Stimme dieses Informanten.« Er rufe oft selbst zum Gebet, leider nicht besonders schön. Aber, sagt sie und lacht bitter, seine eigentliche Aufgabe sei es ja auch, zu beobachten, wer im Haus ein- und ausgeht. Im Visier der Ermittler steht das Nadeem-Zentrum für die Rehabilitierung von Opfern von Gewalt und Folter. Die Nichtregierungsorganisation hat in einem achtstöckigen Büro- und Wohngebäude in der Kairoer Innenstadt drei Apartments gemietet. Die Psychiaterin Aida Seif al-Dawla, bis vor wenigen Jahren Professorin an der Ain-Shams-Universität, ist eine der Gründerinnen. Weil die 63-Jährige und ihre Mitstreiter nicht aufhören wollen, zu beklagen, dass viele Ägypter unter staatlicher Gewalt leiden, ist das Nadeem-Zentrum nun selbst Repressionen ausgesetzt. Aida Seif al-Dawla steigt in den antiquierten Aufzug, schließt die hölzerne Doppeltür hinter sich und fährt in den zweiten Stock. Dort befindet sich das Herzstück des Zentrums: Die Klinik, in der ein Team aus Ärzten und Psychiatern Misshandelten vertraulich Beistand leistete. Bis zum 9. Februar 2017. Bei einer Polizeiaktion wurden an diesem Tag Klinik und Büros des Nadeem-Zentrums geschlossen. Beim Verlassen des Aufzugs fällt der Blick gleich auf die dünnen Plastikstreifen, die die Beamten damals über Kreuz über die beiden Türschlösser geklebt haben, ein simples Paketband. Die weiße Siegelmasse ist längst bröselig geworden und größtenteils abgefallen. An der Nachbartür hängt ein Zettel mit amtlichem Stempel und Unterschrift. Das bei den Behörden mühsam erstrittene Papier besagt, dass die Schließungsanordnung nicht für diese Räumlichkeiten gilt. Mona Hamed kommt grüßend an die Tür. Auch sie ist Psychiaterin und die Direktorin der Klinik, die es zurzeit offiziell nicht gibt. Die Hotline ist aber weiter erreichbar. Man finde schon Mittel und Wege, Betroffenen zu helfen, sagt sie. Schließlich ist das Nadeem-Zentrum landesweit die einzige Anlaufstelle dieser Art. Aus ganz Ägypten melden sich jeden Tag Opfer staatlicher Gewalt. Und das sind keineswegs nur Kriminelle oder politische Aktivisten und Kritiker des Sisi-Regimes, die seit dessen Machtübernahme 2013 als Staatsfeinde diffamiert werden. »Es kann jeden treffen«, sagt Mona Hamed. Sie spricht leise, aber konzentriert. Wenn ein Polizist oder ein Soldat einen Passanten auf der Straße anhalte und nach dem Ausweis frage, gebe es kein Recht auf Diskussionen. Jede falsche Frage, jeder falsche

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Blick könne zur Folge haben, dass man festgenommen werde. Wer Widerstand leistet, muss Schlimmstes befürchten. Mit verbaler Gewalt fängt es häufig an: Beschimpfungen und Drohungen, vergewaltigt oder umgebracht zu werden, seien üblich, berichten Betroffene.

Etwas läuft schief Auf der Polizeistation erwartet Festgenommene bisweilen eine »Hafla«, eine »Party«, wie das Ritual zur »Begrüßung« zynisch genannt wird, heißt es in Kairo. Dabei darf jeder, der auf der Wache Dienst hat, vorbeikommen und den wehrlosen Wartenden treten oder schlagen. Später bringt man die Festgenommenen in jenen Raum in den Polizeistationen, der in Ägypten als »Talaga« bekannt ist, auf Deutsch »Kühlschrank«. Es sei gängige Praxis, Geständnisse durch Folter zu erzwingen, bestätigte im Juni 2017 der UN-Ausschuss gegen Folter, der die Einhaltung der Antifolterkonvention der Vereinten Nationen überwachen soll. Die Regierung in Kairo bestreitet das: Mitte März erklärte der Minister für Parlamentsangelegenheiten, Omar Marwan, in Ägyptens Polizeiwachen werde nicht gefoltert. Zum Einsatz von Gewalt käme es nur, wenn Insassen auszubrechen versuchten; 72 Mal sei das seit 2014 der Fall gewesen. Im »Kühlschrank«, weiß Mona Hamed direkt von den Opfern, befinde sich die für Folter nötige Ausstattung: Schlagstöcke, Elektroschock-Geräte, Kübel, in denen man die Festgenommen im Winter in Eiswasser tauchen kann, Metallstangen, an denen Menschen mit gefesselten Händen und Füßen aufgehängt werden. »Shaweya« werden diese Stangen genannt, so wie die Grillspieße in den ägyptischen Imbissläden. »Das sind keine Gegenstände, die vom Taschengeld der Polizeioffiziere gekauft werden«, stellt Aida Seif al-Dawla nüchtern fest. Das Geld dafür stamme aus dem Etat des Innenministeriums. Wenn ein Staat die Polizeistationen seines Landes flächendeckend mit Foltergeräten ausstatte, sei das eine sehr bewusste Entscheidung. »Die Entscheidung, genau auf diese Weise zu regieren: mit Gewalt«, sagt al-Dawla. Beim Aufstand Anfang 2011 hoffte sie noch, dass sich die Ägypter nach mehr als 30 Jahren unter Präsident Hosni Mubarak endlich aus der Unterdrückung befreien würden. Die Massenproteste vor sieben Jahren begannen nicht zufällig am 25. Januar, ein staatlicher Feiertag zu Ehren der Polizei. Als sich die Ägypter gegen die Willkür der Sicherheitsbehörden, gegen Korruption und soziale Ungerechtigkeit zur Wehr setzten, stürzte der Langzeitherrscher binnen 18 Tagen. Die demokratischen Kräfte des Landes seien danach jedoch gescheitert, klagt al-Dawla. Als die Menschen am 30. Juni 2013 auf dem Tahrirplatz plötzlich jubelnd Polizisten auf den Schultern trugen, ahnte sie, dass etwas falsch laufe. Nach der Absetzung des islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi durch das Militär erfolgte ein »unvergleichbarer Ausbruch« staatlicher Gewalt, so die Psychiaterin. Erst gegen die Muslimbrüder, dann

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gegen jeden, der aufmüpfig erschien. »Jetzt zahlen Polizei und Militär es den Ägyptern heim«, sagt al-Dawla. Das Regime habe grünes Licht dafür gegeben. Verkehrslärm dringt durch die Fenster des Nadeem-Zentrums. Die chronisch verstopfte Ramses-Straße, eine mehrspurige Hauptachse der Kairoer Innenstadt, ist nur einen Häuserblock entfernt. An den Bürowänden hängen bunte Kinderzeichnungen. Als die Klinik nebenan noch geöffnet war, brachten einige der Besucher ihre Angehörigen mit, die hier warten konnten. Direktorin Mona Hamed betont, dass es für die Patienten nie lange Wartezeiten gab, wenn sie sich erst einmal durchgerungen hatten, die Ärzte zu kontaktieren. Warten erinnere an das Trauma, sei ein Teil der Demütigung, die die Gewaltopfer schon vorher erlebt hätten, nach der Festnahme, auf der Polizeiwache, im Gefängnis. In den völlig überfüllten Haftanstalten Ägyptens sollen derzeit zwischen 50.000 und 70.000 politische Inhaftierte einsitzen. Es fällt auf, dass im Nadeem-Zentrum nicht von »Patienten«, sondern von »Klienten« gesprochen wird. Das Arzt-PatientenVerhältnis sei in Ägypten hierarchisch, erklärt Mona Hamed: »Wir wollen stattdessen Partner sein.« Psychiatrische Hilfe sei für die Mehrheit der Ägypter jedoch ein Stigma. Viele Gewaltopfer melden sich deshalb erst Monate nach der Tat. Sie leiden unter Panikattacken, Schlaflosigkeit, sozialer Isolation – die Folge posttraumatischer Belastungsstörungen und Depressionen. Hinter Gittern würden sogar Verletzte und Kranke durch Nichtbeachtung gestraft. Klaffende Wunden, ein gebrochenes Bein, Diabetes oder hoher Blutdruck seien normalerweise kein Grund, ärztliche Hilfe zu holen, so Mona Hamed. Sie kennt sogar Personen, die wegen ihres lebensbedrohlichen Zustands letztlich doch in ein Krankenhaus transportiert, aber am Tag nach der OP wieder in ihre Zelle gebracht wurden. Wie alle im Nadeem-Zentrum nennt die Psychiaterin aus Sicherheitsgründen keine Orte, keine Namen, beschreibt keine Einzelfälle.

»Lasst ihn sterben« Nur wenige Opfer werden bekannt. Anfang Januar ging ein Name durch die Presse: Mohamed Abdel Hakim, von seinen Freunden Afroto genannt. Der 22-Jährige starb in einer Polizeiwache. Zwei Beamte, die für seinen Tod verantwortlich sein sollen, wurden festgenommen, ein Ermittlungsverfahren eröffnet. Doch die Sicherheitskräfte wiesen wie üblich die Verantwortung von sich. Afroto war bei einer Straßenrazzia wegen angeblichen Drogenbesitzes festgenommen worden, heißt es. Nach seinem Tod zitierten ägyptische Zeitungen anonyme Sicherheitskreise, der junge Mann sei an einer Überdosis gestorben. Das unabhängige Internetportal Mada Masr recherchierte ganz anderes. Schon bei der Festnahme habe ein Polizist begonnen, Afroto mit einem Schlappen ins Gesicht zu schlagen, berichtete ein Zeuge. Später habe die Polizei ihn auf die Wache im Kairoer Viertel Moqattam mitgenommen. Den Redakteuren von Mada Masr gelang es, einen zweiten Zeugen zu finden, der zeitgleich in derselben Polizeistation festgehalten wurde, im sogenannten »Kühlschrank«. Die Polizisten hätten dort einen jungen Mann neben ihm »abgeladen«, der völlig durchnässt und unterkühlt gewesen sei: Afroto. Er habe kaum noch atmen können. Die Mitgefangenen riefen die Polizisten um Hilfe. Aber die hätten gesagt: »Lasst ihn sterben.« Einer der Wachleute habe Afroto im Vorbeigehen sogar in den Brustkorb getreten. Der junge Ägypter sei kurz darauf gestorben, so der Zeuge. Auf dem vom Gesundheitsministerium ausgestellten Totenschein, den

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Foto: Dana Smillie

Im »Kühlschrank« lagern Kübel, um Festgenommene in Eiswasser zu tauchen.


Unbeugsam. Aida Seif al-Dawla und Mona Hamed im Januar 2018 in Kairo.

die Schwester des Ermordeten den Journalisten vorlegte, nennt ein forensischer Pathologe eine schwere Verletzung der Milz und innere Blutungen als Todesursache. Die gründlich recherchierenden Journalisten von Mada Masr sind ebenfalls im Visier der Sicherheitsbehörden. Ihre Internetseite wurde erstmals im Mai 2017 gesperrt. Die Einschränkung der Meinungsfreiheit zähle zu den weiteren Übergriffen des Sisi-Regimes, sagt Aida Seif al-Dawla vom NadeemZentrum. Dort hat man es sich auch zur Aufgabe gemacht, Medienberichte über staatliche Gewalt zu sammeln. Aus diesem sogenannten »Archiv der Unterdrückung« wurde bis Ende 2016 einmal jährlich eine Zusammenfassung publiziert. Angeblich einer der Gründe für die Schließung der Klinik.

Aus einer engagierten Familie Aida Seif al-Dawla nippt an ihrem schwarzen Tee. Sie ist angespannt. Gerechtigkeit und Demokratie werde es zu ihren Lebzeiten in Ägypten nicht mehr geben, glaubt sie. Aber sie will für die nächste Generation kämpfen. Gegen sie persönlich wurde bereits ein Ausreiseverbot ausgesprochen. Als die Professorin im November 2016 zu einer Tagung nach Tunesien reisen wollte, wiesen die Sicherheitsbeamten sie am Flughafen zurück. Die Ägypterin ist mit dem Kampf gegen die Ungerechtigkeit aufgewachsen. Sie stammt aus einer Familie, die schon unter Präsident Gamal Abdel Nasser politisch aktiv war. Der Vater und die Onkel saßen deshalb im Gefängnis. Staatliche Willkür war häufig Thema am Küchentisch. Aida besuchte die Deutsche

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Evangelische Oberschule in Kairo, engagierte sich bereits während ihres Medizinstudiums in der Studentenbewegung, setzte sich für Frauenrechte ein und arbeitete ehrenamtlich für die Egyptian Organization of Human Rights. Der ägyptische Stahlarbeiterstreik von 1989 ist für die Ärztin und ihre Freunde Suzanne Fayad und Abdallah Mansour, beide ebenfalls Psychiater, ein berufliches Schlüsselerlebnis. Bei den Protesten wurde damals ein Demonstrant von den Sicherheitskräften erschossen. Hunderte wurden festgenommen, wenig später auch mit den Psychiatern befreundete Menschenrechtsaktivisten. Einem wurden die Rippen gebrochen. Ein weiterer kam mit einem tauben Ohr aus dem Gefängnis zurück. Die drei Ärzte brachten die Verletzten ins Krankenhaus. Aber die »Kollegen« dort verweigerten ihnen jedwede Berichte, mit denen sie die Taten zur Anklage hätten bringen können. Bis heute wolle kein normales Krankenhaus Verletzungen bestätigen, wenn diese durch die Polizei verursacht wurden, sagt al-Dawla. Anders als die Verwandten früher, die stets als »Helden« aus dem Gefängnis heimgekehrt seien, hätten die verletzten Freunde später in langen Gesprächen zugegeben, dass sie sich erniedrigt fühlten, mit Wut und Rachegefühlen zu kämpfen hatten. Schnell war klar, dass sie psychiatrische Hilfe brauchten. 1993, nach langer Vorbereitung, gründeten al-Dawla, Fayad und Mansour, der inzwischen in den USA für die Vereinten Nationen arbeitet, ihre Klinik. Schon ein Jahr später kam Magda Adly hinzu, die heutige Leiterin des Zentrums. Die Allgemeinmedizinerin übernahm die körperlichen Untersuchungen von Verletzten.

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Lange kamen keine Aktivisten in die Klinik, sondern normale Bürger. Was die vier Mediziner überraschte: In die Klinik kamen bis in die 2000er Jahre überhaupt keine Aktivisten, wie sie erwartet hatten, sondern normale Bürger. Schnell zeigte sich, dass Folter von der Polizei nicht nur benutzt wurde, um Geständnisse zu erzwingen, sondern beispielsweise auch, um einen Bauern von seinem Stück Land zu vertreiben oder einen lästigen Mieter aus seiner Wohnung. Wer gute Kontakte zur Polizei unterhalte, könne diese nutzen, um jemandem eine Lektion zu erteilen. »Wir haben damals auch fachlich viele Dinge neu gelernt«, gibt Aida Seif al-Dawla zu. Genau wie beim Thema häusliche Gewalt gegen Frauen, für die das Nadeem-Zentrum ebenfalls eine Anlaufstelle ist, sei Folter ein außergewöhnliches Trauma, das anders behandelt werden müsse als andere psychiatrische Probleme. Das beginne damit, dass die meisten Gewaltopfer wieder an den Ort der Tat, etwa in ihr Wohnviertel, zurückkehren müssten. Über die Jahre hat das Nadeem-Zentrum deshalb ein eigenes Konzept zur Rehabilitierung entwickelt. »Dabei stellten wir schnell fest, dass wir nicht nur eine Klinik sein konnten«, so alDawla. »Es ging nicht um Krankheiten, sondern um ein soziales und politisches Phänomen.« Die Misshandelten brauchten

Rechtsbeistand und – wenn gewünscht – Unterstützung bei der Rückkehr in die Öffentlichkeit. Die Nadeem-Mitarbeiter versuchten also, in oppositionellen Medien die falschen Geschichten, die nach der Festnahme gezielt über die Opfer verbreitet wurden, zu widerlegen. Vor 2013 habe man sogar in manchen beliebten ägyptischen Talkshows über das wahre Schicksal der Diffamierten berichten dürfen, erzählt al-Dawla. Doch diese Zeiten seien seit der Machtübernahme Sisis 2013 leider vorbei. Die Medien seien jetzt Teil des »unbarmherzigen Regimes«. Über das Schicksal der Klinik sollte Ende Februar eigentlich ein Richter entscheiden. Dabei ging es um den Vorwurf, dass das Zentrum seine Praxislizenz missbraucht habe, weil es Folteropfer nicht nur behandelte, sondern auch deren Leid dokumentierte und publizierte. Vor allem die Jüngeren im Team seien kämpferisch, sagt Aida Seif al-Dawla nicht ohne Stolz. Und erzählt von einer neuen Klientengruppe: Flüchtlinge, die gefoltert wurden. Und immer öfter suchten auch Angehörige Rat. Viele litten selbst unter einer sogenannten Traumatisierung »aus zweiter Hand«, nachdem ihr Partner oder ihr Kind misshandelt oder vergewaltigt wurde oder – im schlimmsten Fall – verschwunden sei. Es gebe Ägypterinnen, von denen man sonderbare Aussagen höre wie: »Gott sei Dank ist mein Sohn bei der Staatssicherheit aufgetaucht.« Al-Dawla findet, es sei doch der ultimative Albtraum, in die Hände dieser Leute zu geraten. Aber die Mütter sind schon froh, wenn ihr Kind nach der Festnahme nicht ums Leben gekommen ist. So wie Afroto. 쮿 Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen:  www.amnesty.de/app

Verklebt und versiegelt. Eingang zur Nadeem-Klinik in Kairo, Januar 2018.

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Foto: Mohamed Abd El Ghany / Reuters

Schmutziger Krieg auf dem Sinai Im Kampf gegen den Islamischen Staat setzt die ägyptische Armee international geächtete Streubomben ein. Von Markus Bickel Langer Krieg. Ägyptische Soldaten im Norden des Sinais, Dezember 2017.

Foto: Dana Smillie

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er Krieg ist nicht zu gewinnen. Hunderte Tote haben Ägyptens Streitkräfte und Polizei seit 2013 auf der Sinai-Halbinsel zu beklagen – gefallen im Kampf gegen die Terrorgruppe Wilayat al Sinai (Provinz Sinai), die sich vor vier Jahren dem Islamischen Staat anschloss. Im Februar hat Präsident Abdel Fattah al-Sisi den Konflikt ausgeweitet. »Operation Sinai« heißt die jüngste Offensive gegen die Dschihadisten, geführt mit mehr als 35.000 Soldaten. Und mit international geächteten Streubomben, wie Amnesty International im Februar aufdeckte. Streumunition vom Typ Mk-118 ließe sich auf einem von der ägyptischen Armee veröffentlichten Video eindeutig erkennen, sagt der Amnesty-Nahostexperte Raed Jaara. »Man könnte von einem rauchenden Colt sprechen, weil diese Munition ganz offensichtlich von Kampfjets abgeworfen wurde.« Über die verfügt auf dem Sinai nur die ägyptische Luftwaffe. Weshalb die Armee selbst die Beweise für den Einsatz von Streumunition lieferte, erklärt Jaara auch: »Die ägyptische Regierung ist so tief in ihre eigenen Lügen und Propaganda verstrickt, dass sie den Überblick über ihre eigenen Lügen verloren hat.« Ein bereits zugesagtes Interview mit der ägyptischen Tourismusministerin Rania al-Mashat zur Lage auf dem Sinai wurde kurz vor Redaktionsschluss abgesagt. Mehr als 100 Staaten haben Streubomben geächtet, darunter auch der Libanon und der Irak; Ägypten jedoch nicht. Experten gehen davon aus, dass die Streitkräfte über mehr als 300.000 Bomblets vom Typ Mk-118 verfügen und über 1.300 RockeyeStreubomben, beide aus US-Produktion. Streumunition sitzt in Behältern, die sich nach dem Abwurf öffnen, sodass die Minibomben über breite Flächen verteilt aufprallen. Da bis zu 30

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Prozent der Bomblets beim Aufschlag nicht explodieren, bleiben sie als Blindgänger liegen und stellen ähnlich wie Landminen über Jahre eine Gefährdung für die Zivilbevölkerung dar. Dass die Luftwaffe auf Streumunition zurückgreift, zeigt, wie verzweifelt die Armeeführung in ihrem Kampf gegen den ägyptischen IS-Arm Wilayat Sinai ist. Den Dschihadisten ist es seit dem Sturz des islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi im Juli 2013 gelungen, ganze Gebiete in der Grenzregion zu Israel im Nordosten der sozial und politisch von Kairo im Stich gelassenen Sinai-Halbinsel unter ihre Kontrolle zu bekommen. Zudem hat der IS seine Angriffe auf Ägyptens Christen im ganzen Land ausgeweitet: Am Palmsonntag 2017 zündeten Angehörige der Terrororganisation Bomben während Gottesdiensten in Kirchen in Alexandria und Tanta, im Mai vergangenen Jahres griffen sie in Minja einen Pilgerbus an. Mehr als siebzig Menschen fielen den Anschlägen zum Opfer. Und auf dem Nordsinai sorgten die Dschihadisten 2017 mit gezielten Tötungen von Kopten dafür, dass von den einst 5.000 Christen nur noch 1.000 auf der Halbinsel verblieben sind. Das Ziel hinter den Angriffen ist klar: Nach dem Verlust seiner Hochburgen im Irak und in Syrien baut der IS den Sinai zu seinem neuen Rückzugsgebiet auf. Das belegt auch ein »Flammen des Krieges II« betiteltes Video des IS-Medienarms al Hayat, veröffentlicht nach dem Angriff auf eine Moschee in Rawda im Nordsinai mit 311 Toten im November 2017. Danach wies Sisi die Sicherheitskräfte an, »mit aller brutaler Gewalt« vorzugehen, um das Gebiet wieder unter Kontrolle zu bringen. Den Streitkräften gab er eine Frist von drei Monaten, das zu erreichen. Als diese im Februar ablief, gab er den Startschuss für die »Operation Sinai«. Eine Operation, die nicht zu gewinnen ist. 쮿

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Abgefahrener Präsident. Kairo im Mai 2014.

Der Superkandidat Gehirnwäsche wie in George Orwells Roman »1984« prägt die Medien Ägyptens seit dem Sturz Mohammed Mursis, schreibt der ägyptische Talkshow-Star Bassem Youssef.

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m März 2014 entschied Sisi sich endlich, für das Amt des Chefdiktators zu kandidieren. All jene, die sich immer geweigert hatten, von einem Putsch zu sprechen, sagten nun voller Stolz: »Ja, klar war es ein Putsch, und das ist auch gut so: Es ist eine Diktatur, aber wir brauchen sie.« Doch wenn Leute wie wir, die Sisi offen kritisierten, von einer Militärherrschaft sprachen, bezeichnete man uns als Verräter. Viele Kollegen in den Medien haben ihre Jobs verloren, nur weil sie leise angedeutet hatten, was alle insgeheim ohnehin wussten. In diesem Frühjahr verliehen auch die religiösen Autoritäten der koptischen Kirche und der Al-Azhar-Moschee ihre offiziellen Heiligensiegel an Sisi. Hochrangige muslimische Azhar-Gelehrte zogen Parallelen zwischen Sisi und den Gefolgsleuten des Propheten Mohammed, einige rückten ihn gar in eine Reihe mit anderen Propheten.

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»Als Sisi diese Kirche besuchte, war es so, als ob Jesus selbst gekommen wäre«, sagte das Oberhaupt der koptischen Kirche. »Sisi ist schon im Alten Testament erwähnt, die Zeichen sind eindeutig«, erklärte ein anderer Priester. Der Papst der koptischen Kirche schickte seine Priester nach Amerika, als Sisi die Vereinten Nationen besuchte, um die Kopten zu Solidaritätsadressen für Sisi zu bewegen – und um den USA zu zeigen, wie sehr sein Volk ihn liebte. Die meisten Kopten, die sich daran beteiligten, lebten schon Jahrzehnte in Amerika, nachdem sie Ägypten wegen religiöser Verfolgung verlassen hatten – und gezwungen worden waren, in den USA Asyl zu beantragen, weil das Militärregime sie verfolgte. Dasselbe Regime, das sie nun unterstützten. Und dasselbe Militär, das im Oktober 2011 bei Protesten vor der Zentrale des staatlichen Fernsehens in Kairo 26 Christen überrollt hatte.

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Foto: Mahmoud Khaled / AFP / Getty Images

Schon mal was vom Stockholm-Syndrom gehört? Nein, im Ernst, irgendetwas stimmt mit uns Ägyptern nicht. Damals waren alle Wände mit Plakaten von Sisi zugepflastert, auch auf Brücken, Gebäuden, Autos hingen die Bilder. Es heißt ja, dass die Anzahl und Größe der Fotos eines Führers umgekehrt proportional sind zur Freiheit eines Landes. Eine Zeitung brachte damals sein Foto mit der Schlagzeile: »Christus, der Erlöser«. Cool, oder, einen Präsidenten zu haben, der, sollte er ermordet werden, drei Tage später wieder aus dem Grab aufersteht? Eigentlich würde man ja meinen, dass jeder Medienmacher, der auch nur ein bisschen etwas auf sich hält, die Tatsache kritisieren würde, dass wir die Augen verschlossen vor dem, was passierte. Keineswegs! Tatsächlich war es so, dass einer der beliebtesten Talkshow-Moderatoren zugab, dass er keinerlei Probleme damit habe, dass sich der Zustand des Landes unter Sisi ständig verschlechtere. »Ja, ich habe Mursi kritisiert, als es Stromausfälle gab und die Wirtschaftskrise. Aber unter Sisi bin ich bereit, das zu ignorieren, weil wir ihn für eine weitaus höhere Sache unterstützen. Mursi wollte das Land verkaufen, er war ein Verräter. Aber Sisi ist ein Patriot. Wir sind bereit, die harten wirtschaftlichen Verhältnisse unter ihm auszuhalten.« Aus heiterem Himmel luden seriöse Nachrichtenmoderatoren und Talkshow-Gastgeber plötzlich Astrologen und Wahrsager in ihre Sendungen ein, um seine Sternzeichen zu deuten. Demnach würde Sisi der nächste Präsident sein. Allerdings gehörten angesichts dessen, was im Land passierte, keine besonderen Begabungen dazu, darauf zu kommen, dass er faktisch bereits Präsident war. Stunden über Stunden an Filmmaterial gingen diese Ruhmsuchenden durch, um uns da draußen über »Zeichen« zu unterrichten. Einer von ihnen behauptete gar, dass Sisi in einem 3.000 Jahre alten Pergament auftauchte. Die jungen Leute, die einst die Vorhut der Revolution bildeten, galten nun als schwarze Schafe. Dieselben Moderatoren, die sie früher in ihre Shows eingeladen hatten und das »neue, junge Ägypten, das in den Händen dieser jungen Leute wiedergeboren wurde«, glorifizierten, griffen sie nun offen an. Und forderten die Alten und Senilen auf, über uns zu herrschen, weil die Jungen es verbockt hatten. Ein Journalist, der während der Revolution ganz vorne dabei war, die jungen Leute zur Machtübernahme anzutreiben, äußerte sich nun offen verächtlich. Er bezeichnete sie als dumm und dringend reformbedürftig. Derselbe Journalist, der das Militär für die Übernahme von Verschwörungstheorien kritisiert hatte, wandelte sich zu einem der Sprachrohre des Regimes, der die Idee verbreitete, dass diese Jugend als Werkzeug ebenjener Verschwörungen diene. Ich konnte nicht anders, als mich daran zu erinnern, wie der Besitzer meines alten Senders mir einmal gesagt hatte, dass Ägypten mich nicht mehr brauche. Glaubte man den Medien, brauchte es auch die jungen Leute nicht mehr. Schließlich war der »Erlöser« da. Das Regime gab bekannt, dass es Wahlen geben würde, und Sisi gab bekannt, dass er tatsächlich Wahlkampf führen würde. Einen Wahlkampf jedoch, der für nichts warb. Er brauchte das nicht. Es gab kein Programm, keinen Plan, aber egal, wen juckte das schon. »Er muss uns nichts versprechen, er allein reicht schon aus« – so lautete tatsächlich die Erklärung eines Talkshow-Moderators. »Wie können Sie den Präsidenten um ein Programm bitten? Er braucht uns nicht, wir brauchen ihn«, sagte ein anderer. In meiner Show zeigte ich diese Videos, und die Zuschauer lachten. Aber in den Medien wurde ich bezichtigt, Ägyptens ein-

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Die Anzahl der Fotos eines Führers ist umgekehrt proportional zur Freiheit eines Landes. zige Hoffnung lächerlich zu machen. War ich zu streng? Hätte ich darauf verzichten sollen, Sisi mit seinen Groupies in Zusammenhang zu bringen? Lag ich vielleicht einfach falsch? Das wäre vielleicht der Fall gewesen, wenn er nicht selbst in einem Interview gesagt hätte: »Ich wollte nicht antreten, die Massen haben mich darum gebeten. Sie haben mich unter Druck gesetzt. Sie können jetzt nicht kommen und mich um Versprechen bitten. Ich habe keine.« Die Betrügerei seiner Sprache war absurd. Den Anschein zu erwecken, ein unglückseliger Mann von der Straße zu sein, der nach oben gespült wurde, nur weil man ihn für einen Märtyrer hielt, war einfach nur wahnwitzig. Tatsache ist, dass er sich selbst rücksichtlos in seine Machtposition hochgekämpft hatte. Und nun tat er so, als ob man ihm dafür dankbar sein müsse. Und manche waren sogar extrem dankbar! Ich konnte es nicht fassen. Zwei Jahre später besuchte ich eine Wahlkampfveranstaltung von Donald Trump in einer kleinen Stadt in Georgia. Der Bürgermeister heizte die Stimmung an, um die Besucher auf die Ankunft des Donald vorzubereiten. Er schrie und jubelte und sagte dann einen Satz, der bei mir schmerzhafte Erinnerungen an Sisis absurde Wahlkampagne weckte. Er sagte: »Wenn Donald Trump nichts tun würde außer die Mauer zu bauen, würden Sie trotzdem für ihn stimmen?« Die Leute hörten gar nicht mehr auf zu brüllen vor Begeisterung. Sisi hat uns nicht mal eine verfluchte Mauer versprochen. 쮿 Mit freundlicher Genehmigung des Autors entnommen und übersetzt aus Bassem Youssef: »Revolution For Dummies. Laughing Through the Arab Spring«, HarperCollins, New York, 2017.

basseM youssef Bassem Youssef ist ein ägyptischer Herzchirurg und politischer Satiriker, der mit seiner Sendung »Al Bernameg« in den  Jahren nach dem Sturz Hosni Mubaraks 2011 Millionen von Zuschauern erreichte. Nach dem Sturz des islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi legte er aus politischen Gründen zunächst eine Zwangspause ein, ehe er nach dem Sieg Sisis bei der Präsidentschaftswahl 2014 Ägypten aus Sicherheits gründen verließ. Seitdem lebt er in den USA, wo 2017 der Dokumentarfilm »Tickling Giants« über ihn in die Kinos kam. Amnesty zeigt den Film am 19. April in Berlin, am 3. Mai in Hamburg und am 23. Okto ber in München, siehe auch www.amnesty.de

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Kuschelkurs mit Kairo Die Bundesregierung setzt in ihrer Ägyptenpolitik auf Zusammenarbeit mit der Regierung Abdel Fattah al-Sisis – ungeachtet des anhaltenden Abbaus rechtsstaatlicher Verfahren und Zehntausender politischer Gefangener. Von der Journal-Redaktion mit Zeichnungen von Oliver Grajewski

Exportweltmeister Rüstungsexporte in Höhe von 285 Millionen Euro genehmigte die Bundesregierung seit der Bundestagswahl im September 2017 an Ägypten, und damit mehr als an jedes andere Land. 428 Millionen Euro betrug der Wert insgesamt im vergangenen Jahr – so viel wie nie zuvor. Bereits zum zweiten Mal in Folge lag das Regime Abdel Fattah al-Sisis damit unter den Top Five der Empfänger deutscher Wehrtechnik weltweit – allen Menschenrechtsverletzungen durch dessen Sicherheitsapparat zum Trotz. Millionenüberweisungen für ein von ThyssenKrupp Marine Systems hergestelltes U-Boot und 330 Luft-Luft-Raketen vom Typ Sidewinder des Munitionsmultis Diehl Defence machten den Löwenanteil der Exporte aus, die der von Bundeskanzlerin Angela Merkel geleitete, geheim tagende Bundessicherheitsrat 2017 genehmigte. Ägyptens Luftwaffe ist serienmäßig ausgestattet mit dem in Überlingen am Bodensee produzierten Lenkflugkörper. Den Ter-

ror auf dem Sinai gestoppt hat sie trotz Ausweitung ihrer Luftschläge seit Sisis Machtübernahme 2013 allerdings nicht. Im Gegenteil. Ein Ende des Kriegs auf der politisch und sozial von Kairo vernachlässigten Halbinsel ist nicht in Sicht. Dennoch setzt die Bundesregierung weiter auf einen Machthaber, der der Welt Stagnation als Stabilität verkauft – und bleierne Friedhofsruhe als Strategie gegen den Terror. Auch das von der EU nach dem Massaker an mehr als 800 Anhängern der Muslimbruderschaft im Juli 2013 verhängte Exportverbot hat Schwarz-Rot ignoriert. Das dürfte auch in Zukunft der Fall sein, obwohl Ägypten der Militärkoalition im Jemen angehört, deren Mitglieder laut Koalitionsvertrag künftig keine Waffen aus Deutschland mehr bekommen sollen. Allein seit Beginn der Luftschläge der von Saudi-Arabien geführten Allianz im März 2015 hat der Bundessicherheitsrat Rüstungsexporte in Höhe von knapp einer Milliarde Euro nach Ägypten erlaubt. Soziale Dimensionen von Sicherheit spielen in Berlin offenbar keine Rolle, solange die globale Antiterrormaschinerie deutschen Rüstungsriesen wie Rheinmetall und Diehl Defence laufende Umsätze garantiert.

Stiften gegangen Als Präsident Sisi im Mai 2017 seine Unterschrift unter das umstrittene NGO-Gesetz setzte, zeigte sich die Bundesregierung besorgt. Sie kritisierte die massiven Einschnitte in die Rechte und Freiheiten zivilgesellschaftlicher Organisationen in Ägypten. Diese müssen sich seit Inkrafttreten des Gesetzes registrieren und ihre Aktivitäten staatlich genehmigen lassen. Obwohl die Bundesregierung die Regelungen kritisierte, hatte sie nur zwei Monate zuvor ein Abkommen mit der ägyptischen Regierung geschlossen, das einer ähnlichen Logik folgt wie das NGO-Gesetz. Das im März 2017 vereinbarte Zusatzprotokoll zum deutsch-ägyptischen Kulturabkommen sollte nach Jahren des Konflikts eine neue Rechtsgrundlage für die Tätigkeit der deutschen politischen Stiftungen schaffen. Der Streit hatte Ende 2011 begonnen, als die Polizei das Büro der CDU-nahen Konrad-AdenauerStiftung (KAS) in Kairo durchsuchte. Im Juni 2013 wa-

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ren daraufhin zwei KAS-Mitarbeiter in Abwesenheit zu hohen Haftstrafen verurteilt worden. Bundeskanzlerin Merkel hatte bereits zuvor mit Präsident Mohammed Mursi ohne Erfolg über eine Neuordnung der Arbeit der politischen Stiftungen verhandelt; auch ihr Treffen mit dessen Nachfolger Sisi im Sommer 2015 in Berlin brachte kein Ergebnis. Stattdessen verschärfte die ägyptische Seite ihr Vorgehen gegen die politischen Stiftungen: Wegen der staatlichen Repressalien verlegte die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung ihr Nahostbüro 2016 von Kairo nach Jordanien; die CSU-nahe Hanns-Seidel-Stiftung hat seit 2015 keinen deutschen Repräsentanten mehr nach Kairo entsandt. Lediglich die SPDnahe Friedrich-Ebert-Stiftung ist noch mit einem Büroleiter in Ägypten vertreten, kann ihrer Arbeit aber auch nicht mehr frei nachgehen. Das liegt unter anderem daran, dass das Zusatzprotokoll zum Kulturabkommen die Arbeit der Stiftungen auf kulturelle, erzieherische, wissenschaftliche und technische Zusammenarbeit beschränkt. Genehmigt werden müssen diese Aktivitäten von einem neu geschaffenen »Mechanismus«, dem Vertreter der Stiftungen sowie des ägyptischen Außenministeriums und anderer Regierungsstellen angehören. Kooperation mit unabhängigen zivilgesellschaftlichen Organisationen schließt das de facto aus.

den gemeinsamen Kampf gegen Terrorismus, Menschen-, Waffen- und Drogenhandel auf eine neue Stufe. Das für Berlin federführende Innenministerium wird die ägyptischen Behörden dabei in den Bereichen Grenzsicherung und irreguläre Migration unterstützen. Bundeskriminalamt, Bundespolizei und Zollkriminalamt zählen zu den wichtigsten Stellen bei der Umsetzung des Abkommens. Dass das auch die Zusammenarbeit mit den Nachfolgern der berüchtigten Geheimdienste der Ära Hosni Mubaraks – dem National Security Service (NSS) und dem Auslandsnachrichtendienst General Intelligence Service (GIS) – einschließt, zeigt, wie wenig Interesse die deutsche Seite an Konsequenzen aus dem Umbruch von 2011 hat. Und das, obwohl das Innenministerium in Berlin einräumt, dass der »umfassende Terrorismusbegriff« der ägyptischen Regierung »unverhältnismäßig« sei und »von den Sicherheitsbehörden als auch der Justiz immer wieder auch im Kontext von Demonstrationen gebraucht« werde. Wie schmal der Grat zwischen Terrorbekämpfung und der Verfolgung Andersdenkender ist, zeigte sich im Oktober 2017, als nach einem Rockkonzert in Kairo viele Menschen festgenommen wurden, weil man sie »unzüchtigen Verhaltens« bezichtigte. Mehrere Homosexuelle wurden verurteilt, nachdem die Polizei sie gezielt über entsprechende Apps ausfindig gemacht hatte. Zumindest aus diesem Vorfall zog das Bundeskriminalamt im Oktober 2017 die Konsequenzen: Ein Workshop für ägyptische Sicherheitskräfte zur »Beobachtung von Websites« wurde abgesagt, »weil einige der im Rahmen dieses Lehrgangs zu vermittelnden Kenntnisse und Fertigkeiten nicht nur zur Verfolgung von Terroristen, sondern möglicherweise auch zur Verfolgung von anderen Personenkreisen eingesetzt werden könnten«, so die Bundesregierung in der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linken. 쮿

Repression statt Sicherheit Fast ein Jahr dauerte es bis zur Ratifizierung durch den Bundestag, doch seit April 2017 ist es amtlich: Das deutsch-ägyptische Abkommen über die Zusammenarbeit beider Regierungen im Sicherheitsbereich stellt

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Belagerte Hochschulen F

reiheit für die Wissenschaft und Unabhängigkeit der Universitäten in Lehre und Forschung – mit dieser Forderung machte 2004 eine Gruppe von ägyptischen Professoren und Universitätsangestellten auf sich aufmerksam, damals noch unter Präsident Hosni Mubarak. Die »Gruppe des 9. März« erinnerte durch ihren Namen an das Datum des Rücktritts des ersten Präsidenten der Kairoer Universität 1932, Lotfi al-Sayed. Den Schritt vollzog der liberale, antikolonialistische Intellektuelle, um gegen die politisch motivierte Absetzung des Dekans der Fakultät der Künste, Taha Hussein, durch das Bildungsministerium zu protestieren. 2018 erscheint das universitäre politische Engagement der »Gruppe des 9. März« wie der Aktivismus einer längst vergangenen Epoche: Zwar treffen sich die Mitglieder weiterhin, doch von der Hoffnung auf mehr Freiheit in den Universitäten ist kaum etwas übrig. Repression zieht sich wie ein roter Faden durch die postrevolutionäre Phase in Ägypten, die bald nach den Protesten gegen Präsident Mubarak auf dem Kairoer Tahrirplatz 2011 und der Machtübernahme durch den Hohen Militärrat (Scaf) begann – und in der Wahl des früheren Armeechefs Abdel Fattah al-Sisi zum Präsidenten 2014 gipfelte. Um die akademische Freiheit ist es in den Universitäten am Nil seither ähnlich schlecht bestellt wie vor achtzig Jahren unter der Monarchie. Denn Sisis hartes Durchgreifen gegen kritische Stimmen ist längst nicht mehr nur auf unliebsame Journalisten, Menschenrechtsverteidiger, Mitarbeiter von in- und ausländischen Stiftungen sowie politische Konkurrenten beschränkt. Bereits im Vorfeld der Absetzung des ersten frei gewählten ägyptischen Präsidenten, dem Muslimbruder Mohammed Mursi, im Juli 2013 hatten Sicherheitsorgane die Universitäten auf dem Radar. Studierende, die den Muslimbrüdern politisch nahestanden, protestierten damals an vielen Hochschulen des Landes. Es folgte eine umfassende Verhaftungswelle durch die Sicherheitskräfte. Laut einer Studie der Ägyptischen Organisation für Gedan-

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ken- und Meinungsfreiheit (Afte) wurden allein in den ersten drei Jahren nach dem Sturz Mursis mehr als 1.100 Studierende festgenommen. Die von Interimspräsident Adli Mansur in den Jahren 2013 und 2014 erlassenen Protestgesetze, neue Antiterrorbestimmungen sowie Änderungen der Universitätsverordnung sorgten für erhebliche Einschränkungen der akademischen Freiheit. Auf 1.051 disziplinarische Maßnahmen kommen die Forscher von Afte, bei mehr als der Hälfte handelte es sich um Entlassungen. In 65 Fällen wurden Studenten vor Militärgerichte gestellt, außerdem kam es bis Sommer 2016 bei Protesten an Universitäten zu 21 außergerichtlichen Erschießungen. Das harsche Vorgehen gegen Kritiker des Sisi-Regimes sei erst nach dessen weitgehender Konsolidierung 2016 abgeflaut, heißt es in einer Afte-Studie mit dem Titel »Belagerte Universitäten«. Die Überwachung wurde zudem durch polizeiliche Präsenz auf dem Gelände der Hochschulen und die Installierung von Geheimdienstmitarbeitern in den Universitätsverwaltungen ausgeweitet. 2010 hatte die Regierung noch per Dekret den Einsatz von Sicherheitskräften verboten – im Zuge der Proteste gegen Mubarak erkämpfte sich die Studentenbewegung bis 2013 weitere Rechte. Und sie stand an vorderster Front, was die Kritik von Menschenrechtsverletzungen durch den Hohen Militärrat anging. So gesehen ist Sisis Vorgehen auch eine Reaktion auf die kritische Haltung von Wissenschaftlern und Studierenden in den beiden ersten Revolutionsjahren. Seither ersetzten regierungstreue Wissenschaftler vielerorts Universitätspräsidenten, die aus politischen Gründen entlassen wurden. Begleitet wurde das von Disziplinarverfahren, Verleumdungskampagnen und Anklagen. Renommierte Sozialwissenschaftler wie Amr Hamzawy oder Emad Shahin sahen sich aufgrund von Berufsverboten und Anklagen gezwungen, Ägypten zu verlassen. Bis August 2017 hat der Academic Freedom Monitor 24 Fälle von Verletzung der Wissenschaftsfreiheit in Ägypten festgestellt. Aufgrund der wenig systematischen Erhebung ist die

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Foto: Riccardo Antimiani / ANSA / AP / pa

Seit der Machtübernahme vor fünf Jahren nehmen Regierung und Sicherheitskräfte in Ägypten die Universitäten stärker ins Visier. Von Ilyas Saliba


Opfer staatlicher Gewalt. Demonstration für Giulio Regeni in Rom, Januar 2018.

Dunkelziffer vermutlich deutlich höher. Der Nordamerikanische Verband für Nahoststudien (MESA) hatte bereits 2014 mit einer Sicherheitswarnung für seine Mitglieder auf die prekäre Sicherheitslage von Wissenschaftlern reagiert. Die Vorwürfe an die ägyptischen Behörden reichten von der Verweigerung der Ein- und Ausreise bis zur direkten Einmischung in Universitätsangelegenheiten durch die Exmatrikulation von Studierenden und die Entlassung kritischer Fakultätsmitglieder. Zum Klima der Angst unter Akademikern trug auch der grausame Tod des Sozialwissenschaftlers Giulio Regeni im Februar 2016 bei. Gut eine Woche nach seinem Verschwinden wurde der schwer misshandelte Körper des italienischen Doktoranden nördlich von Kairo am Rande der Schnellstraße nach Alexandria gefunden. Italienische Ärzte machten durch eine Autopsie öffentlich, dass er an inneren Blutungen gestorben war, nachdem man ihn tagelang gefoltert hatte. Italien zog daraufhin aus Protest seinen Botschafter aus Kairo ab; doch kehrte er im August 2017 nach Ägypten zurück. Das Schicksal von Regeni rüttelte auch die Forschergemeinde auf, unter den Hashtags #hediedasoneofus, #veritapergiulioregeni und #truthforgiulio fand im Internet eine Welle der Solidarisierung statt. Viele Universitäten in Europa und Nordamerika raten seit dem Mord von Forschungsaufenthalten in Ägypten ab oder verbieten diese sogar. Obwohl die Krise mit Italien mittlerweile beigelegt ist, heißt es aus Kairo weiterhin, die Behauptung, ägyptische Sicherheitskräfte seien in den Fall verwickelt

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gewesen, sei eine Verschwörung gegen Ägypten, mit dem Ziel, das Land zu destabilisieren und das gute Verhältnis zwischen Kairo und Rom zu zerrütten. Die Justiz in Italien sieht das anders: Am 25. Januar 2018, zwei Jahre nach Regenis Verschwinden, stellte der ermittelnde Staatsanwalt Giuseppe Pignatone fest, dass der Doktorand aufgrund seiner Forschung umgebracht wurde und dass er bereits vor seiner Entführung ins Visier ägyptischer Sicherheitskräfte geraten war. Gepaart mit dem systematischen Vorgehen der Regierung gegen kritische Wissenschaftler und Studierende wirft der Fall ein dunkles Licht auf die Lage der akademischen Freiheit in Ägypten. 쮿 Ilyas Saliba ist Referent für Nahost und Nordafrika von Amnesty I nternational Deutschland.

Viele ausländische Universitäten raten von Forschungsaufenthalten in Ägypten ab. 23


»Auf der Straße mache ich mich unsichtbar«

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Fast jede Ägypterin ist schon sexuell belästigt worden – auch deshalb gilt Kairo als weltweit gefährlichste Millionenstadt für Frauen. Und obwohl viele als Alleinverdienerinnen für ihre Familien sorgen, ist die Dominanz von Männern in Politik und Gesellschaft ungebrochen. Ein Gespräch mit der Theatermacherin und Autorin Nora Amin. Mit Zeichnungen von Ferenc und Bast Interview: Hannah El-Hitami

In Ihrem Buch »Weiblichkeit im Aufbruch« beschreiben Sie, wie Sie mit neun Jahren das erste Mal sexuell belästigt wurden: Der Mitarbeiter eines Reinigungsgeschäfts starrte Ihren Körper an und drang so in Ihre Privatsphäre ein. Sie schreiben, dass Sie sich da zum ersten Mal als Frau wahrgenommen haben. Bedeutet sexuelle Belästigung für ägyptische Mädchen den Eintritt ins Erwachsenenleben? Ja, für die meisten Frauen in Ägypten endet die Kindheit mit sexueller Belästigung. Der übergriffige Blick zeigt dir, dass du anders bist. Und gleichzeitig drückt er dir den Stempel der Scham auf. So tritt die gesellschaftliche Definition von Weiblichkeit offen zutage: Unsere Körper haben etwas, das Männer dazu einlädt, uns weh zu tun. Weibliche Identität besteht demnach darin, dass dir Schmerz und Leid zugefügt wird, was dazu führt, dass du früh das Kämpfen, Widersetzen und Beschützen lernst. Als Kind und Teenager wuchs ich in den Kreisen ägyptischer Feministinnen auf. Meine Mutter nahm mich als Elfjährige zu allen Treffen mit. Dort begegnete ich den Pionierinnen des Feminismus: Nawal al-Saadawi, Fatheyya al-Assal, Ingy Rushdi und andere. Für mich als Kind war das überwältigend. Ich erkannte damals den Unterschied zwischen meiner privaten Erziehung zuhause und der gesellschaftlichen Erziehung auf der Straße, die das Verhalten von Frauen in der Öffentlichkeit prägt. Dieses zurückhaltende Auftreten in der Öffentlichkeit beschreiben Sie in Ihrem Buch mit den Worten: »Die Arme baumeln nicht, und es werden nur kleine Schritte gemacht.« Ich habe aber auch die gegenteilige Erfahrung gemacht, dass ich

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als Frau in Ägypten besonders selbstbewusst auftrete, um nicht Opfer von Übergriffen zu werden. Glauben Sie, dass sexuelle Belästigung Frauen schwächer macht? Nein, Opfer sind die Frauen dieses Landes sicherlich nicht. Im Gegenteil: Sie sind wahre Heldinnen, weil sie diese ganze Gewalt überleben. Hinzu kommt ja noch die Genitalverstümmelung: Eine Frau, die immer gelernt hat, ihren Körper zu hüten, keine Haut zu zeigen, wird plötzlich völlig entblößt vor Fremden, die ohne Betäubung einen Teil ihres Körpers abschneiden. Das ist eindeutig Folter. Und diese Folter zieht sich durch das ganze Leben. Nicht nur, weil es das Sexualleben schwierig macht, sondern auch wegen des psychischen Schmerzes. Es hinterlässt ein Trauma, das von mehr als 90 Prozent der Ägypterinnen geteilt wird. Dieses kollektive Trauma muss anerkannt werden. Was war während der Proteste auf dem Tahrirplatz in Kairo Anfang 2011 anders für Frauen? Darüber könnte man ein ganzes Buch schreiben, und das habe ich ja auch versucht. Zunächst müssen wir uns fragen, wie es sein kann, dass es in einer Gesellschaft, in der die meisten Frauen von Kindesbeinen an sexuell belästigt werden, während der 18 Tage der Revolution keine solche Gewalt auf dem Tahrirplatz gab? In einem Land wohlgemerkt, das die Liste der Länder mit den schlimmsten Lebensbedingungen für Frauen anführt. Die Antwort auf diese Frage erklärt, was sexuelle Belästigung bedeutet und was Revolution bedeutet. Und wie lautet die Antwort? Meiner Ansicht nach gibt es eine organische, untrennbare Verbindung zwischen dem Regime und dem patriarchalen

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System. Im patriarchalen System werden Frauen zu Objekten degradiert – und zum Eigentum der Männer, sodass sie ihre eigenen Körper nicht besitzen. Genauso ist es im autoritären Staat: Da besitzt das Regime seine Bürgerinnen und Bürger. Auch ihnen gehören ihre Körper nicht, weder Männern noch Frauen. Wenn es dann zu einer Revolution kommt, begehren alle gegen den obersten Patriarchen auf, und damit gegen das System der Unterdrückung. Die Befreiung von Mann und Frau ist nur möglich, wenn sich alle vereinen. Wie erklären Sie die Massenvergewaltigungen, die es sowohl am Ende der Proteste gegen Hosni Mubarak 2011 als auch 2013 beim Aufstand gegen Mohammed Mursi gab? Es geht bei sexueller Gewalt und Belästigung nicht um Sex, sondern um Macht, sei es die des Mannes, des Patriarchen oder des politischen Machthabers. Wenn wir die Massenvergewaltigungen aus diesem Blickwinkel betrachten, dann war es besonders wichtig, dass sie auf dem Tahrirplatz stattfanden. Natürlich gab es auch viele Angreifer, die bei diesen Vergewaltigungen spontan mitmachten – als Teil eines primitiven, bestialischen Rituals. Doch das eigentliche Ziel der Vergewaltigung war nicht, den Körper des Opfers zu misshandeln, sondern die Macht des alten Regimes über den Platz zu demonstrieren, ihn wieder in Besitz zu nehmen, und damit auch die Kontrolle über Ägypten zurückzuerlangen. Hat sich seit dem Aufstand gegen Mubarak nichts verbessert? Ich habe lange darüber nachgedacht und bin mittlerweile überzeugt davon, dass sich über Nacht nicht wirklich etwas verändern lässt, auch nicht in 18 Tagen oder Jahren. Es ist ein sehr langer Prozess, der hundert Jahre dauern könnte. Aber ich bin überzeugt davon, dass sich etwas verändern wird, wenn auch mit Schwankungen und Rückschlägen. Wir können an die Uto-

»Die uralte Angst vor der Staatsgewalt haben wir gebrochen.« Nora Amin 26

pie der 18 Tage vom Tahrirplatz anknüpfen, indem wir ein progressives politisches System schaffen. Das ist eine Frage der Bildung, der Wirtschaft, der Medien und der politischen Parteien. Ein riesiger bleibender Erfolg der Revolution ist die Erkenntnis aller Bürgerinnen und Bürger, dass sie etwas verändern können, dass sie Macht haben, und wenn es nur die gemeinsame Macht ihrer Körper ist. Die uralte Angst vor der Staatsgewalt haben wir gebrochen. Wie steht es sieben Jahre nach dem Sturz Mubaraks um die Frauenrechte? Ich merke schon, dass sich etwas verändert, wenn auch sehr langsam. Zum Beispiel gab es die tapferen Frauen, die auf dem Platz vergewaltigt wurden und das gemeldet haben. Eine von ihnen ist Yasmine al-Baramawi, eine wahre Superheldin. Sie ist eine ägyptische Musikerin und Aktivistin, die am Tahrirplatz von einer großen Gruppe Männer angegriffen und vergewaltigt wurde, als sie gegen die Muslimbrüder und Mohammed Mursi demonstrierte. Erst hat sie niemandem davon erzählt. Als dann anderen Frauen das Gleiche widerfuhr, trat sie live im Fernsehen auf und sprach über ihre Erfahrung. Das war ein politisches Statement. Warum ist es so wichtig, darüber öffentlich zu sprechen? Frauen, die vergewaltigt wurden, dürfen nicht als entehrte Opfer betrachtet werden, denn sie sind Überlebende und Heldinnen. Die mächtigste Waffe des Angreifers ist die Garantie, dass das Opfer sich schämt. Eigentlich sollte sich ja der Angreifer schämen. Aber wenn das Täter-Opfer-Verhältnis umgekehrt wird, wird das Opfer niemals wagen, aufzubegehren. Seit der Revolution haben Menschen angefangen, über sexuelle Gewalt zu reden. Mehr Frauen hatten den Mut, sexuelle Belästigung zu melden und sich zu wehren. Die damit verbundene Scham wird allmählich klei-

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ner. Das ist kein offensichtlicher Wandel, aber man spürt ihn daran, wie Frauen sich im Fernsehen oder in den sozialen Medien äußern. Als Performance-Künstlerin treten Sie vor einem Publikum auf, das Sie beobachtet. Wie unterscheidet sich das von dem Gefühl, auf der Straße angestarrt zu werden? In meinem Buch schreibe ich, dass ich zwei verschiedene Körper habe. Wenn ich auf der Bühne stehe, fühle ich eine gewisse Präsenz und Stärke. Das Theater ist zwar auch ein öffentlicher Raum, aber das Gegenteil von der Straße. Auf der Bühne ist es mein Job, gesehen zu werden, zu performen, meinen Körper darzubieten. Auf der Straße ist es mein Ziel als Frau, unsichtbar zu sein. Die Bühne ist ein Ort der Ermächtigung für die unsichtbaren Körper. Auf der Bühne herrscht eine andere Realität mit bestimmten Regeln und Grenzen. Auf der Straße bist du du selbst, während du auf der Bühne eine Rolle spielst. Wenn ich die Bühne verlasse und auf die Straße hinaustrete, spüre ich im ersten Moment, dass ich in eine unsichere Welt gehe. Anfangs bin ich noch erfüllt von der Würde der Bühne, aber dann sehe ich diese Würde langsam verpuffen. Mein

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Traum wäre es, die Freude und Erfüllung der Bühne immer in mir zu tragen. Der Ruf von Performance-Künstlern, Schauspielerinnen und Tänzerinnen in Ägypten ist denkbar schlecht. Hatten Sie Schwierigkeiten, Ihre Leidenschaft fürs Tanzen auszuleben? Ich persönlich nicht. Aber jeder, der tanzt, Mann oder Frau, muss damit zurechtkommen, dass dieser Beruf traditionell als schändlich betrachtet wird. Für Frauen ist es noch schlimmer als für Männer. Die Menschen lieben Unterhaltung, aber verurteilen sie zugleich. Sie können eine Tänzerin verehren, aber niemals akzeptieren, dass die eigene Tochter Tänzerin wird. Das wäre die absolute Schande. Ebenso kann ein Mann Stunden in einem Bordell verbringen und sich vielleicht sogar in eine der Frauen verlieben, die dort arbeiten. Aber niemals würde er sie heiraten. Die weibliche Schönheit und Sexualität wird verurteilt, um sie zu unterwerfen. Nur so fühlt sich der Verehrer nicht von ihr beherrscht. Es ist eine Machtstrategie. Und das erklärt wiederum, warum wir Frauen unsere Weiblichkeit im selben Moment entdecken, in dem die Belästigung beginnt.

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Waren diese Proteste ein Vorläufer des Aufstands 2011? Ich denke schon. Die kollektive Erfahrung des Todes setzt Menschen unter Druck und ist der zuverlässigste Katalysator für Revolutionen. Wenn Menschen getötet und gefoltert werden, dann bröckelt die Macht des Regimes. Die Menschen schließen sich zusammen. Solch eine starke Gemeinschaft macht Mut gegen die Übermacht der Polizei, selbst wenn man keine andere Waffe als den eigenen Körper hat. Jeder Staat möchte große Versammlungen am liebsten verbieten – deswegen galten in Ägypten mehr als 30 Jahre lang Notstandsgesetze. Versammlungen bedrohen den Staat, weil die Masse der Körper stark ist. Die versammelten Körper auf dem Tahrirplatz waren stärker als Waffen. Denn noch so viele Patronen können nicht alle töten.

Der Comicband »Stinkefinger« erzählt die Geschichte der ägyptischen Studentin Leila, die bei den Protesten gegen den Muslimbruder Mohammed Mursi auf dem Tahrirplatz 2013 von einer Gruppe Männern vergewaltigt wird – mit Gegenständen und Fingern. La Bôite à Bulles, Paris, 2016, gemeinsam mit Amnesty International Frankreich.

Unterdrückten« kennengelernt. Er ist einer meiner Mentoren. Er nutzt das Theater, um gesellschaftlichen und politischen Wandel voranzutreiben. In seiner Theatermethode wird das Publikum aktiv. Zuschauer können in das Stück einsteigen, eine der Rollen übernehmen und versuchen, Konfliktsituationen zu lösen. Ich habe das nationale ägyptische Projekt für das Theater der Unterdrückten im November 2011 in Alexandria gegründet. Dann bin ich in andere Landesteile gereist und habe insgesamt 600 Menschen ausgebildet. Zu erfahren, dass der Verstand letztendlich bei allen Menschen gleich funktioniert, war sehr beeindruckend. Und zu beobachten, wie der öffentliche Raum zu einer Bühne für Ausdruck, Partizipation und Transformation wurde, ist eine meiner wichtigsten Erinnerungen. 쮿

nora aMin Nora Amin, 1970 in Kairo geboren, ist Autorin und Theatermacherin. 2000 gründete sie die Lamusica Independent Theatre Group in Kairo, um mit neuen Formen des körperlichen Ausdrucks zu experimentieren und die Unterdrückung von Frauen und die soziokulturelle Repression zu thematisieren. Seit 2015 lebt sie in Berlin, wo sie im Sommersemester 2018 Gastprofessorin für Tanzwissenschaft an der Freien Universität ist. Bei Matthes & Seitz erschien von ihr im Frühjahr »Weiblichkeit im Aufbruch«.

Lettering: Andreas Michalke

Wie haben Sie das Theater während der Revolution neu entdeckt? Ich habe viel Straßentheater gemacht, was vorher verboten war. Ich habe von Augusto Boal in Brasilien das »Theater der

»doigts d’honneur«

Foto: privat

Wie politisch ist Ihre Kunst? Meine Performance mit dem Titel »Resurrection” ist ein Beispiel für den Zusammenhang zwischen Kunst und politischem Aktivismus. Die Geschichte beginnt mit einem Brand in einem Theater am 5. September 2005 im oberägyptischen Beni Suef, bei dem fast 50 Menschen starben. Einer von ihnen war Saleh Saad, der Vater meiner Tochter. Er war Theaterregisseur und Mitglied der Jury des Festivals, das in dem Theater stattfand. Es gab dort weder Notausgänge noch Brandschutzmaßnahmen, und die Feuerwehr sowie die Rettungskräfte kamen viel zu spät. Das zeigt, wie wenig der Staat für seine Bürger sorgt, wie wenig er tut, um ihnen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Der Kultusminister beschuldigte die Opfer, weil die Kerze, die den Brand verursacht hatte, Teil einer Performance war. Der Brand war ein Schlag ins Gesicht der Theater-Community. Wir erkannten damals, dass wir selbst politisch aktiv werden und unsere Rechte erkämpfen müssen. Mit diesem Vorfall begann der erste organisierte Protest von Künstlerinnen und Künstlern in Ägypten. Ich habe damals dafür plädiert, dass wir neben Demonstrationen und Petitionen auch auf die Bühne zurückkehren müssen. Ich wollte mit meinem Stück den Ort des Traumas zum Ort der Heilung machen.

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Freiheit ist ein schönes Ding Der ägyptische Fotograf Ravy Shaker hat Frauen porträtiert, die ihm nach dem Ende ihrer Haftzeit ihre Lieblingsgegenstände aus dem Gefängnis zeigten.

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ausende Frauen sitzen seit Jahren in Ägyptens Gefängnissen, viele ohne Hoffnung, bald freizukommen. Seit dem Sturz des islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi im Juli 2013 wurden Hunderte Frauen aus politischen Gründen inhaftiert – abgeschnitten von Familie und Freundinnen sind sie der Willkür der Wärter ausgesetzt. Psychische und körperliche Gewalt durch Mitgefangene und Aufseher gehören für sie zum Alltag, menschliche

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Zuneigung ist selten. Auch deshalb bieten kleine Gegenstände oft die einzige Form von Trost während der endlosen Tage in Haft. Weil sie diese Objekte so lieb gewannen, bewahrten die auf den folgenden Seiten porträtierten Frauen sie auch nach ihrer Freilassung auf. Dabei handelt es sich um Fotos von Verwandten und Briefe, um Geschenke von Mitgefangenen oder einfach nur um Gebrauchsgegenstände. 쮿

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Sanaa Seif, 24, ist die jüngste Tochter der  berühmten Kairoer Menschenrechtsaktivisten Ahmed Seif und Laila Soueif. Sie war sechs Monate im Qanater-Frauengefängnis in Kairo wegen Beamtenbeleidigung inhaftiert; hier  im November 2016 bei ihrer Freilassung an der Seite ihrer Anwältin Rajia Omran (links).  Bereits 2014 war Seif festgenommen und wegen Teilnahme an einer Demonstration  gegen das umstrittene, nach dem Sturz Mursis per Dekret verabschiedete repressive Protestgesetz verurteilt worden. Im September 2015 kam sie im Rahmen einer Amnestie durch Präsident Abdel Fattah al-Sisi frei. Ihr Bruder, der Blogger Alaa Abdel-Fattah, verbüßt seit 2014 eine fünfjährige Haftstrafe wegen  Teilnahme an einer nicht genehmigten  Versammlung.

Sarah Khaled, Studentin der Zahnmedizin, wurde 2014 zu zweieinhalb Jahren Haft  verurteilt, weil sie eine Brosche mit dem  Rabea-Logo trug: Die vier hochgehaltenen Finger drücken Solidarität mit dem Protestcamp der Muslimbrüder auf dem Rabea-alAdawiya-Platz in Kairo aus, das 2013 gewaltsam aufgelöst wurde. Bis ihr eine Mitgefan gene heimlich einen Spiegel gab, hatte sie sich drei Monate nicht selbst gesehen. Auch nach ihrer vorzeitigen Freilassung nach zehn Monaten Haft bewahrte sie den Spiegel auf.  Weil der Briefverkehr von Gefangenen  zensiert wird, bestechen einige die Aufseher, um geheime Post aus dem Gefängnis zu schmuggeln. Diese kurze Nachricht schrieb Sarah Khaled ihrem Vater auf einer  Medikamentenverpackung. Darin berichtet sie, dass sie vom Staatssicherheitsdienst  verhört wurde, und bittet ihn, einen Anwalt  zu kontaktieren.

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Die 1986 in Alexandria geborene Menschenrechtsanwältin Mahienour el-Massry wurde 2014 zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, weil sie vor einem Gericht in Alexandria ohne Genehmigung demonstriert hatte. Anlass des Protests war der Prozess gegen mehrere Polizisten, denen der Mord an dem jungen Blogger Khaled Said vorgeworfen wurde – einer  Ikone des Aufstands gegen Hosni Mubarak. Die Strafe wurde später auf sechs Monate reduziert.  Nach ihrer Freilassung 2016 nahm sie abermals an einer Demonstration teil, die sich gegen die Abtretung der ägyptischen Inseln Tiran und Sanafir an Saudi-Arabien richtete. Wegen Teilnahme an einer unerlaubten Protestveranstaltung und Anwendung von Gewalt wurde sie Ende 2017 zunächst zu zwei Jahren Haft verurteilt, erneut inhaftiert – und im  Januar 2018 von allen Vorwürfen freigesprochen. Während ihrer Zeit in Haft teilte Mahienour el-Massry ihre Zelle mit Anhängerinnen der islamistischen Opposition. Eine ihrer Mitgefangenen bastelte ihr eine Gebetskette aus Olivenkernen. Eine andere Gefangene, die zum Tode verurteilt war, schenkte ihr einen roten Teddybär.

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Weil Salwa Mehrez im Juni 2014 gegen das nach dem Sturz Mursis verabschiedete Demonstrationsgesetz protestiert hatte, wurde sie zu drei Jahren Haft verurteilt. Die ersten Monate verbrachte sie im  Qanater-Frauengefängnis, ehe sie im September 2015 von Präsident Sisi begnadigt wurde – gemeinsam mit 99 weiteren Häftlingen.  Im Qanater-Frauengefängnis erhalten politische Gefangene zum  Trinken keine Glasbehälter. Eine nicht aus politischen Gründen  inhaftierte Mitgefangene gab ihr ein leeres Nescafé-Glas. Daraus  trinkt  Salwa Mehrez auch in Freiheit ihren Kaffee.

Esraa al-Taweel wurde im Juni 2015 von Sicherheitskräften entführt. Zwei Wochen lang war der Aufenthaltsort der  Fotojournalistin unbekannt, dann tauchte sie im QanaterFrauengefängnis in Kairo wieder auf. Man bezichtigte sie,  der verbotenen Muslimbruderschaft anzugehören. Aus  gesundheitlichen Gründen wurde sie im Dezember 2015  freigelassen. Während ihrer Gefangenschaft bat sie ihre Schwester, eine Kette mit Bildern ihres Verlobten Amr  anzufertigen, der wegen Mitgliedschaft in einer Terror organisation zu lebenslanger Haft verurteilt worden war.  Seit ihrer Freilassung setzt sich Esraa al-Taweel für die  Freilassung ihres Verlobten ein.

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Nachgestellte Szene, Š Amnesty International, Foto: Alexander Kilian


HOFFNUNG LÄSST SICH NICHT VERSTÜMMELN Schläge, Elektroschocks und Herausreißen der Fingernägel – in ägyptischen Gefängnissen wird routinemäßig gefoltert. Die Regierung leugnet das jedoch. Außerdem schloss sie die einzige Klinik, die sich um gefolterte Menschen kümmert. Doch das Team des Nadeem-Zentrums in Kairo gibt nicht auf. Es hält gemeinsam mit anderen mutigen Ägypter_innen die Hoffnung auf eine Zukunft am Leben, in der die Menschenrechte geachtet werden. Setze dich dafür ein, dass die Klinik des Nadeem-Zentrums wieder öffnen kann. amnesty.de/aegypten


POLITIK & GESELLSCHAFT

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Der Tote trägt ein rotes Hemd Und sie springen über ihre Gräber. Navotas-Friedhof, Manila, Februar 2017.

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Abgeriegelt. Polizeieinsatz in Pasig City, Dezember 2016.

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Präsident Rodrigo Duterte hat die Philippinen radikal verändert. Der Drogenkrieg euphorisiert einen Teil der Bevölkerung, der andere richtet sich ein in einem Klima der Angst. Jetzt ermittelt der Internationale Strafgerichtshof wegen des Einsatzes von Todesschwadronen. Aus Manila Carsten Stormer und Carlo Gabuco (Fotos) Der Morgen schmeckt nach Kippenrauch. Es war eine lausige Nacht. Inzwischen ist es vier Uhr morgens, die ersten Hähne krähen. Seit zwei Stunden stehe ich hinter dem Absperrband der Polizei, Kaffee in der einen Hand, Zigarette in der anderen, und starre auf den Toten, der dreißig Meter vor mir in einer Seitenstraße unter einem Baum liegt. Leiche Nummer fünf in den vergangenen neun Stunden. Stadtteil Malate, im Herzen der philippinischen Hauptstadt Manila. Ich bin hundemüde, stundenlang bin ich diese Nacht von Tatort zu Tatort gehetzt. Hier passiert nichts mehr, denke ich. Und bleibe dennoch stehen, aus Sorge, etwas zu verpassen. Journalistenkrankheit. Polizisten und Ermittler der Spurensicherung wuseln um den Leichnam herum, fotografieren Patronenhülsen, die am Boden liegen, malen mit Kreide weiße Kringel auf den Asphalt, messen aus unerfindlichen Gründen den Abstand der Füße des Toten zum Polizeiwagen, der erst nach der Schießerei eingetroffen ist, durchsuchen den Inhalt von Hosen- und Brieftaschen. Blitzlichter durchzucken die Dunkelheit. Ich zoome mit der Kamera heran. Der Tote trägt ein rotes Hemd. Neben der geöffneten rechten Hand liegt ein Revolver. Einer der Polizisten nimmt einen Kugelschreiber aus seiner Brusttasche, schiebt ihn zwischen Abzugsbügel und Abzug, hält die Waffe wie eine Trophäe in den Lichtkegel einer Taschenlampe, lange genug, dass es die Journalisten hinter dem Absperrband sehen können. Dann verschwinden die Waffe in einer Plastiktüte und der Tote in einem Leichenwagen. Ich lebe seit zehn Jahren in Manila. Seit dem Amtsantritt von Präsident Rodrigo Duterte im Juni 2016 verfolge ich diesen verstörenden Drogenkrieg in meiner Wahlheimat mit wachsender Sorge. Wenn mir jemand vor zwei Jahren gesagt hätte, dass Filipinos dazu fähig sind, Tausende tote Landsleute zu akzeptieren und diese Gewaltorgie auch noch zu bejubeln, ich hätte es nicht für möglich gehalten. Dabei hat mich nicht einmal überrascht, dass ein Typ wie Duterte mit seiner Vision einer neuen philippinischen Gesellschaft die Wahl gewann. Make the Philippines great again. Ein Mann, der verspricht aufzuräumen, den Sumpf aus Korruption, Armut, Vetternwirtschaft, Rechtlosigkeit, Straffreiheit trockenzulegen. Ein hemdsärmeliger, 1945 geborener Machthaber, der den Papst einen »Hurensohn« nennt, eine vergewaltigte australische Nonne verhöhnt und behauptet, eigenhändig Verbrecher

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erschossen zu haben. »Tötet sie alle und beendet das Problem«, schlug er vor und kündigte an, 100.000 Leichen in die Bucht von Manila werfen zu lassen. In dem von Korruption, Machtmissbrauch und Verbrechen gebeutelten Inselstaat, in dem die Eliten sich schamlos bereichern und die Armen vom Wirtschaftswachstum so gut wie ausgeschlossen sind, kam dies gut an. Viele Filipinos verehren Duterte. Seine Wahl ist ein Denkzettel der Zornigen und Enttäuschten an die Oligarchie, die seit Jahrzehnten das Volk mit leeren Wahlversprechen belügt, sich schamlos bereichert, Steuergelder in die eigenen Taschen stopft und für alles keinerlei Konsequenzen fürchten muss.

dens, auf der Kunden ein schnelles Frühstück einnehmen können, nur ein paar hundert Meter vom Tatort entfernt. Sie tragen Baseballkappen und Sonnenbrille. Zwei Freunde stehen am Eingang Schmiere, falls die Polizei aufkreuzt. Die beiden Jungs haben Angst, sitzen nervös an einem leeren Tisch vor einem Panoramafenster, von dem aus sie die ganze Straße überblicken können. Zeugen kann die Polizei überhaupt nicht gebrauchen. Immer, wenn sich die Tür öffnet und ein Kunde den Laden betritt, zucken sie zusammen. Christian schaut dann fragend zu seinen beiden Kumpels hinunter. Nicken. Daumen hoch. Alles in Ordnung. Ich spendiere Kaffee und Donuts. Nach ein paar Schlucken Moccachino beginnen die beiden zu erzählen.

Manila Vice Ein Polizist klopft eine Zigarette aus einer Schachtel, zündet sie mit einem Streichholz an, zieht den Rauch tief in die Lunge und blickt mürrisch in die Kameras. Ein paar klärende Worte: Ein Drogendealer, bewaffnet, zu allem bereit, gestellt von Zivilpolizisten am Ende einer dunklen Gasse, aus der es kein Entkommen gab. Drei Schüsse. Notwehr. Ein Revolver neben einem namenlosen Körper als Beweisstück. Ansonsten: keine Augenzeugen, kein großes Spektakel. Ganz normal. Manila Vice. Alles Weitere morgen im Polizeibericht. Dann klatscht der Polizist in die Hände und ruft den Medienleuten zu, dass die Show nun zu Ende sei. Ab nach Hause. Gute Nacht. Oder besser: Guten Morgen. Was der Polizist nicht ahnt: Es gibt noch eine andere Version vom Tathergang. »Alles Lüge«, raunt ein Anwohner im Nachthemd, nachdem die Polizei verschwunden ist und nur noch eine Blutpfütze daran erinnert, dass hier eben erst ein Mensch gestorben ist. Der Tote sei unbewaffnet gewesen. Es gebe Augenzeugen, drei Jugendliche hätten alles beobachtet und Fotos gemacht. Woher er das weiß? »Das hat Jay-R erzählt.« Ich frage den Anwohner, wo ich Jay-R finden kann. Wir sollten es mal in dem Videospielladen an der nächsten Straßenecke versuchen. Es ist, wie der Mann vermutet hat. Auf einem weißen Plastiksessel hockt ein schmales Kerlchen in Bermudas und Unterhemd, kaum älter als zwölf Jahre, und starrt mit schweren Augen auf den Computerbildschirm. Inzwischen ist es kurz nach fünf. Vor dem Spielsalon bauen die ersten Händler ihre Stände auf. Manila erwacht zum Leben. Ich frage mich, warum dieser Knirps nachts an Tatorten herumlungert und bis in die Puppen Zombies totschießen darf. Statt ihn ins Bett zu schicken, frage ich ihn, was er gesehen hat. Große, erschrockene Augen schauen mich an. »Nichts! Ehrlich!« Er wolle keinen Ärger mit der Polizei. Aber er kennt einen der Jungs, die alles beobachtet haben. Er diktiert eine Telefonnummer, dann rennt er aus dem Laden. Es kostet mich einige Zeit und Überredungskunst, ein Treffen mit den Zeugen zu arrangieren. Ihre Bedingungen: keine Namen, keine Fotos, Treffen an einem öffentlichen Ort ihrer Wahl. Abgemacht. Eine Stunde später treffe ich Christian und Jason, beide noch Teenager, auf der Empore eines kleinen La-

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Zu viel für eine Nacht Christian und Jason spielten in der Nacht an den Computern des Videospielladens. Gegen 2:35 Uhr fuhr ein Motorrad in die Gasse hinter dem Laden. Kurz darauf hörten sie Schreie. »Wir haben rausgeschaut und gesehen, wie ein Mann, der einen Helm trug, einen anderen Mann gegen einen Baum drückte und immer wieder auf ihn einschlug«, erzählt Jason. Während er spricht, knetet er mit der rechten Hand die Finger der linken und wippt mit dem Oberkörper wie ein Metronom. »Yeah Mann, dann fielen drei Schüsse und wir sahen den Motorradfahrer wegfahren«, erzählt Christian. Aber es sei noch ein weiterer Mann dagewesen. Denn gleich nachdem der erste Schütze verschwunden war, fielen vier weitere Schüsse. Kurz darauf erschienen Polizisten und sperrten die Seitenstraße ab. »Wir sind dann auf einen Wassertank hinter dem Haus geklettert, um zu sehen, was los ist. Von dort hat man eine gute Sicht auf die Gasse«, erzählen die Teenager. »Wir haben Fotos gemacht«, sagt Christian und zieht sein iPhone aus der Tasche. »Hier schau: Das ist der Tote. Siehst Du eine Waffe? Nein! Der ist unbewaffnet.« Als die Polizisten die Jungs auf dem Wassertank entdecken, befehlen sie ihnen zu verschwinden. Erst später erfahren Christian und Jason, dass es offiziell heißt, der Mann sei bewaffnet gewesen und hätte auf die Polizisten geschossen. »Nein, Mann. Das stimmt nicht. Warum behauptet die Polizei so etwas?« Christian würde jetzt gern gehen, die Müdigkeit, der Mord, die Lügen der Polizei, alles ein bisschen zu viel für eine Nacht. Eine letzte Frage: Warum erzählt ihr das alles? »Wir sind gegen Drogen. Aber wir sind auch dagegen, dass Unschuldige ermordet werden. Wir fühlen uns nicht mehr sicher«, sagt Jason. Dann verabschieden sie sich. Seit Juni 2016 ist Duterte Präsident. Seitdem hat sich die philippinische Gesellschaft radikal verändert. Entweder man ist für den Präsidenten oder gegen ihn. Ein Riss geht durch die Bevölkerung, zertrennt Freundschaften, spaltet Familien, macht Freunde zu Feinden und Fremde zu erbitterten Gegnern. Wie viele Menschen tatsächlich in diesem Drogenkrieg getötet wurden, ist schwer zu ermitteln. Die Polizeistatistik nennt 4.000 in Polizeioperationen getötete Drogendealer, dazu über 2.000 Drogenmorde durch Auftragskiller – und über 7.000 ungeklärte Mordfälle. Also bis zu 13.000 Tote innerhalb eines Jahres. 13.000! Und täglich werden es mehr. Es ist nicht nur der Drogenkrieg, der die Gemüter erhitzt. Die Mehrheit des Repräsentantenhauses stimmte 2017 für die Wiedereinführung der Todesstrafe. Kinder ab neun Jahren gelten als strafmündig. Politische Gegner werden eingeschüchtert oder gleich festgenommen und eingesperrt. Eine von der Regie-

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Tatortsicherung I. Polizisten in Caloocan City, Dezember 2016.

Tatortsicherung II. Nach einem Mord in Mandaluyong City, November 2016.

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rung bezahlte Troll-Armee unterdrückt im Internet jede Kritik mit einer Flut von Hassmails und Drohungen bis hin zu Vergewaltigungs- und Mordaufrufen. Die Regierung droht Zeitungen und Fernsehsendern, die kritisch über den Präsidenten berichten, die Lizenzen nicht zu erneuern. Der Präsident ruft im Mai das Kriegsrecht im Süden des Landes aus, nachdem ein lokaler IS-Ableger die Stadt Marawi angriff. Zwei Monate und Hunderte Tote später kontrollieren die Terroristen noch immer einige Stadtteile. Vielen Bürgern macht diese Entwicklung Angst. Der Kampf gegen die Drogen ist martialisch, sichtbar, massenwirksam. Duterte ist eine weitere schillernde Gestalt im weltpolitischen Männerclub mit Schmuddelimage: Donald Trump, Recep Tayyip Erdoğan, Wladimir Putin, Kim Jong-un. Der Drogenkrieg liefert die passenden Bilder und Geschichten; schauerlich und faszinierend zugleich. Redaktionen aus aller Welt schicken ihre Reporter. Ihre Frage ist nicht, ob es Tote geben wird, sondern wie viele. Ein solches Interesse bekommen die Philippinen ansonsten nur, wenn Taifune oder Tsunamis das Land verwüsten.

Selbstjustiz und Polizeiwillkür In diesem Krieg sterben vor allem die Armen. Monatelang klappere ich in schwülen Tropennächten die Tatorte in den Slums ab: Tondo, Payatas, Novotas oder Quezon City. Ich sehe Hunderte Leichen, von Kugeln durchsiebt, in Packpapier oder Zellophan eingewickelt, auf Müllkippen geworfen, in Parks deponiert, in Flüssen treibend, manche Tote tragen auf Pappschilder gekritzelte Botschaften um den Hals. In geheimen Wohnungen treffe ich Auftragsmörder, die für korrupte Polizisten und Drogenbosse die Drecksarbeit erledigen. Ich spreche mit eingeschüchterten Drogendealern, die sich aus Angst, ermordet zu werden, nicht aus ihren Verstecken heraustrauen. Ich begleite Polizeiraz-

Beweisaufnahme. Ermittler in Navotas City, Oktober 2016.

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zien und erlebe, wie Drogenfahnder alleinerziehende, dealende Mütter von ihren Kindern trennen oder Jugendlichen wegen ein paar Gramm Chrystal Meth lebenslang Gefängnis droht. Ich bin Zeuge, wie ein Zivilpolizist einem Verdächtigen Drogen unterjubeln will und wie ein junger Polizeirekrut bei einer Razzia von einem Dealer erschossen wird. Ich treffe Zeugen in Schutzprogrammen und begleite Angehörige von Opfern auf Trauerfeiern und Beerdigungen. Darunter ein fünfjähriges Mädchen, das in die Schusslinie von Todesschwadronen geriet. Die Angst ist so groß, dass die Bewohner mancher Viertel nachts auf der Straße schlafen, um nicht versehentlich bei Polizeirazzien als Kollateralschaden zu enden. Mütter, deren Söhne von der Polizei verdächtigt werden, Drogen zu nehmen, lassen ihre Sorgenkinder nicht mehr aus dem Haus, damit sie nicht mit einem Kopfschuss in der Gosse landen. Im Ausland kommt das Morden nicht gut an. Menschenrechtsgruppen kritisieren Selbstjustiz und Polizeiwillkür. Europäische Politiker verlangen die Einhaltung demokratischer Normen und diskutieren lautstark, ob sich der 7.000-Inseln-Staat mit über 100 Millionen Einwohnern unter Duterte von einer Demokratie in eine Autokratie verwandelt hat. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag leitete im Februar wegen mutmaßlicher staatlicher Todesschwadronen vorläufige Ermittlungen gegen Duterte und dessen Regierung ein. Im März dann der Gegenschlag: Ein Sprecher Dutertes kündigte den Rückzug des Landes aus dem Strafgerichtshof an, weil es als »politisches Werkzeuge gegen die Philippinen« missbraucht werde. Schuld haben, wenn es nach Duterte und seinen Anhängern geht: die Medien. Sie würden Kampagnen betreiben, um das Land im Auftrag fremder Mächte zu destabilisieren, heißt es. Und so tobt in den Philippinen auch ein Informationskrieg in den sozialen Medien. Diesen hat das Duterte-Lager längst ge-

Weggesperrt.

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wonnen. Allein bei Facebook sind 47 Millionen Filipinos registriert. Unzählige Pro-Duterte-Gruppen und -Blogger, tausendfach gefälschte Profile und Bots verbreiten Falschbehauptungen, Propaganda und Diffamierungen. Journalisten traditioneller Medien sehen staunend dabei zu, wie Fakten und der gesunde Menschenverstand im Getöse des Netzes untergehen. Kollegen erhalten im Internet Morddrohungen, Kolleginnen wird gewünscht, dass sie von Drogenabhängigen vergewaltigt werden. Schon die kleinste Kritik genügt, um sich in einen sozialen Shitstorm zu manövrieren. Auch mich trifft die Wut der Zornigen. Im Januar dieses Jahres drehe ich für die New York Times einen Film über den Drogenkrieg. Ich bitte die Redaktion, meinen Namen entweder gar nicht zu erwähnen oder nur im Nachspann. Der Film sorgt für Wirbel, und ein wutschnaubender Präsident wirft der Zeitung vor, einen Coup zu planen, um die Regierung zu stürzen. Die Journalisten seien von der Opposition bezahlte Agenten. Obwohl mein Name nur ganz kurz auftaucht, geistern bald Aufrufe durchs Netz, mir eine Lektion zu erteilen. Ich will mich nicht einschüchtern lassen, doch das Kalkül der Trolle geht auf. Wenn ich mit meinem Motorrad durch Manila fahre, schaue ich nun öfter in den Rückspiegel, ob mich jemand verfolgt. Mopedfahrer, die an roten Ampeln neben mir halten, beobachte ich misstrauisch. Bevor ich mein Haus verlasse, sondiere ich die Gegend nach Verdächtigem. Nach einer Auslandsreise kontrolliere ich zuerst mein Gepäck, ob jemand darin Drogen deponiert hat.

Widerstand formiert sich Noch immer bekommt Duterte in Umfragen Zustimmungswerte von über achtzig Prozent. Doch der Erlösernimbus beginnt zu schwinden. Im Schatten des Jubels formiert sich Widerstand. Studenten boykottieren aus Protest gegen die Todesstrafe den

In diesem Krieg sterben vor allem die Armen. Unterricht an Universitäten. Bürgerrechtsgruppen organisieren Demonstrationen gegen den Drogenkrieg und außergerichtliche Hinrichtungen. Einstige Widerstandskämpfer gegen die Diktatur von Ferdinand Marcos warnen vor einem Rückfall in die Tyrannei. Ehemalige Mitglieder von Todesschwadronen beschuldigen den Präsidenten öffentlich, Morde persönlich in Auftrag gegeben zu haben. Von Gewissensbissen geplagte Polizisten quittieren den Dienst, weil sie den Befehl verweigern, Verdächtige zu erschießen. In der Nacht des 16. August des vergangenen Jahres griffen drei Polizisten den 17-jährigen Schüler Kian de los Santos vor dessen Elternhaus auf, führten ihn in eine dunkle Seitengasse, zwangen ihn, sich auf den Boden zu legen und schossen ihm dann von hinten in den Kopf. Der Junge, so schrieben sie später im Polizeibericht, sei ein Drogendealer gewesen. Er habe auf sie geschossen. Deshalb: Notwehr. Was die Polizisten nicht wussten: Eine Überwachungskamera zeichnete alles auf. Deren Bilder erzählen eine andere Geschichte. Auf ihnen ist zu sehen, wie ein verängstigter Junge von Polizisten abgeführt wird. Augenzeugen erzählen, dass der Junge die Polizisten angefleht habe, ihn gehen zu lassen, da er am nächsten Tag eine Prüfung schreiben müsse. Kian de los Santos war ein guter Schüler, der Polizist werden wollte. Er war einer von neunzig Toten, die innerhalb von drei Tagen von Polizeibeamten erschossen wurden. Einen Tag nach dem Mord an Kian de los Santos verschwanden der 19-jährige Student Carl Arnaiz und sein 14-jähriger Kumpel Reynaldo de Guzman. Arnaiz’ toter Körper tauchte zehn Tage später mit fünf Schusswunden in einer Leichenhalle in Caloocan auf, einer 1,5 Millionen-Einwohner-Metropole im Großraum Manila. Kurz darauf fanden Anwohner den 14-jährigen Reynaldo. Seine Leiche trieb mit durchtrennter Kehle in einem Bach. Seitdem schaukelt sich die Stimmung im Land hoch. Der 21. September ist ein historischer Tag in den Philippinen. 45 Jahre nachdem Diktator Marcos das Kriegsrecht ausgerufen und die Diktatur eingeläutet hatte, gingen landesweit Tausende Menschen auf die Straße, um gegen die Politik von Präsident Duterte zu demonstrieren. »Nie wieder Diktatur«, riefen sie und forderten ein Ende von Drogenkrieg und Kriegsrecht im Süden des Landes. »Gerechtigkeit für Kian«, stand auf unzähligen Pappschildern, die an den Mord an dem Schüler erinnerten. Und am Ende des Protestzuges verbrannten wütende Demonstranten einen riesigen Holzwürfel, bemalt mit den Gesichtern von Duterte, Marcos und Adolf Hitler. Fünf Tage später wurde der Schüler Jayross Brondial vor seinem Haus in Manila erschossen. Er war 13 Jahre alt. 쮿 Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen:  www.amnesty.de/app

Gefangene in der Manila Police  Station 9 im Stadtteil Malate, Februar 2017.

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Bleiben hartnäckig. Phan Anh Cuong und der Blogger Nguyen Chi Tuyen (rechts) in Hanoi, Juni 2017.

Keine Fotos, bitte 44

Konservative Hardliner in Vietnam haben etliche Dissidenten ins Exil gezwungen. Andere trotzen dem kommunistischen Regime. Von Mathias Peer, Bangkok Vor seiner Flucht aß Herr Hoàng noch einen letzten Teller Phở – die Nudelsuppe ist Vietnams Nationalgericht. Dann packte er seinen Koffer und machte sich auf den Weg. Er hatte sein Handy dabei, einen Computer, Kleidung und ein paar Ersparnisse. Herr Hoàng verabschiedete sich von niemandem. Seine Freunde und Verwandten sollten sich keine Sorgen machen. Er wollte auch nicht, dass jemand versuchte, ihn von seinem Plan abzubringen. Herr Hoàng war fest davon überzeugt, dass er das Richtige tat: In Saigon konnte er nicht länger bleiben. In seiner Heimat war es zu gefährlich geworden.

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Foto: Quinn Ryan Mattingly / The New York Times / Redux / laif

Herr Hoàng ist vietnamesischer Dissident. Vor sechs Jahren begann er damit, sich politisch zu engagieren. Er ging zu Demonstrationen und schrieb Artikel und Blog-Einträge, in denen er das kommunistische Regime in seiner Heimat kritisierte. Einfach war das noch nie: Vietnams Einparteienherrschaft unterdrückt abweichende Meinungen seit der Wiedervereinigung vor vier Jahrzehnten. Regimekritiker werden regelmäßig zu Haftstrafen verurteilt. In den vergangenen Monaten stieg der Druck auf die Aktivisten aber spürbar an: Dutzende friedliche Aktivisten und Blogger kamen ins Gefängnis. Menschenrechtler sprechen von einem beispiellosen Vorgehen gegen die Meinungsfreiheit. Zwei Monate nach seiner Flucht geht Herr Hoàng durch ein Wohnviertel in der thailändischen Hauptstadt Bangkok. Er trägt ein Kurzarmhemd, Sandalen und eine Dreiviertelhose. Zwischen Herrn Hoàng und seiner alten Heimat liegen mehr als 700 Kilometer und zwei Landesgrenzen. Richtig sicher fühlt sich der gut 40 Jahre alte Mann aber immer noch nicht. Er verweist auf Trịnh Xuân Thanh, einst Manager eines Staatskonzerns, der in Deutschland Asyl suchte und nach Überzeugung deutscher Ermittler vom vietnamesischen Geheimdienst zurück in seine Heimat verschleppt wurde. »Ich versuche, unerkannt zu bleiben«, sagt der Aktivist. Hoàng ist deshalb auch nicht sein richtiger Name. Er will seine Geschichte nur unter einem Pseudonym erzählen. Sie beginnt mit der Wut auf Vietnams großen Nachbarn: China. Das Land ist bei vielen Vietnamesen unbeliebt – besonders wegen seiner mit Vehemenz vorgetragenen Gebietsansprüche im Südchinesischen Meer. Inselgruppen, die Pekings Führung für sich reklamiert, sehen auch die Vietnamesen als die ihren an. Herr Hoàng bezeichnet sich selbst als Patrioten. Er hielt es deshalb für selbstverständlich, öffentlich dagegen zu protestieren, als China 2011 ein Erkundungsschiff in das umstrittene Gebiet schickte. Doch Vietnams Regierung ließ die Demonstranten nicht lange gewähren. Sie befahl ein Ende der Proteste und ließ Medienberichten zufolge Dutzende Aktivisten festnehmen. »Da wurde mir bewusst, dass das eigentliche Problem nicht in Peking liegt, sondern in Hanoi«, erzählt Hoàng. »Ich habe dann angefangen, mich auf Menschenrechtsverletzungen zu fokussieren und darüber zu schreiben.« Dass die Menschenrechtslage in Vietnam derzeit besonders verheerend ist, bestätigen internationale Organisationen. Die liberale Denkfabrik Freedom House bezeichnet das Land in ihrem Jahresbericht 2018 als eines der unfreisten Länder der Welt. Die Organisation Reporter ohne Grenzen listet Vietnam in ihrem Pressefreiheitsindex auf Rang 175 von 180 untersuchten Ländern. Amnesty International veröffentlichte im Januar eine Liste mit mehr als 90 Namen von gewaltlosen politischen Gefangenen in Vietnam. Nach Ansicht von Beobachtern hängt das zuletzt besonders harte Vorgehen gegen Aktivisten mit einem Machtwechsel in der Kommunistischen Partei zusammen, in der 2016 konservative Hardliner die Führung übernahmen. Zudem interessiert sich Vietnams wichtigster Verbündeter, die USA, nicht mehr für Menschenrechtsfragen, seit Donald Trump Präsident wurde. Wie sehr die Festnahmen die Aktivisten verunsichern, hat James Gomez, Amnesty-Regionaldirektor in Südostasien, Ende 2017 bei einer Menschenrechtskonferenz auf den Philippinen erlebt. Viele der vietnamesischen Teilnehmer trugen Sticker auf ihren Jacken und Hemden mit der Aufschrift »Keine Fotos,

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Vietnam nimmt Platz 175 von 180 Staaten auf der Liste der Pressefreiheit ein. bitte«. Ein Bild reiche schon aus, um in den Fokus der Behörden zu geraten, so die Befürchtung. »Die staatliche Überwachung nimmt zu«, sagt Gomez. »Viele Aktivisten sind besorgt.« Die Sorge scheint berechtigt. Vietnam machte zuletzt mehrfach mit seinem harten Vorgehen gegen Dissidenten international Schlagzeilen: Im vergangenen Oktober wurde der 24 Jahre alte Blogger Phan Kim Khánh zu sechs Jahren Haft verurteilt. Das Regime beschuldigte ihn der staatsfeindlichen Propaganda – einer der gängigen Vorwürfe, um Kritiker mundtot zu machen. Im September erhielt der 36-jährige Menschenrechtler Gioan Nguyễn Văn Oai eine fünfjährige Gefängnisstrafe. Er hatte gegen eine Stahlfirma protestiert, die giftige Chemikalien ins Meer geleitet und damit ein Fischsterben ausgelöst hatte. Demonstranten gaben der Regierung eine Mitverantwortung für den Vorfall. An den Protesten war auch Nguyễn Ngọc Như Quỳnh beteiligt – eine der populärsten Bloggerinnen Vietnams, die unter dem Spitznamen Mother Mushroom bekannt ist. Sie schrieb über Meinungsfreiheit und Polizeigewalt. Im Juni wurde sie zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt – Menschenrechtsgruppen waren empört. Der Blogger Nguyễn Chí Tuyến aus Hanoi, der unter dem Namen Anh Chí bekannt ist, will bleiben – obwohl er sich alles andere als sicher fühlt. »Sie können festnehmen, wen immer sie wollen«, sagt er. »Aber ich habe keine Angst.« Anh Chí ist 43 Jahre alt. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder im Teenageralter und arbeitet als Vietnamesischlehrer und Übersetzer. Der Hauptgrund, weshalb jahrelang Zivilpolizisten vor seinem Haus lauerten, sind aber seine Aktivitäten im Internet. Anh Chí betreibt eine politische Facebook-Seite mit mehr als 40.000 Abonnenten. »Ich kämpfe für meine Werte: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte«, sagt er. Wie gefährlich diese Arbeit ist, können Besucher von Anh Chís Facebook-Seite auf den ersten Blick erkennen. In der linken Spalte ist der Blogger mit blutüberströmtem Gesicht zu sehen. Das Foto wurde im Mai 2015 aufgenommen. Fünf Männer verfolgten ihn auf seinem Mofa und stoppten ihn. Dann schlugen sie mit Händen, Stöcken und Ziegelsteinen auf ihn ein. Die Attacke endete erst, als Passanten anhielten, um ihm zu helfen. Die Täter wurden bis heute nicht bestraft. »Es ist ein tödliches Spiel mit einem gigantischen Gegner«, sagt der Aktivist über seine Arbeit. Doch er will damit nicht aufhören: »Die vietnamesische Bevölkerung verlangt den Wandel, und niemand wird diesen Wandel aufhalten können.« Für Herrn Hoàng hat unterdessen im Exil in Bangkok ein neuer Kampf um seine Rechte begonnen. Thailand hat die Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet und garantiert politisch Verfolgten deshalb keinen Schutz. Hoàng muss deshalb mit seiner Abschiebung rechnen. Seine Zeit verbringt er hauptsächlich in einem Zimmer, das er sich am Stadtrand gemietet hat. »Ich versuche, nicht aufzufallen«, sagt er. Seine kritischen Artikel schreibt er aber auch im Exil noch immer. 쮿

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Verschleppt in Karatschi Tausende Belutschen sind in den vergangenen Jahren von pakistanischen Sicherheitskräften entführt worden. Die Täter gehen straffrei aus. Von Andrzej Rybak (Text und Fotos), Karatschi Sagheer Baloch saß mit Freunden in der Kantine der Universität Karatschi, als Männer in Zivilkleidung die Räume stürmten. Sie packten die Tasche und den Laptop des 21-jährigen Politikwissenschaftlers und warfen ihn samt seinen Sachen in einen weißen Toyota, der vor der Tür wartete. Das war am 20. November 2017 gegen 17 Uhr. Dutzende Kommilitonen sahen den Vorfall, doch aus Angst mischte sich niemand ein. Denn jeder wusste: Die Männer gehören zu den Pakistan Rangers, der berüchtigten paramilitärischen Truppe des Innenministeriums. Nur sie dürfen einfach so mit Autos und Motorrädern auf dem abgesperrten Unigelände fahren. Die Menschenrechtslage in Pakistan ist bedrückend: Religiöse und ethnische Minderheiten werden diskriminiert, Frauen zwangsverheiratet und aus Gründen der »Ehre« ermordet. Bewaffnete Konflikte und politisch motivierte Gewalt spielen vor allem in den Provinzen Khyber Pakhtunkhwa, Belutschistan und Sindh sowie in den Stammesgebieten im Nordwesten des Landes eine große Rolle. Jeden Tag werden irgendwo im Land Menschen von Angehörigen der Geheimdienste oder der Armee verschleppt: Aktivisten von Minderheiten, die nach Autonomie streben, regimekritische Journalisten und Menschenrechtler, oppositionelle Politiker und Studenten. Doch am schlimmsten trifft es die Belutschen. In den vergangenen Jahrzehnten sind nach Angaben von Menschenrechtlern bis zu 20.000 Personen aus Belutschistan von Sicherheitskräften entführt worden. Die meisten tauchten nie wieder auf. »Es gibt heute kaum noch eine intakte Familie in Belutschistan, jede hat Angehörige verloren«, klagt Tayyaba Baloch, die stellvertretende Vorsitzende der belutschischen Organisation für Menschenrechte (BHRO). »Jeden Tag führt die Armee Säuberungen durch, zündet Häuser und Dörfer an.« Auch Sagheer Baloch, der verschleppte Student, ist Belutsche. Seine Schwester Hamida hat deshalb kein gutes Gefühl. »Seit seinem Verschwinden haben wir kein Lebenszeichen von ihm«, sagt sie unter Tränen. Die Polizei habe zwar die Aussagen der Zeugen aufgenommen, doch sowohl Ranger als auch andere Wachleute bestritten später, an der Aktion beteiligt gewesen zu sein. »Er gehört keiner politischen Organisation an«, betont die Schwester. »Seine einzige Sünde ist wohl, dass er aus Awaran stammt.« Die Region gilt als Hochburg der belutschischen Nationalisten. Belutschistan im Südwesten des Landes ist die größte Provinz Pakistans. Es ist etwa so groß wie Deutschland, doch leben hier nur gut zwölf Millionen Menschen, viele davon in

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Armut. Nach dem Rückzug der Briten 1947 strebte der mehrheitlich von Belutschen bewohnte Landstrich nach Unabhängigkeit, wurde aber 1948 vom neu gegründeten Pakistan annektiert. Eine zunächst gewährte Teilautonomie schaffte die Regierung in Islamabad 1955 ab. Das führte zu immer neuen Aufständen gegen die pakistanische Herrschaft. Bereits bei den Kämpfen in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren wurden Tausende Unabhängigkeitskämpfer von der pakistanischen Armee getötet. Die Belutschen haben ein ähnliches Problem wie die Kurden. Ihr Siedlungsgebiet erstreckt sich über mehrere Staaten: Iran, Afghanistan und Pakistan. Der Khan von Kalat gründete 1666 den ersten unabhängigen Belutschen-Staat, im 19. Jahrhundert kam die Region unter britische Herrschaft. Mit dem Autonomiesonderstatus im kolonialen Britisch-Indien begründen die Belutschen bis heute ihr Recht auf Unabhängigkeit. Davon will Pakistan aber nichts wissen. Forderungen der Belutschen nach mehr Rechten werden von der Armee niedergeschlagen, der letzte Aufstand begann 2004 und dauerte acht Jahre. Zudem wirft die pakistanische Regierung den Belutschen vor, mit Indien zu paktieren und von indischen Geheimdiensten finanziert und unterstützt zu werden. Die Belutschen bestreiten das. Auch habe die pakistanische Regierung nie entsprechende Beweise vorgelegt. All das führt zu einem Klima der Unterdrückung. Viele Belutschen fühlen sich als Feinde im eigenen Land. Wer sich in Pakistan für Belutschistan einsetzt, egal ob friedlich oder mit der Waffe, gilt als Terrorist. Im Kampf gegen die »Terroristen« ist der Armee jedes Mittel recht: Menschen werden verschleppt, gefoltert, getötet – ohne offizielle Anklage, ohne Gerichtsurteil. Die Armee soll sogar Brunnen und Wasserstellen vergiften, um den Belutschen ihre Lebensgrundlagen zu nehmen. Verifizieren lassen sich solche Berichte kaum – für Ausländer ist Belutschistan schwer zugänglich. »Allein im vergangenen Jahr wurden 2.114 Belutschen bei Strafaktionen der Armee und des paramilitärischen Frontier Corps verschleppt«, sagt die Menschenrechtlerin Tayyaba Baloch. »545 wurden gefoltert und getötet. Wir haben viele Leichen gefunden. Von den meisten fehlt aber jede Spur.« Ihre Organisa-

Seit den 1950ern begehren Belutschen gegen die pakistanische Herrschaft auf. aMnesty journaL | 04-05/2018


Da für den Bruder. Sagheer Balochs Schwester Hamida und die Menschenrechtlerin Tayyaba Baloch im Februar 2018 in Karatschi.

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Nur vor dem Presseclub werden Demonstranten nicht von der Polizei abgeführt.

Zahra. Die Familie reichte dann in der belutschischen Provinzhauptstadt Quetta eine Klage gegen das Frontier Corps ein – und wurde umgehend von Soldaten bedroht. »Früher trugen sie immer Zivilkleidung, wenn sie Leute verschleppten«, sagt Asad Butt, Vorsitzender der Human Rights Commission of Pakistan in Karatschi. Inzwischen agierten die Killer immer unverblümter. »Jetzt fahren sie in Armeeautos vor, in ihren Uniformen.« Manchmal werde die örtliche Polizei sogar gezwungen, bei den Aktionen zu assistieren. Wenn Butt die Ranger um eine Stellungnahme für die Behörden bittet, streiten sie alles ab. »Ich habe einmal vor Gericht Filmaufnahmen vorgelegt, die eine Beteiligung des Militärs belegten. Selbst das hat nichts gebracht«, sagt er kopfschüttelnd. Derzeit wird der vergessene Konflikt mit den Belutschen zusätzlich von einem milliardenschweren Infrastrukturprojekt belastet: Dem Bau des chinesisch-pakistanischen Korridors, der über 3.000 Kilometer von der chinesischen Grenze im Norden des Landes quer durch Belutschistan zum Hafen Gwardar am Indischen Ozean verlaufen soll. Das Vorhaben ist Teil von Chinas Plänen für eine »Neue Seidenstraße«. Eine Schnellstraße und mehrere Kraftwerke sollen gebaut werden, Rohstoffe gefördert und verarbeitet. Belutschistan ist die an Bodenschätzen reichste Region Pakistans. In der Erde lagern Erdgas, Kohle, Zink und Gold. Für das Projekt wurden bereits Tausende Familien enteignet. »Die Chinesen stehlen unser Land und unsere Rohstoffe«, klagt Jamila Baloch, die Schwester des getöteten Noor Achmad. Und verbittert fügt sie hinzu: »Syrien hat Glück, die ganze Welt weiß, was dort passiert. Die Verbrechen der pakistanischen Armee in Belutschistan sind hingegen kaum bekannt.« Weder die Opposition noch die Medien noch die Regierung wollten sich für die Belutschen mit der Armee anlegen. »Nur Druck aus dem Westen kann uns helfen«, sagt sie. Und: »Wenn die USA keine Waffen und keine Munition mehr liefern würden, wäre die Menschenrechtssituation wahrscheinlich besser.« 쮿

tion versucht, alle Nachrichten über Menschenrechtsverstöße gegen die Belutschen zu sammeln und zu dokumentieren. Die Aktivisten besuchen die Familien der Verschleppten, spenden Trost und leisten Beistand. »Wir werden bei unserer Arbeit immer wieder von Armee und Polizei behindert und belästigt«, schimpft die 20-Jährige. Auch sie riskiert bei ihrem Einsatz ihr Leben: »Früher haben sie nur belutschische Männer entführt, jetzt werden auch Frauen verschleppt.« Tayyaba Baloch sitzt unter einem Zeltdach an der Außenmauer des Internationalen Presseclubs in Karatschi. Das ist der letzte Ort in der Hafenmetropole, an dem die Belutschen demonstrieren dürfen, ohne von der Polizei abgeführt zu werden. Regelmäßig versammeln sich hier die Familien der Verschleppten, um auf ihre Angehörigen aufmerksam zu machen. »Wenn unsere Brüder Terroristen sind oder etwas verbrochen haben, dann soll man sie doch vor Gericht stellen und sie verurteilen«, sagt Hamida Baloch, die Schwester des verschwundenen Studenten. Die Unsicherheit über ihren Bruder ist für sie das Schlimmste. Denn meist erfahren die Familien der Verschleppten nichts über den Verbleib ihrer Angehörigen, die Ehefrauen wissen nicht, ob sie noch verheiratet sind oder bereits Witwen. Wenn die Vermissten wieder auftauchen, sind sie meist tot und tragen Spuren von Folter. Viele Leichen sind so stark verunstaltet, dass man sie kaum noch erkennen kann. Wie Noor Achmad. Am 2. Januar 2018 wurde seine verstümmelte Leiche auf einem Feld bei Mirabad gefunden, etwa 200 Kilometer nordöstlich von Karatschi. Die Folterer hatten seine Augen herausgerissen, im Bauch klafften mehrere Wunden. »Es war das Militär«, sagt seine Nichte Zahra, die bei der Festnahme von Noor Achmad dabei war. »Unser Auto wurde vor einem Armeestützpunkt angehalten. Sie führten meinen Onkel ab, um ihn zu verhören und befahlen uns, nach Hause zu fahren.« Das war am 28. Juli 2016. Die 26-jährige Zahra protestierte lautstark, bis die Soldaten drohten, sie ebenfalls einzusperren. Sie meldete den Vorfall bei der Polizei. Noor Achmad war Lehrer und hoch angesehen. Dennoch hat die Polizei bis heute eine Untersuchung verweigert. »Sie sagten uns, sie riskierten ihr Leben, wenn sie gegen die Armee ermitteln«, erzählt Mit langem Atem. Asad Butt im Februar 2018 in Karatschi.

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»Jeder weiß, wer die Mörder sind« Interview: Markus Bickel

Frau Jilani, Ihr Land geht durch schwere Zeiten. Die menschenrechtliche Situation in Pakistan war schon immer sehr schwierig, doch es hat auch schon immer eine starke Menschenrechtsbewegung gegeben. Das aktuelle Problem besteht darin, dass der Staat nicht in der Lage oder willens ist, Verbrecher zur Rechenschaft zu ziehen. Das heißt, offizielle Stellen sind für die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen verantwortlich? Es gibt zwei sehr starke Mächte im Land, die dafür Verantwortung tragen: auf der einen Seite das Militär und das Sicherheitsestablishment, auf der anderen Seite Extremisten und religiöse Gruppen. Der Einfluss dieser beiden Kräfte ist enorm – viel größer als die Unterstützung, die sie im demokratischen Prozess genießen. Sie sorgen dafür, dass die demokratischen Strukturen schwach bleiben, und sie verhindern gesellschaftlichen Wandel. Ist das eine neue Entwicklung? Nein. Leider hat eine jahrzehntelange staatlich geförderte Propaganda dafür gesorgt, dass es nichtmuslimischen Gemeinschaften, aber auch Frauen sehr schwer gemacht wird, in Pakistan in Würde zu überleben. Andersdenkende werden häufig der Blasphemie bezichtigt. Auch wir sind als Blasphemiker beschimpft worden – unter anderem wegen unseres Einsatzes für ein Gesetz gegen die Zwangsverheiratung von Mädchen. Und der Vorwurf der Blasphemie ist in Pakistan extrem gefährlich: Schon die Beschuldigung reicht aus, einen Menschen in Lebensgefahr zu bringen – selbst wenn der Vorwurf gar nicht strafrechtlich verfolgt wird. Es gab Vorfälle, bei denen Menschen als Gotteslästerer bezichtigt und dann getötet wurden. Für Minderheiten besonders bedrohlich ist es in Belutschistan. Weil religiöse Gruppen wie die Ahmadiyya und die ethnische Gemeinschaft der Hazara von Extremisten nicht als Muslime anerkannt, sondern als Häretiker diffamiert werden, werden sie angegriffen. Die Zahlen sind ungenau, weil nicht alle Fälle aufgenommen werden, doch ist offensichtlich, dass es sich um gezielte Tötungen handelt. Jeder weiß, wer die Mörder sind. Das Militär? Dass der Staat tatsächlich hinter den Morden steckt, lässt sich nur schwer nachweisen. Mitschuldig macht er sich aber durch seine mangelnde Bereitschaft, nichtstaatliche Akteure zur Rechenschaft zu ziehen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass in einer militarisierten Provinz wie Belutschistan, in der die Geheimdienste überall präsent sind, die Täter unerkannt bleiben. Wie erklären Sie sich, dass der Staat sie schützt? Weil die Hazara so wenige sind, bleiben sie unsichtbar, was dazu führt, dass ihre Diskriminierung international kaum be-

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merkt wird. Ich würde so weit gehen, zu sagen, dass es in Pakistan einen Genozid an der Hazara-Gemeinschaft gibt. Und ich benutze das Wort Genozid nicht unbedacht – weder als Menschenrechtlerin, noch als Anwältin. Ziel ist die systematische Auslöschung der Hazara. . Anders als den Hazara fehlt es den pakistanischen Frauen nicht an starken Sprecherinnen. Ja, es gibt eine starke Frauenrechtsbewegung, die verhindert hat, dass aus Pakistan ein zweites Afghanistan wurde. Dennoch kämpfen wir weiter um fundamentale Rechte. Zu unseren wichtigsten Anliegen zählt der Kampf gegen die Frühverheiratung von Mädchen. Nur in einer Provinz sind Kinderehen verboten. Gibt es im Parlament in Islamabad keine Lobby für ein landesweites Verbot? Nein, abgesehen von ein paar wohlwollenden Abgeordneten. Und in den sozialen Medien gibt es Todesdrohungen gegen mich und andere Frauen, die ein gesetzliches Verbot fordern. Diese Einschüchterungen sind Teil eines weltweiten Trends gegen die Zivilgesellschaft: Die Freiheit, sich auszudrücken und zu protestieren, wird mit aller Gewalt mundtot gemacht. Gibt es dagegen ein Gegenmittel? Ja, ein sehr einfaches: Man muss Demokratie fördern, indem man Institutionen Zeit gibt, sich zu entwickeln. Dann klappen die Dinge auch. Unser größtes Problem in Pakistan ist, dass man demokratische Institutionen nicht wachsen lässt. Was autoritäre Regime und Bewegungen weltweit eint, ist ihr Ressentiment gegen Flüchtlinge. Was lässt sich dagegen tun? Ich halte die politische Instrumentalisierung von Flüchtlingen für das Schlimmste, was man machen kann – hier in Pakistan, aber auch in Europa. Da es im Kern um die Verteilung von Ressourcen geht, schürt eine solche Politik bewusst Spannungen. Politische Führer haben hier eine kollektive Verantwortung: Sie müssen führen, nicht geführt werden. Und aufstehen für die Schwachen, statt niederzuknien, wenn sie mit Mächtigen konfrontiert sind. 쮿

hina jiLani Foto: The Elders

Die Menschenrechtsanwältin Hina Jilani über Lynchjustiz und den Kampf gegen Kinderehen in Pakistan.

Hina Jilani arbeitet seit 1992 als Anwältin am Obersten Gerichtshof Pakistans; von 2000 bis 2008 war sie UN-Sonderbeauftragte für Menschenrechtsverteidiger. Die 1953 in Lahore geborene Juristin ist Gründerin der ersten Anwaltskanzlei Pakistans für Frauenrechte und des Aktionsforums der Frauen. Jilani gehört zahlreichen Jurys zur Verleihung von Menschenrechtspreisen an, darunter der zur Vergabe des Aurora-Preises for Awakening Humanity, dessen Gewinner im April bekannt gegeben wird. Amnesty International zeichnete sie 2000 mit dem Genetta-Sagan-Preis für Frauenrechte aus.

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Es fehlen die Gefangenen. Autokorso nach der Freilassung Deniz Yücels im Februar 2018 in Hamburg.

Im Zweifel für den Ankläger Für Journalisten in der Türkei sind die Aussichten auf ein faires Gerichtsverfahren düster. Auch der Prozess gegen den Amnesty-Vorstandsvorsitzenden Taner Kılıç ist politisiert. Von Ralf Rebmann Justiz und Gerechtigkeit gehören sinngemäß zusammen, im Türkischen teilen sie sogar dasselbe Wort. »Adalet« kann im Deutschen sowohl mit »Justizwesen« als auch mit »Gerechtigkeit« übersetzt werden. In der Praxis scheinen sich die türkische Justiz und die Gerechtigkeit jedoch immer weiter voneinander zu entfernen.

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Das bekommen derzeit vor allem regierungskritische Journalistinnen und Journalisten zu spüren, von denen viele seit Monaten ohne Anklage in Untersuchungshaft sitzen, darunter der Herausgeber der Zeitung Cumhuriyet, Akın Atalay. Lediglich Chefredakteur Murat Sabuncu und den Investigativjournalisten Ahmet Şık entließ ein Gericht im März aus der Untersuchungshaft, mindestens 150 Medienschaffende bleiben jedoch inhaftiert. Und auch andere Teile der Bevölkerung geraten ins Visier der Behörden – weil sie den Krieg gegen die Kurden ablehnen oder sich für die Zivilgesellschaft einsetzen. Die Menschenrechtslage in der Türkei ist auch deswegen so

aMnesty journaL | 04-05/2018


Foto: Bodo Marks / dpa / pa

Mehr als ein Drittel der Richter und Staatsanwälte sind seit 2016 entlassen oder inhaftiert worden.

desolat, weil das Justizsystem in einer Krise steckt. Der seit dem Putschversuch im Juli 2016 verhängte Ausnahmezustand hat großen Einfluss auf die Arbeit von Richtern und Staatsanwälten im Land. »Es ist unmöglich, von einer unabhängigen Justiz zu sprechen«, sagt Andrew Gardner, Türkei-Experte von Amnesty International. »Mehr als ein Drittel der Richter und Staatsanwälte wurde entlassen oder inhaftiert. Gleichzeitig äußern sich Personen aus höchsten Regierungskreisen öffentlich zu laufenden Gerichtsverfahren.« Gardner hat schon viele Gerichtsverfahren in der Türkei als Prozessbeobachter begleitet. Seit Oktober vergangenen Jahres muss er erstmals einen Prozess gegen einen Amnesty-Kollegen beobachten: Taner Kılıç, der Vorstandsvorsitzende der türkischen Amnesty-Sektion, ist seit Juni 2017 in Untersuchungshaft, weil er angeblich der Bewegung des muslimischen Predigers Fethullah Gülen angehören soll. Der Vorwurf lautet, Kılıç habe die App »Bylock« heruntergeladen, über die verschlüsselt Nachrichten ausgetauscht werden können. Kılıç ist damit nicht allein. Knapp 50.000 Personen sind aus diesem Grund bereits festgenommen oder inhaftiert worden. Dass es dabei auch Missverständnisse gab, wurde spätestens im Dezember 2017 deutlich, als der Generalstaatsanwalt in Ankara mitteilte, 11.480 Personen seien fälschlicherweise beschuldigt worden, »Bylock« heruntergeladen zu haben. Schuld daran sei ein weiteres Programm namens »Mor Beyin«, das von der Gülen-Bewegung ebenfalls eingesetzt werde, um deren tatsächliche Anhänger zu verschleiern. Taner Kılıçs Telefonnummer stand nicht auf der Liste des Generalstaatsanwalts. Kılıç und sein Anwalt stützen ihre Verteidigung auf unabhängige Gutachten, die zu dem Schluss kamen, dass die App sich nie auf seinem Smartphone befunden hat. Das zentrale Beweisstück, das Kılıç sogar zur Freilassung verhelfen könnte, sei jedoch der Polizeibericht, sagt Gardner. Bis heute wurde er den Richtern nicht vorgelegt. »Wieso die Behörden es nach acht Monaten nicht geschafft haben, ihre Beweise für Kılıçs Schuld vorzubringen, lässt sich rational nicht erklären.« Dabei war Kılıç schon fast in Freiheit. Am Spätnachmittag des 31. Januar 2018 verkündete ein Istanbuler Gericht, Kılıç solle aus der Untersuchungshaft entlassen werden. Bei seiner Frau, seinen Töchtern, Unterstützerinnen und Unterstützern war die Freude groß. Sie machten sich gleich auf den Weg nach Izmir, um ihn dort vor dem Gefängnis zu empfangen. Der Schock folgte kurz vor Mitternacht. Der Delegation wurde mitgeteilt, dass es einen neuen Haftbefehl gegen Kılıç gebe. »Gegen die Freilassung wurde von der Staatsanwaltschaft Beschwerde eingelegt«, sagt Gardner. Ein anderes Gericht, das vorher nie mit dem Fall befasst war und auch keine höheren Befugnisse hat, habe diesen Einspruch zugelassen und ihn zur Neubewertung an dasselbe Strafgericht zurückgeschickt. Dieses revidierte die eigene Entscheidung und ordnete am Vormittag des 1. Februar abermals Untersuchungshaft an. »Es gab keine neuen Beweise oder Argumente, keinen Grund, wieso die Richter von

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ihrer Entscheidung hätten abweichen sollen«, sagt Gardner. »Kılıç wird für seinen Einsatz für die Menschenrechte bestraft.« Der Prozess wurde auf den 21. Juni vertagt. Es ist nur einer von vielen Fällen, der die Politisierung der türkischen Justiz verdeutlicht. Die Journalisten Murat Aksoy, Atilla Taş sowie elf weitere Medienvertreter mussten am 31. März 2017 ebenfalls erleben, wie ein Gericht sie zunächst freisprach, sie aber Stunden später aufgrund eines neuen Haftbefehls wieder hinter Gittern landeten. Die Istanbuler Staatsanwaltschaft rechtfertigte ihr Vorgehen damit, neue Ermittlungen wegen »Mittäterschaft« beim Putschversuch einleiten zu wollen. Auch damals warteten Familienangehörige bis in die Nacht vergeblich auf die Freilassung. Damit nicht genug: Die Richter, die die Freilassung angeordnet hatten, wurden kurz darauf suspendiert. Wie fundamental die Krise des türkischen Justizsystems ist, zeigt auch der Fall der Journalisten Mehmet Altan und Şahin Alpay. Sie saßen Anfang des Jahres bereits mehr als ein Jahr in Haft, auch ihnen wurde Mitgliedschaft in einer Terrororganisation vorgeworfen. Das Verfassungsgericht, das höchste Gericht des Landes, urteilte im Januar, dass die Untersuchungshaft die Grundrechte der Journalisten verletze und sie deshalb freizulassen seien. Nur wenige Stunden danach widersprach ein anderes Strafgericht der Entscheidung und ordnete die erneute Festnahme der Beschuldigten an. Die Urteile von Altan und Alpay waren im Vorfeld als Präzedenzfall bewertet worden – mit möglichen Auswirkungen auf alle anderen inhaftierten Journalisten. Viele Medienschaffende, darunter auch der inzwischen freigelassene »Welt«-Korrespondent Deniz Yücel, hatten das Verfassungsgericht angerufen und Beschwerde gegen ihre Untersuchungshaft eingelegt. Wie wenig die türkische Regierung von der Entscheidung der Verfassungsrichter hielt, erklärte der stellvertretende Ministerpräsident Bekir Bozdağ kurz nach dem Urteil via Twitter: Das Verfassungsgericht habe »die von der Verfassung und den Gesetzen vorgegebenen Grenzen überschritten«. »Das Verfassungsgericht bietet keine effektive Hilfe mehr«, sagt Gardner. »Für Journalisten oder Menschenrechtler, die aus politischen Gründen inhaftiert sind und beschuldigt werden, Mitglieder einer Terrororganisation zu sein, sind die Chancen auf ein faires Verfahren äußerst gering.« Dies zeigt sich unter anderem daran, dass das Verfassungsgericht seit Verhängung des Ausnahmezustands in nur einem politischen Fall eine Entscheidung getroffen hat. Und diese Entscheidung wurde ignoriert. Dass sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dazu bislang nicht äußerte, sei »enttäuschend«, so Gardner. Bisher hat das Gericht nur wenige Beschwerden türkischer Journalisten angenommen. Es wird jedoch erwartet, dass es sich bald erstmals dazu äußert. Für Mehmet Altan, seinen Bruder Ahmet Altan und die Journalistin Nazlı Ilıcak könnte das überlebenswichtig sein. Am selben Tag, als Deniz Yücel freigelassen wurde, verurteilte ein Gericht sie zu lebenslangen Haftstrafen unter erschwerten Bedingungen. 쮿

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»Solidarität lässt sich nicht einsperren« Ein knappes halbes Jahr nach seiner Freilassung aus dem türkischen Gefängnis blicken Peter Steudtner und seine Partnerin Magdalena Freudenschuss, Trainerin in der politischen Bildungsarbeit, auf ihre Erfahrungen während dieser Zeit zurück. Ein Gespräch über Widerstand, Repression, Sorge und Solidarität. Peter Steudtner: Im vergangenen Sommer führten Ali Gharavi und ich in der Türkei einen Workshop über den Umgang mit Stress und Trauma sowie Datensicherheit für die türkische Menschenrechtsplattform IHOP durch. Eigentlich sollte er nur dreieinhalb Tage dauern. Doch daraus wurden dreieinhalb Monate Haft: Gemeinsam mit den acht teilnehmenden Menschenrechtsverteidiger*innen wurden wir wegen Terrorunterstützung angeklagt. Damit bekam für mich ein Satz von Audré Lourde, den wir im Handbuch zu unserem Holistic-Security-Ansatz zitieren, ganz neue Bedeutung: »Caring for myself is not an indulgence, it is self-preservation and that is an act of political warfare.« Oder in anderen Worten: »Wellbeing is resistance«, Wohlfühlen heißt Widerstand. Während der Haft war das ein Leitsatz, den ich mit Sport, Entspannungsübungen, Yoga, Lesen, Schokolade und Kontakt zu den wenigen Mitgefangenen umsetzte. Dabei wurde mir bewusst, wie sehr mir meine teilweise seit Jahren eingeübten Routinen halfen, auch in der Haft für mich zu sorgen. Und so verwandelte sich der Leitsatz zu »Wellbeing is Resilience«, Wohlfühlen heißt Widerstandskraft. Als wir nach meiner Freilassung darüber nachdachten, kamen wir darauf, dass »Care is Resistance« es vielleicht besser trifft, also: Fürsorge bedeutet Widerstand. Magdalena Freudenschuss: So würde ich auch deine Beziehungen zu den Mitgefangenen verstehen. Wenn du davon erzählst, dass du in deinem Zellenflur Entspannungsübungen ver-

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mittelt hast, dann drückt sich darin ein Sorgen umeinander aus. Dieses Sich-Einander-Zuwenden ist eine Form des Widerstands gegen Repression. Sorgearbeit als Widerstand, davon haben auch Ali Gharavis Partnerin Laressa Dickey und ich uns tragen lassen. Unsere Sorgearbeit richtete sich auf euer Wohlbefinden: so viel Liebe durch ein kleines Nadelöhr zu schicken wie möglich. Sorgearbeit als Widerstand bedeutete für uns außerdem, das Wohlbehaltenbleiben von weiterer und näherer Familie und Freund*innen zu stärken – Sorge im Sinne von Alltagsstrukturen am Laufen halten, emotionale Nähe bieten, Informationen weitergeben, die Sorgen anderer anhören. In der Krisensorge lag für mich die unmittelbarste Auswirkung dieser Art von Repression. Diese dreieinhalb Monate, das waren aber auch vier Zahnpastatuben, die ich in deiner Abwesenheit geöffnet habe, viermal ist unsere Küchenputzuhr über deinen Namen gedreht worden, den Sommer haben wir letztes Jahr irgendwie verpasst. In diesem Dich-Vermissen im Alltag – vom Lachen und Reden über das Kochen bis hin zum Kinderbegleiten – machte sich dein Fehlen bemerkbar. Steudtner: Aus dem Alltag mit dir, Familie, Freund*innen und Kolleg*innen herausgeschnitten zu sein, keinerlei Bestätigung, Zuwendung, Reflexion oder Inspiration zu bekommen, bedeutete für mich ebenfalls eine Ebene von Repression. Dazu gehörte auch, mich nicht mehr kümmern zu können, weder um Beziehungen noch um die Alltags- und Familienarbeit. Da hatte ich ein schlechtes Gewissen, dich zur Alleinerziehenden zu machen. Freudenschuss: Deine Inhaftierung hat sich auch auf andere in unserem Umfeld ausgewirkt: auf Menschen, die sich intensiv ins Krisenmanagement und die Solidaritätsarbeit eingebracht haben. Mit etwas Abstand wird mir bewusst, an wie vielen Stellen die Druckwellen der Repression Beziehungen verändert haben. Es gab unglaublich viele bestärkende, tiefe Momente in der

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Foto: Regina Schmeken / SZ Photo / laif

Solidarisch. Peter Steudtner und  Magdalena Freudenschuss in Berlin,  November 2017.

Solidarisierung. Bestärkendes, Wunderbares ist aus der Krise erwachsen, so auch die Begegnung mit Laressa. Andere Beziehungen bekamen dagegen Risse, erlitten Schaden – weil ich zeitlich und emotional beschäftigt war mit eurer Inhaftierung. Steudtner: Für mich haben die Begegnungen während der Haftzeit mit Mitgefangenen, meinen Anwält*innen und Unterstüzter*innen zu einer tiefen Verbindung in die Türkei geführt. Das würde ich nun gerne in konkretes Engagement umsetzen. Dabei spüre ich die stärksten Auswirkungen der Repression: Ich kann mich in der Öffentlichkeit jetzt nicht so eindeutig äußern, wie ich das vielleicht gerne täte, um unseren Prozess und die Sicherheit der anderen nicht zu gefährden. Die Schere im Kopf ist nicht nur ungewollt, sondern auch anstrengend: Jedes Wort will auf seinen möglichen Schadensgehalt hinterfragt werden, ebenso jede Veranstaltungsteilnahme. Freudenschuss: Sich dieser Frage mit solcher Beharrlichkeit zu stellen, ist vielleicht auch heilsam. Es stärkt unsere Sensibilität für die Macht unserer Worte und Taten, auch dann, wenn diejenigen, die die Auswirkungen davon spüren, nicht Menschen sind, die uns nahestehen. In den Monaten deiner Inhaftierung war diese Entscheidung zwischen Schaden und Nutzen eine sehr existentielle Frage. Sie war immer wieder mit der Angst behaftet, dass unsere Entscheidungen eure Situation verschlechtern. Diese Angst kann eine Bremse sein, die wiederum für Frust bei jenen sorgt, die manchmal vielleicht auch mit gutem Grund mutiger gewesen wären als ich. Um keinen Schaden anzurichten, war meine öffentliche Rolle während deiner Inhaftierung sehr auf die Rolle der Partnerin, auf das Narrativ der Familie beschränkt. Ich habe meine Person sehr häufig auf diesen einen Aspekt reduziert. So bleibt nicht nur die zentrale Rolle der Sorgearbeit als Antwort auf Repression marginalisiert, sondern auch wir, die wir diese Sorge- und Krisenarbeit geleistet haben, wurden von diesen Unsichtbarkeiten eingesperrt.

widerstand

Steudtner: Solidarität lässt sich aber nicht einsperren. Am stärksten war sie für mich gleich am Anfang spürbar im Kontakt mit meinen Mitgefangenen im unterirdischen Anti-TerrorGewahrsam des Polizeipräsidiums von Istanbul: Wir teilten unser Essen und unsere Tränen, sangen miteinander, rezitierten gemeinsam den Koran und beteten zusammen. Diese Solidarität drinnen wurde bald ergänzt durch die von außen: in Form von Mahnwachen und Andachten, Brief- und anderen Kampagnen. Dabei trug mich auch das innere Gefühl des Dazugehörens zur internationalen Community der Menschenrechtsverteidiger*innen. Freudenschuss: Auch draußen waren die vielen Formen der Solidarität essenziell: Die gemeinsame Arbeit mit deinen Kolleginnen und Kollegen aus dem Umfeld der Holistic Security-Arbeit, aus der Kurve Wustrow und bei Hivos war von Solidarität getragen. Auch der Alltag war von aufmerksamem Zugewandtsein geprägt: ein Glas Wein mit Laressa nach einem langen Arbeitstag, vorbeigebrachte Blumen, eine anerkennende Zeile einer Mail, Spenden, um die Anwaltskosten zu decken, oder die Zeit, die so viele Menschen uns als Familie geschenkt haben. All diese Akte der Solidarität bedeuteten und bedeuten weiter Widerstand gegen Repression. 쮿 https://holistic-security.org

»Fürsorge heißt Widerstand.« Peter Steudtner 53


Alleinversorger. Mohammed (Mitte) im Kreis seiner Familie in Istanbul, Dezember 2017.

Schulen ohne Syrer Rund 1,3 Millionen syrische Flüchtlingskinder leben in der Türkei. Um zu verhindern, dass eine verlorene Generation entsteht, sollen alle in die Schule gehen. Doch dabei gibt es viele Schwierigkeiten. Von Maja Weiss und Frank Müller (Fotos), Istanbul Mohammed, ein schmächtiger Junge mit Bartflaum und großen Augen, nimmt einen Stapel halbfertig genähter Stoffstücke von einem Tisch. Die Näherin, eine ältere Frau, beugt sich vor, deutet mit dem Finger quer durch den Raum und sagt in freundlichem, aber strengem Ton, wohin er sie bringen soll. Mohammeds Familie floh vor zweieinhalb Jahren aus Syrien. Sie zählt zu den rund drei Millionen syrischen Flüchtlingen, die von der Türkei aufgenommen wurden. Rund 1,3 Millionen sind minderjährig. Mohammed sagt, er sei fünfzehn, doch er wirkt jünger. Zu Anfang hat er Taschentücher, Stifte und Kaugummis auf der Straße verkauft. Seit zwei Monaten arbeitet er in der kleinen Textilwerkstatt im Istanbuler Stadtviertel Ümraniye, einer beschaulichen Arbeiterwohngegend auf der asiatischen Seite. Die Werkstatt liegt ein paar Straßenblöcke entfernt von dem einfachen, mit Kohle beheizten Häuschen, in dem seine Familie ein neues Zuhause gefunden hat. Der Vater ist im Krieg verwundet

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worden und kann nicht mehr arbeiten. Zusammen mit seiner 14-jährigen Schwester, die ebenfalls in einer Textilwerkstatt arbeitet, versorgt Mohammed die zehnköpfige Familie. Sieben Jahre, nachdem die ersten Syrer in die Türkei kamen, kämpfen die meisten immer noch mit ökonomischen Problemen. Sie dürfen zwar arbeiten, werden kostenlos medizinisch versorgt und erhalten manchmal Warengutscheine, sind aber ansonsten auf sich allein gestellt. Wenn die Familie viele Kinder hat oder ein Mitglied krank ist, müssen die ältesten oft mitarbeiten. Verlässliche Zahlen gibt es dazu nicht, aber in Istanbul gibt es Tausende dieser kleinen Textilwerkstätten und in fast jeder finden sich Kinder wie Mohammed und seine Schwester. Immerhin können seine beiden jüngeren Geschwister, Beraa und Fatema, eine Schule besuchen. Es ist eine Koranschule, in der sie auch ein wenig Türkisch, Mathematik und Sachkunde lernen. Allerdings dauert der Unterricht nur drei Stunden am Tag. Ihr Vater, ein freundlicher, großer Mann, möchte sie gern in einer regulären Schule anmelden, aber das ist nicht möglich, weil die Familie nicht in Istanbul registriert ist. Bisher können Kinder nur dort zur Schule gehen, wo sich die Familie nach ihrer Flucht zuerst angemeldet hat. Dies sind in der Regel Orte nahe der syrischen Grenze. Doch oft ziehen die

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Familien um, weil es in den großen Städten im Westen der Türkei mehr Arbeitsmöglichkeiten gibt. Den Wohnort in der Registrierung zu ändern, war jedoch bisher kaum möglich. Um das Problem zu lösen, läuft derzeit ein Programm, das alle Syrer in der Türkei neu erfassen soll. Im Zuge dieser Neuregistrierung können sie ihre Kinder am aktuellen Wohnort an einer staatlichen Schule anmelden. Beraa und Fatema warten noch auf ihren neuen Ausweis, dann können sie im nächsten Halbjahr endlich eine reguläre Schule besuchen. »Inschallah«, sagt ihr Vater. »In einer Woche haben wir den Termin.« zen Türkei zahlreiche Schulen, die von Syrern selbst gegründet Ziel der türkischen Regierung ist es, allen syrischen Kindern worden waren, geflüchtete syrische Lehrer beschäftigten und an im schulpflichtigen Alter den Schulbesuch zu ermöglichen. den Lehrplan ihrer alten Heimat anknüpften. Aber die meisten Mehr als eine halbe Million Kinder sollen bereits in Schulen wurden inzwischen geschlossen. Selin Altunkaynak rechtfertigt sein. Die Kinderhilfsorganisation Save the Children nennt das den Schritt der türkischen Regierung: »Es braucht einen vereinen beachtlichen Erfolg, verglichen mit anderen Gastländern gleichbaren Standard. Auf absehbare Zeit werden die Flüchtlinwie dem Libanon und Jordanien. Jedoch bekommen nach offige wohl hierbleiben. Um hier zurechtzukommen, ist es grundziellen Zahlen rund 370.000 Kinder im schulpflichtigen Alter legend, dass sie Türkisch lernen.« noch keinen Unterricht. In der Türkei bestehen normalerweise Viele syrische Eltern sorgen sich seitdem, dass ihre Kinder zwölf Jahre Schulpflicht. die Muttersprache verlernen; dazu kommen kulturelle Aspekte. »Die Kapazitäten müssen erweitert werden, um alle Kinder Manche melden ihre Kinder lieber in einer privaten, islamizu erreichen«, sagt Selin Altunkaynak von SGDD-ASASM. Die schen Schule an, wo sie zum einen auf Arabisch unterrichtet Nichtregierungsorganisation kümmert sich seit mehr als 20 werden und zum anderen den Koran studieren. Der 14-jährige Jahren um Flüchtlinge in der Türkei. Im Auftrag des türkischen Amar, ein hochgewachsener, blasser Junge mit ernstem GeStaates und in Zusammenarbeit mit den UN unterhält sie spesichtsausdruck, geht in eine solche Schule. »Die Religion ist zielle Hilfsprogramme für Syrer. wichtig«, findet Amars Vater. »Sie gehört zu unserer Kultur.« Altunkaynak zitiert das Beispiel von Şanlıurfa, einer Stadt Die staatlichen Schulen sind jedoch strikt säkular. Amar macht nahe der syrischen Grenze. Dort und im benachbarten Gazianes zwar Spaß, den Koran zu rezitieren und die Inhalte des heilitep leben besonders viele Syrer. »In Şanlıurfa bräuchte es etwa gen Buchs zu verstehen. Aber er würde trotzdem lieber eine 100 neue Schulen, um alle Flüchtlingskinder mit zu versorgen, normale Schule besuchen. aber im letzten Jahr sind nur 14 Schulen neu eröffnet worden.« Der 14-jährige redet wie ein Erwachsener. Er besucht die achManche, die zuvor nur bis zum Mittag unterrichteten, haben te Klasse, danach ist hier Schluss, und er muss auf eine andere nun eine zweite Schicht am Nachmittag eingeführt. Schule wechseln. »Der Abschluss ist nicht anerkannt«, sagt er. Besonders schwierig ist es, jene Kinder zu erreichen, deren »Muss ich dann in der fünften Klasse nochmal neu anfangen?« Eltern in der Landwirtschaft und auf dem Bau arbeiten. Sie leEr macht sich Sorgen um seine Zukunft, er will Ingenieur werben oft in Zeltstädten oder unter der Gnade eines Arbeitsverden. Einer wie er könnte einmal helfen, Syrien wiederaufzumittlers in einem heruntergekommenen Gebäude auf dem bauen – wenn er denn die Schule schafft. 쮿 Land, wo es keine Schule in der Nähe gibt. In den Regelschulen wiederum bereiten die mangelnden Türkischkenntnisse der Kinder häufig Probleme. Deshalb hatte das türkische Bildungsministerium Interimsklassen geschaffen. Dort lernen sie zunächst Türkisch, damit sie sich anschließend leichter eingliedern können. Das System soll nun auslaufen. Erstklässler werden inzwischen meist direkt regulär eingeschult. Mohammeds Cousin und Cousine, die in derselben Straße wohnen, besuchen bereits die staatliche Schule in der Nachbarschaft. Doch beide tun sich schwer. Die achtjährige Alaa sitzt auf einem alten grünen Sofa und blättert Zeichnungen in ihrem Schulheft durch. Oft sitzt sie im Unterricht und malt, denn sie versteht kaum, was der Lehrer vorn erklärt. Ihrem Bruder Salih geht es genauso: »Die Lehrerin hat mich ganz nach hinten gesetzt. Da verstehe ich nicht, was sie sagt und kann die Tafel nicht richtig sehen«, sagt er. »Und wenn ich etwas frage, dann ignoriert sie mich, weil sie mich nicht versteht.« Bis vor zwei, drei Jahren gab es in der gan- Die Lehren des Propheten. Koranschule im Istanbuler Stadtteil Bayrampaşa, Dezember 2017.

Viele Eltern sorgen sich, dass die Kinder ihre Muttersprache verlernen.

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Griff ins Leere

Voller Würde. Margarete Arach Orech.

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Die Uganderin Margaret Arach Orech kämpft dafür, dass die Opfer von Landminen nicht vergessen werden. Von Benjamin Breitegger und Jelca Kollatsch (Foto), Kitgum 19 Jahre nachdem eine Landmine Margaret Arach Orechs rechtes Bein zerfetzte, steht sie auf der Straße in Norduganda, an der es passierte. Über ihrer Prothese trägt sie ein buntes Blumenkleid, in das sie ihre Hände vergräbt. Es reicht fast bis zum Boden. Ein weiches Abendlicht legt sich über die Farne in der Landschaft, erste Regentropfen färben die Erde dunkel. Orechs Blick wandert die unbetonierte Piste entlang, über eine kleine Brücke, die über einen Sumpf führt, vorbei an Strohhütten. Die Straße biegt dort scharf nach rechts ab. »Von da kamen wir damals mit dem Bus«, sagt Orech mit leiser, brüchiger Stimme. Sie hat die Biegung wiedererkannt, nach einer stundenlangen Fahrt mit dem Jeep, sogar aus der entgegengesetzten Richtung. Seit vielen Jahren war sie nicht mehr hier. Nun steht die 62-Jährige gedankenverloren am Straßenrand. Schwarze Wolken schieben sich übers Land. »Mit den Erinnerungen«, sagt die Mutter von fünf Kindern, »kommt auch der Schmerz in meinem Beinstumpf wieder«. Margaret Arach Orech ist eines von offiziell rund 2.800 Landminenopfern in Uganda. Mehr als 500 Menschen starben aufgrund der Explosion, die anderen leben mit Behinderungen. Die Regierung erklärte das Land 2012 für »landminenfrei«, doch finden Bewohner nach wie vor vereinzelte Sprengkörper. Uganda ist verpflichtet, Landminen zu räumen, weil es die OttawaKonvention gegen Antipersonenminen ratifiziert hat. Das Abkommen wurde im Oktober 1997 in der kanadischen Hauptstadt unterzeichnet – ein internationaler Erfolg. Seit es in Kraft trat, wurden weltweit mehr als 50 Millionen Sprengkörper zerstört. 27 Staaten haben ihr Land von Minen geräumt. Noch im Jahr 1999 zählte die Internationale Kampagne gegen Landminen durchschnittlich 25 Opfer pro Tag. Bis 2013 sank diese Zahl auf ein Drittel. Doch die Kriege in Afghanistan, im Jemen, in Libyen, Syrien und in der Ukraine haben sie wieder ansteigen lassen: Nach Angaben der Kampagne wurden 2016 mindestens 2.000 Menschen durch Landminen getötet und mehr als 6.500 Personen verletzt. Am Tag vor Weihnachten 1998 saß Orech angespannt in einem Minibus, der von der Stadt Kitgum Richtung Süden raste. Keiner der 24 Passagiere redete, alle waren nervös. Sie wussten, wie gefährlich diese Straße ist. In der ugandischen Provinz mordeten Extremisten der Lord’s Resistance Army (LRA). In der Kurve musste der Busfahrer bremsen. Es knallte. Ein geplatzter Reifen, dachte Orech im ersten Moment. Dann griff sie nach ihrem Bein – ein Griff ins Leere. Regierungssoldaten fanden sie später in einem Feld, auf der Ladefläche eines LKWs schaffte sie es ins Krankenhaus. Dort besuchten sie Mitarbeiter eines Behindertenverbands und baten sie, an einer Konferenz für Menschen mit Behinderungen in Simbabwes Hauptstadt Harare teilzunehmen. Orech war geeignet, weil sie Englisch spricht. Das Landminenverbot war erst im Vorjahr unterzeichnet worden. So begann für sie zwei Monate nach dem Unglück ein neuer Lebensabschnitt: ein Leben als Aktivistin. Die Kampagne gegen Landminen, eine NGO in Genf mit drei Mitarbeitern, ausgezeichnet 1997 mit dem Friedensnobelpreis, ernannte sie 2006 zu einer ihrer vier Botschafterinnen. Eine der Forderungen der Kampagne lautet: »Finish the job«, erledigt die Aufgabe. Zwar ist der Einsatz von Minen heute inter-

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national geächtet, abgeschafft sind sie aber nicht. China, Russland, die USA, Indien und Pakistan horten riesige Minenvorräte. Einzelne Länder wie Myanmar produzieren nach wie vor Minen, die Armee setzt sie sogar ein. Minen finden sich auch in Syrien, dem Jemen und in der Ukraine. Noch immer haben 33 Länder das Anti-Landminen-Abkommen nicht unterschrieben. Noch immer liegen in den Böden von fast 60 Ländern Landminen, die jederzeit Menschen töten oder verstümmeln können. Oft trifft es Zivilisten wie Margaret Orech. »Die meisten Landminenopfer in Uganda sind Kleinbauern, die ihre Felder bestellen«, sagt Orech. »Ohne Beine oder Arme geht das nicht mehr.« Mit ihrer Hilfe organisieren sich Landminenüberlebende und Familienangehörige von Opfern in Städten wie Gulu, Lira, Kigum, Yumbe. Manchmal schaffen sie es, genug Spenden zu sammeln, damit Amputierte eine Ausbildung absolvieren können. Damit sie lernen, einen Computer zu bedienen oder Geflügel zu züchten, und somit keine Belastung mehr für ihre Familien sind. Doch Orech wünscht sich mehr Unterstützung für ihre Arbeit. »Besonders frustrierend ist es, missverstanden zu werden.« Das beginnt bereits mit dem Titel Botschafterin der Kampagne gegen Landminen. Botschafterin klingt nach einem hohen Amt, nach Einfluss und Geld. Besucht sie das ländliche Uganda, noch dazu mit weißen Journalisten, versammeln sich Amputierte um sie. Sie können sich weder eine Prothese leisten noch die Fahrt nach Gulu, wo die staatliche Orthopädiewerkstatt Prothesen kostenfrei anfertigt. Sie erwarten sich Hilfe. Aber Orech kann nichts Konkretes anbieten. Nur Ratschläge und Ideen. Ihr Titel ist symbolisch. Ihre Organisation, die Uganda Landmine Survivors Association, ist pleite. Zehn Jahre arbeitete Orech ehrenamtlich, bevor sie das erste Mal unterstützt wurde. Die Kampagne gegen Landminen und die japanische Entwicklungshilfe finanzierten ihr ein Büro. Die NGO Mines Action Canada schickte Praktikanten nach Uganda. Doch seit mehr als zwei Jahren habe ihr Verein keine Förderung mehr erhalten, sagt Orech. Ihre derzeit vier Mitarbeiter arbeiten ehrenamtlich, weil sie von ihrer Aufgabe überzeugt sind und weil sie Erfahrungen sammeln wollen in einem Land, in dem Jobs rar sind. Doch müssen sie das Büro bald räumen, weil sich Orech die Miete nicht mehr leisten kann. 44 Länder hat Orech bis heute besucht, um auf das Schicksal von Minenopfern aufmerksam zu machen. Seit zwei Jahrzehnten, sagt sie, will sie nur eines: »Eine gefahrlosere Welt.« Es hat sich viel getan. Konferenzen wurden veranstaltet, Gesetze unterzeichnet. Immer mehr Staaten haben Landminen verboten. Aber Gesetze müssen auch umgesetzt werden. Staaten sollen ihre Landminenopfer unterstützen, so sieht es das Anti-Landminen-Abkommen vor. Doch der Hilfeplan der ugandischen Regierung lief 2014 aus. Seitdem ist nichts passiert. »Es ist an der Zeit, dass die Regierung ihren Job macht«, sagt Orech. Ein wenig Kampfgeist klingt noch durch. Solange es Leben gibt, gibt es Hoffnung, das ist ihre Überzeugung. 쮿

33 Länder haben das AntiLandminen-Abkommen nicht unterschrieben. 57


Von Liebe kein Wort Haben sich gefunden. Joel Roba und Jemima Poni.

Eine Million Flüchtlinge aus dem Südsudan versuchen, sich in Uganda ein neues Leben aufzubauen. So wie Jemima Poni, 70 Jahre, und Joel Roba, 71. Sie wurden im Lager ein Paar. Aus Not. Und aus einem zarten Gefühl. Aus Bidi Bidi berichten Andrea Jeska und Klaus Petrus (Fotos) Sie war barfuß und ohne Gepäck. Keine Pfannen, Decken, Matten, nichts von dem, was sie einmal besaß, hat sie mitgenommen. Nicht einmal Kleidung. Sie trug nur einen Rock aus einem dünngewaschenen Stück Stoff, ein T-Shirt und darüber ein Männerjacket. Sie sagte, sie sei aus Yonduru, im Südsudan. Sei eine Marktbeschickerin für Cassava, Tomaten und Bohnen aus ihrem eigenen Garten gewesen, der nur noch ein Stück verbrannte Erde sei, nachdem Soldaten das Dorf anzündeten. Ihr Mann sei lange tot und wo ihre Kinder seien, das wisse sie nicht. Vielleicht geflohen. Vielleicht auch tot. Er war mit seinem Sohn unterwegs. Rebellen griffen ihre Hütten nahe Yei an, weil gleich daneben eine Kaserne des südsudanesischen Militärs war. Die Rebellen schossen von Westen, die Soldaten erwiderten das Feuer von Osten, und mittendrin

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lagen die Hütten des Dorfes. Wände aus Lehm und Stroh und Grasdächer, nichts, was Kugeln und Geschütze abhalten könnte. Panisch waren alle geflohen, 180 Menschen. 50 waren im Kugelhagel umgekommen, auch seine Frau, auch fünf seiner Söhne, auch seine Enkel. Als die Kämpfe vorüber waren, die Rebellen gesiegt hatten, waren die Hütten verbrannt. Noch einmal kehrten die Überlebenden zurück, um die Toten zu begraben. Dann gingen sie nach Südwesten in Richtung ugandische Grenze. Von Deckung zu Deckung, von Waldstück zu Waldstück. Immer auf der Hut vor den Bewaffneten. Von den Feldern jener, die noch nicht geflohen waren, stahlen sie Mais, sie aßen ihn roh, damit kein Feuer sie verriet. 13 Tage dauerte die Flucht. Sie, allein, ohne Schuhe. Voller Angst zu verhungern, zu kollabieren. Angst, was aus ihr werden solle, eine alte Frau, mittellos, schutzlos. Er mit seinem Sohn, dem letzten, der ihm geblieben war und der ihn auf dem Rücken tragen, führen musste. Anfangs hatten sie noch Dinge dabei, die sie retten konnten, aber dann ließen sie alles Stück für Stück zurück, weil es zu schwer war. Immer wieder machten sie lange

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Neues Leben im Lager. Südsudanesen in Bidi Bidi, Oktober 2017.

Pausen, sein Asthma und die Not nahmen dem alten Mann den Atem, sein Augenlicht reichte kaum, um den Weg vor ihm zu sehen. Irgendwo kurz vor der Grenze nach Uganda trafen sie sich: die Frau, Jemima Poni, 70 Jahre alt, der Mann, Joel Roba, 71 Jahre alt, und sein Sohn, Emmamos Lomoro, 29 Jahre alt. Woher, wohin, hatten sie einander gefragt. Dann waren sie ohne viele weitere Worte zusammen weitergegangen, hatten die Grenze überquert, wurden dort von Hilfsorganisationen in Empfang genommen, zu einer Auffangstation für südsudanesische Flüchtlinge gebracht. Warme Mahlzeiten. Medizin gegen sein Asthma, Salbe für ihre geschundenen Füße. Als sie am dritten Tag ein Stück Land zugewiesen bekamen, man ihnen eine Plane gab und einige angespitzte Pfähle, um ein provisorisches Haus zu bauen, dann noch einen Topf und Reis, Bohnen, Öl, war es selbstverständlich, dass sie mit ihnen ging. Dass sie die Steine zusammentrug und ein Feuer machte, aus Reis und Bohnen die erste Mahlzeit kochte. Die ganz Jungen. Und die ganz Alten. Wenn es eine Skala der Verwundbarkeit gibt in Krisen wie der des Südsudans, dann ste-

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hen diese beiden Gruppen ganz oben. Seit drei Jahren fliehen die Menschen vor dem Bürgerkrieg in ihrem Land, über eine Million sind es inzwischen, die im Norden Ugandas Schutz suchen. In den vergangenen Monaten kamen täglich 200 Menschen, die meisten zu Fuß, durchschnittlich zwei Wochen sind sie unterwegs aus ihren Dörfern südlich der südsudanesischen Hauptstadt Juba bis an die ugandische Grenze.

Auf der Skala der Verwundbarkeit ganz oben: die ganz Jungen. Und die ganz Alten. 59


Der Sohn kann nicht allein für den Vater sorgen. Es ist für viele ein Weg des Schreckens, junge Mädchen werden unterwegs vergewaltigt, die Alten und die Kinder sterben an Durst oder Erschöpfung. In den Wirren der Kämpfe, dem Chaos der Flucht verlieren viele ihre Angehörigen, retten gerade mal das eigene Leben. 80.000 unbegleitete Kinder sind unter den Flüchtlingen. Wie viele alte Menschen ohne ihre Familie kommen, darüber gibt es keine Statistik. Die ugandische Regierung gibt jedem Flüchtling Land. 50 mal 50 Meter für ein autarkes Leben. Damit will man der Krise und vor allem ihrer langfristigen Folgen Herr zu werden. Es sollen keine Zeltstädte entstehen, in denen die Flüchtlinge armselig hausen, sich bald Krankheiten und Verzweiflung ausbreiten und die Menschen über viele Jahre von der Unterstützung durch Hilfsorganisationen abhängig sind. Die ersten Flüchtlinge kamen vor drei Jahren, damals entstand die erste Flüchtlingssiedlung Bidi Bidi mit 600.000 Menschen. Längst ist daraus eine Stadt geworden, haben die meisten Menschen sich Hütten gebaut, Gärten angelegt. Es gibt einen Markt, auf dem die Flüchtlinge Gemüse verkaufen und frittierte Teigtaschen, gebrauchte Kleidung und Schuhe. Bars und Restaurants sind entstanden, selbst die Allerärmsten verdienen sich Geld als Köhler oder als Schneider. Eine Nacht ist vergangen, seit sie das Stück Land, die Pfähle, die Plane bekamen, um sich ein Haus zu bauen. Männer von

Hilfsorganisationen sind gekommen, um dem Sohn beim Einschlagen der Pfähle zu helfen, 18 haben sie senkrecht aufgestellt, dagegen sechs Querbalken genagelt. Dann war es zu dunkel, um die Plane zu befestigen und so haben sie die erste Nacht auf dem Boden unter Decken geschlafen. Es war kalt, und die alte Frau ging im ersten Tageslicht Holz sammeln, machte Feuer, setzte wieder Reis mit Bohnen auf. Dass der Alte und sein Sohn ihr in der Nacht eine Decke gaben, mit ihr am Morgen aßen, nimmt sie als Versprechen einer neuen Gemeinschaft. Nach dem Frühstück setzt sie sich neben ihn auf einen umgefallenen Baumstamm. Er lacht sie an, hat kaum noch Zähne im Mund, sie senkt den Kopf, lächelt verschämt zurück und zieht das Männerjacket über ihr schmutziges Kleid. Sie werden nie von Gefühlen sprechen. Der Alte hat fast alles verloren, ist halb wahnsinnig vor Schmerz. Jede Freundlichkeit ist ihm ein Trost. Der Sohn kann nicht allein für den Alten sorgen. Ihn waschen und ihn herumführen, den Halbblinden. Der Sohn hat andere Sorgen. Sie brauchen Essen, der Alte seine Medikamente, auch neue Schuhe, eine Hose, sie müssen roden, Gemüse anpflanzen, erst den Boden umpflügen mit der Hand, sie brauchen Samen und Wasser. Ohne die alte Frau, die ihm den Vater abnimmt, Feuer macht, Wasser holt, Mahlzeiten bereitet, sät und erntet, wird es nicht gehen. Und sie? Sie hatte einen Ehemann, von Liebe, sagt sie, war da nie die Rede. Sie haben gemeinsam gearbeitet, sie hat sechs Kinder bekommen, dann war er tot, dann kam der Krieg, die Flucht. Was kann sie noch erwarten? Als sie ankam, hat sie von anderen gehört, dass man mit eigenen Händen ein Haus bauen und kräftig sein muss, wenn man überleben will. Viele Stunden müsse man anstehen für Reis, Mehl, Bohnen, in großen Säcken würden diese verteilt, die müsse man allein nach Hause tragen. Manchmal würden die Lebensmittel gekürzt, reiche die Zuteilung nicht für einen Monat, sondern gerade mal für drei

Neuanfang im Alter. Joel Roba.

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Wochen. Dass man dann Geld brauche, wenn man nicht hungern wolle, man Arbeit finden müsse, egal, welche. Ein Kampf sei es, hatte ihr jemand gesagt. Und sie hatte sich gefürchtet, weil sie wusste, sie war zu alt, zu schwach, um noch um irgendetwas zu kämpfen. Die Versorgung der Flüchtlinge erfordert eine komplexe Logistik. Es gibt Hilfsorganisationen für jeden Bereich. Lebensmittelverteilung, Wasser, Brunnen, Hygiene, Bildung. Von den zugesagten Mitteln der internationalen Gemeinschaft sind bislang nur 29 Prozent geflossen, die Finanzierungslücke von 71 Prozent erschwert alles. »Wir müssten viel mehr tun, bräuchten mehr Sozialarbeiter, mehr Therapeuten, mehr geschützte Räume für jene, die schwach sind«, sagt Ryan Duly, Projektkoordinator für Handicap International in Uganda. Die Organisation kümmert sich seit September 2017 um die Schwächsten unter den Geflohenen: alleinerziehende Mütter, Kranke, Behinderte, unbegleitete Kinder, Traumatisierte. Sozialarbeiter und Psychologen besuchen die Familien, bieten Hilfe an, mal konkrete, mal therapeutische. Es gibt Gesprächskreise, Selbsthilfegruppen, psychologische Beratung. Dahinter steckt die Einsicht, dass das System der Massenversorgung und des Krisenmanagements unter schwierigen Voraussetzungen kaum Raum für individuelle Bedürfnisse lässt und schon gar keinen für jene, die zu schwach sind, um einen Neuanfang zu wagen. Doch viele, die es bräuchten, nehmen diese Hilfe nicht in Anspruch. Zu fremd sind ihnen die Ideen der Weißen, zu aufwändig die Strukturen dahinter. »Wir haben uns schon immer gegenseitig geholfen«, sagt Emmamos Lomoro trotzig. »In unserem Land gibt es seit Jahrzehnten Krieg, wenn da einer nicht für seine Nachbarn da wäre, wären wir wohl alle schon tot.« Von dieser Solidarität in Zeiten der Not hört man in den Camps viele Geschichten: von Menschen, die verwaiste Kinder aufnehmen, von Gläubigen, die erst eine Kirche bauen, dann ihre Hütte, und

sich zu neuen Gemeinden zusammenschließen. Oder von alten Frauen wie Jemima Poni, die Schutz und Unterstützung bei Wildfremden finden. Auch die Einheimischen leisten ihren Teil. Sie nehmen Kinder auf, vermitteln Arbeit, geben Land. Denn was Krieg und Vertreibung bedeuten, wissen sie aus eigener Erfahrung: Zwanzig Jahre lang, seit Beginn der 1980er Jahre, wütete die Lord’s Resistance Army (LRA) in Ugandas Norden und ermordete Zehntausende. Wer konnte, floh in den Süden des Sudans. Nicht zuletzt deswegen gibt es bislang kaum Konflikte zwischen der Bevölkerung und den Flüchtlingen. Zudem profitieren die Einheimischen. Seit Beginn der Krise bauen Hilfsorganisationen im armen und abgelegenen Norden Schulen und Krankenstationen, bohren Brunnen, verteilen Saatgut. Jedes Hilfsprojekt kommt zu 30 Prozent den Einheimischen zugute. Später an jenem Tag gehen die beiden Alten mühsam zum Versammlungspunkt, weil man ihnen sagte, alle Neuankömmlinge müssten sich dort einfinden. Sie hoffen auf ein Stück Fleisch, ein wenig Gemüse. In den zwei Reihen, die die Flüchtlinge bilden, stehen fast nur junge Männer, die Frauen mit Kindern und die Alten werden an den Rand gedrängt. Die beiden Alten sitzen dicht nebeneinander, ihr Arm berührt seinen. Doch es gibt keine Lebensmittel, nur das Versprechen, am anderen Tag Hacken und Schaufeln zu verteilen, damit man damit beginnen könne, sein Stück Land zu beackern. Der Campmanager hält eine Ansprache, mahnt, alle sollten in Frieden leben. »Wir trinken dasselbe Wasser, unsere und eure Kinder gehen in dieselben Schulen, wir essen dasselbe Essen. Tragt eure Konflikte aus der Heimat nicht in unser Land.« Dann erklärt er noch, dass die Flüchtlinge für höchstens drei Jahre Hilfe und Essen erwarten könnten. »So Gott will«, sagt der alte Mann zu der alten Frau neben ihm, »so Gott will, sind wir in drei Jahren beide tot.« Sie nickt und lächelt ihm zu, als sei das ein schöner Gedanke. 쮿

Irgendwie weiter. Emmamos Lomoro.

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PORTRÄT

Foto: Sara Fremberg

Wachsam für den Frieden Die Anwältin Soraya Gutiérrez Argüello setzt sich in Kolumbien für die Opfer des Bürgerkriegs ein. Von Sara Fremberg Als Soraya Gutiérrez Argüello im vergangenen Sommer vor das Verfassungsgericht in Bogotá trat, war es still im Saal. Detailliert trug die 50-jährige Frau mit den furchtlosen dunklen Augen ihre Empfehlungen zu einem Gesetz vor, auf dessen Grundlage das neue, im Friedensvertrag vereinbarte »Integrale System für Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Nichtwiederholung« eingerichtet werden soll. Eindringlich und resolut vertrat sie an diesem Tag die Anliegen und Erwartungen, die sie mit vielen Betroffenen des jahrzehntelangen Konflikts teilt: Seit mehr als drei Jahrzehnten setzt sie sich unter Lebensgefahr für die Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien ein. Soraya Gutiérrez wurde im August 1967 in der Kleinstadt Sogamoso in der Provinz Boyacá geboren. Die Tochter einer Gewerkschafterin und eines Abgeordneten begann ihr Engagement während ihres Jurastudiums an der Universität von Bogotá. Gemeinsam mit Kommilitonen gründete sie ein Komitee, das die Öffentlichkeit über Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien informierte. Dabei arbeitete sie mit verschiedenen Menschenrechtsorganisationen zusammen, so auch mit dem Anwaltskollektiv CAJAR (Colectivo de Abogados »José Alvear Restrepo«). 1991, ein Jahr nach ihrem Universitätsabschluss, stieg sie bei CAJAR ein. Seitdem vertritt Soraya Gutiérrez Opfer von Menschenrechtsverbrechen und begleitet unter anderem den laufenden Friedensprozess. Das Ende 2016 geschlossene Abkommen mit der inzwischen aufgelösten FARC-Guerilla ist ein erster wichtiger Schritt gegen die anhaltende politische Gewalt in Kolumbien. Derzeit erarbeitet und kommentiert sie im Rahmen der Umsetzung des Vertrags Gesetzentwürfe und nimmt dabei

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unter anderem an Anhörungen vor dem Verfassungsgericht teil. Auch hier setzt sie sich vor allem dafür ein, dass die Opfer angemessen in den Prozess eingebunden werden und ihre Anliegen Gehör finden. Ein harter Kampf, wie auch ihr Auftritt vor dem Verfassungsgericht in Bogotá im Juli 2017 zeigte: Dort diffamierte ein früherer General Menschenrechtsorganisationen als Verbündete der Guerilla, die einen »juristischen Krieg« gegen die Streitkräfte führen würden. In einem Land, in dem 2017 mehr als 100 Menschenrechtsverteidiger ermordet wurden, diskreditieren solche Behauptungen nicht nur die Menschenrechtsarbeit, sie stellen auch eine offene Drohung dar. 2003 überlebte Soraya Gutiérrez ein Attentat, 2005 erhielt sie ein Paket mit einer zerstückelten und halbverbrannten Barbie-Puppe ohne Kopf – ihre Tochter war damals sieben Jahre alt. Es folgten Umzüge und erhöhter Personenschutz, auch auf Druck von Amnesty International. Seitdem gab es immer wieder Drohungen gegen sie und ihre Familie. Wenige Tage nach dem Termin beim Verfassungsgericht 2017 hinterließen Unbekannte auf dem Dach ihres Autos eine Puppe. Eine erneute Warnung. Wachsamer denn je bewegt sie sich seitdem auf den Straßen Bogotás. Zeit für Angst um sich selbst hat sie nicht. Alpträume bereitet ihr nur die Sorge um ihre inzwischen erwachsene Tochter. Doch deren Zukunft ist es auch, die sie motiviert. »Ich sehe meine Arbeit als Lebensaufgabe, der ich mich mit ganzem Herzen verpflichtet fühle. Und ich glaube daran, dass wir etwas bewegen können«, sagt Soraya Gutiérrez. »Dieser Friedensprozess ist unsere Chance, echte Veränderungen zu erreichen.« 쮿

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DRANBLEIBEN

Heckler & Koch vor Gericht Wegen Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontroll- und Außenwirtschaftsgesetz beginnt im Mai vor der 13. Strafkammer des Landgerichts Stuttgart das Verfahren gegen sechs Mitarbeiter des Waffenherstellers Heckler & Koch. Den Angeklagten wird vorgeworfen, von 2006 bis 2009 an 16 Lieferungen von Gewehren und Zubehörteilen nach Mexiko beteiligt gewesen zu sein, wobei diese mit Kenntnis der An-

geschuldigten in Bundesstaaten abgegeben worden sein sollen, die nicht von den deutschen Exportgenehmigungen umfasst waren. Die Beschuldigten waren in unterschiedlichen Funktionen für die Firma tätig. Die Anklage richtet sich gegen einen vormals für die Firma in Mexiko tätigen Verkaufsrepräsentanten, gegen eine Vertriebsmitarbeiterin, zwei ehemalige Ver-

triebsleiter sowie gegen zwei ehemalige Geschäftsführer, Joachim Meurer und Peter Beyerle. Der ehemalige Präsident des Landgerichts Rottweil hatte nach seiner Pensionierung eine zweite Karriere bei der Oberndorfer Waffenschmiede begonnen. Die illegalen Waffengeschäfte belaufen sich auf vier Millionen Euro. »Ausgezeichnete Recherche«,  Amnesty Journal 12-2017/01-2018

Justizopfer in El Salvador auf freiem Fuß

»Ich wurde als Kindesmörderin beschimpft«,  Amnesty Journal 04-05/2017

Foto: Michael Krämer

Nach mehr als zehn Jahren im Frauengefängnis von Ilopango in El Salvador ist Teodora del Carmen Vásquez Mitte Februar aus der Haft entlassen worden. Sie hatte im Sommer 2007 eine Fehlgeburt erlitten und war deshalb im Januar 2008 wegen »schweren Mordes« zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Anfang des Jahres gab das Justizministerium in San Salvador jedoch ihrem Antrag auf Strafminderung statt. »Jetzt möchte ich erst einmal ein bisschen Zeit mit meinen Eltern und meinem 14-jährigen Sohn verbringen«, sagte sie dem Amnesty Journal. Der Oberste Gerichtshof hatte ihre Freilassung empfohlen, unter anderem, weil in einem ersten Prozess keine ausreichenden Indizien für die ihr vorgeworfene Tat festgestellt und entlastende Hinweise nicht ausreichend berücksichtigt worden waren. Vásquez kommt aus armen Verhältnissen. In der Haft holte sie das Abitur nach. »Mein großer Traum ist, bald Jura zu studieren und Anwältin zu werden. Dann kann ich mich für all die Frauen einsetzen, die noch immer unschuldig in Haft sind«, sagte sie dem Journal. Kämpft weiter. Teodora del Carmen Vásquez, Februar 2018.

Indiens Menschenrechtler im Visier Der Druck auf die indische Menschenrechtsorganisation People’s Watch lässt nicht nach. Nachdem ihr im Oktober 2016 wegen ausländischer Finanzierung die Lizenz entzogen worden war, arbeiten die Behörden offenbar weiter daran, den Handlungsspielraum der Mitarbeiter einzuschränken. »Die Regierung versucht, uns mit allen Mitteln zu schwächen«, sagte Mathew Jacobs, Programmdirektor von

portrÄt

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dranbLeiben

People’s Watch, im März dem Amnesty Journal. Die Organisation setzt sich unter anderem für Folteropfer, Angehörige von Minderheiten sowie die Strafverfolgung von Menschenrechtsverstößen ein. Im April 2016 hatte der Gründer und Leiter von People’s Watch, Henri Tiphagne, den Menschenrechtspreis der deutschen Sektion von Amnesty International erhalten.

Fünf Monate später wurde der Organisation von staatlichen Behörden vorgeworfen, Indien international in ein »schlechtes Licht« zu rücken. »Wir lassen uns nicht einschüchtern«, sagte Jacobs nun. »Wir gehen weiter auf unserem Weg in Richtung Meinungsfreiheit und Einhaltung der Menschenrechte in Indien.« »Der Vorkämpfer«,  Amnesty Journal 02-03/2016

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KULTUR

Alles nur

Ungleicher Kampf. Einsatz der »Schutztruppe« gegen aufständische Doula in Hickorytown, Kamerun, Dezember 1884, zeitgenössische Lithografie.

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Abertausende aus den ehemals deutschen Kolonien entwendete Kulturobjekte und Gebeine lagern noch in deutschen Museen und Sammlungen. Eine Rückgabe versucht die deutsche Politik zu vermeiden. Von Uta von Schrenk

Foto: akg-images / pa

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as für ein schönes Stück ist ihm da in die Hände geraten! Freudig erregt schreibt der Sammler Max Buchner 1884 die Umstände in sein Tagebuch, unter denen er an eine reich verzierte Schnitzerei gekommen ist, die er von Kamerun nach München verschiffen lassen will. Diese hat einst den Bug eines königlichen Prunkschiffes geschmückt. Doch der Besitzer der Schnitzerei, der Douala-König Lock Priso, will sich nicht unter die »Schutzherrschaft« des Deutschen Reiches stellen. Also werden die deutschen Truppen rabiat: »Das Haus des Lock Priso wird niedergerissen, ein bewegtes malerisches Bild«, schwärmt Buchner, Vizekonsul und Hobbyethnologe: »Wir zünden an. Ich habe mir aber ausgebeten, dass ich die einzelnen Häuser vorher auf ethnographische Merkwürdigkeiten durchsehen darf.« Die »Merkwürdigkeit«, die Buchner damals entwendet hat, ist heute als Kameruner Schiffschnabel im Museum Fünf Kontinente, dem ehemaligen Völkerkundemuseum München, zu bewundern. Das Problem ist, er ist immer noch da. Dabei hat einer der rechtmäßigen Kameruner Erben den Schiffschnabel längst zurückgefordert. Doch die deutsche Politik mauert – wie in anderen ähnlichen Fällen auch. Und so stehen immer wieder Rückgabeforderungen bedeutender Kulturgüter und menschlicher Überreste aus ehemals deutschen Kolonien im Raum. Die prominentesten der jüngsten Zeit sind die der Bronzen des ehemaligen Königreichs Benin in Nigeria oder des Brachiosaurus brancai aus Tansania. Derzeit liegen dem Auswärtigen Amt offizielle Forderungen aus Namibia vor – zu Gebeinen in verschiedenen deutschen Einrichtungen, der Witbooi-Bibel im Linden-Museum Stuttgart sowie zur Kreuzkapsäule im Deutschen Historischen Museum Berlin. Als »äußerst sensibel« bezeichnet Stefan Eisenhofer, Leiter der Afrika-Abteilung des Museums Fünf Kontinente und damit der Hüter des Schiffschnabels, den Münchener Rückgabefall. Schließlich sei das gesamte Gebiet der Restitutionsforderungen »juristisch vermint«. Zu groß sei die Angst, Präzedenzfälle zu schaffen. Die Angst kommt nicht von ungefähr: Abertausende in Afrika, China oder dem pazifischen Raum entwendete Kulturobjekte lagern heute in deutschen Museen und Sammlungen. Selbst menschliche Überreste brachten die deutschen Kolonialherren ihren Rasseforschern daheim tausendfach mit. Rund 5.500 Schädel aus aller Welt, ein Großteil von ihnen aus den ehemals deutschen Kolonien, umfasst allein die Berliner LuschanSammlung.

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Nun gerät die deutsche Politik durch einen Vorstoß des französischen Präsidenten Emmanuel Macron unter Zugzwang. Dieser hatte auf dem EU-Afrikagipfel Ende November 2017 seinen Willen bekundet, »dass innerhalb der nächsten fünf Jahre die Voraussetzungen für zeitweilige oder endgültige Restitutionen des afrikanischen Erbes an Afrika geschaffen werden«. Prompt forderten vierzig deutsche NGOs Bundeskanzlerin Angela Merkel in einem offenen Brief auf, »sich zur historischen Initiative des französischen Präsidenten zu positionieren«. Für den Menschenrechtsaktivisten Mnyaka Sururu Mboro von der NGO Berlin Postkolonial, der den Brief mit verfasst hat, haben Rückgabeangebote nun oberste Priorität. »Die Objekte und die Ahnen der zumeist bekannten Herkunftsgesellschaften dürfen nur dann in den Sammlungen verbleiben, wenn diese ausdrücklich zustimmen.« Nach dem jahrzehntelangen Tauziehen um die Rückgabe nationalsozialistischer Raubkunst steht in Deutschland damit die nächste schuldbeladene historische Debatte an. Treibmittel der Auseinandersetzung ist auch die unglückliche Genese des Humboldt-Forums in Berlin, des künftigen deutschen Kulturzentrums. Nicht nur postkoloniale Initiativen, auch renommierte Wissenschaftler wie die Berliner Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy kritisieren den unsensiblen Umgang mit der kolonialen Füllung, die ab Herbst 2019 am Berliner Schlossplatz zu sehen sein soll. Die Sammlung umfasst dann immerhin 25.000 Objekte des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst. Doch von einer eleganten politischen Geste wie der Frankreichs ist hierzulande nichts wahrzunehmen. Die deutsche Politik verharrt lieber in bewährter Haltung: dem Aussitzen. Zwar begrüßt Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) offiziell das Engagement Macrons und versichert, dass auch für die Bundesregierung ein angemessener Umgang mit dem kolonialen Erbe auf der Agenda stehe. Zugleich stellt sie aber für die deutsche Seite klar: »Rückgaben sind nicht die einzige Option.« Erforderlich sei vielmehr »eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Herkunftsstaaten und -communities und ein Dialog auf Augenhöhe«. Ausgerechnet von Augenhöhe könne nicht die Rede sein, kritisieren die postkolonialen Initiativen. »Wenn die deutsche Seite einerseits den Willen zur Rückgabe in bestimmten Einzelfällen beteuert, zugleich aber betont, keine Rechtspflicht zur Rückgabe anzuerkennen, läuft das darauf hinaus,

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Neujahrsnacht in Kamerun. Farbholzstich, um 1895.

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dass koloniale Bilder von Gönnern und Bittstellern reproduziert werden«, sagt Wolfgang Kaleck, Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights. Die Kritiker des deutschen Umgangs mit dem kolonialen Erbe werfen der Kulturstaatsministerin »Verzögerungstaktik« vor, wie Aktivist Mboro sagt. Ministerin Grütters betont nämlich, dass zunächst eine profunde Forschung zur Provenienz, also zur Herkunft der Objekte betrieben werden müsse. Wiebke Ahrndt, Direktorin des ÜberseeMuseums Bremen, räumt ein, bundesweit stünden insbesondere Historiker und Ethnologen vor einer »immensen« Forschungsaufgabe. »Die kolonialen Sammlungen sind extrem umfangreich, und für die wenigsten ist die Provenienz bisher zufriedenstellend geklärt.« Die schlichte Wahrheit: Man hat sich bislang nicht groß darum gekümmert. Unter Ahrndts Leitung erarbeitet nun eine Arbeitsgruppe beim Deutschen Museumsbund Empfehlungen zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten. Was dem laxen Umgang zugrunde liegt, erklärt Jürgen Zimmerer, Professor für die Geschichte Afrikas an der Universität Hamburg: »In der deutschen Gesellschaft wie in den deutschen Museen findet sich bis heute in Teilen eine koloniale Amnesie.« Die Dimension des Holocausts lässt die koloniale Schuld in den Hintergrund rücken. »Bei vielen herrscht die Meinung vor, dass der Kolonialismus entweder nicht so schlimm oder gar zum Wohle der betroffenen Menschen war«, sagt Zimmerer, »dabei war er ein Ausbeutungs- und Fremdherrschaftssystem, sowie ein Massenraubmord ungeahnten Ausmaßes«. Wie gewaltig einem die ungeklärten Eigentumsverhältnisse kolonialer Kulturobjekte auf die Füße fallen können, musste der Ethnologe und Historiker Stefan Eisenhofer lernen, als er die Obhut des Kameruner Schiffschnabels von seiner Vorgängerin übernahm. Seit Mitte der neunziger Jahre ist nämlich eine Rückgabeforderung des Douala-Prinzen Alexandre Kum’a Ndumbe III. anhängig, ein Enkel von Lock Priso und damit einer der Erben des geraubten Statussymbols. Eisenhofer findet sich nun in einer Gemengelage aus bayerischer Besitzstandswahrung und kamerunischen Interessenskollisionen wieder.

»Auf der Basis völkerrechtlicher Bestimmungen lassen sich heute keine Rückforderungen mehr von den Herkunftsstaaten durchsetzen.« Deutscher Museumsbund Warum selbst in Fällen wie diesem, in dem die Herkunft geklärt ist, nichts vorangeht, liegt auch an der internationalen Rechtslage, die es der deutschen Politik leicht macht. In einem Leitfaden des Deutschen Museumsbundes heißt es, dass »sich auf der Basis völkerrechtlicher Bestimmungen heute keine Rückforderungen mehr von den Herkunftsstaaten durchsetzen« lassen. Das internationale Recht erteilt den einstigen Kolonialherren Absolution, macht aus Räubern Besitzer. »Die Behauptung, durch koloniales Unrecht geschaffene Besitzverhältnisse seien durch das Recht legitimiert, darf auf keinen Fall fortgeschrieben werden«, sagt Jurist Kaleck. Der Weltmuseumsbund etwa empfiehlt im Falle von »sensiblen Materialien«, also Gebeinen oder sakralen Gegenständen, auf die Herkunftsgesellschaften »proaktiv« zuzugehen und ihnen eine Rückgabe anzubieten. Und aus Artikel 18 der Erklärung zu den Rechten Indigener Völker der Vereinten Nationen können ethnische Gemeinschaften das Recht ableiten, sich bei Restitutionsforderungen selbst zu vertreten. Aus der Perspektive eines afrikanischen Experten ist dem deutschen Eiertanz um das koloniale Raubgut nur durch einen internationalen politischen Ansatz beizukommen. Denn die koloniale Lage etwa in britischen oder französischen Museen sieht nicht anders aus. Der Historiker Ciraj Rassool, Direktor des Afrikanischen Programms für Museums- und Kulturerbeforschung an der Western Cape-Universität in Südafrika, befürwortet ein Übereinkommen der UNESCO, das etwa die Rückgabe menschlicher Überreste regelt. Doch bislang reicht es nicht einmal zu einer internationalen Übereinkunft, wie sie im Umgang mit der NS-Raubkunst getroffen wurde. Mit der »Washingtoner Erklärung« verpflichteten sich die Unterzeichnerstaaten zur Restitution von im Nationalsozialismus enteigneten Kunstgegenständen. Derweil ist Stefan Eisenhofer, der Hüter des Kameruner Schiffschnabels in München, schon froh, dass seit einem Treffen mit dem Kameruner Prinzen im Mai 2016 ein »respektvoller Ton« in die Rückgabeverhandlungen eingezogen ist. »Wir wollen keine Raubkunst behalten«, beteuert der Ethnologe für sein Museum. Ob und wann der Schiffschnabel aber nach Kamerun heimkehren wird, ist fraglich. Bislang hat der kamerunische Staat nämlich kein offizielles Rückgabegesuch gestellt. Also hält sich auch die deutsche Politik zurück. Proaktiv geht anders. 쮿

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Leben im Transit. Ibrahim al-Hussein (links) und Qutaiba Nafea auf dem Tempelhofer Feld.

Landen und bleiben Der Amnesty-Berlinale-Filmpreis ging in diesem Jahr an den Dokumentarfilm »Zentralflughafen THF« von Karim Aïnouz. Von Jürgen Kiontke

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ls die Berliner vor vier Jahren per Volksentscheid die Pläne des Senats zur Bebauung des ehemaligen Flughafens Tempelhof ablehnten, dürften sie eines nicht im Sinn gehabt haben: dass in das monströse Terminal aus der NS-Zeit einmal Menschen einziehen würden. Es gab Nutzungen für Teile des Gebäudes, sicher. Ein schöner Rockclub logiert dort, und auch die Modemesse »Bread & Butter« hatte dort namensgerecht dick aufgetragen. Aber ein Wohnhaus, das war das größte Baudenkmal Europas bestimmt nicht. Bis zum September 2015, als Deutschland rund eine Million Flüchtlinge aufnahm. Da war Leerraum dringend gesucht. Irgendwann waren die Turnhallen Berlins gefüllt, im Stadtteil Neukölln belegten Migranten ein stillgelegtes C&A-Kaufhaus. So kam man auf die Idee, aus den Hangars des Flughafens ein Übergangswohnheim zu machen. Wie die rund 2.000 Menschen leben, die man dort einquartiert hatte, blieb weitgehend der Spekulation überlassen: Presse und Fernsehen erhielten nur selten Zugang zu dem Gebäudekomplex. Man wolle die Privatsphäre der Menschen schützen, hieß es seitens des Betreibers. So machten Gerüchte die Runde: von überquellenden Toiletten, von Bustransporten zu Duschen irgendwo in der Stadt, von Achtbett-Zimmern und irrsinnigem Lärm, der die Kriegsflüchtlinge dort unter massiven Stress setzte.

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Dass der Flughafenkomplex auch eine Kinokulisse sein könnte, kam schon mehreren Filmemachern in den Sinn. Selbst Jennifer Lawrence drehte hier schon die »Tribute von Panem«. Das Gebäude selbst zum Hauptdarsteller zu machen, blieb jedoch dem brasilianischen Regisseur Karim Aïnouz vorbehalten. Als Spezialist für Liegenschaften – zuvor drehte er einen Film über das Centre Pompidou in Paris – und als dezidiert politischer Filmemacher, der Minderheiten in den Blick nimmt, begann er vor drei Jahren mit den Dreharbeiten. Im Mittelpunkt steht das gigantische Bauwerk, in dessen weitläufigem Garten, dem Rollfeld, sich Kite-Surfer und Urban-Gardening-Aktivisten tummeln, und in dessen Innerem Tausende Flüchtlinge darauf warten, Anerkennung, Wohnung und Arbeit, kurz: eine bessere Zukunft zu finden. Das Ergebnis heißt »Zentralflughafen THF«. Der Dokumentarfilm beginnt mit einer Führung für Touristen. Dies sei einmal der »schönste und größte Flughafen der Welt« gewesen, erklärt der Guide. Nun dürfte er das größte Übergangswohnheim sein. Auf drei Monate sollte der Aufenthalt hier ursprünglich begrenzt sein. Manche Flüchtlinge sind jedoch schon über ein Jahr da. Wer lebt innerhalb dieser Mauern? Aïnouz’ Protagonisten, der 18-jährige Ibrahim Al Hussein, der vor dem syrischen Krieg floh, und der irakische Mediziner Qutaiba Nafea, träumen davon, endlich anzukommen. Ein Jahr lang hat Karim Aïnouz den Alltag der beiden mit der Kamera begleitet, bizarre Bilder sind dabei entstanden. Etwa, wenn Ibrahim auf einem Sofa vor einem Gemälde mit Ampelmännchen sitzt. Aïnouz weiß, wie man Menschen in Gebäuden inszeniert. Nach Architekturstudien in Brasilia und einem Filmstudium in

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Fotos: Juan Sarmiento

New York wirkte er als Regieassistent, Drehbuchautor, Produzent und schließlich als Regisseur bei mehr als 20 Filmen mit. Auf der Berlinale 2014 war er mit »Praia do Futuro« im Wettbewerb zu sehen. Die prägendste Szene: Der Hauptdarsteller Wagner Moura reinigt als Taucher das Aquarium im Aquadom am Alexanderplatz. Der Taucher inmitten der Fische lässt die massive Architektur schwerelos erscheinen. Ähnlich transformieren die Protagonisten in »Zentralflughafen THF« ihre temporäre Behausung – die Nazi-Architektur wird lebendig. Sein Film diene ihm auch zur Bewältigung seiner eigenen Migrationsgeschichte, sagt der Regisseur, gerade in Ibrahim erkenne er sich wieder. Auch er sei als Jugendlicher zwischen den Kontinenten unterwegs gewesen, als er von Brasilien zu seinem Vater nach Frankreich zog. Er habe einen Film über die Solidarität machen wollen, die Menschenrechte im Hinterkopf. »Ich war schockiert, als ich gesehen habe, wie die Leute dort leben.« »Zentralflughafen THF« ist ein Film über ein irritierendes Gebäude. Es sei nicht zum Wohnen gedacht, sagt Aïnouz. Das Unangenehmste: »Die Geräusche.« In der Tat vermitteln die sehr lauten Durchsagen den Eindruck, als sei der Flughafen noch in Betrieb. Sie lassen den Funktionsbau erahnen und können einen geradezu erschrecken – zum Beispiel, wenn über Lautsprecher zum Impfen gerufen wird. Daneben hallen Kindergeschrei und Arbeitsgeräusche durch die Hangars. Es stellen sich unschöne Assoziationen ein. »Würde man in meinem Film den Ton abdrehen, würde alles friedlich wirken«, sagt der Regisseur. Erst der Lärm mache deutlich, dass dies ein Ort der Gestressten sei. Dennoch ist dies ein ruhiger, ein eleganter und unvermutet hoffnungsfroher Film. Das liegt nicht zuletzt an den Protagonisten. Ibrahim ist zwar traurig, wenn er an den Verlust der Heimat in Syrien denkt. Und dennoch: Einmal sitzt er mit zwei anderen auf einer Bank im Freien und raucht Shisha. »Der Blick auf das Feld ist so sensationell, ich werde nie woanders wohnen wollen«, sagt einer von ihnen. Schallendes Lachen. Und voller Hoffnung bereitet sich Ibrahim mit Sprachlehrern und Jobvermittlern auf ein neues Leben in Deutschland vor. Und der Mediziner Qutaiba? Der ist sowieso eingespannt. Er arbeitet als Sanitäter und Übersetzer. Sagt, dass man auf jeden Fall jede Gelegenheit zur Arbeit nutzen soll. Wo andere Filme drastische Zustände mit drastischen Bildern beschreiben, bleibt dieser Film cool und zurückhaltend und zieht die Zuschauer auf diese Weise an. Der Zugang ist denkbar cineastisch: Der stillgelegte Flughafen mit den immensen Ausmaßen dient als Kulisse für die große Erzählung von Flucht und Migration. Ankunft und erstmal kein Abflug. Die

»Würde man den Ton abdrehen, würde alles friedlich wirken.« Regisseur Karim Aïnouz Flüchtlinge bewohnen eine Metapher. Man möge den Film unbedingt auf großer Leinwand sehen, empfehlen die Protagonisiten. Nachts fährt die Kamera mit den Parkwächtern über das weitläufige Gelände. Füchse werden gesichtet. Ironisch gebrochen erzählt der Film seinen Stoff, in brillianter Montage Gleichzeitigkeiten schildernd. »Zentralflughafen THF« wurde dieses Jahr mit dem Filmpreis von Amnesty International ausgezeichnet. In der Jury saßen neben der Schauspielerin Friederike Kempter die Leiterin der Abteilung »Kampagnen und Kommunikation« von Amnesty International, Bettina Müller, und der Regisseur Ali Samadi Ahadi, selbst preisgekrönter Dokumentarfilmer (»The Green Wave«, 2011). Er sagt über Aïnouz’ Blick auf den Flughafen: »Das ist ein sehr schöner Film, rund und positiv. Ein Film, der den Zuschauern die Einladung ausspricht, hinzugucken.« Wir lebten in einer Zeit, wo uns die Ohnmacht angesichts der Zustände die Luft zum Atmen nehme. »Das Sanfte, das Ruhige, mit den Leuten mitzugehen, tut den Zuschauern gut.« Dass die Jury auch durchaus andere Herangehensweisen zu würdigen wusste, kam mit der besonderen Erwähnung des Films »Eldorado« (Kinostart: 26. April 2018) zum Ausdruck: Er wurde bei den Rettungseinsätzen im Mittelmeer gedreht, zeigt Tote, Verletzte und Sklavenarbeiter. Aïnouz’ Film hingegen visualisiert das Warten – auf Papiere, Zulassungen, Erlaubnisse. »Mit Wärme und Humor porträtiert der Regisseur das Engagement der vielen Helfer und zeigt, wie wichtig Mitmenschlichkeit ist.« Der Film »lädt die Zuschauer ein, hinzusehen und mitzumachen und trägt damit eine Botschaft, die in der heutigen Zeit wichtiger ist denn je«, heißt es in der Begründung der Jury. »Er begegnet den Menschen auf Augenhöhe«, sagt Friederike Kempter. 쮿 »Zentralflughafen THF«. BRA/D/F 2018.  Regie: Karim Aïnouz. Kinostart 24. Mai 2018

Ankunft ohne Abflug. Filmstills aus »Zentralflughafen THF«.

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Die Entdeckung des Vorurteils Das Dresdner Hygiene-Museum setzt sich mit der Entstehung von Rassismus auseinander. Das scheint 2018 noch immer nötig. Von Georg Kasch

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ie Ausstellungsmacher haben es mit einem ironischen Augenzwinkern versucht. Gleich hinter dem Eingang wird ein Koffer mit allerlei Gerät und Instrumenten stehen, Fläschchen und Tinkturen. Er wurde irgendwann zwischen 1918 und 1939 von einem belgischen Geisterjäger benutzt, etwa um »Besessenheit« zu kurieren. Etliche dieser Messinstrumente, das Talkpuder zum Spurennachweis und Totenmasken dienten bereits im 19. Jahrhundert dazu, »Rassen« zu bestimmen. Systematik, Anschauung und Beweise: Alles macht den Anschein, als handele es sich hier um Wissenschaft. Ein Irrtum. Im Netz tobt dennoch der Kampf. Als Ende Dezember öffentlich wurde, dass das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden für 2018 eine Sonderausstellung mit dem Titel »Rassismus. Die Erfindung von Menschenrassen« plant, ging in den Diskussionsforen die Hetze los. »Wusste gar nicht, dass das Hygienemuseum so religiös ist, primär Glaubenstheorien zu behandeln«, ätzte ein User auf mdr.de. Ein anderer wurde deutlicher: »Was ist eigentlich mit dem Rassismus, mit dem manche einem ganzen Volk sein Recht absprechen, auch weiterhin ein eigenes Volk zu sein?« Ein dritter bemühte Pathos: »Ich und die meinen versprechen hiermit, das Hygienemuseum NICHT eher zu besuchen, als bis wieder Wissenschaft von Politik getrennt wird.« Was war geschehen? Museumschef Klaus Vogel wird mit den Worten zitiert, Ziel der Ausstellung sei »klarzumachen, dass es natürlich Unterschiede zwischen den Menschen gibt, aber es gibt keine Menschenrassen und schon gar nicht Hierarchien unter den Menschen«. Im Jahr 2018 herrscht da unter seriösen Wissenschaftlern Konsens. Denn die pseudowissenschaftlichen Analogieschlüsse aus der Biologie, die soziale Ungleichheit seit der Aufklärung rechtfertigen, haben sich als unhaltbar erwiesen. Weder genetische Unterschiede noch ausgeprägte Körpermerkmale wie etwa die

Die Ausstellung zeigt, wie willkürlich die Kategorie »Rasse« ist, wie konstruiert. 70

Hautfarbe rechtfertigen menschliche Kategorien. Deshalb ächtete schon 1995 eine UNESCO-Deklaration den »Rasse«-Begriff sowie jede biologische und soziologische Ableitung rasseähnlicher Kategorien. Offensichtlich muss das aber noch vermittelt werden. Das Deutsche Hygiene-Museum geht das Thema jetzt in vier Abteilungen und zwei Publikationen an. Wenn am 19. Mai die von Stararchitekt Francis Kéré entworfenen Räume öffnen, führen sie von der menschlichen Vielfalt und der Rassenkonstruktion über die Rassenpolitik der Nationalsozialisten und die Rolle des Museums dabei hin zur kolonialen Gewaltherrschaft. Dabei sollen in jedem Raum Bezüge zur Gegenwart sichtbar werden. Während gleich mehrere Netz-Kommentatoren fanden, dass das Thema nicht ins Hygiene-Museum passe, ist das Gegenteil der Fall. Natürlich auch wegen Pegida, die in Dresden gegründet wurde, und der AfD, die hier hohe Wahlergebnisse erzielt. Aber vor allem, weil sich das Deutsche Hygiene-Museum bereits seit über 20 Jahren immer wieder mit seiner Geschichte auseinandersetzt. In seiner Dauerausstellung, in der man zum Beispiel lernt, dass seine Mitarbeiter seit der Gründung durch den OdolFabrikanten Karl August Lingner 1912 eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung der Eugenik spielten, lange bevor das Haus zur Propagandaeinrichtung der nationalsozialistischen »Rassenhygiene« wurde. Vor allem aber in seinen Sonderausstellungen, seit es sich in den neunziger Jahren als »Museum vom Menschen« positionierte und seitdem den kulturwissenschaftlichen Blick auf die Naturwissenschaften wagt. Zuletzt war »Das Gesicht. Eine Spurensuche« zu sehen, eine beeindruckende Schau, die bereits in mehreren Exponaten Rassismus thematisierte. »Die Geschichte des Hauses ist der Rucksack, den wir tragen müssen«, sagt Museumschef Vogel. Auch jetzt wieder waren nicht tagespolitische Ereignisse, sondern die Vergangenheit des Hauses der Anstoß dafür, sich mit Rassismus auseinanderzusetzen. Schon vor 1933 wurde am Haus die sogenannte deutsche Rassenhygiene akademisch entwickelt und popularisiert. 1933 startete in Dresden die Wanderausstellung »Entartete Kunst«, 1939 die Deutsche Kolonialausstellung. Entsprechend historisch ist auch der Fokus auf die europäische und deutsche Tradition

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ssion (EHRC) / Ben Nott Foto: Equality and Human Rights Commi

Diagnose: begrenzter Horizont. Deutsches Hygiene-Museum, 2018.

von der Aufklärung bis zum Kolonialismus: »Das Andere wurde immer als das Fremde wahrgenommen und konstruiert, als Exotismus und Orientalismus«, sagt Vogel. Die aktuelle Ausstellung soll nun zeigen, wie willkürlich die Kategorie »Rasse« ist, wie konstruiert, wie sehr sie mit dem Menschen- und Weltbild insbesondere des 19. Jahrhunderts verknüpft ist. 2015, 80 Jahre nach den Nürnberger Rassegesetzen, organisierte das Museum eine wissenschaftliche Konferenz zum Thema Rassismus. Die zeitliche Trennung von Konferenz und Ausstellung erwies sich als ein Glücksfall, sagt Kuratorin und Projektleiterin Susanne Wernsing: »Wir haben viel gelernt.« Der historische Blick auf die Konstruktion von Rassen habe sich dadurch auf die rassistischen Auswirkungen bis heute geweitet. So sind im Begleitband zur Ausstellung jetzt auch Sozialwissenschaftler mit postkolonialem Fokus vertreten. Und vieles, was es – schon aus Platzgründen – nicht in die Ausstellung geschafft hat, wird im Begleitprogramm thematisiert, in Diskussionen, Vorträgen, Führungen. So auch Ansätze der Kritischen Weißseinsforschung: Was bedeutet es, weiß zu sein? Welche Privilegien sind damit verbunden? Wo denkt und handelt man rassistisch, ohne es zu merken? Perspektiven, die durchaus Einfluss auf die Ausstellung hatten, auch wenn Wernsing sagt: »Es geht uns nicht um Jagd auf Rassisten, sondern darum, Denk- und Wahrnehmungsstrukturen zu hinterfragen.« Denn das zentrale Problem der historischen Perspektive ist Wernsing bewusst: »Das, was ich bestreite, die Existenz von

»rassisMus«

menschlichen Rassen, muss ich ständig zeigen« – weil die historischen Plakate, Bücher, Broschüren genau das behaupten. »Wir arbeiten mit Exponaten, die geschaffen wurden, die Idee menschlicher ‚Rassen’ in die Köpfe der Menschen zu bringen. Die Kunst, die uns gelingen muss, ist, die Objekte so zu präsentieren, dass ihre Gemachtheit deutlich wird.« Deshalb werden zum Beispiel die rassistischen Plakate der dreißiger Jahre auf Arbeitstischen gezeigt, als Untersuchungsgegenstand markiert. An den Wänden hängen hingegen Werke der klassischen Moderne, die damals als »entartet« diffamiert wurden. Die Ausstellung will aber auch Gegenbilder schaffen. Etwa mit dem Film von John A. Kantara, der drei afrodeutsche Generationen im Gespräch zeigt – Kantaras Sohn, Kantara selbst und den Bundesverdienstkreuzträger Theodor Wonja Michael, die sich über ihre Heimat Deutschland unterhalten: Was hat sich in den vergangenen hundert Jahren verändert? Und welche Lehren lassen sich daraus ziehen? Weil die Ausstellungsmacher darüber hinaus »Sprecherpositionen erweitern und verschieben« wollen, haben sie eine Arbeitsgruppe um die postkoloniale Kommunikationswissenschaftlerin und Soziologin Natasha A. Kelly eingeladen. Sie wird Exponate der Ausstellung kritisch prüfen. Ihre Kommentare sollen dann für die Besucher nachzulesen sein – unzensiert. Der Blick auf die eigene Perspektive wird damit Teil der Schau. 쮿 »Rassismus. Die Erfindung von Menschenrassen«,  Deutsches Hygiene-Museum Dresden, bis 6. Januar 2019.

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Foto: Ben Curtis / AP / pa

Marionette der Macht. Hosni-Mubarak-Puppe nach dem Rücktritt des damaligen Präsidenten im Februar 2011 in Kairo.

Die Puppen sprechen lassen In Ägypten hat das Puppentheater eine lange Tradition. Abla Fahita, eine plappernde Handpuppe, erzielt im Fernsehen die höchsten Quoten. Und demokratische Aktivisten nutzen Marionetten, um politische Aufklärung zu betreiben. Von Julia Gerlach

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hr Markenzeichen ist das Zwinkern mit dem rechten Auge: Vielleicht soll es ihre vulgäre Ausstrahlung verstärken, vielleicht deutet es aber auch an, dass sie sich insgeheim lustig macht – über ihre Zuschauer, über den Rummel um ihre Person und die Entwicklung, die sie selbst, die Medien und Ägypten in den vergangenen Jahren genommen haben. Abla Fahita, Tante Fahita, ist Ägyptens größter TV- und YouTube-Star. Sie hat Millionen Fans. Freitagabend zur besten Sendezeit sitzt

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das halbe Land vor den Fernsehschirmen, um sie zu sehen. In ihrer Show »Aus dem Dublex«, die mit viel Glamour und vielen Effekten im Privatsender CBC gezeigt wird, nimmt sie jeweils einen Prominenten aufs Korn. 1,3 Millionen Menschen folgen ihr auf Twitter und YouTube. Dabei ist Abla Fahita eine tanzende und singende Handpuppe. Das Geheimnis ihres Erfolgs: Sie redet wie eine typische ägyptische Mittelklassefrau. Sie sagt, was auch sie sagen würde, und oft auch ein bisschen mehr. Legendär sind ihre Wortspiele, mit denen sie ständig die Grenzen des guten Geschmacks überschreitet. Wer durch Abla Fahita spricht, ist nicht bekannt, angeblich nicht einmal ihrer Redaktion. In Ägypten hat die Kunst des Puppentheaters eine lange Tradition – kein Heiligengeburtstag und kein Jahrmarkt kommt ohne die schnarrende Stimme des Kaspers aus, der wahlweise seine Frau, Diebe oder manchmal sogar Polizisten verdrischt.

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In den großen Städten gab es seit Anfang des 20. Jahrhunderts sogar angesehene Theater für Marionettenspiel. Heute lebt die Tradition jedoch nur noch in einigen vereinzelten Theatern fort und wird von wenigen Künstlern gepflegt. Die Sendung von Abla Fahita ist ein gefundenes Fressen für die selbsternannten Tugendwächter und ganz besonders für jene, die im ägyptischen Parlament sitzen. Die Abgeordneten haben unter der Regierung immer weniger Befugnisse, deshalb stürzen sie sich geradezu auf Kampagnen gegen die vermeintlich verantwortungslosen Medien. Vor allem kritische Berichte über die Politik der Regierung und ihren bislang erfolglosen Kampf gegen den Terror sind der Regierung und ihren Anhängern ein Dorn im Auge. Eine Verordnung stellt falsche Berichterstattung über militärische Einsätze unter Strafe; und »FactCheck Egypt«, eine staatliche Medienagentur, kontrolliert ausländische Journalisten und setzt sie unter Druck. Aus Angst halten sich viele Journalisten mit politischer Berichterstattung zurück. Die einst recht freien ägyptischen Medien sind nicht mehr wiederzuerkennen. Zunehmend gerät auch die Unterhaltungsbranche ins Visier, regelmäßig gibt es hierzu hitzige Debatten im Parlament. »Diese Medien sind ein großes Problem für den ägyptischen Staat«, sagte Parlamentssprecher Ali Abdel Aal erst im Februar. Der Abgeordnete Mustafa Bakri, der eine erbitterte Kampagne gegen die ohnehin stark eingeschränkte Medienfreiheit führt, forderte die Regierung zu Härte auf: »Der Staat muss eingreifen, auch gegen solche Sendungen wie die von Abla Fahita, die ständig gegen Gesetz und Anstand verstoßen.« In der Folge wurde zwar eine andere Talkshow verboten – Abla Fahita blieb vorläufig verschont. Doch auch sie gerät zunehmend unter Druck: Erst im Dezember musste Vodafone einen Werbeclip mit der Puppe umschneiden – das staatliche Fernsehen hätte ihn sonst nicht ausgestrahlt. Die anzügliche Sprache sei für junge Zuschauer ungeeignet, hieß es zur Begründung. 2014 hatte ein Vodafone-Spot mit Abla Fahita sogar zu einem Gerichtsverfahren geführt. Angeblich enthielt der Clip eine verschlüsselte Aufforderung an islamistische Terroristen, einen Anschlag auf ein Einkaufszentrum zu verüben. Die Staatsanwaltschaft nahm sich des Falles an. Zwar blieb den Machern von Abla Fahita das Gefängnis erspart. In der Folge verschwanden jedoch die letzten noch vorhandenen politischen Anspielungen aus den YouTube-Clips der Puppe. Seither stürzt sie sich voll auf das ägyptische Sozialleben und zeigt, wie absurd viele der gesellschaftlichen Normen sind: Dass etwa Sex das Tabuthema Nummer eins ist, zugleich aber alle ständig daran denken und darüber reden. So wie Abla Fahita. »Ich bin wie deine Mama!«, lautete denn auch der Slogan, mit dem sie 2016 für den Start ihrer eigenen TV-Show warb. Diese zeigte sie im Negligé auf einem Diwan ruhend. Als Abla Fahita auf Sendung ging, sahen viele darin einen Meilenstein der ägyptischen TV-Geschichte – allerdings nicht unbedingt im positiven Sinne. Ihre Show beweist vielmehr, wie sehr die Medienfreiheit in Ägypten in den vergangenen Jahren eingeschränkt wurde. Schließlich gehörte der Sendeplatz zuvor Bassem Youssef, der in seiner Sendung »Al Bernameg« die jeweilige Regierung auf die Schippe nahm. Die besten Witze machte er über den 2012 gewählten und 2013 gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi. Als mit Abdel Fattah al-Sisi das Militär wieder an die Macht kam, war bald Schluss mit lustig. 2014 ging Bassem Youssef ins US-amerikanische Exil. Kein Wunder, dass vielen nun das Geplapper der Handpuppe schal vorkommt.

Ägypten

Das Geheimnis von Abla Fahitas Erfolg: Sie überschreitet die Grenzen des guten Geschmacks. »Abla Fahita ist typisch für die neue Art des Unterhaltungsfernsehens. Das hat mit traditionellem ägyptischen Puppentheater nichts zu tun«, sagt Rania Shahin, die selbst zu den bekanntesten Puppenspielerinnen am Nil gehört. Ihr Theater »La Pergola« hat sie über die Grenzen hinaus bekannt gemacht. Auch in Berlin hatte sie Auftritte. Rania Shahins Ansage, sie plane, Kulturministerin in einem demokratischen Ägypten zu werden, sorgte ebenfalls für Aufsehen. »Puppentheater hat große Vorzüge. Man ist nicht so sehr von Schauspielern abhängig, und vor allem können Puppen ein bisschen mehr sagen als Menschen. Wir spielen vor allem in den armen Stadtvierteln und auf dem Land«, erzählt die Mittdreißigerin. Da sie studierte Juristin ist, kombinierte sie Theater und Rechtsberatung. Ihr »Masrah al Qanuni«, ihr juristisches Theater, wurde durch die Revolution 2011 richtig groß. »Nach dem Sturz von Präsident Hosni Mubarak war in Ägypten plötzlich alles möglich. Wir spielten auf Straßen, an Bushaltestellen, überall«, erzählt sie. Ihre Stücke handeln von Alltagsproblemen und den Rechten, von denen viele Menschen oft gar nicht wissen, wie sie sie einfordern können. Das Wichtigste aber: Es sind Mitmachstücke. »Für interaktives Theater sind Marionetten gut, denn viele Menschen haben Hemmungen, öffentlich ihre Meinung zu sagen. Wenn sie sich hinter der Puppe verstecken können, trauen sie sich viel mehr«, sagt Rania Shahin. »Aber manche Themen lassen sich selbst im Mitmachtheater nur schwer aufgreifen. Ich mache viel zum Thema sexuelle Belästigung. Statt nun einen Jungen aus dem Publikum aufzufordern, die Mädchen anzugrapschen, stellen wir es lieber mit Marionetten dar«, sagt sie. Doch schon bald nach dem Aufstand gegen Hosni Mubarak nahm die Freiheit wieder ab. »Seitdem Sisi an der Macht ist, ist es fast unmöglich, öffentlich aufzutreten«, sagt Rania Shahin. So könne sie eigentlich nur noch auf Einladung in Jugendclubs auftreten oder in den hintersten Armenvierteln, wo keine Polizei hinkommt. »Da sind die Zuschauer unser Schutz. Sie bilden einen Kreis um uns«, sagt sie. Bei dem, was gespielt wird, müsse sie sich nach dem Geschmack ihres Publikums richten. »Bei solchen Aufführungen wünschen sich die Menschen eher Stücke mit derben Witzen. Etwas, worin sie sich wiedererkennen«, sagt sie. »In Ägypten haben wir eine lange Tradition auch des politischen Puppentheaters«, sagt Rania Shahin. Bei ihren Auftritten heute gehe es aber mehr um gesellschaftliche Themen. Also ergeht es ihren Puppen nicht besser als Abla Fahita? Solche Vergleiche mag Rania Shahin nicht. Abla Fahita stehe für viele Menschen in Ägypten eben nicht für den tapferen Kampf für mehr Meinungsfreiheit, sondern eher für den Rückzug in die Possenreißerei. Dass Abla Fahita dennoch von regimetreuen Politikern angegriffen wird, zeigt, wie wenig Spielraum selbst den Puppen geblieben ist. 쮿

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Die Übergriffe der Anderen Die #MeToo-Debatte rückt die sexuellen Übergriffe an Silvester 2015 in Köln in ein neues Licht. Deren Deutung als Folge der »Flüchtlingswellen« erscheint heute als offen rassistisch. Von Tanja Dückers

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s scheint, als würde im Zuge der Diskussion um die Skrupellosigkeit von Männern wie Harvey Weinstein, Dieter Wedel und einigen anderen sowie ihrer Mitwisser, Komplizen und Weggefährten die düster-dämonische Aura der »Kölner Silvesternacht« 2015 langsam ein wenig verblassen. Denn die #MeToo-Debatte macht sichtbar, mit welcher Selbstverständlichkeit Frauen weltweit sexuellen Übergriffen ausgesetzt sind – auch in den USA, in Deutschland und in anderen westlichen, aufgeklärten, liberalen und progressiven Ländern (so die Selbstwahrnehmung). Bis dahin war vielen die »Kölner Silvesternacht« als ein singuläres Ereignis erschienen. Mehr als zwei Jahre nach dem Jahreswechsel, an dem zahlreiche Frauen in Köln – und auch in anderen deutschen Städten – Opfer von sexuellen Übergriffen und zum Teil auch Raubdelikten wurden, ist die Wendung »Kölner Silvesternacht« zum geflügelten Begriff geworden. Die Deutung dieses Ereignisses durch die Medien, durch Politiker, Feministinnen, Migrationsexperten und Prominente hat seitdem kein Ende gefunden. Während in der öffentlichen Debatte sofort die »Flüchtlingswellen«, vor allem »Asylbewerber und Illegale« (Alice Schwarzer) als ursächlich für den »Sex-Mob« (Bild) angesehen wurden und die Willkommenskultur Angela Merkels an den Pranger gestellt wurde, mehrten sich bald auch die Stimmen, die sich gegen eine Pauschalverurteilung aussprachen. Diese machten auf die stets hohe Zahl an sexuellen Übergriffen, inklusive Vergewaltigungen, während des Karnevals und des Oktoberfestes aufmerksam. Doch diese Übergriffe, meist von autochthonen Deutschen verübt, hätten bislang kaum mediales Interesse hervorgerufen. Diejenigen, die sich gegen die Dämonisierung der »Kölner Silvesternacht« wehrten, verwiesen zudem auf Zahlen des Bundesfamilienministeriums, nach denen knapp 60 Prozent aller Frauen in Deutschland bereits sexuelle Belästigungen erlebt haben und jede siebte Frau sexuelle Gewalt in strafrechtlich relevanter Form erfahren hat. Diese Zahlen sind nicht neu. Den sicherlich anspruchsvollsten und gleichzeitig gelungensten Versuch der Einordnung der »Kölner Silvesternacht« und der Reaktionen darauf stellt der Essay »Unterscheiden und herr-

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schen« der Soziologinnen und Geschlechterforscherinnen Sabine Hark von der Technischen Universität Berlin und Paula-Irene Villa von der Universität München dar. Wie es dazu kommen konnte, dass eine Vielzahl von Journalisten, Prominenten und anderen Meinungsmachern nach der Silvesternacht sofort pauschalisierend von einer Unvereinbarkeit der Kulturen sprechen und die sexuellen Übergriffe für eine sonst eher im ultrarechten Lager anzutreffende offen rassistische Rhetorik instrumentalisieren konnte, zeigen Hark und Villa überzeugend auf. In einer zentralen Passage ihres Essays erläutern die Soziologinnen, »dass Rassismus und Sexismus nicht von den Identitäten oder Eigenschaften einer Gruppe oder eines Individuums her gedacht werden können, sondern nur von den Verhältnissen, in denen diese produziert und relevant gemacht werden. Weder gibt es Rassismus, weil es ›Rassen‹, noch Sexismus, weil es ›Geschlecht‹ gibt. Es verhält sich vielmehr genau anders herum.« Damit werden die Ereignisse der »Kölner Silvesternacht« nicht verharmlost, wohl aber wird die Konstruktion des Täterprofils und die ebenso gefährliche wie gefällige Dichotomie »Dunkelhäutiger männlicher Täter – weißes weibliches Opfer« (schon ein Topos in Disneyfilmen) hinterfragt. Mit dem Begriff »Toxischer Feminismus« belegen Hark und Villa wiederum die Haltung von Feministinnen wie Alice Schwarzer und anderen, die rassistisch motivierten Interpretationen der »Kölner Silvesternacht« in den Medien Vorschub geleistet haben. Als »Femonationalismus« bezeichnen Hark und Villa eine Ideologie, die originär feministische Anliegen nolens volens in den Dienst von nationalistischen und rassistischen Projekten stellt. So wie der Nationalismus keine Haltung nur für Rechtsgesinnte ist, so ist er auch nicht inkompatibel mit feministischem Gedankengut. Nationalistische und rassistische Anschauungen werden geteilt, sofern sie feministischen Zielen dienlich sind – der Zweck heiligt die Mittel.

Nationalismus ist durchaus kompatibel mit feministischem Gedankengut. aMnesty journaL | 04-05/2018


Foto: Daniel Rosenthal / laif

Alles einvernehmlich? Oktoberfest München, September 2010.

Die Zeit scheint Hark und Villa Recht gegeben zu haben: Als sie ihr Buch schrieben, gab es die #MeToo-Debatte – deren Initiatorinnen es im vergangenen Jahr gemeinsam als »Person des Jahres« auf das Cover des Time-Magazins schafften – noch nicht. Im Zuge dieser Debatte erinnerte man sich auch wieder an das Jahr 2013, in dem die junge Medienberaterin und Feministin Anne Wizorek bei Twitter den Hashtag »Aufschrei« etabliert hatte. Die Aufschrei-Diskussion war ein Vorläufer der #MeToo-Debatte. Zahlreiche Frauen – und auch Männer – hatten unter #Aufschrei ihre Erfahrungen mit sexuellen Belästigungen und sexualisierter Gewalt öffentlich gemacht. Beinahe zeitgleich hatte die junge Journalistin Laura Himmelreich im Stern am 24. Januar 2013 ein mit »Der Herrenwitz« betiteltes Porträt über den notorisch anzüglichen FDP-Bundestagsfraktionsvorsitzenden Rainer Brüderle veröffentlicht. Hierin schildert Himmelreich, wie Brüderle am Abend des Dreikönigstreffens der FDP in einer Hotelbar mit ungeniertem Blick auf ihren Busen feststellte: »Sie können ein Dirndl auch ausfüllen.« Ähnlich wie auch heute in der #MeToo-Debatte warfen Frauen damals ihren Geschlechtsgenossinnen »Hysterie« vor: Die bekannte Journalistin und Buchautorin Wibke Bruhns fand die Aufschrei-Aktion übertrieben. Bei »Günther Jauch« verrannte sie sich mit der Bemerkung, Männer und Frauen seien »zwei verschiedene Spezies« so wie »Kühe und Stiere« in obskure Biologismen. So etwas sagte die erste Frau, die Anfang der siebziger Jahre im bundesrepublikanischen Fernsehen die Tagesschau-

#Metoo-debatte

Nachrichten übernommen hatte und damit zu einer Vorreiterin in Sachen Gleichberechtigung geworden war. Die damalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) meinte 2013, die Äußerung ihres Parteikameraden auch noch aktiv als »Kompliment« verteidigen zu müssen. Anne Wizorek hatte sich später auch zur »Kölner Silvesternacht« zu Wort gemeldet und die Haltung, die Sabine Hark und Paula-Irene Villa dann ausführlicher in ihrem Essay begründeten, auf den Punkt gebracht: »Geflüchtete pauschal anders zu bewerten, finde ich erstmal problematisch. Man muss sexualisierte Gewalt ansprechen und kritisieren – aber nicht nur in Bezug auf eine Menschengruppe, sondern als gesamtgesellschaftliches Problem.« Die #MeToo-Bewegung sowie die Erinnerungen an die beiden früheren großen Debatten um Sexismus im Alltag haben deutlich gemacht, dass sexuelle Übergriffe und Grenzüberschreitungen überall und von allen Schichten verübt werden, von Migranten ebenso wie von Nicht-Migranten. Zweifellos bleibt »die Kölner Silvesternacht« mit ihrer hohen Opferzahl ein alarmierendes und deprimierendes Ereignis. Dennoch wurde sie nun in ein zeitliches und räumliches Kontinuum an Gewalt gegen Frauen gerückt. 쮿 Sabine Hark, Paula-Irene Villa: Unterscheiden und herrschen. Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart. transcript, Bielefeld 2017. 176 Seiten, 19,99 Euro.

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Die ganze Welt kein Lied

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Auch nach dem Ende der Kulturrevolution hat es die Liebe zur Musik schwer in einem Land, das nun alles daran setzt, den Anschluss an den Rest der Welt zu finden. Gemeinsam bleibt Thiens Protagonisten, dass sie beim Regime zeitweise in Ungnade fallen – so wie einst der Komponist Dmitri Schostakowitsch und der Pianist Sergej Prokofjew in der Sowjetunion. Erst die Proteste auf dem Tiananmen-Platz in Peking im Jahr 1989 befreien sie aus der verordneten Passivität und lassen sie wieder zu Akteuren werden. Thiens Roman gehört zum Besten, was in den vergangenen Jahren über das moderne China geschrieben wurde. Er ist kritisch, intelligent und behandelt Geschichte mit einem präzisen Blick auf das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft – ein großes, zeitloses Werk. 쮿

as macht Johann Sebastian Bach in Shanghai, und warum konkurriert er mit Karl Marx in Peking? Madeleine Thien wählt in ihrem neuen Roman »Sag nicht, wir hätten gar nichts« Shanghai und Peking als Orte, an denen sich die jüngere chinesische Geschichte von der Kulturrevolution unter Mao Zedong bis zur Niederschlagung der Revolte auf dem Tiananmen-Platz vollzieht. Während der Madeleine Thien: Sag nicht, wir hätten gar nichts. Aus dem Philosoph Marx im Hintergrund präsent ist, Englischen von Anette Grube. Luchterhand, München wenn sich Mitglieder der chinesischen KP und 2017. 656 Seiten, 24 Euro. die Roten Garden Maos mit- und gegeneinander daran machen, die chinesische Gesellschaft repressiv neu zu erschaffen, bilden in Thiens Roman die Komponisten Johann Sebastian Bach, Dmitri Schostakowitsch und Sergei Prokofjew den künstlerischen Kontrapunkt zur Umwälzung der Geschichte. Dieses komplexe Szenario geht Thien von außen an, aus Vancouver in Kanada. Im Jahr 1990 bekommen die zehnjährige Marie und ihre Mutter dort Besuch von Ai-ming, einer jungen Chinesin, die nach dem Tiananmen-Massaker aus China fliehen musste und vorübergehend in Vancouver bei Marie und ihrer Mutter unterkommt, weil Ai-mings und Maries Väter Freunde in Maos China waren. Marie und Ai-ming lesen zusammen in einem »Buch der Aufzeichnungen« und tauchen tief ein in die chinesische Geschichte des 20. Jahrhunderts, die zugleich auch die Geschichte ihrer Familien ist. Madeleine Thien, kanadische Autorin mit malaysisch-chinesischen Eltern, schafft es glänzend, all jene Gegensätze literarisch zu verarbeiten, die das Denken und Handeln der Kommunistischen Partei Chinas geprägt haben: Stadt und Land, Landwirtschaft und Industrialisierung, eigenständiger Weg und globalisierte Märkte, Disziplin und Kreativität, Kollektiv und Individuum. Die Familien aus dem »Buch der Aufzeichnungen«, das Marie und Ai-ming lesen, bestehen aus Musikern. Sie bekommen den Terror der Roten Garden in den Jahren der Kulturrevolution zu spüren wie viele andere auch und doch trifft er sie besonders. Ihre Hoffnung, »dass die ganze Welt ein Lied war, ein Auftritt oder ein Traum, dass Musik gleichbedeutend mit Überleben war, einen leeren Magen füllen und den Krieg vertreiben konnte«, zerschellt an den Aufforderungen zur »Kritik und Selbstkritik« junger KP-Kader, die in Musikern nur »konterrevolutionäre Elemente« erkennen und sie in die Produktion schicken, zur »Umerziehung« verurteilen oder in den Tod treiben. Junges Vorbild. Propagandaplakat der chinesischen Kulturrevolution.

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Foto: Sammlung M. Wolf / laif

Madeleine Thien widmet sich in ihrem neuen Roman der Gewalt der Roten Garden in China – von der Kulturrevolution bis zum Tiananmen-Massaker. Von Maik Söhler


Der neue Staatsbürger

Endlich frei

Er ist schwarz, er ist schwul und seine Lebensgeschichte erscheint im Konkret Literatur Verlag. Einem Verlag also, der eng mit dem Magazin konkret verbunden ist, das wiederum für seine mal dogmatische, mal präzise, immer aber schonungslose Kritik deutscher Verhältnisse bekannt ist. Wer Umeswaran Arunagirinathans neues Buch »Der fremde Deutsche« in die Hand nimmt, erwartet ein Werk, in dem Rassismus, Homophobie und eine Abrechnung mit Deutschland im Vordergrund stehen. Und dann das: Ein geflüchteter Junge aus Sri Lanka mit hinduistischem Glauben feiert Weihnachten mit einer afghanischen muslimischen Familie. Er amüsiert sich bestens, in Lederhosen, auf einem bayerischen Bierfest. Und er bekennt: »Ich fühle mich längst als deutscher Staatsbürger und als ein Teil dieser Gesellschaft – bis mir wieder mal ein rassistischer Idiot dieses Gefühl austreiben will.« Ja, um Rassismus geht es und auch um deutsche Verhältnisse, aber anders als gedacht. Umes, wie er sich nennt, um es den Deutschen mit seinem Namen leicht zu machen, kam als unbegleiteter zwölfjähriger tamilischer Kriegsflüchtling nach Hamburg, integrierte sich perfekt, wurde deutscher Staatsbürger, studierte Medizin und arbeitet nun als Arzt. 2006 erschien sein erstes Buch »Allein auf der Flucht«, mehr als zehn Jahre später folgt mit »Der fremde Deutsche« eine kurzweilige Autobiografie.

Nach 367 Tagen in türkischer Untersuchungshaft ist der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel aus dem Gefängnis Silivri bei Istanbul entlassen worden. Gleichzeitig akzeptierte das zuständige Gericht eine Anklageschrift, in der die Staatsanwaltschaft bis zu 18 Jahre Haft fordert. Die Farce um fingierte Terrorvorwürfe geht also weiter, nur muss der Angeklagte, anders als bisher, nicht mehr daran teilnehmen. Der TürkeiKorrespondent der Tageszeitung Die Welt ist nach Deutschland zurückgekehrt. »Wir sind ja nicht zum Spaß hier«, heißt das zwei Tage vor seiner Freilassung erschienene neue Buch Yücels. Wer nun sagt, das habe sich ja wohl überholt, der hat ein bisschen Recht – und ganz viel Unrecht. Yücels Buch versammelt zum einen Texte, die in seiner Haftzeit entstanden sind. Aber auch Reportagen, Artikel und Interviews, die er als Korrespondent für die Welt geschrieben hat, sowie ältere Glossen und Polemiken aus seiner Zeit bei der Tageszeitung taz und der Wochenzeitung Jungle World sind darin zu finden. Wer als News-Junkie allein auf Aktualität schaut, wird von dem Buch enttäuscht werden. Alle anderen aber können humorvolle, hellsichtige, abseitige und tiefgründige Texte entdecken, die zeitlos sind und bleiben. So unterschiedlich die Qualität der einzelnen Beiträge auch ausfällt, so haben sie doch eines gemeinsam: Sie künden von der Freiheit des Denkens und des Handelns.

Umeswaran Arunagirinathan: Der fremde Deutsche. Konkret Literatur Verlag, Hamburg 2017. 144 Seiten, 12,50 Euro.

Deniz Yücel: Wir sind ja nicht zum Spaß hier.  Reportagen, Satiren und andere Gebrauchstexte.  Nautilus,  Hamburg 2018. 224 Seiten, 16 Euro.

Marginalisiert in Japan

Normal verschieden

Dem kleinen Cass-Verlag ist es zu verdanken, dass ein spannender und brillant erzählter Krimi des japanischen Autors Iori Fujiwara nun endlich auf Deutsch vorliegt. »Der Sonnenschirm des Terroristen« führt uns beim Lesen ins Tokio der frühen neunziger Jahre, eine Stadt, in der Armut und Reichtum ebenso nah beieinander liegen wie legales und illegales Unternehmertum. In einem Stadtpark geht eine Bombe hoch, es gibt zahlreiche Tote und Verletzte. Unter Verdacht gerät der Alkoholiker Shimamura. Um den wahren Täter zu entlarven, muss Shimamura nicht nur seine Existenz als Barbesitzer aufgeben und sich mit einem Yakuza verbünden, einem Mitglied der japanischen Mafia, auch die linksradikale Vergangenheit Shimamuras fordert plötzlich Aufmerksamkeit. Fujiwara, der im Jahr 2007 starb, lässt in seinem Buch 30 Jahre japanischer Geschichte passieren – von den Studentenaufständen und Universitätsbesetzungen in den späten sechziger über das mafiös-kapitalistische Geflecht der achtziger bis zum konsumistisch-arbeitsorientierten Alltag der meisten Tokioter in den neunziger Jahren. »Der Sonnenschirm des Terroristen« ist weit mehr als ein typischer Hardboiled-Krimi, weil er die japanische Gesellschaft genau in den Blick nimmt und deutlich macht, dass Marginalisierte wie Alkoholiker und Obdachlose ihr Überleben lange Zeit nur in Schattenökonomien sichern konnten.

Was ist normal? Eine kurze Frage, die es in sich hat. Denn wer darauf eine Antwort sucht, steht unweigerlich vor einem Geflecht aus Abhängigkeiten von Zeit, Ort und Lebensumständen, stößt auf Stereotype und Vorurteile, aber auch auf kostbare und überraschende Vielfalt. Wie unterschiedlich »normal« tatsächlich sein kann und wie wichtig Toleranz und Offenheit sind, das machen die zehn Künstlerinnen und Künstler der Labor Ateliergemeinschaft mit ihrem Sachbuch »Ich so du so« auf eindrückliche Weise klar. In einem Mix aus Fotos, Bildern, Erzählungen, Comics, Steckbriefen und Interviews lassen sie Kinder und Erwachsene zu Wort kommen, zeigen sie, was andere anderswo auf der Welt als normal empfinden und wie es ist, aus der Norm zu fallen. Herrlich bunt und vielfältig regen die Beiträge dabei zum Blättern und immer wieder in die Hand nehmen, zum Nachdenken und Nachfragen an: Warum gibt es Mädchen- und Jungenfarben? Sind Autoreifenrennen ein normales Hobby? Warum ist nichts mehr normal, wenn wir verliebt sind? Warum tut es weh, wenn einen die anderen nicht für normal halten? Und was ist überhaupt normal? Darauf hat auch dieses Buch keine einfache Antwort – aber dafür eine sehr schöne: »Jeder Mensch ist einzigartig! Vergleiche dich nicht ständig mit anderen. Sei nicht so streng mit dir selbst. Es ist normal, verschieden zu sein, und das ist gut so.«

Iori Fujiwara: Der Sonnenschirm des Terroristen. Aus dem Japanischen von Katja Busson. Cass, Löhne 2017. 352 Seiten, 19,95 Euro.

Labor Ateliergemeinschaft: Ich so du so. Alles super  normal. Beltz & Gelberg, Weinheim 2017. 176 Seiten, 16,95 Euro. Ab 9 Jahren.

Bücher: Maik Söhler, Marlene Zöhrer bÜCher

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Der Sound der Straße

Conscious Samba

»Bitte geben Sie mir etwas Geld, ich verhungere«: Die elfjährige Blanka lebt auf den Straßen der philippinischen Hauptstadt Manila. Mit Betteln und Stehlen schlägt sie sich durch. Das smarte Mädchen hat in den Nachrichten gesehen, dass eine bekannte Schauspielerin ein Kind adoptiert hat und ihm ein sorgenfreies Leben ermöglicht. Nun will Blanka sich eine Mutter kaufen – dann kann sie in die Schule gehen und in einem Haus wohnen. Von ihrer leiblichen Mutter wurde sie verlassen. Um schneller an eine neue zu kommen, macht Blanka gemeinsam mit dem blinden Straßengitarristen Peter Musik. Der bestärkt das Mädchen darin, als Sängerin aufzutreten, ist von seinem Talent überzeugt. Während Blanka Peter hilft, beim Publikum Geld einzusammeln, gibt er ihr Gesangsunterricht. Doch dann kommt das Duo kriminellen Jugendlichen in die Quere, Blanka wird in einen Käfig gesperrt und soll verkauft werden. Der Film richtet einen bestens fotografierten Blick auf das Leben von philippinischen Straßenkindern zwischen Diebstahl und Kinderprostitution. »Undankbare Ratten«, brüllen die Ordnungskräfte den Minderjährigen hinterher – und wie Ungeziefer werden diese auch behandelt und verscheucht. »Wir sind aufgegeben worden«, sagt ein Freund zu Blanka. Ein Kinderfilm für Erwachsene, der vom Überlebenswillen erzählt.

Der Rapper Criolo zählt zu den Stars der brasilianischen Musikszene, seit vor sieben Jahren sein Album »Nó na Orelha« erschien. Criolo wuchs in einem der gewalttätigsten Viertel der Elf-Millionen-Metropole São Paulo auf. Er jobbte in seiner Jugend in einem Supermarkt, verkaufte Klamotten an Wohnungstüren, gab Schulkindern Kunstunterricht, arbeitete als Streetworker und gründete ein Kulturzentrum, das DJ’s, MC’s und Fans aus der ganzen Stadt anzog. Criolo weiß also, wovon er spricht, wenn er über Armut und Kriminalität, über Drogen, Polizeigewalt und die gigantische Kluft zwischen Arm und Reich rappt oder singt. Sein neues Album überrascht, denn auf »Espiral de Ilusão« verzichtet der Rapper diesmal ganz auf Keyboards und programmierte Beats. Stattdessen stärkt ihm eine Samba-Band den Rücken: mit Samba-Percussion, Gitarre, Bläsern und Cavaquinho, dem brasilianischen Cousin der Ukulele. Die Songs klingen nach alten, melodischen Samba-Klassikern, aber Criolo kombiniert sie mit zeitgemäßen und sozialkritischen Texten und nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er das Persönliche mit dem Politischen verbindet. In »Menino Mimado« singt der 42-Jährige, »verwöhnte Jungs sollten nicht an der Regierung sein«, und in »Cria de Favela« warnt er vor den Verheerungen, die Kriminalität und Gewalt in den Armenvierteln anrichten. In Anlehnung an den politisch bewussten »Conscious Rap« kann man auch Conscious Samba dazu sagen.

»Blanka«. I/JPN/PHL 2015. Regie: Kohki Hasei,  Darsteller: Cydel Gabutero, Peter Millari. Kinostart: 29. März 2018

Criolo: Espiral de Ilusão (Sterns)

Woanders leben wollen »Sahara Libre« lauten die beiden Wörter, zu denen sich Menschen in der Wüste formiert haben. Sahrauis, Bewohner der seit mehr als 40 Jahren von Marokko besetzten Westsahara, wollen mit dem Schriftzug auf ihre Situation aufmerksam machen, die sie in algerische Flüchtlingslager gezwungen hat. Die Syrerin Dana wiederum berichtet von ihrem Weg nach Brasilien, wohin der Bürgerkrieg einige Flüchtlinge verschlagen hat; die südamerikanische Regierung hatte ihnen pauschal Visa ausgestellt. Eigentlich kommt Dana am anderen Ende der Welt ganz gut zurecht, aber sie vermisst doch ihre Angehörigen. Und Flüchtlinge aus der Region Kachin in Myanmar berichten, wie es ist, das eigene Haus von Soldaten umringt zu sehen und nicht betreten zu können, weil dort gekämpft wird. Für seinen Film »Exodus« hat Regisseur Hank Levine Hotspots internationaler Fluchtbewegungen aufgesucht. Er drehte über einen Zeitraum von zwei Jahren unter anderem im Südsudan, in Kenia, Algerien, der Demokratischen Republik Kongo, Kuba und Deutschland. Ist die Ausgangssituation auch jedes Mal eine andere, so haben die geflüchteten Menschen doch immer wieder mit denselben Problemen und Anforderungen in der neuen Umgebung zu kämpfen. In ihrer extremen Lebenssituation kommt bei den Betroffenen vor allem der Wunsch nach Selbstbestimmung und nach einem Lebensort zum Vorschein. »Die Sprache zu lernen, ist wichtiger als Arbeit«, sagt die Syrerin Dana. »Exodus«. BRA/D 2016. Regie: Hank Levine. Kinostart: 29. März 2018

Desert Rock »Tootard« ist der arabische Name für Erdbeeren. Die Früchte wachsen auch auf den Golanhöhen, die seit dem Sechstagekrieg von 1967 von Israel besetzt sind. Von dort stammen die Musiker der Band Tootard. Sie besitzen keine Staatsbürgerschaft, weder die israelische noch die syrische, sondern sind staatenlos. Folglich besitzen sie lediglich provisorische Passierscheine, um sich auszuweisen. Oder, wie die Papiere auf Französisch heißen: »Laissez Passer.« Diesen Titel trägt auch das erste Album von Tootard, das in Jerusalem aufgenommen wurde und auf dem internationalen Glitterbeat-Label erschienen ist. Ihr treibender, erdiger, schwerer und melodiöser Rock ist hörbar beeinflusst vom Desert Blues, den TuaregBands wie Tinariwen populär gemacht haben und mit dem die Musiker von Tootard aufgewachsen sind. Elektrische Gitarren, schwere Rhythmen und ein verspieltes Saxofon verbinden sich mit Dub-Reggae, psychedelischem Rock und klassischen arabischen Melodien. »Keine Nationalität, keine Grenzen. Wenn du mich fragst, bin ich ein Oud-Spieler«, singt Sänger Hasan Nakleh. Die Stimmung der Songs ist erstaunlich optimistisch und kraftvoll. Das Album endet mit einem Blick über die Grenze, dem rein instrumentalen, elegischen »Syrian Blues«. Historisch gesehen gehören die Golanhöhen zu Syrien, aber die Musiker waren noch nie dort. Ihr musikalischer Horizont reicht über die Levante bis in die Sahara, nach Westafrika. Er kennt keine Grenzen. Tootard: Laissez Passer (Glitterbeat)

Film: Jürgen Kiontke | Musik: Daniel Bax 78

aMnesty journaL | 04-05/2018


Foto: Mads Nissen / laif

Körper, keine Waffen

Weiterleben. Patientin des Panzi-Krankenhauses in Bukavu, April 2012.

In der Demokratischen Republik Kongo haben Frauen, die Opfer von Vergewaltigungen im Bürgerkrieg wurden, zwei Alben mit Songs aufgenommen. Die Musik ist Teil ihrer Therapie. Von Daniel Bax

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ine fröhliche Keyboard-Melodie, die zum Mitsummen einlädt, und dazu eine trotzig-freche Frauenstimme, die singt: »Wenn du mich ansiehst, wirst du eine Frau sehen, die lächelt. Eine Seele voll Freude. Und wenn du mich auf der Straße triffst, wirst du niemals wissen, dass mein Herz gebrochen ist und meine Träume zerbrochen sind.« Trotz dieser Abgründe transportiert der Refrain eine Botschaft der Unbeugsamkeit: »In mir steckt ein kleiner Präsident, der alle Ungerechtigkeiten beseitigen würde. In mir steckt ein kleiner Anwalt, der alle Unterdrückten verteidigt, eine Ärztin, eine Seele voll Freude.« Dazu tuckert ein poppiger Beat, und der schwedische Rapper Timbuktu steuert einen kraftvollen Rap-Part bei. Es ist der Titelsong des Albums »Mon corps n’est pas une arme« (»Mein Körper ist keine Waffe«), und die Sängerin heißt Sandra. Das Album erscheint zusammen mit einem weiteren, das den Titel »Keshu ni Situ mupya« (»Morgen ist ein neuer Tag«) trägt; beide sind online auf Soundcloud weltweit abrufbar. Insgesamt sind es zwölf Songs, aufgenommen auf Swahili, Französisch und Englisch. Die Lieder wurden allesamt im PanziKrankenhaus im Osten der Demokratischen Republik Kongo aufgenommen und von Frauen eingesungen, die im Bürgerkrieg zu Opfern sexualisierter Gewalt wurden. Das gilt auch für Sandra: Auch sie wurde vergewaltigt, verlor ihr Kind, wurde mit HIV angesteckt und verbrachte viel Zeit im Krankenhaus. Dort komponierte sie ihren Song und sang ihn ein. Die zwölf Stücke sind ein Dokument der Selbstbehauptung und des Lebenswillens. Obwohl viele der Lieder von Hunger,

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Musik

Krankheit und Gewalt handeln, transportieren sie einen unerschütterlichen Optimismus. Der kanadische Produzent Darcy Ataman hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Opfern des Bürgerkrieges im Kongo eine Stimme zu geben und ihre Geschichten bekannt zu machen. »Eines der letzten Dinge, die man jemandem nehmen kann, ist seine Fähigkeit zu singen«, sagt er. Darum hätten die Lieder eine solche Kraft, die sich direkt vermittle. Im Osten des Kongo herrscht seit Jahrzehnten Krieg. Diverse Milizen ringen um die Macht in der Region, die reich an Bodenschätzen wie Coltan ist, das für Mobiltelefone und Laptops verwendet wird. Alle Kriegsparteien setzen sexualisierte Gewalt ein. Das Panzi-Krankenhaus in der Provinz Süd-Kivu, in Bukavu an der Grenze zu Ruanda gelegen, ist zu einer Zufluchtsstätte für Frauen geworden, die Opfer der Gewalt wurden. Geleitet wird es von dem kongolesischen Arzt Denis Mukwege, der inzwischen zahlreiche internationale Menschenrechtspreise erhalten hat, 2012 aber nur knapp einem Mordanschlag entkam. Die Aufnahmen gehen auf eine Zusammenarbeit der Panzi-Stiftung und der kanadischen NGO Make Music Matter zurück und sind Teil eines künstlerischen Therapieprogramms. Neben Musikproduzenten standen den beteiligten Frauen geschulte Psychologen zur Seite, um ihnen zu helfen, mit ihren traumatischen Erfahrungen umzugehen. Es sind keine geschulten Sängerinnen, die diese Lieder vortragen. Aber die Botschaft berührt. Einige der Songs wurden auch von lokalen Radiostationen im Osten des Kongo gespielt. Das führte zu Beschwerden von Militärs, die um ihren Ruf fürchteten – denn Vergewaltiger sind immer die anderen. Ataman amüsiert diese Reaktion. »Es ist doch erstaunlich, dass sich jemand mit Waffen vor Liedern fürchtet.« 쮿 »Mon corps n’est pas une arme« und »Kesho ni siku mupya«  (Soundcloud)

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Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt, oder man lässt sie »verschwinden«. aMnesty internationaL veröffentlicht regelmäßig an dieser Stelle drei Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden. Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes. Bei Bedarf können Sie auf Briefentwürfe in englischer und deutscher Sprache zurückgreifen, die Sie unter www.amnesty.de/mitmachen/briefegegen-das-vergessen finden. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie bitte eine digitale Kopie an: info@amnesty.de

aMnesty internationaL Zinnowitzer Straße 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 Fax: 030 - 42 02 48 - 488 E-Mail: info@amnesty.de www.amnesty.de Spendenkonto Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE 233 702050 0000 8090100 BIC: BFSWDE33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00) 80

Foto: Amnesty

briefe gegen das vergessen

doMinikanisChe repubLik jessiCa profeta Jessica Profeta droht seit einigen Jahren der Verweis von der Schule, da ihr willkürlich die dominikanische Staatsangehörigkeit entzogen wurde. Die Gymnasiastin träumt davon, eine Universität zu besuchen – doch ohne Ausweispapiere rückt dieser Traum in weite Ferne. In fast allen von Amnesty International dokumentierten Fällen staatenloser Personen in der Dominikanischen Republik sahen sich die Betroffenen großen Hindernissen gegenüber, wenn sie die Schule abschließen und ein Studium aufnehmen wollten. Jessica Profeta ist 16 Jahre alt und Tochter haitianischer Eltern. 2013 wurde Jessica willkürlich die dominikanische Staatsangehörigkeit entzogen. Von dieser Maßnahme betroffen sind Zehntausende Kinder von illegal eingewanderten Haitianer_innen. Sie alle sind heute staatenlos. Die Diskriminierung reicht bis zu Jessica Profetas Geburt zurück: Ihr Vater bat damals im Krankenhaus viermal um die Geburtsurkunde, die für die Registrierung eines Neugeborenen unverzichtbar ist. Erst vor wenigen Monaten erhielt er endlich das Dokument. Darin ist allerdings ausgewiesen, dass die Betroffene kein Anrecht auf die dominikanische Staatsangehörigkeit hat. Da Jessica keine andere Staatsbürgerschaft besitzt, kommt sie dadurch in eine rechtlich unklare Situation. Dominikaner_innen haitianischer Abstammung können die elementarsten Menschenrechte nicht wahrnehmen: Ihnen wird der Zugang zu Bildung, einer formalen Anstellung und angemessener Gesundheitsversorgung verweigert, sie haben keinen Anspruch auf eine Sozialversicherung oder Rente, können ihr Wahlrecht nicht ausüben und keine Ehe schließen. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Staatspräsidenten und fordern Sie ihn auf sicherzustellen, dass Jessica Profeta und alle Dominikaner_innen haitianischer Herkunft die dominikanische Staatsangehörigkeit erhalten und dass ihnen Ausweispapiere ausgestellt werden. Schreiben Sie in gutem Spanisch oder auf Deutsch an: Staatspräsident Danilo Medina Palacio Nacional Avenida México esquina Doctor Delgado Gazcue, Santo Domingo, DOMINIKANISCHE REPUBLIK Fax: 0018 - 09 682 08 27 E-Mail: prensa2@presidencia.gob.do Facebook: http://facebook.com/PresidenciaRD Twitter: @PresidenciaRD (Anrede: Dear President / Señor Presidente / Sehr geehrter Herr Präsident) (Standardbrief bis 20g: 0,90 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Dominikanischen Republik S.E. Herrn Gabriel Rafael Ant Jose Calventi Gavino Dessauer Straße 28/29, 10963 Berlin Fax: 030 - 25 75 77 61 E-Mail: info@embajadadominicana.de (Standardbrief: 0,70 €)

aMnesty journaL | 04-05/2018


Foto: Amnesty

Foto: privat

iran atena daeMi, oMid aLishenas und das ehepaar arash sadeghi und goLrokh ebrahiMi iraee

guinea aissatou LaMarana diaLLo

Die vier Iraner_innen gehören zur neuen Generation von Menschenrechtsverteidiger_innen, gegen die der Iran seit 2013 verschärft vorgeht. Die Vier wurden aufgrund ihrer friedlichen Menschenrechtsaktivitäten zur Zielscheibe. So engagieren sie sich z.B. gegen die Todesstrafe. Todesstrafengegner_innen beschuldigt die Regierung häufig der »Bedrohung der nationalen Sicherheit« oder der »Abkehr vom Islam«. Atena Daemi, Arash Sadeghi und Golrokh Ebrahimi Iraee sind gewaltlose politische Gefangene. Omid Alishenas (nicht im Bild) wurde am 15. Juli 2017 unter Auflagen freigelassen, könnte aber jederzeit wieder eingesperrt werden. Am 24. Januar wurden Golrokh Ebrahimi Iraee und Atena Daemi vom Evin-Gefängnis in das Gefängnis Shahr-e Rey in Varamin nahe Teheran verlegt. Dort sind weibliche Gefangene unter unmenschlichen Bedingungen eingesperrt. Am 3. Februar traten die beiden Frauen in den Hungerstreik, um gegen ihre Verlegung zu protestieren. Atena Daemi brach den Hungerstreik am 15. Februar ab, Golrokh Ebrahimi Iraee führt ihren jedoch weiter. Ihre Gesundheit hat sich stark verschlechtert. Möglicherweise erhält sie keine angemessene medizinische Versorgung. Seit 2013 werden viele Menschenrechtsverteidiger_innen verstärkt überwacht, verhört und unter konstruierten Vorwürfen strafverfolgt, um sie zum Schweigen zu bringen. Atena Daemi machte deutlich, dass weder sie noch Golrokh Ebrahimi Iraee die Absicht haben, Suizid zu verüben. Diese Aussage könnte sich auf die jüngsten Todesfälle in Gewahrsam beziehen.

Aissatou Lamarana Diallo aus Guinea war 27 Jahre alt und schwanger, als ihr Mann Thierno Sadou Diallo am 7. Mai 2015 von Sicherheitskräften in der Hauptstadt des Landes, Conakry, getötet wurde. Zwei Wochen nach dem Tod ihres Mannes brachte Aissatou Lamarana Diallo ihr drittes Kind zur Welt. Am 7. Mai 2015 hatten Oppositionsparteien in Conakry eine Reihe von Protestveranstaltungen organisiert, bei denen sie eine Änderung des Wahlkalenders forderten, damit die Lokalwahlen vor den Präsidentschaftswahlen stattfinden konnten, die für Oktober 2015 terminiert waren. Trotz Betrugsvorwürfen ging Staatschef Alpha Condé als Sieger aus dem Wahlgang in dem westafrikanischen Staat hervor. Der 34-jährige Schweißer Thierno Sadou Diallo wurde getötet, als die Gendarmerie am 7. Mai 2015 gegen 19 Uhr sein Viertel durchsuchte. Er hatte den Tag mit Freunden in einem ruhigeren Stadtteil verbracht, da gleich neben seinem Haus in Ratoma eine Protestveranstaltung stattfinden sollte. Am Abend fuhr er zu seiner schwangeren Frau und seinen beiden Kindern zurück. An den Protestveranstaltungen hatte er nicht teilgenommen. Aissatou Lamarana Diallo versucht herauszufinden, was genau ihrem Mann zugestoßen ist, um Gerechtigkeit und Wiedergutmachung zu erlangen. Doch diese Versuche sind auch drei Jahre nach der Tötung ihres Mannes erfolglos geblieben. Sie lebt mit ihren drei Kindern in Conakry und müht sich täglich ab, den Lebensunterhalt für sich und die Kinder zu verdienen. Ihr Mann war der Hauptverdiener der Familie.

Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Außenminister und fordern Sie ihn auf, Atena Daemi, Arash Sadeghi und Golrokh Ebrahimi Iraee umgehend und bedingungslos freizulassen, da sie gewaltlose politische Gefangene sind, die nur friedlich ihre Rechte wahrgenommen haben. Bitten Sie ihn zudem, den Schuldspruch gegen Omid Alishenas aufzuheben. Fordern Sie ihn auf, zu gewährleisten, dass Atena Daemi, Arash Sadeghi und Golrokh Ebrahimi Iraee vor Folter und anderer Misshandlung geschützt werden.

Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Justizminister und fordern Sie ihn auf, umgehend eine unabhängige, unparteiische und wirksame Untersuchung des Todes von Thierno Sadou Diallo durchzuführen und dafür zu sorgen, dass die Verantwortlichen in fairen Verfahren vor Gericht gestellt werden. Dringen Sie darauf, dass Aissatou Lamarana Diallo eine Entschädigung für die Tötung ihres Mannes erhält, sodass sie unabhängig und in Würde leben kann.

Schreiben Sie in gutem Englisch oder auf Deutsch an: Außenminister Mohammad Javad Zarif Permanent Mission of the Islamic Republic of Iran to the United Nations Chemin du Petit-Saconnex 28 1209 Genf, SCHWEIZ E-Mail: mission.iran@ties.itu.int; iranungva@mfa.gov.ir Twitter: @JZarif (Anrede: Your Excellency / Exzellenz) (Standardbrief Luftpost bis 20g: 0,90 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Islamischen Republik Iran S.E. Herrn Ali Majedi Podbielskiallee 65–67, 14195 Berlin Fax: 030 - 832 22 91 33 oder 030 - 84 35 35 35 E-Mail: info@iranbotschaft.de (Standardbrief: 0,70 €)

briefe gegen das vergessen

Schreiben Sie in gutem Französisch oder auf Deutsch an: Justizminister Maître Cheick Sako Ministry of Justice Garde des Sceaux BP. 564, Conakry, GUINEA (Anrede: Your Excellency / Exzellenz) (Standardbrief Luftpost bis 20g: 0,90 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Guinea I.E. Frau Fatoumata Balde Jägerstraße 67–69, 10117 Berlin Fax: 030 - 200 74 33 33 E-Mail: info@amba-guinee.de (Standardbrief: 0,70 €)

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»es geht daruM, weiterZuMaChen« Kein Ende in Sicht. Briefe zur Freilassung des seit 1989 im Todestrakt inhaftierten Taiwanesen Chiou Ho-shun.

Wenn Amnesty von willkürlichen Festnahmen, Morddrohungen, Verschwindenlassen, Folter oder bevorstehenden Hinrichtungen erfährt, startet die Organisation eine sogenannte Urgent Action (UA). Hannelore Uthoff aus Salzgitter hat in den vergangenen drei Jahrzehnten Zehntausende dieser Eilaktionen verteilt. Mit 84 Jahren gibt sie nun ihr Amt ab.

gen. Einige kenne ich, andere haben mir einfach eine Postkarte geschickt, auf der stand: »Ich bin bereit, eine UA oder zwei pro Monat zu schreiben.« Zu Weihnachten habe ich immer einen kleinen Gruß verschickt und bekam auch von manchen Post zurück. Aber die meisten kenne ich nicht persönlich. Gab es eine UA, die Sie besonders bewegt hat? Einmal ging es um ein Mädchen in Afghanistan, dem nach einer Vergewaltigung durch einen Mullah ein sogenannter Ehrenmord drohte. Das fand ich so unmöglich, dass ich die UA mehrfach kopiert und einzelne Personen gezielt aufgefordert habe, sich um diese Sache zu kümmern. Dieser Fall hat mich derart aufgeregt, dass ich mehr verteilt habe als sonst.

Interview: Hannah El-Hitami

Sie haben in den vergangenen 33 Jahren sage und schreibe 46.464 Urgent Actions verteilt. Wie kamen Sie zu dieser Aufgabe? Meine Tochter hatte in der Amnesty-Gruppe in Salzgitter die Verteileraufgabe übernommen. Sie ging dann für ein Jahr als Austauschschülerin nach Kanada, sodass ich die Aufgabe übernommen habe. Das war im Frühjahr 1985. Als sie zurückkam, bin ich einfach dabeigeblieben. Ich hatte mich ja schon eingearbeitet. Und darum geht es letztendlich: dass man kontinuierlich weitermacht.

Was hat Sie über so eine lange Zeit hinweg motiviert, weiterzumachen? Ich habe einfach Spaß daran gehabt. Es ist eine gesellschaftspolitische Aufgabe, die ich in meinem Alter gut machen kann. Deswegen bin ich besonders lange dabeigeblieben, auch als ich andere Aktivitäten allmählich aufgeben musste. Amnesty hat mich auch immer über Erfolge, wie etwa Freilassungen, informiert. Die habe ich dann vervielfältigt und an die UA-Schreiberinnen und -Schreiber weitergeleitet – als Mutmacher, damit das Schreiben nicht nur Frust macht. Ich bedauere schon, dass am Ende doch so wenige Menschen freigelassen und so viele hingerichtet wurden.

Wer sind die Menschen, an die sie die UAs verteilen? Anfangs hatte ich pro UA immer drei Leute, die Briefe geschrieben haben. Nun ist die Zahl von 44 auf 26 zurückgegan-

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Foto: privat

Was machen Sie, wenn Ihnen die neuen UAs aus dem AmnestySekretariat vorliegen? Immer wenn ich aus Berlin – oder früher Bonn – die UAs bekomme, trage ich sorgfältig die Nummer, das Datum, das Land und den letzten Appell in meine lange Liste ein. Dahinter schreibe ich die Namen derjenigen, an die ich die UA weiterleite. Ich weiß natürlich nicht, ob sie dann auch Appellbriefe schreiben. Ich selbst schreibe keine Briefe mehr, sondern beschränke mich seit 1990 auf die Verwaltung. Ich brauche eine halbe Stunde, um fünf UAs einzutragen, einzutüten, zu frankieren und weiterzugeben. Das mache ich alle zwei Tage, aber ich schaue jeden Tag nach, ob etwas Dringendes dabei ist.

Warum geben Sie Ihr Amt jetzt ab? Ich bin inzwischen 84 Jahre alt und möchte das gerne in jüngere Hände geben. Ich muss ja auch rechtzeitig die Unterlagen übergeben und erklären, wie alles funktioniert. Gott sei Dank habe ich einen Nachfolger in Braunschweig gefunden. Demnächst treffen wir uns und ich erkläre ihm, wie ich die Liste geführt habe.

aMnesty journaL | 04-05/2018

Foto: Lin Hsin-Yi / TAEDP

AKTIV FÜR AMNESTY


soLidaritÄt Mit taner kiLiç Aus Solidarität mit dem Vorsitzenden der türkischen Amnesty-Sektion, Taner Kılıç, gingen an dessen Geburtstag am 11. März Gruppen bundesweit auf die Straße. Denn zum ersten Mal seit seiner Inhaftierung im Juni 2017 musste er diesen hinter Gitter feiern. Gemeinsam angeklagt mit dem 49-jährigen Menschenrechtsanwalt sind zehn weitere Menschenrechtsverteidiger, darunter die Direktorin der türkischen Amnesty-Sektion, İdil Eser, und der deutsche Menschenrechtstrainer Peter Steudtner, die jedoch aus der Haft entlassen wurden. Allen drohen wegen Unterstützung bewaffneter Terrororganisationen bis zu 15 Jahre Haft. Nachdem ein Gericht in Istanbul Ende Januar auch die Entlassung Kılıçs aus der Untersuchungshaft ange-

ordnet hatte, legte die Staatsanwaltschaft Berufung ein – sodass er weiter im Gefängnis in Izmir inhaftiert ist. In Stuttgart stellte die Amnesty-Hochschulgruppe am 11. März eine Tafel mit Kerzen und Kuchen in der Fußgängerzone auf. »Mit der Aktion haben wir unsere Solidarität und unsere Unterstützung Taner gegenüber gezeigt«, sagte Tanja Meinhardt, Verantwortliche für Menschenrechtsbildung in der Hochschulgruppe. »Wir fordern seine bedingungslose Freilassung und hoffen, dass die zahlreichen Wünsche der Passanten und Passantinnen zu seinem Geburtstag in Erfüllung gehen.« Am Stand in der Stuttgarter Königstraße konnten Interessierte bei einem Stück Kuchen Postkarten mit der Forde-

rung #FreeTaner an das Generalkonsulat der Türkei in Stuttgart schreiben. Außerdem hängten sie Karten mit Geburtstagswünschen an Luftballons und schickten diese symbolisch auf den Weg. »Die Postkarten sollen ihm zeigen, dass er nicht alleine ist und viele Aktivisten und Aktivistinnen aus aller Welt an ihn denken«, so Meinhardt. »Taner setzt sich als Amnesty-Vorstandsvorsitzender der Türkei für die Menschenrechte in aller Welt ein. Wir sehen es als unsere Pflicht an, uns jetzt auch für ihn und seine Freiheit einzusetzen.«

her Mit deM heft

Sie haben das Amnesty Journal zufällig in die Hände bekommen und Lust auf weitere Ausgaben? Das Journal landet alle zwei Monate bei all jenen im Briefkasten, die die Arbeit von Amnesty International mit mindestens 5 Euro pro Monat oder als Mitglied unterstützen. Mehr Infos unter: www.amnesty.de/foerdererwerden und www.amnesty.de/mitglied-werden

Foto: Lucas Keckeisen

aktiv fÜr aMnesty

Mitglieder von Amnesty International versuchen auf vielfältige Art und Weise, Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme zu geben. Dazu zählen Aktionen und Veranstaltungen in vielen deutschen Städten. Wenn Sie mehr darüber erfahren oder selbst aktiv werden wollen: http://blog.amnesty.de www.amnesty.de/kalender

Happy birthday, Taner! Stuttgart, 11. März 2018.

iMpressuM Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V. Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 E-Mail: info@amnesty.de Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redak tion Amnesty Journal Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin E-Mail: journal@amnesty.de  Adressänderungen bitte an:  info@amnesty.de Redaktion: Markus Bickel (V.i.S.d.P.), Jessica Böhner,  Hannah El-Hitami,  Anton Landgraf,  Katrin Schwarz

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Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit   lbrecht, Daniel Bax, Markus N. Beeko, A Benjamin Breitegger, Tanja Dückers, Magdalena Freudenschuss, Julia  Gerlach, Andrea  Jeska, Georg Kasch, Jürgen Kiontke, Mathias Peer, Ralf  Rebmann, Wera Reusch, Andrzej  Rybak, Ilyas Saliba, Uta von Schrenk, Matthias Schreiber, Ravy Shaker, Maik Söhler, Peter Steudtner, Carsten Stormer, Cornelia Wegerhoff, Maja Weiss, Bassem Youssef Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck und Verlag: Hofmann Druck, Nürnberg GmbH & Co. KG

Bankverbindung: Amnesty International Bank für Sozialwirtschaft  IBAN: DE23 3702 0500 0008 0901 00 BIC: BFS WDE 33XXX  (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00) Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und  erscheint sechs Mal im Jahr.  Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.

und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, für die  Verbreitung im Internet oder für Vervielfältigungen auf CD-Rom.

ISSN: 2199-4587

Für  unverlangt eingesandte Artikel oder Fotos übernimmt die Redaktion keine Verantwortung. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder. Die  Urheberrechte für Artikel

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WIR HÄTTEN GERN PAPIER GESPART. Doch leider brauchen wir auch diesmal wieder mehr als 500 Seiten, um die Menschenrechtsverletzungen weltweit zu dokumentieren. Der Amnesty Report liefert die fundierte Analyse der Lage der Menschenrechte: kurze Regionalkapitel und detaillierte Berichte zu 159 Ländern. Wer die Welt verändern will, muss sie kennen.

Ab Mai im Buchhandel und auf amnesty.de erhältlich.


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