Amnesty Journal Juni/Juli 2011

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das magazin für die menschenrechte

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amnesty journal

die grenzen europas wie flüchtlinge versuchen, in die eu zu gelangen – und wie sie daran gehindert werden

permanente revolution Berichte über Bahrain, syrien und jemen

ungarn verleumdungskampagne gegen regierungskritiker

grüne welle das iranische Kino und die protestbewegung

06/07

2011 juni juli


Illustration: André Gottschalk

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editorial

Kaum ein tag vergeht … Foto: Amnesty

Anton Landgraf ist Redakteur des Amnesty Journals

… ohne neue Schreckensmeldungen. So berichteten Medien kürzlich über ein Flüchtlingsboot im Mittelmeer, auf dem rund 60 Menschen, darunter auch Kinder, verdurstet sind – obwohl das Schiff mehrfach von Hubschraubern und Flugzeugen geortet wurde. Offenbar fühlte sich niemand für ihre Rettung zuständig. So überließ man sie einfach ihrem Schicksal. Nachdem wegen Unruhen und Bürgerkrieg in Nordafrika immer mehr Menschen die gefährliche Fahrt über das Mittelmeer wagen, reagiert man in Europa panisch. Als handele es sich um eine Naturkatastrophe spricht etwa die italienische Regierung von einem »menschlichen Tsunami«, der auf den Kontinent zukomme. Dabei sind bislang nur wenige Flüchtlinge an den italienischen Küsten gelandet – verglichen mit der Anzahl, die etwa Tunesien oder Algerien schon aufgenommen hat. Anstatt auf eine humanitäre Ausnahmesituation mit humanitärer Hilfe zu reagieren, verschärft Europa die Grenzkontrollen und versucht, wie kürzlich Dänemark, die Reisefreiheit drastisch einzuschränken. Europa, das sich selbst gern als »Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts« bezeichnet, stößt, wie unser Titelthema zeigt, an seine Grenzen – nicht nur im Umgang mit Flüchtlingen, sondern auch mit seiner Toleranz. In nahezu allen EU-Ländern nehmen die Ressentiments gegenüber allem, was fremd erscheint, zu, wie aktuelle Umfragen belegen (S. 32). Auch Deutschland bildet dabei keine Ausnahme. Doch selbst die schärfsten Kontrollen werden an den Fluchtursachen nichts ändern. Solange in vielen Ländern politische Unterdrückung und Willkür herrschen, werden Menschen versuchen, Not und Elend zu entkommen. Das belegt auch der neue Amnesty-Report 2011, der Menschenrechtsverletzungen in 157 Ländern dokumentiert (S. 36). Wie brutal diktatorische Regierungen vorgehen, um ihre Macht zu sichern, zeigt sich in Bahrain, Syrien oder im Jemen (S. 38 – 40). Der Jahresreport beschreibt allerdings auch eindrucksvoll, wie sich weltweit Aktivisten erfolgreich für die Menschenrechte einsetzen. Der unerschrockene Ruf nach Freiheit in Nordafrika und im Nahen Osten bietet eine nie da gewesene Chance, die Menschenrechtslage weltweit zu verbessern, heißt es darin. Doch der Wandel stehe heute auf Messers Schneide. Ob er gelingt, hängt auch von den zahlreichen Aktivisten ab, die sich weltweit für die Menschenrechte einsetzen. Wie zum Beispiel Abel Barrera Hernández, der stellvertretend für viele andere den Menschenrechtspreis der deutschen Amnesty-Sektion erhalten hat. Die Preisverleihung ist ein Höhepunkt im Rahmen von 50 Jahre Amnesty. Zahlreiche weitere Aktionen und Veranstaltungen folgen. So zum Beispiel während der Amnesty-Woche in Köln vom 11. bis zum 16. Juni mit Lesungen, Konzerten und Filmen. Weitere Hinweise zu den bislang über 200 Terminen finden Sie unter www.50jahre.amnesty.de. Eine Amnesty-Veranstaltung findet sich sicher auch in Ihrer Nähe.

editorial

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inhalt

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Titelbild: Am Grenzübergang Kipi zwischen Griechenland und der Türkei. Foto: Michael Danner

thema 19 Raum der Freiheit 20 Tochter der sonnigen Tage

Ein schmaler Streifen an der griechisch-türkischen Grenze ist für viele Flüchtlinge aus Nordafrika der einzige Weg, um nach Europa zu gelangen. Von Sabine Küper-Büsch

24 »Hier läuft gar nichts«

ruBriKen 06 Reaktionen 07 Erfolge 10 Panorama 12 Nachrichten 13 Interview: Noha Atef 15 Kolumne: Jutta Lietsch 59 Rezensionen: Bücher 60 Rezensionen: Film & Musik 62 Briefe gegen das Vergessen 64 Aktiv für Amnesty

Flüchtlinge leben in Griechenland unter katastrophalen Bedingungen, kritisiert Amnesty International. Von Jannis Papadimitriou

28 Gefährliche Manöver

Die EU will nicht nur ihre Außengrenze schärfer überwachen, sondern in Nordafrika eine breitere Pufferzone gegen Flüchtlinge aus den Staaten südlich der Sahara aufbauen.Von Wolf-Dieter Vogel

30 Wegsehen hilft nicht

Warum die EU Flüchtlingen den Weg nach Europa nicht versperren darf. Von Wolfgang Grenz

32 »Wir haben uns in der Ignoranz eingerichtet«

Rund die Hälfte aller Europäer ist der Meinung, dass es zu viele Zuwanderer im eigenen Land gibt. So lautet das Ergebnis einer Studie über Fremdenfeindlichkeit in Europa. Ein Gespräch mit Andreas Zick, Sozialwissenschaftler und Mitautor der Studie.

65 Monika Lüke über Frauenrechte

Fotos oben: Michael Danner | Andrea Bruce / The New York Times / Redux / laif | Barna Burger / Reuters | André Gottschalk

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Berichte

Kultur

36 Neue Instrumente im Kampf gegen die Unterdrückung

50 Von blutigen Spielen und grausamen Königinnen

Ein Auszug aus dem Vorwort des Amnesty Reports 2011. Von Salil Shetty, internationaler Generalsekretär von Amnesty International

38 Blutige Perlen

Mit Gewalt und Geldgeschenken versuchen die Regierungen der Golfstaaten, die aktuellen Protestaktionen zu unterbinden. Von Regina Spöttl

40 Aufstand gegen Assad

Mit größter Brutalität versucht die syrische Regierung von Baschar al-Assad, den landesweiten Aufstand zu unterdrücken. Von Larissa Bender

42 Ansteckende Proteste

Ob bei der Unterdrückung von Regierungskritikern, der Terrorbekämpfung oder im Konflikt mit bewaffneten Rebellen: Die jemenitische Regierung betreibt eine Sicherheitspolitik, mit der sie fortwährend Menschenrechte verletzt.

43 Angetreten, um abzurechnen

Im sogenannten »Philosophenprozess« ermittelt die ungarische Justiz wegen angeblicher Veruntreuung von Forschungsgeldern. Tatsächlich ist das Verfahren Teil einer Hetzkampagne gegen Kritiker der Regierung Orbán. Von Keno Verseck

46 »Das größte Problem ist die Straffreiheit«

Julia Evelyn Martínez, Leiterin des salvadorianischen Frauenentwicklungsinstituts ISDEMU, über Gewalt gegen Frauen und die Rechte der Frauen unter der neuen Regierung in El Salvador.

inhalt

Das Thema Menschenrechte führt innerhalb der Kinder- und Jugendliteratur ein Nischendasein. Bücher, die auf realistische Weise konkrete Probleme ansprechen, liegen nicht im Trend – Fantasy und Crime dominieren den Markt. Dennoch finden sich auch hier Themen wie Macht, Unterdrückung und Willkürherrschaft. Von Sarah Wildeisen

54 Der gläserne Bürger

Das Jahrbuch Menschenrechte 2011 beschäftigt sich mit der bedrohlichen Seite der digitalen Revolution: Dem unkontrollierten Datenhunger staatlicher wie privater Institutionen. Von Gerhart Rudolf Baum

56 Eine besondere Beziehung zum Kino

Am 12. Juni 2011 jährt sich der Tag der iranischen Präsidentschaftswahlen zum zweiten Mal. Ein Interview mit dem Regisseur Ali Samadi Ahadi, der zu Beginn des Jahres mit »The Green Wave« einen preisgekrönten Film über die damaligen Ereignisse in die Kinos gebracht hat.

58 Vielfalt statt Einfalt

Eine deutliche Antwort hatte es nötig: das Pamphlet von Thilo Sarrazin gegen Muslime in Deutschland. Das »Manifest der Vielen« liefert sie. Von Maik Söhler

61 Die Porträts der Pflücker

Der Film »Waste Land« verbindet Bildende Kunst und Menschenwürde auf ganz eigene Weise. Nun kommt der Gewinner des Amnesty-Filmpreises 2010 in die deutschen Kinos. Von Jürgen Kiontke

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usa

uKraine

Kirgistan

Ende März gelangten mehr als 700 geheime Dokumente über das US-Gefangenenlager Guantánamo an die Öffentlichkeit. »Sie bestätigen, was wir schon immer gesagt haben«, teilte Susan Lee mit, Leiterin des Americas-Programms bei Amnesty. Viele Inhaftierte werden ohne rechtliche Grundlage festgehalten und haben keinen Zugang zum US-Justizsystem. Bislang wurden nur fünf Inhaftierte verurteilt. Ein Großteil der Guantánamo-Häftlinge wurde entlassen, ohne dass Anklage erhoben wurde.

Bei ihrer Abschiebung aus der Ukraine sind acht afghanische Staatsangehörige schwer misshandelt worden. Die Männer waren drei Tage lang am Flughafen Boryspil in der Nähe von Kiew inhaftiert. »Die Berichte über die Misshandlungen müssen sofort untersucht werden«, sagte Andrea Huber, stellvertretende Leiterin der Abteilung Europa und Zentralasien bei Amnesty. Außerdem dürfe die Ukraine Migranten nicht einfach abschieben, sondern müsse ihnen ein faires Asylverfahren garantieren.

Bei ethnischen Unruhen zwischen Kirgisen und Usbeken im Juni 2010 wurden Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. Das hat eine internationale Untersuchungskommission festgestellt. »Die kirgisischen Behörden müssen diese Verbrechen aufklären und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen«, sagte Nicola Duckworth, Leiterin der Abteilung Europa und Zentralasien bei Amnesty. Die Auseinandersetzungen forderten rund 470 Menschenleben, Tausende wurden verletzt. Ein Großteil der Opfer waren ethnische Usbeken.

Ausgewählte Ereignisse vom 10. März bis 16. April 2011.

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simBaBwe

vietnam

malaysia

Im Norden Simbabwes wurde im März ein Massengrab mit Hunderten von Leichen entdeckt. Fernsehbilder zeigten, wie die Leichen in Plastiksäcken zur Beisetzung abtransportiert wurden. »Hier handelt es sich um einen Tatort«, sagte Michelle Kagari, stellvertretende Leiterin der Afrika-Abteilung bei Amnesty. »Die Regierung in Simbabwe muss sicherstellen, dass eine professionelle Exhumierung stattfindet, um eventuelle Menschenrechtsverletzungen aufzuklären.«

Der Menschenrechtsverteidiger Cu Huy Ha Vu ist wegen »Propaganda gegen den Staat« zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt worden. Außerdem soll er nach Ablauf der Haftstrafe drei Jahre lang unter Hausarrest gestellt werden. Sein Vergehen: Er hatte sich in Online-Artikeln für ein Mehrparteiensystem in Vietnam ausgesprochen und ausländischen Journalisten Interviews gegeben. Amnesty betrachtet ihn als politischen Gefangenen und fordert seine sofortige und bedingungslose Entlassung.

In Malaysia wurden offiziellen Angaben zufolge in den vergangenen fünf Jahren fast 30.000 Flüchtlinge und Migranten in der Haft verprügelt oder misshandelt. »Malaysia setzt jedes Jahr Tausende Menschen Folter und Misshandlung aus«, sagte Sam Zarifi, Experte für den asiatisch-pazifischen Raum bei Amnesty. Er forderte ein Ende dieser Praxis, die gegen internationales Recht verstößt. Die malaysischen Behörden bestrafen auf diese Weise seit 2002 Migranten, die ohne Erlaubnis einreisen.

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Fotos: Amnesty

erfolge

»Gerechtigkeit für Binayak Sen.« Demonstration in London, 26. Januar 2011.

indischer menschenrechtler freigelassen Nach hundert Tagen Haft ist der Menschenrechtsverteidiger Dr. Binayak Sen gegen Kaution entlassen worden. Der 61Jährige wurde Ende vergangenen Jahres wegen angeblicher Zusammenarbeit mit einer verbotenen Organisation festgenommen und in Raipur, der Hauptstadt des indischen Bundesstaates Chhattisgarh, inhaftiert. »Die Entscheidung, Dr. Binayak Sen nicht länger festzuhalten, ist überaus erfreulich«, sagte Sam Zarifi, Experte für den asiatisch-pazifischen Raum bei Amnesty International. »Wir hoffen, dass das Gericht das Urteil gegen Dr. Sen vollständig fallenlässt. Die gegen ihn erhobenen Vorwürfe sind haltlos und offensichtlich politisch motiviert.« Seine Frau Ilina Sen hat sich bei Amnesty International und weiteren Men-

indien

Kroatische KriegsverBrecher verurteilt

Es ein wichtiges Urteil für alle ethnischen Serben, die während des Kroatienkriegs aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien hat die früheren kroatischen Generäle Ante Gotovina und Mladen Markač schuldig gesprochen und sie zu 24 bzw. 18 Jahren Haft verurteilt. Ein dritter General, Ivan Čermak, wurde freigesprochen. Die Richter sahen es als erwiesen an, dass 1995 während der Militäroperation »Sturm« unter der Leitung von Gotovina und Markač Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden. Ziel der Militäroperation war die Vertreibung aller ethnischen Serben aus der kroatischen Region Krajina. Dabei starben mehr als 300 Zivilisten, über 90.000 wurden zur Flucht gezwungen. »Die Verurteilung ist ein wichtiger Schritt

Kroatien

erfolge

schenrechtsorganisationen für den Einsatz bedankt. Dr. Binayak Sen engagiert sich schon seit langem für die Rechte indigener Gemeinschaften im Bundesstaat Chhattisgarh. In der Vergangenheit lieferten sich dort indische Sicherheitskräfte und eine teilweise vom Staat unterstützte Miliz, die Salwa Judum, gewalttätige Auseinandersetzungen mit bewaffneten Maoisten. Dabei kam es immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen an der indigenen Bevölkerung. Dr. Binayak Sen hat wiederholt über rechtswidrige Tötungen von Zivilisten während der Auseinandersetzungen berichtet. Zudem setzt er sich für eine Verbesserung der medizinischen Versorgung für ausgegrenzte und indigene Gemeinschaften in Chhattisgarh ein.

für die Gerechtigkeit und zeigt, dass auch hochrangige Kriegsverbrecher der internationalen Justiz nicht entgehen können«, sagte Nicola Duckworth, Amnesty-Direktorin für Europa und Zentralasien. Die juristische Aufarbeitung von Mord, Folter und Vertreibung während der Jugoslawienkriege kommt in Kroatien nur schleppend voran. Ein von Amnesty International vor kurzem veröffentlichter Bericht dokumentiert, wie fehlender politischer Wille und mangelnder Zeugenschutz eine konsequente Aufarbeitung der Kriegsverbrechen verhindern. Die Gerichte schließen im Durchschnitt nur 18 Fälle pro Jahr ab, davon beziehen sich nur sehr wenige auf die Kriegsverbrechen während der Operation »Sturm«. Insgesamt stehen noch rund 500 Fälle zur Bearbeitung aus.

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Foto: Shome Basu

Zielscheibe für Steinewerfer. Indische Sicherheitskräfte in Kaschmir, September 2010.

140 zeichen für die freiheit Der 14-jährige Faizan Rafiq Hakeem war mehr als einen Monat lang ohne Gerichtsverfahren in der indischen Stadt Kathua inhaftiert. Um seine Freilassung zu erreichen, nutzte Amnesty unter anderem die Internetplattform Twitter – mit Erfolg.

indien

»Nach 40 Tagen Gefängnis fühle ich mich etwas schwach, ich bin aber glücklich, wieder frei zu sein«, sagte Faizan nach seiner Entlassung gegenüber Amnesty. Und er fügte hinzu: »Ich werde über diese Zeit hinwegkommen.« Faizan war im Februar in Anantnag im indischen Bundesstaat Jammu und Kaschmir festgenommen worden. Angeblich soll er bei Protesten gegen die bundesstaatlichen Behörden Steine auf Sicherheitskräfte geworfen haben. Obwohl glaubwürdige Dokumente seine Minderjährigkeit belegten, behaupteten die Behörden zunächst, Faizan sei 27 Jahre alt. Später schätzten sie sein Alter auf 17 Jahre. An Faizans Situation änderte sich dadurch nichts. Im indischen Bundesstaat Jammu und Kaschmir werden Personen ab 16 Jahren vor Gericht als volljährig betrachtet. Zunächst hatte er Glück: Ein Richter gewährte ihm die Freilassung gegen Kaution. Auf Grundlage eines umstrittenen Sicherheitsgesetzes, dem »Jammu and Kashmir Public Safety Act«, wurde er jedoch weiter in Verwaltungshaft gehalten – ohne Anklage und ohne Gerichtsverfahren. Am 30. März startete Amnesty eine Eilaktion und forderte seine Freilassung. Kurz darauf begannen Amnesty-Mitarbeiter damit, die Forderung über das Internetportal Twitter zu verbreiten. Nutzer rund um den Globus schlossen sich an und fügten ihren Nachrichten das Schlagwort »#freefaizan« hinzu, um sich für die Freilassung einzusetzen. Gleichzeitig adressierten sie ihre 140 Zeichen langen Botschaften an Omar Abdullah – Ministerpräsident des Bundesstaates Jammu und Kaschmir und

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selbst Twitter-Nutzer. Der indische Journalist Raheel Khursheed schrieb: »Das ganze Jahr hindurch schickt die Regierung 14Jährige ins Gefängnis und wundert sich dann, wenn im Sommer Steine geworfen werden.« Und Bilal Nazki, ehemaliger Richter am Obersten Gerichtshof in Orissa, fragte empört: »Wie kann man ruhig schlafen, nachdem man einen Minderjährigen ins Gefängnis zu Kriminellen gesteckt hat?« Omar Abdullah reagierte. Am 1. April antwortete er per Twitter, dass die Behörden Faizans Fall mit »Sympathie« betrachten und die Entscheidung überdenken würden. Fünf Tage später wurde Faizan entlassen. Dies ist eine positive Nachricht – und eine Ausnahme. Denn die wenigstens Menschen, die wegen des »Public Safety Acts« inhaftiert sind, können auf »Sympathie« seitens der Behörden hoffen. »In Jammu und Kaschmir werden regelmäßig Hunderte Menschen, auch Kinder, auf der vagen Grundlage des Public Safety Acts eingesperrt«, sagte Madhu Malhotra, die stellvertretende Leiterin des Asien-Programms von Amnesty. Ein aktueller Amnesty-Bericht dokumentiert, dass im vergangenen Jahr mindestens 230 Menschen auf diese Art inhaftiert wurden, obwohl keine eindeutigen Beweise für ihre Schuld vorlagen. Samuel Verghese, der ehemalige Finanzkommissar in Jammu und Kaschmir, sagte zur Begründung dieser Rechtspraxis, man müsse einfach »einige Leute aus dem Verkehr ziehen«. Auch der 17-jährige Murtaza Manzoor wurde »aus dem Verkehr gezogen«. Weil er bei regierungskritischen Protesten »Unruhe gestiftet« haben soll, wurde er Anfang des Jahres festgenommen. Für seine Freilassung nutzte Amnesty abermals die Plattform Twitter und forderte: »#freemurtaza«. Text: Ralf Rebmann

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einsatz mit erfolg

unaBhängigKeit für menschenrechtsKommission

nigeria Sechs Jahre lang mussten die Mitarbeiter der Nationalen Menschenrechtskommission (NHRC) auf diesen Moment warten. Im März unterzeichnete der nigerianische Präsident Goodluck Jonathan ein Gesetz, das der Kommission Unabhängigkeit und finanzielle Unterstützung zusichert. »Endlich hat der nigerianische Präsident konkrete Schritte unternommen, um die Autorität dieser lebenswichtigen Institution zu stärken«, sagte Tawanda Hondora, Leiter des Afrika-Progamms von Amnesty International. Die Kommission könne nun unabhängig arbeiten, um die Menschenrechtssituation in Nigeria zu verbessern. In den vergangenen Jahren hatten die Mitarbeiter mit zahlreichen Problemen zu kämpfen. So wurden mehrere Geschäftsführer frühzeitig von der nigerianischen Regierung entlassen, weil sie unter anderem deren Menschenrechtspolitik kritisiert hatten.

hinrichtungen vorerst gestoppt

trinidad und toBago Dutzende Todeskandi-

daten in Trinidad und Tobago werden vorerst nicht hingerichtet. In einem Parlamentsentscheid wurde ein Gesetz zur Wiedereinführung der Todesstrafe mit knapper Mehrheit abgelehnt. Amnesty International begrüßte dies, bedauerte aber das Zustandekommen der Entscheidung. So haben Formfehler innerhalb des Gesetzentwurfes und nicht der Widerspruch zu internationalen Menschenrechtsstandards die Opposition dazu bewegt, das Gesetz abzulehnen. Oppositionssprecher Dr. Keith Rowley erklärte dazu, dass die Vorlage nicht geeignet gewesen sei, die Vollstreckung von Todesurteilen zu erleichtern. Sowohl die Regierungspartei als auch die Opposition haben sich in der Vergangenheit immer wieder für die Todesstrafe ausgesprochen. Eine überarbeitete Gesetzesvorlage kann

erfolge

erst wieder in sechs Monaten in das Parlament eingebracht werden.

uno schicKt sonderBerichterstatter in den iran

iran Der UNO-Menschenrechtsrat hat beschlossen, einen Sonderberichterstatter für die Menschenrechte in den Iran zu entsenden. »Diese Entscheidung ist längst überfällig«, sagte ein Sprecher von Amnesty, »wir sind dennoch sehr froh, dass der Menschenrechtsrat dieser Bitte von Amnesty und vielen anderen Organisationen entsprochen hat.« Die Menschenrechtslage im Iran hat sich seit den Protesten 2009 immer weiter verschlechtert. Im April wurde ein Gesetz in das iranische Parlament eingebracht, das eine stärkere Kontrolle und Überwachung von Nichtregierungsorganisationen vorsieht. Zudem hat sich die Zahl der Todesurteile drastisch erhöht: Seit Beginn des Jahres wurden im Iran mindestens 116 Menschen hingerichtet.

syrischer menschenrechtsanwalt freigelassen

syrien Wegen angeblicher »Demoralisierung der syrischen Nation« und »Schwächung des Nationalgefühls« saß Haytham al-Maleh monatelang im Gefängnis. Im März wurde der bekannte Menschenrechtsanwalt endlich entlassen. Zuvor hatte Präsident Baschar al-Assad eine Amnestie für alle über 70-jährigen Gefangenen angeordnet. »Es war an der Zeit, dass Haytham al-Maleh freigelassen wurde«, sagte Philip Luther, stellvertretender

Direktor der Abteilung Naher Osten und Nordafrika bei Amnesty. »Wie viele andere auch, wurde er nur inhaftiert, weil er frei seine Meinung geäußert hat.« Der 79-Jährige hatte sich im September 2009 über korrupte Staatsbeamte und die Einschränkung der Demokratie in Syrien beklagt. Zwei Tage später wurde er festgenommen und im Juli 2010 zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt. »Ich habe versprochen, meine Arbeit fortzusetzen«, sagte Haytham al-Maleh nach seiner Entlassung. »Ich hoffe, dass ich dieses Versprechen einhalten kann.«

camp-Bewohner freigelassen

iraK Sechs Bewohner von Camp Ashraf, einem Flüchtlingslager von Exil-Iranern im Norden Bagdads, sind Mitte April aus irakischer Haft entlassen worden. Sie waren eine Woche zuvor festgenommen worden, als irakische Sicherheitskräfte das Camp stürmten. Gegenüber Amnesty International gaben sie an, in der Haft geschlagen worden zu sein. Bei dem Militäreinsatz kamen nach Angaben der iranischen Oppositionsgruppe Mujahedin-e Khalq (MEK) 34 Personen ums Leben, über 300 wurden verletzt. Die Bewohner des Camps, die größtenteils Unterstützer oder Mitglieder der Oppositionsgruppe sind, leisteten heftigen Widerstand. Amnesty hat die irakischen Behörden davor gewarnt, mit weiteren Aktionen das Leben der Bewohner zu gefährden oder das Camp zu räumen. Sollten die Flüchtlinge in den Iran abgeschoben werden, sind einige in großer Gefahr, dort gefoltert oder hingerichtet zu werden.

Fotos: Amnesty

Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen mit Appellschreiben an den »Urgent Actions«, den »Briefen gegen das Vergessen« und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz drohende Menschenrechtsverletzungen verhindert und Menschen in Not hilft, zeigen diese Beispiele.

Brutaler Militäreinsatz. Irakische Sicherheitskräfte im Camp Ashraf, 2009.

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panorama

Foto: Phil Moore / AFP / Getty Images

côte d’ivoire: ein Klima der angst , Hunderte Menschen wurden getötet, ganze Dörfer niedergebrannt, viele Bewohner mussten fliehen. Das ist das Resultat des blutigen Machtkampfes in Côte d’Ivoire zwischen Alassane Ouattara, dem Gewinner der Präsidentschaftswahlen im Dezember 2010, und seinem Vorgänger Laurent Gbagbo. Der Bürgerkrieg hinterlässt eine zerrüttete Gesellschaft. »Im Westen des Landes sind Menschen in Panik, weil sie für Gbagbo-Unterstützer gehalten werden könnten«, sagte Véronique Aubert, stellvertretende Direktorin der Afrika-Abteilung bei Amnesty. Viele haben Angst, in ihre Dörfer zurückzukehren, weil sie Racheakte befürchten. »Diese Menschen brauchen den Schutz der UNO«, so Aubert. Außerdem müsse Präsident Ouattara seine Sicherheitskräfte zur Achtung der Menschenrechte anhalten. »Nur Gerechtigkeit und Schutz können in Côte d’Ivoire das Klima der Angst beenden.«

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amnesty journal | 06-07/2011


% weltweit: meinungsfreiheit unter Beschuss Tim Hetherington war einer der prominentesten Fotojournalisten. Ende April starb er bei einem Artillerieangriff der libyschen Armee in Misurata. Journalisten und Fotografen, die wie Hetherington aus Kriegsgebieten berichten oder solche, die sich gegen die Zensur in ihrem Land wehren, leisten einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung von Menschenrechtsverbrechen. Manchmal geraten sie deshalb selbst in die Schusslinie. Dem International Press Institut (IPI) zufolge kamen im vergangenen Jahr mindestens 102 Journalisten ums Leben, davon allein 22 in Mexiko und Honduras. Die Organisation Reporter ohne Grenzen veröffentlichte am Tag der Pressefreiheit, dem 3. Mai, eine Liste der größten »Feinde der Pressefreiheit«. Vor allem die Machthaber in Syrien, Jemen und Bahrain hätten die Pressefreiheit infolge der jüngsten Proteste massiv eingeschränkt, Journalisten ausgewiesen und bedroht.

Philippe Desmazes / AFP / Getty Images

panorama

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Foto: Dana Smillie / Polaris / laif

nachrichten

Nicht nur die Uniformen müssen sich ändern. Patronenhülsen auf dem Tahrir-Platz nach einer vom Militär aufgelösten Demonstration, April 2011.

zeit für gerechtigKeit Der neue ägyptische Innenminister kündigte Mitte März an, dass der gefürchtete Sicherheits- und Geheimdienst SSI aufgelöst werde. Unklar ist jedoch, wie die Übergangsregierung mit den jahrzehntelangen, schweren Menschenrechtsverletzungen durch den SSI verfahren will. In dem kürzlich erschienenen Bericht »Time for Justice: Egypt’s corrosive System of Detention« kritisiert Amnesty International die menschenrechtswidrigen Praktiken der Sicherheitsdienste. Gleichzeitig fordert die Organisation vom herrschenden Militärrat, den Ausnahme-

ägypten

zwangsräumungen in rom

italien Erneut sind in Rom die Bewohner von mindestens vier nicht genehmigten Roma-Siedlungen vertrieben worden. Diese Vertreibungen setzen die Welle von Zwangsräumungen in der italienischen Hauptstadt fort. Nach Angaben italienischer NGOs sind seit Anfang April mindestens 30 Siedlungen geräumt worden. Der Bürgermeister von Rom, Gianni Alemanno, erklärte, man wolle mit diesen Maßnahmen

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zustand endlich aufzuheben, die Menschenrechtsverletzungen umfassend zu untersuchen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Amnesty bietet den Behörden an, sie bei ihren Ermittlungen zu unterstützen und ihnen Einblick in das Dokumentenarchiv der Organisation zu ermöglichen. Amnesty hat in den zurückliegenden Wochen weiterhin Folterungen, willkürliche Festnahmen, Prozesse gegen Zivilpersonen vor Militärgerichten und staatliche Maßnahmen zur Unterdrückung des Rechts auf freie Meinungsäußerung do-

kumentiert. So erfuhr die Organisation nach der gewaltsamen Räumung des Tahrir-Platzes am 9. März von Teilnehmerinnen der Proteste, dass sie geschlagen, mit Elektroschocks gequält und »Jungfräulichkeitstests« unterzogen wurden. Außerdem habe man ihnen damit gedroht, sie wegen Prostitution anzuklagen. »Die Uniformen mögen andere sein, aber das Muster an Menschenrechtsverletzungen besteht unverändert fort«, lautet das Fazit des Amnesty-Berichts. Verstöße gegen die Menschenrechte müssen künftig konsequent geahndet werden.

verhindern, dass die kürzlich aus Tunesien gekommenen Migranten ohne regulären Aufenthaltsstatus Zuflucht in nicht genehmigten Siedlungen fänden. Nach Berichten italienischer NGOs fanden die Räumungen ohne vorherige Benachrichtigung und Konsultation der Betroffenen statt. Lediglich den Frauen und Kindern wurde eine vorläufige Unterkunft in einem Aufnahmezentrum für Asylsuchende angeboten. Fast alle Betroffenen lehnten

das Angebot ab, weil sie sich nicht von ihren Familien trennen wollten. In jüngster Zeit sind in Rom vor allem kleinere, nicht genehmigte Siedlungen geräumt worden, doch die nun geräumten vier Siedlungen gehören zu den größten der Stadt. Schätzungen zufolge wurden mindestens 700 Menschen, darunter auch schwangere Frauen und viele Kinder, durch die Räumungen obdachlos.

amnesty journal | 06-07/2011


Noha Atef ist Journalistin und Bloggerin. Sie hat für mehrere Zeitungen in der arabischen Welt gearbeitet. Ihr Blog »tortureinegypt.net« ist eine der wichtigsten Quellen für Informationen über Folter in Ägypten. Die 26-Jährige kommt ursprünglich aus Kairo und studiert derzeit in Birmingham.

interview

noha atef

Online-Aktivisten und Blogger haben entscheidend zur ägyptischen Revolution beigetragen. Noha Atef ist eine von ihnen. Schon lange vor den Protesten hat sie sich für die Menschenrechte eingesetzt – mit einer Website über Folter in Ägypten. Wie ist die derzeitige Militärregierung einzuschätzen? Was die Führung der Militärregierung betrifft, bin ich skeptisch. Den Vorsitz hat Mohamed Tantawi, ein ehemaliger Weggefährte von Mubarak. Ich denke nicht, dass es Aufgabe des Militärs ist, ein Land zu verwalten. Außerdem ist auch die Militärpolizei für Fälle von Folter verantwortlich. Noch gibt es kein Parlament, das diese Dinge überwacht, sondern es sind allein die Ägypter, die die Militärregierung unter Druck setzen können. Vertrauen Sie dem Militär? Ich vertraue niemandem. Bei den Protesten ging es darum, das ganze Regime zu stürzen und nicht nur Mubarak. Er hat dieses System über 30 Jahre lang aufgebaut. Das lässt sich nicht in drei Monaten einfach abschaffen. Ein gutes Zeichen ist, dass die Menschen weiterhin fordern, alte Gefolgsleute von Mubarak ins Gefängnis zu bringen. Die Revolution ist noch nicht vorbei.

Foto: oso

»die revolution ist nicht vorBei« Blogs sind zunächst einmal Medien wie andere auch und können die öffentliche Meinung beeinflussen. Vor allem aber waren sie ein wirkungsvolles Werkzeug, um die Menschen zu mobilisieren und zu motivieren. Während der Proteste wurde das Internet benutzt, um die Demonstrationen zu organisieren – sofern es nicht abgeschaltet war. Aber auch schon in den Jahren vor der Revolution ging es darum, Online-Medien für sich zu nutzen und Informationen über Folter oder Ähnliches zu verbreiten. Ein sehr bekannter Fall ist Khaled Said, der im Juni 2010 von Polizisten zu Tode geprügelt wurde… Ja, Khaled Said war in unserem Alter, er kam aus der Mitte der Gesellschaft, und man konnte sich leicht mit ihm identifizieren. Als dann das Bild seines Leichnams über Facebook verbreitet wurde, wurde vielen klar, dass ihnen das Gleiche hätte passieren können. In diesem Moment waren die Leute wütend genug, um etwas zu unternehmen. Ich würde sagen, Khaled Said war eine der Figuren hinter der Revolution.

Wann begannen Sie damit, über Folter in Ägypten zu berichten? 2006 wurde ich auf den Bericht einer lokalen NGO aufmerksam. Nachdem ich ihn gelesen hatte, war ich schockiert. Damals redeten nur wenige über Folter. Ein Ziel des Blogs war es deshalb, dieses Problem öffentlich zu machen. Außerdem wollten wir die Haltung der Menschen ändern und sie dafür sensibilisieren, dass auch »einfaches« Schlagen nicht zu akzeptieren ist. Aus der Idee ist über die Jahre ein ausführliches Archiv entstanden, das Folter der ägyptischen Polizei dokumentiert.

Welchen Einfluss hatten Frauen bei der Revolution? Frauen spielten eine fundamentale Rolle. Oft waren sie es, die auf dem Tahrir-Platz über Mainstream-Medien mitteilten, was sich gerade ereignete. Viele waren schon vor den Protesten aktiv und sind es jetzt auch. Es gibt einige berühmte Bloggerinnen, die sehr politisch sind, wie zum Beispiel Shahinaz Abdel Salam oder Nora Younis, die einen Menschenrechtspreis bekommen hat. Außerdem versuchen viele Frauen, mithilfe der Öffentlichkeit Tabus zu brechen, wie Mahasen Saber mit ihrem »Motalakat Radio«. In Ägypten werden geschiedene Frauen immer noch ausgegrenzt. Mahasen Saber ist selbst geschieden und hat das zum Thema einer Radiosendung gemacht. Das ist bemerkenswert und ein großer Schritt nach vorne.

Welche Bedeutung hatten soziale Netzwerke für die Proteste?

Fragen: Ralf Rebmann

nachrichten

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interview

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Bessere haftBedingungen für manning

Der mutmaßliche Wikileaks-Informant Bradley Manning erhält bessere Haftbedingungen. Der US-Soldat wurde Ende April im Militärgefängnis Fort Leavenworth zusammen mit etwa zehn weiteren Häftlingen untergebracht. Manning wurde erst kürzlich nach Fort Leavenworth im US-Staat Kansas verlegt. Zuvor wurde er im Hochsicherheitstrakt eines Militärstützpunkts bei Washington in Einzelhaft gehalten. Amnesty International hatte die Haftbedingungen als unnötig hart und unmenschlich kritisiert. Manning unterlag der höchstern Sicherheitsstufe. Er bekam weder Polster noch Decken, unterlag Schlafbeschränkungen und wurde alle fünf Minuten von einem Wärter angesprochen. Manning wurde im vergangenen Jahr festgenommen. Ihm wird vorgeworfen, Hunderttausende Unterlagen an die Enthüllungsplattform Wikileaks weitergegeben zu haben, darunter Dokumente zu den Kriegen in Afghanistan und im Irak.

usa

Beweis der unmenschlichKeit

nordKorea Amnesty International hat Satellitenfotos von Gefangenenlagern in Nordkorea veröffentlicht, die Aufschluss über gravierende Menschenrechtsverletzungen geben. Schätzungen zufolge sind dort rund 200.000 Menschen inhaftiert. Ehemalige Gefangene des Lagers »Yodok« berichteten gegenüber Amnesty, dass Inhaftierte zur Arbeit gezwungen, gefoltert und anderweitig misshandelt wurden. Von 1999 bis 2001 seien rund 40 Prozent der Insassen an Mangelernährung gestorben. »Jahrzehntelang haben die nordkoreanischen Behörden die Existenz der Lager geleugnet«, sagte Sam Zarifi, Asien-Experte bei Amnesty. Amnesty vermutet, dass viele Lager bereits seit 1950 existieren. Soweit bekannt, konnten bisher nur drei Inhaftierte fliehen und Nordkorea verlassen. »Hunderttausende Menschen werden wie Sklaven behandelt und leben praktisch ohne Rechte – unter den schlimmsten Bedingungen, die wir seit Jahren dokumentiert haben«, so Zarifi.

iraK Auch acht Jahre nach dem Sturz von Saddam Hussein sind die Rechte auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit im Irak stark eingeschränkt. In der Stadt Sulaimaniya im kurdischen Norden des Landes setzten Sicherheitskräfte bei Protesten scharfe Munition und Tränengas gegen die Zivilbevölkerung ein. »Die Ereignisse stellen eine Verschärfung der fortdauernden Eingriffe in die Meinungs- und Demonstrationsfreiheit dar«, sagte Malcolm Smart, Direktor der Amnesty-Abteilung für den Mittleren Osten und Nordafrika. Gezielte Angriffe auf politische Aktivisten und gewaltsames Vorgehen gegen friedliche Demonstrierende kennzeichnen die Lage im Land. Zu diesem Ergebnis kommt ein neuer Bericht von Amnesty International. Seit Februar dieses Jahres protestieren Menschen im ganzen Land gegen die mangelnde Grundversorgung mit Wasser und Strom, gegen Massenarbeitslosigkeit und steigende Preise. Es kam wiederholt zu rechtswidrigen Festnahmen, und bei Verhören in Gewahrsam soll Folter angewendet worden sein. »Man hat mich jeden Tag geschlagen und mir Elektroschocks zugefügt«, berichtete Oday Alzaidy, ein Aktivist aus Bagdad, der nach fünftägiger Gefangenschaft im Krankenhaus behandelt werden musste. Am 25. Februar, dem »Tag des Zorns«, erreichte die Protestwelle ihren Höhepunkt. Zehntausende gingen auf die Straßen, um für politische und ökonomische Reformen zu demonstrieren. Unabhängige Journalisten, die über die Proteste berichteten, erhielten per SMS Dro-

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Foto: Sebastian Meyer / Polaris / laif

tage des zorns

Massenarbeitslosigkeit und steigende Preise. Bagdad, 25. Februar 2011.

hungen, wurden festgenommen oder tätlich angegriffen. Im Norden des Landes forderte die Bevölkerung zudem ein Ende der Korruption innerhalb der Regierungsparteien. Mindestens sechs Menschen, darunter zwei Jugendliche, starben, als die Sicherheitskräfte brutal durchgriffen, Dutzende wurden verletzt. Die Opfer verzichteten auf eine Anzeige, da sie keinerlei Schutz von den staatlich kontrollierten Stellen erwarten können. Amnesty International fordert eine un-

abhängige Untersuchung und Aufklärung der Tötungen, Gewaltanwendung und Drohungen gegen friedliche Protestierende. Allen Vorwürfen von Folter und Misshandlung in Polizeigewahrsam muss nachgegangen werden. Die Verantwortlichen müssen öffentlich zur Rechenschaft gezogen und eine weitere Gewaltanwendung gegen die Zivilbevölkerung unterbunden werden. Die staatlichen Behörden müssen das Recht auf friedliche Proteste und freie Meinungsäußerung respektieren und schützen.

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Zeichnung: Oliver Grajewski

Kolumne jutta lietsch

china: Keine rechte für störenfriede

Die Festnahme des chinesischen Künstlers Ai Weiwei am 3. April hat internationale Proteste ausgelöst. Europäische und andere Regierungen fragten die chinesischen Behörden seither immer wieder nach dem Verbleib des 53-Jährigen. Museumsdirektoren, Galeristen und Menschen, die nicht zur Kunstszene zählen, forderten mit Transparenten seine Freilassung. Die Regierung in Peking reagierte unwirsch. Gegen Ai werde wegen Wirtschaftsdelikten ermittelt und Chinas Justiz sei unabhängig. »Das alles hat mit Menschenrechten und Pressefreiheit nichts zu tun«, so Außenamtssprecher Hong Lei. Warum die Familie Ais nichts über seinen Aufenthaltsort erfährt und der Künstler keinen Kontakt zu einem Anwalt erhält, wurde nicht erklärt. Diese Härte ist umso bemerkenswerter, als Pekings Politiker seit einiger Zeit mit sehr viel Geld Projekte finanzieren, die Chinas Image im Rest der Welt aufpolieren sollen. Dazu gehören Hunderte von Konfuzius-Instituten sowie die neuen Auslandssender des Staatsfernsehens CCTV und der Agentur Xinhua. Doch offenkundig haben sich in der KP jene Kräfte durchgesetzt, die sich um die Außenwirkung ihrer Aktionen herzlich wenig sorgen. Hardliner fürchten, der Funke der Revolution könne von Nordafrika und dem Nahen Osten nach China überspringen. »Wir haben 1,3 Milliarden Menschen und so viele Probleme«, heißt es dazu unter Funktionären. Ai Weiwei zählte zu jenen, die Korruption und Heuchelei in der Regierung anprangerten. Nun haben die Sicherheitskräfte Aufwind, deren Budget im März kräftig erhöht wurde. Das zuständige Politbüro-Mitglied Zhou Yongkang zeigt sich auffällig oft in der Öffentlichkeit. Er will eine neue nationale Datenbank schaffen, um – wie es heißt – das »Sozialmanagement« zu stärken. Der Staatsrat kündigte jüngst die Einrichtung einer neuen zentralen Internet-Überwachungsbehörde an. Zudem rückt der Generationswechsel an der KP-Spitze im Herbst 2012 näher. Liberalere Gruppierungen und Reformer sehen sich an den Rand gedrängt. Ambitionierte Politiker, wie der voraussichtliche künftige KP-Chef Xi Jinping, pflegen einen »roten« Populismus in der Tradition Maos. Als Staatsgründer der Volksrepublik ist Mao ein Symbol für die Befreiung von der kolonialen Erniedrigung. Viele KP-Funktionäre sind bis heute davon überzeugt, das Ausland habe nichts anderes im Sinn, als Chinas Aufstieg zur Großmacht zu verhindern. Der im Ausland erfolgreiche Ai Weiwei gilt da manchem als »anti-chinesisch«. Der Fall Ai Weiwei zeigt die große Schwäche des chinesischen Rechtssystems. Düster sieht es besonders im Strafrecht und bei den Rechten der Verteidiger aus. Die KP und ihre Sicherheitsdienste haben das letzte Wort. »Wenn einer berühmten Persönlichkeit wie Ai Weiwei im vollen Licht der Öffentlichkeit so übel mitgespielt werden kann, welchen Schutz vor der Polizei gibt es dann für gewöhnliche chinesische Bürger?«, fragte jüngst der amerikanische Jurist und China-Experte Jerome Cohen in einer Hongkonger Zeitung. Opfer der aktuellen Einschüchterungswelle ist etwa der Anwalt Teng Biao, der 70 Tage lang verschleppt war. Sein Kollege Li Fangping wurde fünf Tage lang festgehalten. Kaum war dieser frei, wurde der nächste Anwalt, Li Xiongbing, abgeholt. Das Gesetz gelte nicht »für Störenfriede«, erklärte Außenamtssprecherin Jiang Yu. Im Fall Ai Weiwei ist für eine Anklageerhebung wegen »Wirtschaftsdelikten« bereits viel Zeit verstrichen. Offenbar kann man sich auf den höchsten Ebenen der Partei nur schwer darauf einigen, ob man ihn freilassen oder eine besonders schwere Strafe verhängen soll. Die Autorin ist China-Korrespondentin der Tageszeitung »taz« und lebt in Peking.

nachrichten

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Kolumne

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Thema: Flucht nach Europa

Die Hoffnung auf ein besseres Leben liegt auf der anderen Seite des Mittelmeeres. Tausende Flüchtlinge wagen wegen Unruhen und Bürgerkrieg die gefährliche Überfahrt von Tunesien nach Europa. Oder sie nehmen die nicht weniger riskante Route über Griechenland. Doch angesichts des humanitären Notstands verschärft Europa seine Grenzkontrollen: Flüchtlinge und Migranten aus Nordafrika sollen draußen bleiben.

Hunde, Infrarotkameras und Wärmesensoren. Wachturm im Nordosten Griechenlands an der Grenze zur Türkei. Foto: Michael Danner

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Foto: Michael Danner

Raum der Freiheit

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FLUCHT NACH EUROPA

Rund 18 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht, weil ihnen in ihrer Heimat Haft, Misshandlung oder Folter droht. Nach Artikel 14 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hat jeder Mensch das Recht, in einem anderen Land Asyl zu suchen – etwa, wenn er oder sie wegen politischer Überzeugung, Religion oder Hautfarbe, Geschlecht oder sexueller Orientierung verfolgt wird. Viele Verfolgte suchen Zuflucht in dem »Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts«, wie sich die Europäische Union gern selbst bezeichnet. Heute verstehen die EU-Mitgliedsstaaten darunter jedoch eher den Schutz vor Flüchtlingen und nicht den effektiven Schutz von Flüchtlingen. Diese werden ausschließlich unter dem Aspekt der »illegalen Einwanderung« betrachtet. Wegen der Umbrüche in den nordafrikanischen Staaten verzeichnen in den vergangenen Monaten vor allem die südlichen EU-Staaten steigende Flüchtlingszahlen. Die Reaktion ist altbekannt: Statt auf eine humanitäre Ausnahmesituation mit humanitärer Hilfe zu reagieren, rufen die verantwortlichen Politiker nach schärferen Kontrollen und zusätzlichen Einsätzen der Grenzkontrollagentur Frontex, um zu verhindern, dass Flüchtlinge und Migranten nach Europa gelangen. So werden die EU-Außengrenzen immer strenger überwacht und Flüchtlingsboote bereits im Mittelmeer abgefangen, bevor sie die europäischen Hoheitsgewässer überhaupt erreichen. Auch die Flucht über den Landweg endet oft tödlich, wie unsere Reportage über die »Grenzen Europas« beschreibt. Und wem die Einreise gelingt, der muss anschließend oft unter menschenunwürdigen Umständen leben, wie der Bericht über den Hungerstreik von Asylsuchenden in Griechenland zeigt. Tatsächlich aber steht Europa in einer humanitären Pflicht: Die Reaktion auf die Flüchtlinge und Migranten aus Nordafrika muss sich an den Maßstäben der Menschenrechte orientieren.

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Tochter der sonnigen Tage Ein schmaler Streifen an der griechisch-türkischen Grenze ist für viele Flüchtlinge aus Nordafrika der einzige Weg, um nach Europa zu gelangen. Von Sabine Küper-Büsch (Text) mit Fotos von Michael Danner

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ür den Nigerianer Jan R. endete die Reise in eine bessere Zukunft mit einer Suchanzeige. Auf der Webseite der nigerianischen Botschaft in Athen schrieb er im Juli 2010: »Ich suche meine Frau, sie heißt ›Tochter der sonnigen Tage‹.« Das Ehepaar, das der christlichen Minderheit angehört, war im Mai vergangenen Jahres aus dem Süden Nigerias aufgebrochen, aus Angst vor der zunehmenden Islamisierung. Mit einem Dreimonatsvisum konnten sie zunächst problemlos auf dem Luftweg in die Türkei einreisen. Die Schwierigkeiten begannen erst an der türkisch-griechischen Grenze. Die Schlepper aus Istanbul hatten am 28. Juni eine Gruppe von vierzig Menschen mit Kleintransportern in die türkische Grenzstadt Ipsala geschafft. Hier entspringt ein Fluss, der auf der türkischen Seite Meriç und auf der griechischen Evros heißt. Er markiert auf über 185 Kilometer Länge die Grenze zwischen Griechenland und der Türkei. Jan R. und seine Frau hatten es gemeinsam bis zu diesem Fluss geschafft. Dort verteilte man sie auf unterschiedliche Schlauchboote. Die Schlepper drängten zur Eile, vor der Überfahrt stachen sie einige Male in die Gummiboote. »Das ist ihre Methode, sich der Flüchtlinge entgültig zu entledigen«, erklärt Perikles Gouliamas, Polizeichef des griechischen Grenzübergangs Kipi. »Die Leute schaffen es im besten Fall bis an unser Ufer, oft müssen sie ein Stück schwimmen. Sie

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können aber auf keinen Fall mit diesen beschädigten Booten zurück in die Türkei.« Jan R. war direkt nach der Überquerung des Flusses am 28. Juni 2010 festgenommen worden. Er hoffte, seiner Frau sei es ähnlich ergangen. Nicht überall in der Evros-Region verläuft die Grenze entlang des Flusses. In der Nähe der griechischen Kleinstadt Orestiada beginnen zwei lettische Frontex-Grenzschützer ihren Kontrollgang. Rund um die Uhr ist die europäische Grenzschutzagentur hier unterwegs, mit Hunden, Infrarotkameras und Thermosensoren. Ludis Ciruls und Roland Kalnins stammen aus Riga und sind 25 Jahre alt. Zu ihrem Einsatz wollen sie sich nicht äußern. Das überlassen sie lieber Georgios Tournakis, dem stellvertretenden Polizeichef von Orestiada. Er ist dafür, dass Griechenland hier im Grenzgebiet zur Türkei einen Zaun bauen lassen will. Von einer Anhöhe aus zeigt er dessen vorgesehenen Verlauf zwischen den Dörfern. Es gibt hier keinen Fluss, sondern nur Felder, Wiesen und Bäume. »Wir haben 2010 in der gesamten Evros-Region 36.000 illegale Immigranten festgenommen«, berichtet Georgios Tournakis, »26.000 davon nur in diesem kleinen Teilstück.« Der Polizeichef kritisiert, dass die EU-Vorschriften eine wirksame Abwehr der Flüchtlinge an den Grenzen verhindert. »Früher haben wir dafür gesorgt, dass Flüchtlinge griechischen Boden nicht be-

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traten, wenn wir sie im Grenzgebiet stellen konnten.« Wie das geschah, will der Beamte nicht weiter ausführen. Hüseyin Macit von der Menschenrechtskommission der Anwaltskammer von Edirne, einer zehn Kilometer entfernten Stadt auf türkischer Seite, kann weiterhelfen. »Die Leute wurden oft einfach zurück in den Fluss geworfen oder aber mit Gewalt dazu genötigt, wieder zurückzugehen.« Dieser Praxis bediene sich sowohl die türkische als auch die griechische Seite. Entkräftete Flüchtlinge wechselten oft mehrere Male die Grenze zwischen den beiden Ländern. Mit Hilfe von Frontex versucht der griechische Grenzschutz in der Evros-Region seit November 2010 eine neue umstrittene Strategie. »Sobald wir illegale Immigranten lokalisieren«, erklärt Georgios Tournakis, »bilden wir eine menschliche Mauer auf dieser Seite und versuchen sie mit Autoscheinwerfern und unangenehmen Geräuschen zu vertreiben. Zugleich rufen wir das türkische Militär zur Festnahme herbei.« Nach inoffiziellen Angaben einzelner Frontex-Beamter gehört zur Abschreckung gelegentlich auch eine Gewehrsalve in die Luft. Im Januar kletterte ein Immigrant aus Verzweiflung über die Umzäunung in ein abgesperrtes Minenfeld in der Evros-Region und konnte nur mit Mühe unverletzt geborgen werden. Früher war die gesamte Grenze auf der griechischen Seite vermint. Mittlerweile sind die meisten geräumt, die wenigen verbleibenden sind umzäunt und mit Warnschildern ausgestattet. Flüchtlinge, die sich dennoch nicht abschrecken lassen, werden zur Identitätsfeststellung festgenommen und in Aufnahmelager gebracht. Mit ihrer »menschlichen Mauer« wollen die Beamten aber verhindern, dass es überhaupt soweit kommt.

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FLUCHT NACH EUROPA

»Migration als Avantgarde.« Dies ist der Titel des Projekts des Berliner Fotografen Michael Danner. An verschiedenen Orten des Mittelmeerraums spürt er den aktuellen Flüchtlingsrouten in die EU nach. Unsere Fotos auf den Seiten 16 bis 23 von der türkisch-griechischen Grenze und aus der Evros-Region entstanden auf einer Reise im Jahr 2009.

Das griechische Dorf Nea Visa liegt auf der Transitstrecke für Flüchtlinge. Ein hübscher Ort mit weißen Häusern und gepflegten Kleingärten. Christos Evangelis ist Besitzer einer Autowerkstatt. Auf die Flüchtlinge ist er nicht gut zu sprechen. »Neulich kam einer an die Tür meiner 82 Jahre alten Mutter und wollte sein Handy aufladen. Die ist vor Schreck fast gestorben.« Man wisse auch gar nicht, was die Leute für Krankheiten einschleppten. Der 25-Jährige ist wie viele in der Region der Meinung, dass die Türkei strengere Einreisebestimmungen einführen und so den Flüchtlingsstrom unterbinden solle. Diese Sichtweise findet Javid Hashemi naiv. Der 25-jährige Afghane arbeitet als Übersetzer in einer Ambulanz für Flüchtlinge in Alexandropolis vierzig Kilometer vom Grenzübergang Kipi entfernt. Der junge Mann verließ sein Heimatland vor über zwölf Jahren und hat eine Odyssee hinter sich. »Ich glaube nicht, dass man jemanden aus einer Krisenregion durch strenge Bestimmungen aufhalten kann«, sagt er mit ernster Miene. Javid besaß nicht einmal einen Pass, als er 1998 als Jugendlicher die afghanische Stadt Jalalabad verließ. Sein Vater arbeitete als Koch für eine amerikanische Hilfsorganisation in einer von Drogenhandel und den Taliban beherrschten Region.

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»Eines Tages wurde ein Stein durch unser Küchenfenster geworfen, um den ein Zettel gewickelt war«, erzählt er. Darauf stand, der Vater solle sofort aufhören für die Amerikaner zu arbeiten, sonst seien er und seine Familie in Lebensgefahr. Eine Warnung der Taliban. Die Familie lieh sich Geld, um die ältesten Söhne außer Landes zu bringen. Über die lange Reise spricht Javid nur ungern. Über den Iran gelangte er auf dem Landweg illegal in die Türkei. Die berüchtigte Route ist nur mit langen Fußmärschen zu bewältigen und führt über die Grenze in den Bergen, die von beiden Seiten hoch gesichert ist. Von dort aus ging es mit dem Boot weiter auf die griechische Insel Lesbos und schließlich nach Athen. Dort stellte er einen Asylantrag. »Das war der größte Fehler meines Lebens«, seufzt Javid und erscheint plötzlich sehr müde. Tatsächlich gelang dem Teenager die Flucht über die griechische Hafenstadt Patras nach Italien. Seine Odyssee führte ihn weiter über die Schweiz, Deutschland und Belgien nach Newcastle in Großbritannien. Dort lebt sein älterer Bruder. Javid ging dort zur Schule, lernte Englisch und erwarb Computerkentnisse. »Ich war dem britischen Staat so dankbar, dass ich sofort zur Polizei eilte, als ich vor sieben Jahren dazu aufgefordert wurde«, erzählt er. Doch die britischen Behörden hatten festgestellt, dass der mittlerweile 18-Jährige einen Asylantrag in Griechenland gestellt hatte. Damit fand das Dublin-II-Abkommen auf ihn Anwendung, wonach Flüchtlinge an das Land der ersten Asylantragstellung überstellt werden. Innerhalb von zwei Tagen fand sich Javid Hashemi in Athen wieder. Er übernachtete in Parks und leerstehenden Häusern und schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch. Griechenland stellt Flüchtlingen keine Infrastruktur

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zur Verfügung. Vor drei Jahren begann er als Übersetzer für Hilfsorganisationen und griechische Behörden. »Ich kenne alle Flüchtlingslager in der Region«, meint er bitter, »die sind schlimmer als Legebatterien für Federvieh.« Flüchtlinge, die in der Region um Orestiada festgenommen werden, kommen in das Flüchtlingslager Fylakio. Bereits ein kurzer Aufenthalt im Eingangsbereich genügt, um die überfüllten Zellen und den Geruch von Urin und Schweiß wahrzunehmen, der selbst bei geöffneter Tür unzumutbar ist. Ein Gespräch mit Flüchtlingen ist nur kurz durch die hohen Eisengitter möglich. Fast alle behaupten, aus Nordafrika zu kommen, um nicht sofort wieder in die Türkei abgeschoben zu werden. Iran, Irak und Syrien gelten hier als »sichere Länder«. Ihre Staatsbürger werden zurück in die Türkei geschickt, dort sind die Flüchtlinge ebenfalls von sofortiger Abschiebung bedroht. Afghanen und Nordafrikaner hingegen erhalten dreißig Tage Aufenthaltsrecht in Griechenland mit der Aufforderung, das Land zu verlassen. Sie tauchen dann in der Regel unter und versuchen nach Westeuropa zu gelangen. Die Inhaftierten in Fylakio verstehen nicht, warum sie bereits seit fünf Monaten in dieser Hölle leben müssen. Die katastrophalen Bedingungen dienen zur Abschreckung. »Wir wollen ja nicht, dass die sich hier wohlfühlen und noch mehr kommen«, meint ein wachhabender Polizist. Zudem fehlt es aber auch an Dolmetschern, um die Identität der Inhaftierten festzustellen. Viele Leute unterschreiben unwissentlich falsche Identitätserklärungen und werden als vermeintliche Iraker wieder in die Türkei abgeschoben, obwohl sie zum Beispiel aus Afghanistan stammen.

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In den Zellen sind bis zu hundert Menschen untergebracht. Sie liegen auf Steinpritschen und verfügen nur über eine dünne Wolldecke, um sich warm zu halten. »Die meisten kommen zu uns wegen Rückenschmerzen, weil sie fast 24 Stunden am Tag auf dieser harten Unterlage liegen«, berichtet Javid Hashemi. Er übersetzt für die Flüchtlinge, weil er neben Englisch das in Afghanistan und Pakistan gesprochene Pashto fließend beherrscht und sich im Persischen und Arabischen verständigen kann. In der Ambulanz gibt es zwar einen Arzt, aber fast keine Medikamente. Kürzlich verlor ein Polizist die Nerven, weil ein Flüchtling nicht aufhörte, um eine Kopfschmerztablette zu bitten. Er schlug ihn mit seinem Stock, sodass der Mann eine Platzwunde am Kopf erlitt. Javid Hashemi möchte zu seiner Familie. Nach einem Anschlag der Taliban durften der Vater, die Mutter und die drei Geschwister 2003 in die USA ausreisen und leben in Los Angeles. Als Flüchtling mit einer befristeten Aufenthaltsgenehmigung sitzt Hashemi am Rande Europas in einer Sackgasse. Eine Ausreise ist legal nicht möglich. Fliehen will er nicht mehr. Zwanzig Kilometer von Orestiada entfernt liegt der kleine Ort Didimokito. Hier leben noch etwa 150 Angehörige der türkischen Minderheit. Mehmet Şerif Damadoğlu ist leitender Imam für die gesamte Region. Er hat ein Register über jene angelegt, die bei dem Versuch, über die Evros-Region in die Europäische Union zu gelangen, gestorben sind. Er erinnert sich an den traurigen Mann aus Nigeria, der im Februar zu ihm kam, um seine Frau zu suchen. Niemand hatte sich auf Jan R.s Suchanzeige bei der nigerianischen Botschaft in Athen gemeldet. Der Afrikaner hatte bereits alle Flüchtlingslager abgeklappert. Erst im Januar 2011 hatte Mehmet Şerif Damadoğlu als Imam

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FLUCHT NACH EUROPA

der Evros Region zwanzig Leichen erhalten, um sie auf einem muslimischen Flüchtlingsfriedhof zu begraben. Sechs Monate lang hatten sie in der Gerichtsmedizin der Provinzhauptstadt gelegen, um Angehörigen die Möglichkeit zu geben, sie zu identifizieren. Unter ihnen war auch »die Tochter der sonnigen Tage«. Doch davon hatte Jan R. nichts gewusst. Von ihrem Tod erfuhr er erst in Didimokito von Mehmed Şerif Damadoğlu. Sie war bei ihrer gemeinsamen Flucht im Evros ertrunken, nur wenige Meter von der EU-Grenze entfernt. Die Autorin ist Journalistin und lebt in Istanbul.

evros-region Evros/Mariza

Bulgarien

Edrine

Nea Vissa Orestiada

Türkei

Didimokito Griechenland

Alexandropolis

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»Aufenthaltserlaubnis oder Tod.« Illegales Flüchtlingscamp im Zentrum von Athen, November 2010.

»Hier läuft gar nichts« Flüchtlinge leben in Griechenland unter katastrophalen Bedingungen, kritisiert Amnesty International. Mit dem größten Hungerstreik in der Geschichte des Landes machten Migranten auf ihre miserable Lage aufmerksam – und erreichten einen Teilerfolg. Von Jannis Papadimitriou

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Foto: Jeroen Oerlemans / Hollandse Hoogte / laif

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assan ist den Tränen nahe, als er seine Geschichte erzählt. Vor sechs Jahren kam der damals 23-jährige Akademiker illegal aus Marokko nach Griechenland. Dafür musste er eine halbe Weltreise unternehmen: Mit einem Billigflieger reiste er nach Istanbul, dort musste er drei Tage in einem Hotel ausharren und auf genaue Anweisungen warten, dann ging es zu Fuß weiter: Über eine Woche lang liefen Hassan und seine Fluchtgefährten bis zur türkisch-griechischen Grenze, wo sie schließlich eine Lücke fanden. Mit einem Bus gelangten sie anschließend nach Athen. In seiner neuen Wahlheimat musste sich Hassan zunächst mit Schwarzarbeit über Wasser halten, als Fliesenleger, Bauarbeiter oder Melonenpflücker – ohne Papiere, versteht sich. Dabei hat er in Marokko Geschichte und Geographie studiert. Englisch und Französisch beherrscht er sehr gut, Griechisch hat er mitt-

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FLUCHT NACH EUROPA

lerweile dazu gelernt. Dass er heute noch als umherreisender Erntehelfer arbeiten muss, kostet ihn viel Überwindung, aber er versucht, nicht daran zu denken, sagt er. Er wäre schon zufrieden, wenn er in Griechenland eine legale Existenz aufbauen könnte. Aber dies bleibt ihm bis heute verwehrt. Einmal wurde ihm ein Anwalt empfohlen, der angeblich innerhalb weniger Wochen eine Aufenthaltserlaubnis besorgen könne. 1.500 Euro, einen großen Teil seiner Ersparnisse, habe er damals für diesen Service bezahlt und trotzdem keine Aufenthaltserlaubnis bekommen, sagt Hassan. Sein Geld sah er nie wieder – und den dubiosen Anwalt auch nicht. Viele Flüchtlinge könnten ähnliche Geschichten erzählen, sagt der leicht melancholisch wirkende Mann aus Marokko. Irgendwann wurde es ihnen allen zu viel und sie beschlossen, ihr Aufenthaltsrecht in Griechenland durch einen Streik zu erkämpfen. Vier Monate lang wurde die Aktion sorgfältig vorbereitet, denn viele Flüchtlinge mussten erst davon überzeugt werden. Zu groß war das Risiko, dass man sie festnehmen und ausweisen würde. In Athen, Thessaloniki und auf der Insel Kreta standen ihnen rechtskundige Aktivisten und Studentengewerkschaften mit Rat und Tat zur Seite. Die Mehrheit der griechischen Bevölkerung lehnt eine Legalisierung der Flüchtlinge jedoch ab. Mehr als die Hälfte glaubt, dass es in Griechenland schon heute zu viele Ausländer gibt. Im Zuge der aktuellen Wirtschaftskrise ist der Ton gegenüber Einwanderern rauer geworden, die Arbeitslosigkeit ist in Griechenland so hoch wie seit zwanzig Jahren nicht mehr. Viele Einheimische sind mittlerweile selbst auf die Gelegenheitsjobs angewiesen, die traditionell von Migranten verrichtet wurden. Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, kam es im Januar 2011 dann doch zum größten Hungerstreik in der Geschichte Griechenlands. In mehreren griechischen Städten hielten insgesamt 300 Migranten öffentliche Gebäude vorübergehend besetzt, sie verweigerten die Nahrung und riefen Parolen wie »Aufenthaltserlaubnis oder Tod«. Der griechische Innenminister Jannis Ragoussis ließ zunächst verlauten, die Regierung lasse sich nicht erpressen. Doch dann zeigte er sich nachgiebig und sogar bereit, persönlich mit den Flüchtlingen zu verhandeln. Allerdings zogen sich diese Gespräche in die Länge. Nach vier bis fünf Wochen ohne feste Nahrung wurden viele Flüchtlinge mit Herz- und Nierenleiden in Krankenhäuser eingeliefert, ihr Leben hing am seidenen Faden. Erst im letzten Moment wurde ein Kompromiss und damit auch ein Teilerfolg für die Flüchtlinge erreicht: Innenminister Ragoussis sagte, die Hungerstreikenden würden zwar keine Aufenthaltserlaubnis bekommen, aber immerhin eine sechsmonatige Duldung, die beliebig oft erneuert werden könne. Zudem würden alle Flüchtlinge legalisiert, die bereits länger als acht Jahre in Griechenland lebten und arbeiteten, ob mit oder ohne Papiere. Auch Abdul, ein 26-jähriger Gelegenheitskellner aus Marokko, hat an dem erfolgreichen Hungerstreik teilgenommen. Seit sieben Jahren schlägt er sich mit Nebenjobs durch, zuletzt hat er als Aushilfe in einem Nobelrestaurant im Nordosten Athens gearbeitet. Seine Aufenthaltserlaubnis läuft bald aus, weil er seit Monaten keine Arbeit mehr hat. Nach geltendem Recht verliert ein Migrant sein Aufenthaltsrecht, sofern er nicht mindestens 200 Tage im Jahr in die griechische Sozialversicherung einzahlt. Mehrmals habe er sich um neue Papiere bemüht, doch habe er sich dabei immer wieder im griechischen Bürokratie-Dschungel

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Foto: Angelos Tzortzinis / The New York Times / Redux / laif

Im Zuge der aktuellen Wirtschaftskrise ist der Ton gegenüber Einwanderern rauer geworden.

Foto: Kostas Tsironis / AP

Menschenunwürdige Bedingungen. Flüchtlingslager bei Fylakio.

Kampf gegen den Bürokratie-Dschungel. Migrantenproteste in Piräus.

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verlaufen, erzählt Abdul. Dann entschied er sich für den Hungerstreik: »Es gab einfach keine Alternative, sonst hätten wir wahrscheinlich hundert Jahre auf unsere Papiere warten müssen«, sagt er zynisch. »In Spanien kann man für 40 Euro eine Aufenthaltserlaubnis bekommen, hier geht gar nichts«, klagt er. Doch den kurzen Weg von Marokko nach Spanien konnte er nicht mehr antreten. Die Zeiten, als Tausende von Migranten über die iberische Halbinsel nach Europa gelangten, sind vorbei. Seitdem die Spanier ihre Küste abschotten, weichen die Flüchtlinge auf östlichere Routen aus. Über Griechenland verläuft inzwischen die wichtigste Route nach Europa. Nach Angaben aus Brüssel kommen mittlerweile acht von zehn Armutsflüchtlingen über die türkisch-griechische Grenze in die EU. Hätten die unerwünschten Migranten aus Nordafrika lieber Asyl bei den griechischen Behörden beantragen sollen? »Das hätte bestimmt keinen Sinn ergeben«, sagt Abdul. Auch alle griechischen Helfer der Flüchtlinge sind dieser Meinung, da ein geordnetes Asylsystem in Griechenland erst im Aufbau begriffen ist. Tausende von Asylanträgen warten auf ihre Bearbeitung. In Grenznähe aufgegriffene Flüchtlinge werden sofort zurückgewiesen oder in restlos überfüllte Auffanglager gebracht. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Griechenland wiederholt verurteilt, weil die unwürdigen Zustände in den Internierungslagern die Europäische Menschenrechtskonvention verletzen. Auch Amnesty International kritisiert die griechische Einwanderungspolitik: Flüchtlinge würden teilweise unter menschenunwürdigen Bedingungen festgehalten, sie hätten keine Chance auf ein faires Asylverfahren und seien in Gefahr, in Länder abgeschoben zu werden, in denen ihnen Folter und Verfolgung drohe, heißt es in einem Bericht, der im vergangenen Jahr erschienen ist. Die Situation für Flüchtlinge in Griechenland sei katastrophal, die Regierung in Athen versage beim Flüchtlingsschutz auf ganzer Linie. Griechische Politiker sehen die Schuld beim Nachbarn. Sie werfen der Türkei vor, ihre Grenze unzureichend zu kontrollieren, ja sogar den »Flüchtlingsstrom« gezielt als Druckmittel in den laufenden EU-Beitrittsverhandlungen zu nutzen. Das Argument erscheint nicht abwegig. Für die EU steht jedenfalls fest, dass Griechenland die Herausforderungen mit den Flüchtlingen nicht in den Griff bekommt. Oder vielleicht doch? Der ehemalige EU-Energiekommissar und heutige »Minister für Bürgerschutz« Christos Papoutsis hatte da eine vermeintlich zündende Idee: Griechenland plane einen 206 Kilometer langen Zaun entlang der Grenze zur Türkei, der mit Digitalkameras und Bewegungsmeldern gesichert werde, teilte der Minister Ende 2010 mit. Nachdem seine Pläne international auf Kritik stießen, ruderte er zurück und erklärte, der Zaun solle vorerst nur entlang einer 12,5 Kilometer langen »Schwachstelle« des Grenzflusses Evros in Nordostgriechenland entstehen, in Zukunft würden eventuell weitere Maßnahmen folgen. Hassan muss erst einmal an seine eigene Zukunft denken. Noch hat er die von den Behörden versprochene Duldung nicht bekommen. Er hofft, dass der Innenminister sein Versprechen einhält. Dann könnte er sich endlich ein neues Leben in Sicherheit aufbauen. Wie im Märchen möchte er sich am liebsten drei Wünsche erfüllen, sagt Hassan: Erstens, ein bescheidenes, ruhiges Leben führen. Zweitens, Liebe und Zuneigung erfahren. Und drittens, mit wenig Geld leben können. Der Autor arbeitet als Korrespondent in Athen.

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Schengen hält dicht Auf welchen Wegen Flüchtlinge versuchen, nach Europa zu gelangen.

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ZENTRALE OSTEUROPA-ROUTE -23 %

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WESTLIcHE MITTELMEER-ROUTE -25 % ’09 ’10

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WESTAFRIKANIScHE ROUTE -96 %

Die Zahlen entsprechen dem Stand von Herbst 2010, vor den Umbrüchen in Nordafrika. Daher enthält die Grafik auch noch keine Angaben über Flüchtlinge, die 2011 versuchten, von Tunesien und Libyen aus nach Europa zu gelangen. (Siehe auch Seite 31)

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FLUCHT NACH EUROPA

ZENTRALE MITTELMEER-ROUTE -70 %

’09 ’10

öSTLIcHE MITTELMEER-ROUTE (LAND) +372 %

ROUTE ALBANIEN– GRIEcHENLAND -14 %

öSTLIcHE MITTELMEER-ROUTE (SEE) -74 %

Jan–Sept Jan–Sept Ent2009 2010 wicklung WESTLIcHE MITTELMEER-ROUTE Spanien (Landgrenze) 1.369 1.089 -20% Spanien (Seegrenze) 3.540 2.576 -27% ZENTRALE MITTELMEER-ROUTE Italien 8.289 2.866 -65% Malta 1.289 29 -98% WESTAFRIKANIScHE ROUTE Kanarische Inseln (Spanien) 2.212 83 -96% ZENTRALE OSTEUROPA-ROUTE Westlicher Balkan 2.337 1.768 -24% Ostgrenze 1.059 828 -22% öSTLIcHE MITTELMEER-ROUTE Griechenland (Landgrenze) 6.607 31.186 +372% Griechenland (Seegrenze) 23.735 6.209 -74% ROUTE ALBANIEN–GRIEcHENLAND Griechenland 31.563 27.030 -14% Anzahl der illegalen Grenzübertritte. Quelle: Frontex

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Gefährliche Manöver Die EU will nicht nur ihre Außengrenze überwachen, sondern in Nordafrika eine breitere Pufferzone gegen Flüchtlinge aus den Staaten südlich der Sahara aufbauen. Je mehr sich Europa abschottet, desto gefährlicher wird der Weg für Flüchtlinge. Von Wolf-Dieter Vogel

»Lächerliche Zahl.« Ein Boot der italienischen Küstenwache richtet seine Scheinwerfer auf ein Flüchtlingsschiff aus Tunesien, 10. April 2011.

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ie kamen aus Eritrea, Somalia und der Elfenbeinküste. Auf einem völlig überfüllten Fischkutter hatten sich die Flüchtlinge auf den Weg gemacht, verzweifelt nahmen sie Kurs auf die Mittelmeerinsel Malta. Doch das nur 13 Meter lange Schiff hielt den Wellen und Stürmen nicht stand. Zwei Tage nach ihrer Abreise aus Libyen kenterte das Boot auf hoher See, 65 Kilometer von der italienischen Insel Lampedusa entfernt. Mehr als 220 Menschen ertranken am 6. April 2011. Einmal mehr stand die Europäische Union in der Kritik. Seit Wochen hatten Menschenrechtsverteidiger die Europäer gedrängt, für die Evakuierung von rund 11.000 Migranten aus mehreren afrikanischen Staaten zu sorgen, die in den Wirren des libyschen Bürgerkriegs rassistisch verfolgt wurden. Das UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge hatte auf die Gefahren hingewiesen, die eine Flucht über das Mittelmeer angesichts des stürmischen Wetters bedeute. Doch Brüssel reagierte nicht. Wenige Tage nach dem Unglück setzte die EU dann deutliche

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Zeichen. Angesichts vermeintlicher »Flüchtlingsströme« aus Tunesien beschlossen die Innenminister der Mitgliedsstaaten, mehr Beamte der EU-Grenzschutzagentur Frontex in die Region zu schicken. Mit Tunis müsse nun ausgehandelt werden, dass deren Patrouillenschiffe auch in tunesischen Küstengewässern operieren können müssten, um die Boote vorzeitig abzufangen. Von den nordafrikanischen Regierungen erwarteten die Minister »die Verhinderung illegaler Migration, effektives Management und Kontrolle der Außengrenzen sowie Erleichterungen bei der Rückführung irregulärer Migranten«. Der Tunesier Mahdi Mabrouk versteht die aufgeregte Reaktion der Europäer nicht. »Wir haben mehr als 160.000 Flüchtlinge aus Libyen aufgenommen, dagegen ist die Zahl von 26.000, die bislang nach Europa kamen, lächerlich«, meint der Migrationsforscher. Jahrelang hätte Europa autoritäre Herrscher unterstützt, damit diese Flüchtlinge und islamische Terroristen fernhalten. In der jetzigen Umbruchsituation erwartet Mabrouk

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Foto: Filippo Monteforte / AFP / Getty Images

»ein Mindestmaß an Solidarität der Europäer«. Davon kann keine Rede sein. Die EU hält am Frontex-Konzept fest: Sie will nicht nur ihre Außengrenze überwachen, sondern in Nordafrika eine breitere Pufferzone gegen Flüchtlinge aus den Staaten südlich der Sahara aufbauen. »Dabei gibt es noch keine Mechanismen, die das Vorgehen der Frontex-Beamten mit Blick auf die Menschenrechte kontrollieren«, kritisiert Maria Scharlau, Expertin für internationales Recht bei der deutschen Amnesty-Sektion. Die Einsätze der Grenzschützer auf hoher See sind immer wieder in die Kritik geraten. Seit schnelle Eingreiftruppen im Jahr 2007 begonnen haben, in gefährlichen Manövern Flüchtlinge und Asylsuchende auf hoher See abzudrängen, ist die Zahl der Toten eklatant gestiegen. Immer wieder schockieren Bilder gekenterter Boote an Italiens Küsten oder angeschwemmter Leichen an spanischen Stränden die Öffentlichkeit. Menschenrechtsverteidiger sprechen von einem »unerklärten Krieg gegen die Migranten«.

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FLUCHT NACH EUROPA

Weniger sichtbar sind die Folgen der europäischen Kooperation mit den Regierungen Nordafrikas. Als besonders wichtiger Partner galt bisher Muammar al-Gaddafi. Schließlich ist Libyen eines der bedeutendsten Transitländer für Flüchtende aus dem afrikanischen Süden. Italienische Grenzschützer, die Menschen aus diesen Regionen im Mittelmeer aufgreifen, übergaben diese bislang direkt an ihre libyschen Kollegen. So landeten die Menschen in den Auffanglagern Libyens, wo sie unter menschenunwürdigen Zuständen leben mussten. Europaabgeordnete prangerten im Juni 2010 in einer Resolution »Misshandlungen, Folter und Morde« an. Häufig würden »Flüchtlinge in menschenleeren Gebieten zwischen Libyen und anderen afrikanischen Staaten ausgesetzt«. Oder sie werden nach Tagesreisen in stickigen Containern in Gefängnisse verfrachtet, von dort Monate später an die sudanesische Grenze gebracht und an Schlepper verkauft, die sie für 400 Euro wieder an die Küste Libyens bringen. Ein Kreislauf, den viele gleich fünf- bis sieben Mal erleben, wie der äthiopische Regisseur Dagmawi Yimer, der in einem Dokumentarfilm seine eigene Erfahrung eindrücklich beschreibt. Etwa jeder Zehnte, der sich aus dem subsaharischen Afrika auf den Weg nach Norden macht, verdurstet, wird bei einem Überfall ermordet oder stirbt durch Krankheiten. Dennoch unterhalten die EU-Staaten zahlreiche Projekte, um gegen die Migranten vorzugehen. Mauretanien erhielt Kampf- und Überwachungsflugzeuge, Marokko Hubschrauber und Fregatten, Libyen Ausbildungen für Polizisten sowie Nachtsichtgeräte, Schnellboote und Unterwasserkameras. Diese Staaten sollen mit Frontex-Beamten auf hoher See kooperieren und ihre Südregionen kontrollieren. Sehr am Herzen liegt den Europäern die Sicherung der libyschen Grenze zum Niger und zum Tschad. Mit mindestens 20 Millionen Euro wollte sich Brüssel daran beteiligen. Angesichts der neuesten Entwicklungen in Libyen liegt das Vorhaben nun jedoch auf Eis. Anders in Tunesien. Keine drei Monate nach dem Sturz des autokratischen Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali verhandelte Italiens Präsident Silvio Berlusconi bereits mit der Interimsregierung über Maßnahmen zur Migrationsbekämpfung. 300 Millionen Euro will Italien nun bereitstellen, um kleine und mittelständische Unternehmer zu fördern und Tunesier auszubilden, aber auch, um Radarsysteme für die Küstenwache zu finanzieren. Im Gegenzug muss Tunis aus Italien abgeschobene Flüchtlinge wieder aufnehmen und dafür sorgen, dass keine Boote mehr in Richtung Lampedusa aufbrechen. Das betrifft ausreisende Tunesier ebenso wie Migranten aus anderen afrikanischen Regionen. Solche Vereinbarungen führten bereits unter Ben Ali dazu, dass Tunesien mit EU-Geldern Lager einrichtete, in denen subsaharische Flüchtlinge eingesperrt wurden. Ähnlich ergeht es vielen, die ohne Pass auf Teneriffa oder Gran Canaria aufgegriffen werden. Frontex-Beamte schicken die Flüchtlinge aus Spanien direkt in ein Lager im mauretanischen Nouhadhibou, das im Zuge eines Kooperationsvertrags mit den Europäern errichtet wurde. Die Zukunft der Menschen ist ungewiss. Häufig bringen Mauretaniens Beamte sie in die Wüste, an die Grenze zu Mali oder Senegal. Dort beginnt ihre Reise dann von vorn. Das können auch Kameras, Patrouillenboote und Lager nicht verhindern. »Je mehr sich Europa aber abschottet«, stellt der Filmemacher Yimer klar, »desto gefährlicher wird für die Flüchtlinge der Weg.« Der Autor ist Journalist und lebt in Berlin.

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Wegsehen hilft nicht Warum die EU Flüchtlingen den Weg nach Europa nicht versperren darf. Von Wolfgang Grenz

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eit Mitte Februar kamen nach Angaben der italienischen Regierung über 25.000 »Bootsflüchtlinge« vornehmlich aus Tunesien über das Mittelmeer nach Italien. Die Regierung in Rom sprach von einem »humanitären Notstand« und einem »menschlichen Tsunami«, der über Italien hereinzubrechen drohe. Sie befürchtet, dass wegen der Umbrüche in Nordafrika viele weitere Flüchtlinge folgen werden und hat die EU um Hilfe gebeten. Die übrigen Mitgliedstaaten haben eine solche Hilfe jedoch abgelehnt. Italien müsse mit dem Problem allein fertig werden. Gleichzeitig flohen bis Anfang Mai über 460.000 Menschen aus Libyen nach Ägypten und Tunesien. Rund 10.000 von ihnen wurden vom Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) als Flüchtlinge anerkannt, weitere sind als Asylsuchende registriert. Der UNHCR appellierte Anfang März an die EU und ihre Mitgliedstaaten, besonders Schutzbedürftige unter den anerkannten Flüchtlingen im Rahmen eines Programms der Neuansiedlung (»resettlement«) aufzunehmen. Bisher sind die Mitgliedstaaten der EU diesem Appell jedoch nicht gefolgt. In der europäischen Öffentlichkeit spielt die Hilfe für die in Tunesien und Ägypten gestrandeten Menschen so gut wie keine Rolle. Auch der Appell des UNHCR, Flüchtlinge aufzunehmen, blieb bisher weitgehend unbeachtet. Umso mehr richtete sich die Aufmerksamkeit auf den Streit zwischen Italien und den anderen EU-Staaten. Als Konsequenz will die EU nun mit Hilfe der Grenzschutzagentur Frontex die Außengrenzen noch stärker kontrollieren. Hier zeigt sich, wie zwiespältig die EU-Politik ist: Immer wieder bekennt sich die EU zwar zum Schutz von Flüchtlingen auf der Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention. Zugleich will sie aber die »irreguläre Migration« verhindern. Nach Beobachtung von Amnesty International steht in der Praxis der Flüchtlingsschutz klar hinter der Bekämpfung der »irregulären Migration« zurück, was häufig zu Verstößen gegen die Grundsätze des internationalen Flüchtlingsschutzes und zu Verletzungen der Menschenrechte von Migranten führt. Nach dem Prinzip der »Staatensouveränität« kann ein Staat selbst entscheiden, ob er Menschen, die nicht seine Staatsangehörigkeit besitzen, bei sich einreisen lässt und ihnen ein Aufenthaltsrecht gewähren will. Ein Menschenrecht auf Einwanderung gibt es bisher nicht. Doch selbst wenn Migranten keinen Anspruch auf Aufnahme haben, müssen sie menschenwürdig untergebracht, versorgt und medizinisch behandelt werden. Das Prinzip der Staatensouveränität wird dann durchbrochen, wenn Menschen die Grenzen eines Staates erreichen und um Asyl nachsuchen, also angeben, dass sie Flüchtlinge im Sinne der Flüchtlingskonvention sind. Danach gilt als Flüchtling,

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wer sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er seinen ständigen Wohnsitz hat, und wer wegen seiner Hautfarbe, Religion, Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen oder sozialen Gruppe sowie wegen seiner politischen Überzeugung eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung hat. Nach den Grundlagen des internationalen und europäischen Flüchtlingsrechts müssen die Staaten diesen Menschen Zugang zu einem fairen und effektiven Asylverfahren gewähren, in dem ihre Verfolgungsgründe überprüft werden. Hier gilt der Grundsatz des »non-refoulement«, d.h. das Verbot der Zurückschiebung, Abschiebung und Auslieferung von Flüchtlin-

Recht auf menschenwürdige Unterbringung und Versorgung. Flüchtlinge auf der

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gen, der in Artikel 33 der Genfer Flüchtlingskonvention verankert ist. Dieses Abschiebungsverbot bietet einen »vorwirkenden« Schutz: Solange in einem fairen Verfahren nicht festgestellt worden ist, dass jemand nicht die Kriterien eines Flüchtlings erfüllt, gilt dieser Schutz auch für Asylsuchende. Eine pauschale Zurückweisung wäre daher ein Verstoß gegen die Konvention. Einige Staaten versuchen daher, mögliche Asylsuchende abzufangen, bevor sie ihre Grenzen erreichen. Eine solche Praxis, wie sie von Mittelmeeranrainerstaaten ausgeübt wird, stellt nach Ansicht von Amnesty International aber ebenfalls einen Verstoß gegen die Genfer Konvention und gegen die Menschenrechte dar – es gibt keine menschenrechtsfreien Räume, auch nicht auf hoher See. Diese Politik hat aber beispielsweise Italien seit 2009 betrieben: Nachdem das Land zuvor einen »Freundschaftsvertrag« mit der Regierung in Tripolis geschlossen hatte, hinderte Libyen mögliche Asylsuchende daran, nach Europa zu gelangen. Gleichzeitig nahm Libyen Flüchtlinge, die von den italienischen Grenzbehörden abgefangen worden waren, wieder zurück. Sie wurden inhaftiert und zum Teil in der Haft misshandelt. Für diese menschenrechtswidrige Kooperation wurde Libyen von der EU sogar gelobt. Die EU ist außerdem dabei, die Migrationskontrolle in Länder außerhalb Europas auszulagern. Der Flüchtlingsschutz wird allerdings untergraben, wenn er in Staaten stattfinden soll, in denen es zu zahlreichen Menschenrechtsverletzungen kommt.

Amnesty hat dokumentiert, dass Asylsuchende zum Beispiel in Mauretanien und Libyen inhaftiert und misshandelt wurden. Die EU hat darüber hinwegesehen – für sie ist entscheidend, dass mögliche Asylsuchende frühzeitig abgefangen werden. Indem man die Grenzkontrollen an den Küsten des Mittelmeers und auf hoher See verschärft, werden die Fluchtursachen nicht beseitigt. Wenn die politische Unterdrückung bestehen bleibt und die Menschen keine Lebensperspektive in ihren Herkunftsländern sehen, werden sie weiterhin hohe Risiken eingehen und unter Lebensgefahr versuchen, in ein Land zu reisen, in dem sie sich ein sicheres Leben erhoffen. Die EU sollte Tunesien, Ägypten und nach dem Sturz Gaddafis auch Libyen tatkräftig auf dem Weg zu einer Demokratie unterstützen, in der es keine Menschenrechtsverletzungen mehr gibt. Sehr wichtig ist dabei eine umfassende wirtschaftliche Unterstützung, damit die Menschen nicht unter Lebensgefahr eine Perspektive in Europa suchen müssen. Der Autor ist Abteilungsleiter und Flüchtlingsexperte bei der deutschen Sektion von Amnesty International.

flucht aus liByen Italien ca. 25.000 Tunesien 285.074

Algerien 14.126

Libyen

Niger 54.209

Ägypten 237.330

Tschad 17.218

Sudan 2.800

Mitte Februar bis Ende April 2011 (Quelle: IOM)

Foto: Antonello Nusca / Polaris / laif

duBlin ii

italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa, März 2011.

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FLUCHT NACH EUROPA

Der aktuelle Streit zwischen der italienischen Regierung und der Europäischen Union sowie die menschenrechtswidrige Behandlung von Asylsuchenden in Griechenland machen deutlich, dass das Verteilungssystem innerhalb der EU nach der sogenannten Dublin II-Verordnung nicht funktioniert. Diese sieht vor, dass für die vorübergehende Aufnahme von Asylsuchenden der Staat zuständig ist, in den sie innerhalb der EU zuerst eingereist sind. Diese Regelung betrifft die Staaten an den Außengrenzen der EU mehr als die Staaten in der Mitte Europas. Amnesty International fordert daher die Schaffung eines gerechteren Verteilungssystems, das neben den Wünschen der Asylsuchenden auch die Bevölkerungsgröße und das Bruttosozialprodukt der Mitgliedstaaten berücksichtigt.

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»Wir haben uns in der Ignoranz eingerichtet«

Rund die Hälfte aller Europäer ist der Meinung, dass es zu viele Zuwanderer im eigenen Land gibt. So lautet das Ergebnis der Studie »Die Abwertung der Anderen« zu Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung in Europa. Ein Gespräch mit Andreas Zick, Sozialwissenschaftler und Mitautor der Studie. »Was kosten sie?« Flüchtlinge an der Grenze von Libyen und Tunesien, März 2011.

Das Thema Flüchtlinge bestimmt derzeit die öffentliche Debatte. Steigt die Fremdenfeindlichkeit in Europa? Mich beunruhigt, dass die Flüchtlinge auf ein Europa treffen, in dem Vorurteile schon weit verbreitet sind. Unsere bisherigen Studien über Migration weisen darauf hin, dass wir mit einem Anstieg von Fremdenfeindlichkeit rechnen müssen. Ein Indiz dafür ist auch die Art und Weise, wie wir über Flüchtlinge reden. Ganz schnell tauchen in den Medien wieder Begriffe wie »Asylanten« oder »Asylantenschwemme« auf. Der italienische Innenminister hat im Februar vor einem »biblischen Exodus« gewarnt … Ja, das sind die alten Bilder: »Das Boot ist voll«, »biblischer Exodus«, Überfremdung, Wirtschaftsflüchtlinge oder der Begriff der »Heuschrecken«. Diese Begriffe aus den neunziger Jahren finden wir jetzt wieder. Hat sich nichts geändert? Teilweise, aber wir sollten uns nichts vormachen. Wir leben in einer Gesellschaft, in der Vorurteile weiter verbreitet sind als wir annehmen. Und die Frage des Umgangs mit Flüchtlingen ist immer die Frage, ob wir anderen Menschen dieselben Rechte zugestehen wollen, die wir uns selbst auch zugestehen. Wie tolerant sind die Europäer? Gemessen am Ausmaß der Vorurteile sind weite Teile tolerant.

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Aber wir sehen auch, dass zum Beispiel rund ein Drittel der deutschen Bevölkerung Multikulturalismus ablehnt und Vielfalt für ein Problem hält. Am deutlichsten zeigt sich das beim Islam: Rund 80 Prozent der Deutschen finden, dass er eher nicht oder überhaupt nicht zu unserer Kultur passt. Das ist ein sehr exklusives Verhältnis zu Multikulturalismus. Gleichzeitig geben 70 Prozent der Befragten an, dass Zuwanderer eine Bereicherung für die eigene Kultur darstellen … Ja, man sieht hier eine hohe Ambivalenz: Einerseits will man Kultur als Bereicherung und man will das Exotische. Auf der anderen Seite möchte man aber selbst definieren, was Bereicherung ist. Den Italiener in der Pizzeria um die Ecke akzeptieren wir. Aber der Flüchtling, der sozusagen nichts zu bieten hat, wird abgelehnt. Flüchtlinge werden dann nicht als Gruppe gesehen, die nach dem Grundrecht Unterstützung bekommen müsste, sondern als ökonomische Größe: »Was kosten sie?« und »Was für eine Belastung sind sie?« Gibt es eine »Hierarchie der Ausländer«? Ganz klar. Selbst als wir Studierende zu diesem Thema befragt haben, ordneten sie Asylbewerber ganz unten in der Hierarchie ein. Außerdem existieren über diese Menschen eindeutige Stereotype. Da ist die Angst vor den »jungen Männern«, die kommen und gewalttätig und unordentlich sind. Wobei das natürlich ein Irrtum ist.

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und Demokratiebildung betrifft, das reicht aber noch nicht aus. Wenn es um Diskriminierung geht, schauen wir in Europa zu sehr weg. Wir haben uns in der Ignoranz eingerichtet. In Deutschland ist das Ausmaß an autoritärer Rechtsorientierung stark verbreitet: In unseren Befragungen gibt es immer 70 bis 80 Prozent der Bürger, die härter gegen Unruhestifter und Außenseiter vorgehen wollen. Mit welchem Ergebnis Ihrer Studie haben Sie nicht gerechnet? Ich habe nicht mit der starken Ablehnung des Islams gerechnet. Alarmierend ist auch, dass in Deutschland Islamfeindlichkeit und Antisemitismus vor allem in der einkommensstarken Bevölkerungsschicht angestiegen sind.

In Europa wird die Demokratiebewegung in der arabischen Welt euphorisch befürwortet, aber Grundrechte wie Reisefreiheit will man den Menschen nicht zugestehen … Wenn wir in Deutschland nach Migration fragen, fragen wir immer nach Sicherheit. Und alles, was diese Sicherheit in irgendeiner Weise bedroht, wird erst einmal abgelehnt. Wir haben nach der »grünen Revolution« im Iran 2009 untersucht, ob sich in Deutschland die Einstellung gegenüber Muslimen positiv verändert hat. Im Ergebnis konnten wir keine Veränderung feststellen, vielmehr wurden die alten Stereotypen bestätigt. Die Niederländer haben in der Studie etwas besser abgeschnitten als die restlichen Europäer … Die Niederländer machen etwas sehr viel besser und etwas sehr viel schlechter: Sie pflegen zwar weniger Vorurteile, favorisieren aber ein Gesellschaftskonzept, das interkulturellen Austausch verhindert. Man akzeptiert sich – aber nur auf Distanz. Die Bereitschaft, mit anderen gesellschaftlichen Gruppen zu leben, ist sehr gering ausgeprägt. Eine Folge dieses Konzepts ist, dass der Rechtspopulismus seinen Platz findet. Auch in Frankreich, Ungarn und Finnland gewinnen rechtspopulistische Parteien an Boden. Müssen wir uns um die europäischen Demokratien Sorgen machen? Als Vorurteils- und Konfliktforscher macht man sich vermutlich immer Sorgen. Wir sehen positive Tendenzen, was Demokratie

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FLUCHT NACH EUROPA

Und wieso muss gerade der Islam als Feindbild herhalten? Islamfeindlichkeit ist ein Phänomen der Terroranschläge vom 11. September 2001. Stereotype gegenüber Muslimen gab es bereits vorher, doch die Feindlichkeit entstand vor allem nach dem Anschlag. Man unterstellte der Religion, dass sie den Terrorismus verursache. Die derzeitigen demokratischen Entwicklungen in Nordafrika bieten deshalb eine große Chance für Europa, nochmals zu verhandeln, in welcher Form der Islam Teil unserer Gesellschaft sein kann. Was kann man präventiv gegen Fremdenfeindlichkeit tun? Schutzfaktor Nummer eins ist Bildung. Und dabei meine ich demokratische Grundbildung. Vor Vorurteilen und Diskriminierung schützen außerdem positive Kontakte, Austausch und Freundschaften mit Angehörigen einer Minderheit. Eine wichtige Rolle spielt auch die Zivilcourage: Wir sollten aufmerksam sein und bei Notfällen nicht wegschauen. Vor allem müssen wir aber Verantwortung übernehmen – ohne die geht es nicht. Fragen: Ralf Rebmann

interview andreas zicK Foto: Amnesty

Foto: Antonio Zambardino / Contrasto / laif

Wie lässt sich die Radikalisierung dieser Schicht erklären? Wir beobachten, dass der Rechtspopulismus sehr stark in die Mitte der Gesellschaft drängt, was unter anderem am Misstrauen gegenüber etablierten Parteien und der Politik liegt. Gleichzeitig erleben wir eine gesellschaftliche Zersplitterung und Orientierungslosigkeit. Wenn eine Gesellschaft nach ökonomischen Prinzipien funktionieren muss und die Krise eintritt, führt das dazu, dass Randgruppen, die angeblich nichts zur Gesellschaft beitragen, in den Fokus geraten.

Andreas Zick ist Professor am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld. Zusammen mit Beate Küpper und Andreas Hövermann untersuchte er in der Studie »Die Abwertung der Anderen« das Ausmaß von Vorurteilen und Diskriminierung in Europa. Die Studie ist im Auftrag des Projekts »Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus« des Forum Berlin der FriedrichEbert-Stiftung entstanden und unter folgender Adresse abrufbar: www.fes-gegen-rechtsextremismus.de.

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Berichte

36 Report: Zur Lage der Menschenrechte 38 Bahrain und Saudi-Arabien: Blutige Perlen 40 Syrien: Aufstand gegen Assad 42 Jemen: Ansteckende Proteste 43 Ungarn: Kampagne gegen Regierungskritiker 46 Interview: Frauenrechte in El Salvador

Mobile Revolution. Demonstranten feiern in Kairo den R체cktritt von Pr채sident Mubarak, 12. Februar 2011. Foto: Lefteris Pitarakis / AP

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Neue Instrumente im Kampf gegen die Unterdrückung Ein Auszug aus dem Vorwort des Amnesty Reports 2011. Von Salil Shetty, internationaler Generalsekretär von Amnesty International 2010 wird möglicherweise als ein Jahr der Zeitenwende in die Geschichte der Menschenrechte eingehen: Menschenrechtsverteidiger und Journalisten bedienten sich zunehmend neuer Technologien, um die Mächtigen mit der Wahrheit zu konfrontieren und auf diese Weise auf eine stärkere Einhaltung der Menschenrechte zu dringen. Es war auch das Jahr, in dem einige repressive Regierungen damit rechnen mussten, dass ihre Tage gezählt sind. Informationen zu besitzen, verleiht Macht, und für Menschen, die sich gegen den Missbrauch der Macht durch Staaten und andere Institutionen wehren, sind dies bewegte Zeiten. Der Kampf zwischen denen, die Menschenrechtsverstöße begehen, und den mutigen und einfallsreichen Menschen, die diese Verstöße an die Öffentlichkeit bringen, währt schon lange. Amnesty International hat seit ihrer Gründung vor einem halben Jahrhundert schon ähnlich bedeutsame Verschiebungen in diesem Machtgefüge beobachtet und mitgestaltet. (…) Seit nunmehr 50 Jahren bedient sich Amnesty International der jeweils modernsten technischen Innovationen, um den Machtlosen und Entrechteten eine Stimme zu geben. Von Fernschreiber, Fotokopierer und Faxgerät über Radio, Fernsehen und Satellitenkommunikation bis hin zu Telefon, E-Mail und Internet nutzen wir alle Möglichkeiten, um möglichst viele Menschen zu mobilisieren. Diese Instrumente haben den Kampf für die Menschenrechte vorangebracht, trotz ausgeklügelter Versuche von Regierungen, den Informationsfluss zu stoppen und die Kommunikation zu zensieren. Die Online-Plattform Wikileaks, die es sich zum Ziel gesetzt hat, Dokumente aus einer Vielzahl von Quellen ins Internet zu stellen, begann 2010 damit, die ersten von Hunderttausenden geheimer Dokumente zu veröffentlichen, die ihr Bradley Manning, ein IT-Spezialist der US-Armee, zugespielt haben soll. Dem 22-Jährigen, der sich derzeit in Untersuchungshaft befindet, droht eine Haftstrafe von möglicherweise mehr als 50 Jahren, sollte er wegen Spionage und anderer Straftaten schuldig gesprochen werden. Wikileaks hat für Whistleblower, die auf Missstände hinweisen wollen, einen weltweit zugänglichen »Abladeplatz« für ihre Dokumente geschaffen. Die Verbreitung und Veröffentlichung geheimer und vertraulicher Regierungsdokumente demonstrierte die Macht dieser Plattform. Dass Wikileaks auch einen

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Beitrag für die Sache der Menschenrechte leistet, hat Amnesty International bereits 2009 anerkannt, als die Plattform Informationen zu Menschenrechtsverletzungen in Kenia ins Internet stellte. Doch es waren die ganz klassischen Zeitungsjournalisten und politischen Analysten, die sich durch das Dickicht der Rohdaten kämpften, sie auswerteten und darin Beweise für Straftaten und Menschenrechtsverletzungen fanden. Zur Verbreitung dieser Informationen standen politisch engagierten Menschen neue Kommunikationsmittel wie Mobiltelefone und die Internetseiten sozialer Netzwerke zur Verfügung, mit deren Hilfe Menschen mobilisiert werden konnten, um öffentlichen Druck auszuüben. Ein eindrückliches und zugleich tragisches Beispiel dafür, welche Wirkung eine individuelle Handlung erzielen kann,

Bilder für eine bessere Zukunft. Tahrir-Platz in Kairo, Januar 2011.

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Zine El ’Abidine Ben ’Ali. Er verließ das Land und suchte Zuflucht im saudi-arabischen Jiddah. Die Menschen in Tunesien feierten das Ende einer über zwanzig Jahre währenden undemokratischen Herrschaft und stellten die Weichen für den Aufbau eines partizipatorischen und rechtsstaatlichen Regierungssystems mit freien Wahlen. Der Sturz von Ben ’Ali hatte spürbare Auswirkungen auf die Region und die gesamte Welt. Für Regierungen, die darauf gründen, abweichende Meinungen durch Folter und Repression zu unterdrücken, und die Reichtum angehäuft haben, der auf Korruption und Ausbeutung beruht, drohte es ungemütlich zu werden. Auch die herrschenden Eliten in den betreffenden Ländern und die ausländischen Regierungen, die diese illegitimen Regime stützten, während sie gleichzeitig Demokratie und Menschenrechte predigten, wurden zusehends nervös. Der Umbruch in Tunesien löste in Windeseile Unruhen in anderen Ländern aus. Auch in Jordanien, Algerien, im Jemen und in Ägypten gingen Menschen auf die Straße. In Ägypten griffen die Proteste auf das ganze Land über. (…) Politiker, die bürgerliche und politische Rechte höher bewerten als wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (oder umgekehrt), konnten angesichts der Proteste erkennen, dass dies ein falscher Gegensatz ist. Das zeigte die Vehemenz, mit der die Menschen ihre Frustration über den Mangel an politischer wie ökonomischer Teilhabe zum Ausdruck brachten. Weder das eine, noch das andere zu haben, ist eine Erfahrung, die sie mit Millionen, wenn nicht Milliarden Menschen auf der ganzen Welt teilten. Amnesty International Report 2011. Zur weltweiten Lage der Menschenrechte. S. Fischer Verlag 2011, 559 Seiten, 14,95 Euro

Foto: Victoria Hazou / AP

Foto: Zohra Bensemra / Reuters

wenn sie durch die neuen Instrumente der virtuellen Welt verstärkt wird, ist die Geschichte des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi. Er verbrannte sich im Dezember 2010 in der tunesischen Stadt Sidi Bouzid vor dem Rathaus, weil er die Schikanen durch die Polizei, die Erniedrigung, die wirtschaftliche Not und das Ohnmachtsgefühl, das er mit vielen jungen Menschen in Tunesien teilte, nicht mehr ertrug. Die Nachricht von seiner verzweifelten Auflehnung verbreitete sich über Mobiltelefone und das Internet schnell in ganz Tunesien und bahnte der seit langem schwelenden Unzufriedenheit mit dem repressiven Staatsapparat neue Wege. Mohamed Bouazizi starb an seinen Verbrennungen, doch seine Wut lebte in Form von Straßenprotesten im ganzen Land weiter. Viele engagierte Bürgerinnen und Bürger Tunesiens, Gewerkschafter, Oppositionelle und viele junge Menschen, die sich zum Teil über soziale Netzwerke im Internet verständigten, gingen auf die Straße und demonstrierten ihr Mitgefühl für das Schicksal von Mohamed Bouazizi. Gemeinsam forderten erfahrene und junge Protestierende unter Einsatz der neuen Instrumente ein repressives System heraus. Die tunesische Regierung versuchte, eine totale Mediensperre zu verhängen und blockierte den Zugang zum Internet, doch dank der neuen Technologien verbreiteten sich die Nachrichten dennoch in der gesamten Welt. Die Menschen auf der Straße machten deutlich, dass sich ihr Zorn sowohl gegen die brutale Unterdrückung richtete, unter der all diejenigen litten, die sich gegen das autoritäre System aufzulehnen wagten, als auch gegen die wirtschaftliche Misere des Landes, die zum Teil auf die Korruption der Regierung zurückzuführen war. Im Januar 2011, knapp einen Monat nach der Verzweiflungstat von Mohamed Bouazizi, stürzte die Regierung von Präsident

Seine Verzweiflungstat veränderte Tunesien. Grafitti in der Heimatstadt von Mohamed Bouazizi.

BERICHTE

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Blutige Perlen Mit Gewalt und Geldgeschenken versuchen die Regierungen der Golfstaaten, die aktuellen Protestaktionen zu unterbinden. Von Regina Spöttl Seit Tausenden von Jahren handeln die Bewohner des bahrainischen Archipels im Arabischen Golf mit Perlen, die als die schönsten und wertvollsten im Orient gelten und lange Zeit den Wohlstand des Landes begründeten. Den Kindern erzählt man noch heute das Märchen von den Muscheln, die bei Regen an die Meeresoberfläche steigen, um zu trinken. Die Wassertropfen werden dann zu schimmernden Perlen. Eine große Perle zierte bis vor kurzem auch die imposante Skulptur auf Manamas dawar al-lulua, dem »Perlenplatz«. Sie ruhte auf sechs elegant gebogenen Säulen, welche die Zusammenarbeit der sechs Mitgliedsstaaten des Golf-Kooperationsrates versinnbildlichten. Im Februar wurde der »Perlenplatz« jedoch zum tragischen Symbol. Ermutigt und inspiriert durch die erfolgreichen Bürgerproteste in Tunesien und Ägypten riefen Menschenrechtler und oppositionelle Gruppierungen der schiitischen Minderheit in Bahrain zu einem »Tag des Zorns« am 14. Februar 2011 auf, dem zehnten Jahrestag des Referendums, bei dem das bahrainische Volk einst für umfassende Reformen, freie Wahlen und die Einführung einer konstitutionellen Monarchie gestimmt hatte. Seitdem ist kaum eine dieser Ideen umgesetzt worden, im Gegenteil. Die Herrscherfamilie um König Hamad bin ’Issa alKhalifa hält noch immer die absolute Macht in Händen, das von ihr ernannte Oberhaus des Parlaments kann mit seinem Veto jedes neue Gesetz blockieren. Rund 80 Prozent der bahrainischen Bevölkerung sind Schiiten und fühlen sich von der Königsfamilie diskriminiert, welche der sunnitischen Minderheit angehört. In den vergangenen Jahren hat sich auch die Lage der Menschenrechte kontinuierlich verschlechtert. Menschenrechtsorganisationen mussten ihre Arbeit einstellen und ihre Vorsitzen-

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den sahen sich Schikanen und Reiseverboten ausgesetzt. Die Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit wurden massiv unterdrückt, Kritik am Königshaus war unerwünscht. Am 14. Februar versammelten sich Tausende Demonstranten auf dem »Perlenplatz« in Manama und wurden dort ohne Vorwarnung von Sicherheitskräften angegriffen. Es gab zwei Tote und viele Verwundete. Die Sicherheitskräfte hinderten Ärzte und Sanitäter daran, den Verletzten zu helfen und blockierten die Zufahrtswege zu den Krankenhäusern. Die Demonstranten errichteten auf dem »Perlenplatz« eine Zeltstadt, und wollten dort so lange ausharren, bis sie ihre Ziele erreicht hatten: politische und soziale Reformen und Chancengleichheit. Doch es kam anders. In den frühen Morgenstunden des 17. Februar überfielen Sicherheitskräfte das Lager. Fünf Menschen fanden bei diesen Übergriffen den Tod, Hunderte wurden verletzt. Ein aus nächster Nähe abgefeuerter Schuss traf den 60jährigen ’Isa ’Abdulhassan tödlich in den Kopf. Der 23 Jahre alte ’Ali Ahmed ’Abdullah ’Ali al-Mo’men starb wenig später im Krankenhaus an den Folgen mehrerer Schussverletzungen. Der König verhängte daraufhin den Ausnahmezustand. Die Lage verschärfte sich erneut, als bekannt wurde, dass die bahrainische Regierung den Golf-Kooperationsrat um Militärhilfe gegen das eigene Volk ersucht hatte. Rund tausend saudiarabische Soldaten überquerten daraufhin den 26 Kilometer langen King-Fahad-Causeway, der Bahrain mit dem Festland verbindet, und griffen in die Kämpfe gegen die Demonstranten ein. Militär und Polizisten aus Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten wurden ebenfalls nach Bahrain verlegt. Vor allem Saudi-Arabien kam der Bitte der bahrainischen Regierung um Eingreiftruppen bereitwillig nach und sieht in den

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Foto: Andrea Bruce / The New York Times / Redux / laif

Kein Geld der Welt kann Freiheit, Bürgerrechte und Demokratie aufwiegen. Verletzter Demonstrant in Manama, 15. Februar 2011.

Aufständen in Bahrain offenbar auch eine Gefahr für das eigene Land. Die Ostregion des Königreiches ist eine Hochburg der schiitischen Minderheit, die auch in Saudi-Arabien nicht dieselben Rechte genießt und sich deshalb diskriminiert fühlt. Wie leicht könnte die Welle des Protestes über die Meerenge zwischen den beiden Ländern schwappen, angefeuert von Stimmen aus dem Iran, die den sofortigen Rückzug Saudi-Arabiens aus Bahrain fordern und dem seit langem anhaltenden Kampf der beiden Länder um die Vormachtstellung und den Führungsanspruch in der islamischen Welt neuen Zündstoff liefern. Bislang sind größere Demonstrationen und Protestaktionen in Saudi-Arabien durch den massiven Einsatz von Sicherheitskräften im Keim erstickt worden. Trotz des Demonstrationsund Versammlungsverbotes kam es im März unter anderem in al-Qatif und Hofuf zu Kundgebungen, bei denen jeweils rund 200 Menschen für die Freilassung schiitischer Häftlinge demonstrierten. 24 Personen kamen vorübergehend in Haft und wurden erst entlassen, als sie Erklärungen unterschrieben, in denen sie sich dazu verpflichteten, nicht mehr an Demonstrationen teilzunehmen. Dass die Regierung in Riad zunehmend nervöser wird, belegt eine Verlautbarung der führenden Islam-Gelehrten des Landes, in der Protestdemonstrationen als »sündig« gebrandmarkt werden. Der saudische Außenminister Prinz Saud al-Faisal sagte kürzlich anlässlich einer Pressekonferenz in Jeddah, dass Reformen nicht durch Demonstrationen durchzusetzen seien. Ein Dialog wäre vielmehr der richtige Weg. Doch auf diesen Schritt warten die saudi-arabischen Regierungskritiker und Reformer bislang vergebens. Zur Besänftigung des Volkes hat König Abdullah jüngst großzügige finanzielle Zuwendungen an alle Bür-

Berichte

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Bahrain / saudi-araBien

ger des Königreichs angekündigt. Das Benefizpaket umfasst angeblich 35 Milliarden US-Dollar. Doch kein Geld der Welt kann Freiheit, Bürgerrechte und Demokratie aufwiegen. Menschenrechtler und Oppositionelle geben sich weiterhin kämpferisch. Sie fordern mutig einen radikalen politischen Wandel im Königreich: eine konstitutionelle Monarchie, eine demokratische Verfassung, freie Wahlen, Menschenrechte sowie die Freilassung aller politischen Gefangenen. Der politische Wechsel in Bahrain muss nach den brutal niedergeschlagenen Protestaktionen für den Augenblick als gescheitert angesehen werden. Im Land herrscht weiterhin der Ausnahmezustand, den 400 noch immer inhaftierten Demonstranten drohen Gerichtsverfahren, mindestens drei von ihnen kamen unter ungeklärten Umständen im Gewahrsam ums Leben. Mitte April wurde der bekannte Menschenrechtler ’Abdulhadi Alkhawaja zusammen mit seinen beiden Schwiegersöhnen in seinem Haus festgenommen. Der Aufenthaltsort der drei Männer ist unbekannt. Die größte Oppositionszeitung »Al-Wasat« und deren Online-Ausgabe wurde verboten und durfte erst wieder erscheinen, nachdem der Chefredakteur und zwei weitere kritische Mitarbeiter ihre Kündigungen erhalten hatten. Das Zeltlager der Demonstranten am »Perlenplatz« wurde dem Erdboden gleichgemacht und das Symbol der Demokratiebewegung, die Skulptur mit der Perle an der Spitze, gibt es nicht mehr. Bauarbeiter haben sie auf Befehl der Regierung am 18. März mit Hämmern und Schlagbohrern zum Einsturz gebracht. Die Autorin ist Sprecherin der Amnesty-Ländergruppe Saudi-Arabien und Golfstaaten.

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Aufstand gegen Assad »Das Volk will den Sturz des Regimes.« Demonstranten in der syrischen Hafenstadt Banias, 22. April 2011.

Mit größter Brutalität versucht die syrische Regierung von Baschar al-Assad, die landesweite Rebellion zu unterdrücken. Von Larissa Bender Während die Fernsehzuschauer die Revolution auf dem Kairoer Tahrir-Platz zeitweise in einer 24-Stunden-Übertragung mitverfolgen konnten, stellt sich die mediale Situation in Syrien gänzlich anders dar. Schon kurz nach Beginn der ersten Proteste wurden nahezu alle ausländischen Journalisten des Landes verwiesen. Inländische Journalisten, die objektiv über die Demonstrationen berichteten, wurden bedroht und sogar misshandelt. Überraschend hatte die Regierung zwar bereits im Februar das seit langem bestehende Verbot von Facebook und YouTube aufgehoben. Dabei war sie sich der Bedeutung dieser Medien für die Aufstände der sogenannten Facebook-Generation durchaus bewusst. Was als Zugeständnis an die Bevölkerung ausgegeben wurde, diente in Wirklichkeit nur dazu, dem Geheimdienst die Überwachung zu erleichtern. Der Aufstand begann am 15. März, als es zu ersten Demonstrationen in Damaskus und in Qamischli kam. Größere Protestkundgebungen ereigneten sich in der Kleinstadt Deraa an der Grenze zu Jordanien. Dort hatten Jugendliche, inspiriert durch die Ereignisse in Tunesien und Ägypten, die Parole »Das Volk will den Sturz des Regimes« an Hauswände geschrieben. Sie wurden von den Sicherheitskräften verhaftet und – so heißt es – schwer misshandelt. Die Familienangehörigen demonstrierten daraufhin für die sofortige Freilassung ihrer Kinder, die Sicherheitskräfte reagierten mit größter Brutalität. Als mehrere Tote zu beklagen waren, eskalierte die Situation. Die islamische Tra-

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dition, Tote spätestens nach einem Tag zu beerdigen, hat stets große Beerdigungsumzüge zur Folge, in deren Rahmen es wiederum zu Protesten kam. Schon bald wurden auf den Demonstrationen auch politische Reformen und ein Ende der Korruption gefordert. Als die Sicherheitskräfte angesichts der zunehmenden Proteste die Kontrolle verloren, schickte das Regime die dem Bruder des Präsidenten Maher al-Assad unterstehende Vierte Division nach Deraa, die als besonders loyal und brutal gilt. Die Stadt wurde von der Stromversorgung abgeschnitten, das Telefonnetz gekappt, das Wasser abgesperrt. Nachdem das Militär die Stadt schließlich über zehn Tage belagert und dabei Dutzende Menschen getötet und Hunderte verhaftet hatte, legte sich der Protest. Am 6. Mai, dem »Freitag der Herausforderung«, bei dem im ganzen Land Hunderttausende auf die Straßen gingen, herrschte in Deraa nahezu Grabesstille. Als Reaktion auf das brutale Vorgehen der Armee in Deraa forderten die Demonstranten landesweit nun nicht mehr nur Reformen, sondern den Sturz des Regimes. Auf die Versuche des Regimes, durch bewaffnete Schlägerbanden, sogenannte Schabiha, konfessionelle Unruhen zu schüren und Angst zu verbreiten, reagierten die Demonstranten mit den Rufen: »Syrien ist eins!«, »Kein Konfessionalismus!« und »Wir sind keine Salafiten und keine bewaffneten Banden!« Trotzdem geht das Regime unter dem Vorwand, bewaffnete Gruppen zu bekämpfen, in den Hochburgen der Proteste weiterhin mit brutaler Gewalt vor. Auch Banias, Homs, Muaddamia, Anchal und viele andere Städte sind seitdem von der Außenwelt abgeschnitten und von Panzern umstellt. Auf den Dächern wer-

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Foto: Reuters

den Heckenschützen postiert, anschließend rückt das Militär ein, durchkämmt Haus für Haus und nimmt alle Männer zwischen 15 und 40 Jahren fest. Anfang Mai ist nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen die Zahl der Getöteten in ganz Syrien bereits auf über 900, die der Festgenommenen auf mindestens 11.000 gestiegen. Die tatsächlichen Zahlen dürften jedoch weitaus höher liegen. Die Gefängnisse sind völlig überfüllt, die Menschen werden in eigens errichteten Lagern und in Sportstadien untergebracht. Folter ist an der Tagesordnung. Nach Informationen von Amnesty International werden die meisten Gefangenen an unbekannten Orten festgehalten und können weder von ihren Anwälten noch ihren Familien Besuch erhalten. Ein Häftling berichtete Amnesty, er sei mit Gewehrkolben, Kabeln und Stöcken geschlagen worden. Ein anderer erzählte, man habe ihm und seinen Mithäftlingen tagelang in überfüllten Räumlichkeiten die Nahrung verweigert, Wasser gab es nur aus einer Toilette. Syriens Präsident Baschar al-Assad, der im Jahr 2000 als Nachfolger seines Vaters zum Präsidenten gewählt wurde, versucht mit aller Härte, die Proteste zu unterdrücken. Dabei galt der in Europa ausgebildete Augenarzt lange Zeit als Hoffnungsträger für ein von der Außenwelt abgeschottetes Land, in dem seit bald vierzig Jahren die sozialistische Baath-Partei regierte. Zum ersten Mal forderten führende Oppositionspolitiker im September 2000 mit dem »Appell der 99« öffentlich die Aufhebung des Ausnahmezustands und politische Reformen. Dies war der Auftakt des sogenannten Damaszener Frühlings, der eine neue Diskussionskultur in Syrien ins Leben rief.

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Zugleich erlebte das Land unter dem neuen Präsidenten einen augenfälligen ökonomischen Wandel: Internet und Mobilfunknetze wurden ausgebaut, ausländische Banken zugelassen, liberale Wirtschaftsgesetze erlassen und das Land für ausländische Investitionen geöffnet. Auch wenn die Korruption zunahm und die Menschen gegen die Vetternwirtschaft der Präsidentenfamilie aufbrachte, entstand in den großen Städten eine neue Mittelklasse, die von der wirtschaftlichen Öffnung profitierte, während die Armut in den ländlichen Gebieten weiter wuchs. Doch Baschar al-Assad ist heute genauso wie bei seinem Amtsantritt weit davon entfernt, grundlegende politische Veränderungen einzuleiten. Schließlich würde er damit die Herrschaft des gesamten al-Assad-Clans aufs Spiel setzen. Bereits 2001 wurden deshalb die ersten Diskussionsforen wieder geschlossen und etliche Oppositionelle ins Gefängnis geworfen. Auch die vorsichtigen Reformversprechen, die die Regierung unter dem Druck der Demonstrationen in den vergangenen Wochen verkündete, ändern nichts an der grundsätzliche Lage. So beschloss die Regierung Ende März, die seit 1963 geltenden Notstandsgesetze aufzuheben. Das Hohe Staatssicherheitsgericht wurde abgeschafft und den rund 250.000 staatenlosen Kurden im Land wurde endlich die Staatsbürgerschaft zuerkannt. Mitte April wurde eine neue Regierung ernannt, die sich jedoch nur unwesentlich von der alten unterscheidet. Diese politischen Zugeständnisse kommen zu spät und sind für die Demonstranten nicht mehr glaubwürdig. Baschar al-Assad hat die gewaltvolle Option gewählt. Die Zukunft des Landes ist völlig offen. Die Autorin ist Journalistin und Arabisch-Übersetzerin.

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Ansteckende Proteste Ob bei der Unterdrückung von Regierungskritikern, der Terrorbekämpfung oder im Konflikt mit bewaffneten Rebellen: Die jemenitische Regierung betreibt eine Sicherheitspolitik, mit der sie fortwährend Menschenrechte verletzt.

Foto: Ahmad Gharabli / AFP / Getty Images

So hatte sich der jemenitische Präsident Ali Abdullah Saleh seine politische Zukunft nicht vorgestellt: Noch Anfang des Jahres präsentierte er einen Gesetzentwurf, der seine erneute Wiederwahl zum Staatsoberhaupt ermöglichen sollte. Vier Monate später sah er sich gezwungen, mit dem Golf-Kooperationsrat und der jemenitischen Opposition über seinen Rücktritt zu verhandeln – unter der Bedingung, Immunität in Bezug auf eine künftige Strafverfolgung zu erhalten. Seit Ende Januar demonstrieren Teile der jemenitische Bevölkerung gegen die Regierung, welche die Proteste mit aller Gewalt niederschlagen lässt. Mindestens 150 Menschen wurden bisher getötet, Hunderte verletzt oder festgenommen. Die Gewalt gipfelte in einem offensichtlich koordinierten Angriff auf Demonstranten am 18. März in der Hauptstadt Sana’a. Augenzeugen zufolge postierten sich Sicherheitskräfte auf Gebäuden

Schüsse in Kopf, Brust und Nacken. Proteste in Sana’a, März 2011.

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und feuerten in die Menge. Der Einsatz kostete 52 Menschen das Leben, viele starben durch Schüsse in Kopf, Brust oder Nacken. Die Demonstrierenden fordern demokratische Reformen, ein Ende der Repression und vor allem den Rücktritt von Präsident Saleh. Dieser sagte, die Forderungen seien nicht Teil der jemenitischen Kultur, sondern ein »Virus« aus Ägypten und Tunesien, der sich in seinem Land ausbreiten und die Bevölkerung anstecken würde. Salehs »Medizin« bestand aus Schusswaffen, Tränengas und Gummigeschossen. Nach Amnesty-Informationen führten die Justizbehörden bisher nur eine einzige Untersuchung zu diesen Vorfällen durch, ohne jedoch deren Ergebnisse zu veröffentlichen. Bislang wurde kein einziges Gerichtsverfahren gegen Angehörige der Sicherheitskräfte eingeleitet. »Die jemenitische Regierung zeigt sich unfähig, die Schuldigen für rechtswidrige Tötungen, Folter oder andere Misshandlungen zur Verantwortung zu ziehen«, sagte Philip Luther, stellvertretender Direktor der Abteilung Mittlerer und Naher Osten und Nordafrika bei Amnesty. Ein aktueller Amnesty-Bericht mit dem Titel »A Moment of Truth for Yemen« dokumentiert, wie brutal jemenitische Sicherheitskräfte vorgingen und wie mangelhaft die Aufarbeitung dieser Menschenrechtsverletzungen ist. Dies gilt auch für die vergangenen Regierungsjahre unter Saleh. 2009 forderte die Militäraktion »Verbrannte Erde« gegen Huthi-Rebellen in der nördlichen Provinz Sa’da Hunderte Menschenleben. Monatelang flogen jemenitische und saudi-arabische Streitkräfte schwere Luftangriffe, die über 300.000 Menschen zur Flucht zwangen. Auf Separationsbestrebungen des Südjemen reagierten die Sicherheitskräfte mit unverhältnismäßiger Gewalt und töteten bei Demonstrationen mehrere Menschen. Hunderte wurden vorübergehend festgenommen. Und auch im Anti-Terrorkampf gegen Al-Qaida wurden vermeintliche Islamisten getötet, ohne im Einzelfall zu überprüfen, ob der Einsatz tödlicher Gewalt gerechtfertigt war. Die Konflikte verdeutlichen den Machtverlust der Zentralregierung, die über manche Regionen faktisch die Kontrolle verloren hat. Hinzu kommen gravierende wirtschaftliche Probleme: Mindestens ein Drittel der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze. Der Grundwasserspiegel sinkt und die Ölproduktion, die wichtigste Einnahmequelle des Landes, geht seit Jahren zurück. Glaubt man der Zeitschrift »Foreign Policy«, ist der Jemen kurz davor, ein »Failed State« zu werden – ein gescheiterter Staat, der grundlegende Funktionen wie Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit nicht mehr garantieren kann. Amnesty hat die jemenitischen Behörden und die internationale Gemeinschaft aufgerufen, die Achtung der Menschenrechte als zentralen Maßstab zu nehmen, um das Land zu stabilisieren. Unabhängige Untersuchungen sind notwendig, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Ein Rücktritt Salehs mit gleichzeitiger Garantie auf Immunität wäre »ein großer Verrat an allen Opfern«, so Malcolm Smart, Leiter der Abteilung Mittlerer und Naher Osten und Nordafrika bei Amnesty. »Welches Signal würde das an andere Staatsoberhäupter senden, die ebenfalls willkürlich inhaftieren, foltern und töten?« Text: Ralf Rebmann

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Foto: Barna Burger / Reuters

»Arbeit, Heim, Familie, Ordnung.« Ministerpräsident Viktor Orbán bei staatstragender Lektüre.

Angetreten, um abzurechnen Im sogenannten »Philosophenprozess« ermittelt die ungarische Justiz wegen angeblicher Veruntreuung von Forschungsgeldern. Tatsächlich ist das Verfahren Teil einer Hetzkampagne gegen prominente liberale Kritiker der nationalkonservativen Regierung Orbán. Von Keno Verseck Der Prozess wurde an einem ungewöhnlichen Ort eröffnet: auf der Titelseite der rechtsnationalen Tageszeitung »Magyar Nemzet« (Ungarische Nation). »Heller und Co. ›verforschten‹ halbe Milliarde«, lautete die Schlagzeile am 8. Januar dieses Jahres. Das regierungstreue, rechtsnationale Blatt verkündete in süffisant-giftigem Ton, dass gegen mehrere prominente liberale Philosophen wegen Verschwendung und Veruntreuung von staatlichen Forschungsgeldern ermittelt werde. Unter anderem betroffen: die 81-jährige Ágnes Heller, seit Jahrzehnten eine der

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bedeutendsten osteuropäischen Denkerinnen. Sie soll, so der Vorwurf, ein Forschungsprojekt über Nietzsche, Heidegger und Lukács für großangelegte Unterschlagungen benutzt haben. Noch bevor Einzelheiten zu den Ermittlungen bekannt wurden, erklärte die »Magyar Nemzet« die Philosophen bereits für schuldig. Sie hätten das Geld – es geht um 1,8 Millionen Euro – 2004/05 von der sozialistisch-liberalen Koalition als Belohnung für ihre liberale Gesinnung erhalten. Sie seien »Meinungsdeformierer«, die danach strebten, die ungarische Heimat zu spalten und sie im Ausland an den Pranger zu stellen. Als Ágnes Heller die Vorwürfe las, fühlte sie sich »gespenstisch« an kommunistische Zeiten erinnert. Seit Ende der fünfziger Jahre wurden sie und ihr Mann, Ferenc Fehér, permanent drangsaliert. Im »Philosophenprozess« von 1973 erhielt Heller zusammen mit anderen regimekritischen Kollegen Berufsverbot, 1977 verließ das Ehepaar Ungarn. »Damals wie heute wur-

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Foto: Alberto Cristofari / A3 / Contrasto / laif

den wir als Liberale diskreditiert«, sagt Ágnes Heller. »Meinem Mann warf man damals Devisenvergehen vor, heute heißt es, ich hätte mich illegal bereichert.« Wochenlang dauerte die als »neuer Philosophenprozess« apostrophierte Kampagne an. Fast täglich erschienen Hetzartikel, wurden die Philosophen in Radio- und Fernseh-Talkshows niedergemacht. Inzwischen ist es in den rechtsnationalen Medien etwas stiller geworden. Einige betroffene Philosophen haben mittlerweile Verleumdungsprozesse gewonnen. So musste unter anderem die »Magyar Nemzet« Gegendarstellungen veröffentlichen. Die Ermittlungen gegen eine Reihe von Philosophen gehen jedoch weiter. Die Kampagne ist Teil eines Feldzuges, den die nationalkonservative Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán gegen ihre Kritiker führen lässt. Orbáns Partei, der »Bund Junger Demokraten – Ungarische Bürgerallianz« (Fidesz-MPP), hat die Wahlen im April 2010 mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit gewonnen und baut Ungarn seitdem radikal um. Es geht um langfristige Machtsicherung, aber auch um die ideologische Vorherrschaft im Land. Zwar kann von liberaler Meinungshegemonie in Ungarn keine Rede sein. Doch Viktor Orbán und viele seiner Parteigänger, die aus ländlichen Gebieten stammen, sind von dem traditionellen Vorurteilskomplex gegen die urbane, plurale Budapester Intellektuellen- und Kulturszene geradezu besessen. Die noch existierenden Zentren kritischer Intellektualität empfinden sie als Störfaktoren. Orbáns Ideal ist ein streng nationalkonservatives, fundamental-christliches »System der Nationalen Zusammenarbeit« aller Ungarn, dessen Wertekanon lautet: »Arbeit, Heim, Familie, Ordnung.« Neben dem im Dezember verabschiedeten und im März nur leicht modifizierten Mediengesetz ist der »Philosophenprozess« der bisher massivste Versuch der Regierung Orbán, die kritische Öffentlichkeit in Ungarn zum Schweigen zu bringen. Während das Mediengesetz Journalisten auf Linientreue einschwören soll, ist die Strategie im Falle der Philosophen die Kriminalisierung. Als Mann fürs Grobe dient der Abrechnungsbeauftragte der Regierung Gyula Budai, vor 1989 Militärstaatsanwalt, später Aktivist des Fidesz-nahen Bauernverbandes MAGOSZ. Er leitet derzeit die Ermittlungen gegen die Philosophen. Abrechnung ist durchaus doppeldeutig gemeint: Budai soll nicht nur die Vergabe von öffentlichen Aufträgen und Fördermitteln unter der sozialistisch-liberalen Regierung von 2002 bis 2010 untersuchen, sondern auch Stimmung machen. Im Februar forderte der Regierungschef Orbán ihn öffentlich zu »mehr Eifer« auf, denn es bestehe »Abrechnungsbedarf«. Doch die Vorwürfe gegen die angeklagten Philosophen sind eher dünn. Sie hätten beispielsweise Forschungsgelder nicht für die vorgesehenen Themen verwendet oder widerrechtlich externe Firmen beauftragt, etwa bei der Datenbankerstellung. Außerdem seien Reisekosten falsch abgerechnet worden. In drei Fällen musste Budai die Ermittlungen einstellen, gegen drei andere Forschungsprojekte wird strafrechtlich weiter ermittelt, auch Ágnes Heller ist betroffen. »Die Vorwürfe sind lächerlich«, sagt die Philosophin. »Ich habe keinen einzigen Fillér (Cent) für die Leitung meines Projektes bekommen.« Ein anderer Betroffener, der Philosoph György Gábor, kann fast aus dem Gedächtnis vorrechnen, was in seinem dreijährigen Forschungsprojekt über Religionsphilosophie wofür ausgegeben wurde. Zudem fand jedes Jahr eine strenge Rechnungsprüfung statt, Gábor selbst bekam drei Jahre lang etwa 340 Euro monatlich für seine Arbeit. »Eigentlich leben wir Philosophen in

Erinnerung an gespenstische Zeiten. Ágnes Heller.

Ungarn recht schäbig«, sagt Gábor, »aber in den Augen der einfachen Leute sind wir jetzt eine Diebesbande, die Milliarden aus Ungarn herausgekarrt hat.« Der »Philosophenprozess« hat auch einen antisemitischen Aspekt. Nichts Geringeres jedenfalls behauptet ausgerechnet der konservative, der Regierungspartei Fidesz nahestehende Philosoph Gábor Gulyás. Mitte Januar warf er rechtsnationalen Medien wie der »Magyar Nemzet« vor, ihre Kampagne sei »offen intellektuellenfeindlich und versteckt antisemitisch«. Prompt geriet er selbst ins Visier des Abrechnungsbeauftragten. Tatsächlich wählte Budai aus 36 Forschungsprojekten genau diejenigen zur Prüfung aus, an denen die bekanntesten liberalen jüdischen Intellektuellen Ungarns mitarbeiteten – neben Ágnes Heller etwa Mihály Vajda oder György Gábor. »Liberal ist heute in den rechten Medien Ungarns gleichbedeutend mit jüdisch«, sagt Ágnes Heller, »so wie zu kommunistischen Zeiten das Wort Kosmopolit Jude bedeutete.« Ungarns oberster staatlicher Kulturpapst, Géza Szöcs, reagiert mit einem langgezogenen Stöhnen, wenn er solche Vorwürfe hört. Szöcs ist Dichter und war vor 1989 einer der wenigen Oppositionellen der ungarischen Minderheit im Rumänien Ceauşescus, bevor er 1986 ins Schweizer Exil ging und sich nach 1989 in Ungarn niederließ. Heute amtiert er im Ministerium für Nationale Ressourcen als Staatssekretär für Kulturangelegenheiten. Den Vorwurf des Antisemitismus weist er entschieden zu-

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rück. »Die Intellektuellen und Künstler, die heute die Regierung Orbán mit Vorwürfen überhäufen, wollen einfach nicht akzeptieren, dass sich ihre Situation geändert hat, dass sie nämlich keine Regierung mehr haben, deren Hofintellektuelle und -dichter sie sind«, sagt Szöcs. Nicht nur die Philosophen passen nicht in diese nationalkonservative, fundamental-christliche Realität. Neben ihnen sind längst auch viele andere Kulturschaffende gebrandmarkt worden – als »Fremdherzige«, »Vaterlandsverräter« und »Verschwörer gegen die Heimat«. Zu den prominentesten zählen die Schriftsteller György Konrád, Péter Esterházy und György Dalos. Noch schlimmer traf es den Pianisten András Schiff. Er hatte sich zu Jahresbeginn in einem Leserbrief an die »Washington Post« besorgt über das Anwachsen von Rassismus, Antiziganismus, Antisemitismus, Xenophobie und Chauvinismus in Ungarn geäußert. In dem rechten Kampfblatt »Magyar Hírlap« (Ungarische Presse) erschien kurz darauf ein antisemitischer Kommentar des bekannten Rechtsaußen-Publizisten Zsolt Bayer, ein Freund von Regierungschef Viktor Orbán und einst Mitbegründer und Pressechef der heutigen Regierungspartei Fidesz. Bayer schrieb unter anderem, Schiff sei ein geistiger Nachfahre ungarisch-jüdischer Bolschewiken aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und suggerierte anspielungsreich, es sei leider nicht gelungen, alle Vertreter dieser Geisteshaltung zu massakrieren. Geschadet haben ihm diese Aussagen nicht. Im Gegenteil. Ende Februar erhielt Bayer von einem Fidesz-Gremium den Madách-Preis, der für besondere Verdienste in den Bereichen Wissenschaft, Literatur und Kunst verliehen wird. Manchmal lautet das vernichtende Etikett auch einfach: »Schwuchtel«. Zu einer solchen wurde in rechten und rechtsextremen Medien Róbert Alföldi erklärt, der Direktor des Budapester Nationaltheaters. Mehrfach bewerteten Vertreter der Regierungsmehrheit seine Inszenierungen in Parlamentsdebatten als »unchristlich« und »unungarisch« und verlangten seine Absetzung. Auch hatte Alföldi der rumänischen Botschaft anlässlich von Rumäniens Nationalfeiertag am 1. Dezember vergangenen Jahres einen Festsaal im Nationaltheater vermieten wollen – obwohl sich Rumänien doch 1920 das einstmals ungarische Siebenbürgen angeeignet hatte. Nach einem öffentlichen Aufschrei sagte Alföldi der Botschaft ab und entschuldigte sich schriftlich. Es half wenig. Rechtsextreme blasen weiterhin zur Hatz auf die »perverse Schwuchtel Alföldi«, im Parlament nennen Abgeord-

»Liberal ist heute gleichbedeutend mit jüdisch, so wie zu kommunistischen Zeiten das Wort Kosmopolit Jude bedeutete.« BERICHTE

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nete der rechtsextremen Jobbik-Partei ihn »Róberta«. Kein Abgeordneter, auch kein oppositioneller, stört sich daran. Unterdessen knöpft sich die Regierung Orbán sogar die moderne Kunst vor. Im Nationalen Entwicklungsministerium werden Dutzende staatlicher Investitionsprojekte aus der Zeit der sozialistisch-liberalen Regierungskoalition geprüft, zu denen auch Maler und andere Bildende Künstler Werke beigesteuert haben. Der Verdacht: Die ausnahmslos abstrakten Kunstwerke seien in Wirklichkeit gar keine. Wieder war es die »Magyar Nemzet«, die auf ihrer Titelseite als erste über die Ermittlungen berichtete. Unter der Schlagzeile »Eine Milliarde für ›Kunstwerke‹« giftete das Blatt gegen »formsprengende« und »als modern geltende« Kunst und fragte, ob »einfarbige Wände« und »nebeneinander gestellte, transparente Kunststoffwürfel« dem Staat Millionen wert sein dürften. Die Kunstkritikerin Anna Bálint, Expertin für zeitgenössische osteuropäische Kunst, war empört, als sie den Artikel las. Aber nicht verwundert. »Die kulturelle Botschaft der jetzigen Machthaber besteht in Kitsch und verkitschter Volkskunst, für etwas anderes fehlt ihnen das Verständnis«, sagt sie. »Eine solche Einstellung bedroht etwas sehr Grundsätzliches: die Möglichkeit des Individuums, sich selbst auszudrücken und im öffentlichen Raum zu manifestieren.« Der Autor ist Journalist und lebt in Berlin.

mediengesetz und verfassungsreform Nach massiver internationaler Kritik hat die ungarische Regierung ihr Mediengesetz Anfang März in einigen wenigen Punkten geändert: So wurden Blogs und im Internet abrufbare Medieninhalte von der bisher geltenden Verpflichtung zu ausgewogener Berichterstattung ausgenommen, Radio- und Fernsehsender müssen jedoch weiterhin ausgewogen berichten. Ein Passus, der die offene oder versteckte Beleidigung von Individuen oder Gruppen unter Strafe stellte, wurde abgeschafft, bestehen blieb das Diskriminierungsverbot. Nicht abgeschafft wurden zahlreiche andere Bestimmungen, mit denen Journalisten gegängelt werden können, etwa die Verpflichtung, an der Stärkung der nationalen Identität Ungarns mitzuwirken. Vertreter von Medien, NGOs in Ungarn sowie in anderen europäischen Ländern kritisierten die Änderungen als völlig unzureichend, ähnlich äußerten sich Gremien wie der Europarat und die OSZE. Am 18. April hat die ungarische Regierung eine neue Verfassung verabschiedet. Ihre Präambel enthält ein so genanntes »Nationales Glaubensbekenntnis«. Verankert sind darin Nationalstolz, der Stolz auf das tausendjährige ungarische Reich, das Bekenntnis zur geistigen und seelischen Einheit von Großungarn und zum Christentum. Zudem wird die Bezeichnung »Republik« aus dem Staatsnamen gestrichen. Wichtige demokratische und sozialpolitische Rechte werden eingeschränkt: So können sich einzelne Bürger nicht mehr mit Beschwerden an das Verfassungsgericht wenden. Gesetze, die den Staatshaushalt betreffen, erfordern künftig eine Zwei-Drittel-Mehrheit. Außerdem sieht der Verfassungsentwurf die Ehe zwischen Mann und Frau als zu fördernde Lebensform der Ungarn an.

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»Das größte Problem ist die Straffreiheit«

»Ein riesiger Erfolg für die Frauenbewegung.« Julia Evelyn Martínez.

Julia Evelyn Martínez, Leiterin des salvadorianischen Frauenentwicklungsinstituts ISDEMU, über Gewalt gegen Frauen und die Rechte der Frauen unter der neuen Regierung in El Salvador. Vor 18 Monaten wurde mit dem Fernsehjournalisten Mauricio Funes ein Kandidat der ehemaligen Guerillabewegung FMLN zum neuen Präsidenten El Salvadors gewählt. Damit fanden zwanzig Jahre Herrschaft der rechten ARENA-Partei ein Ende. Hat sich die Situation der Frauen dadurch geändert? Auf jeden Fall. Das fängt bei den staatlichen Institutionen an: Es gibt klare Anweisungen der Regierung, dass in staatlichen Einrichtungen sexuelle Belästigung, die bisher fast immer toleriert wurde, nicht mehr geduldet werden soll. Ein anderes Beispiel ist der Gesundheitsbereich: Endlich gibt es kostenlose Vorsorgeuntersuchungen für Gebärmutterkrebs und Brustkrebs. In anderen Bereichen sind die Widerstände aus der Gesellschaft gegen eine andere Politik jedoch sehr groß: So wehren sich die rechten Parteien, aber auch die katholische Kirche vehement gegen Sexualkundeunterricht an den Schulen. Gibt es auch Entwicklungen, die Ihnen nicht gefallen? In zwei Bereichen fällt die bisherige Bilanz eindeutig negativ aus. Der erste ist die wachsende Gewalt gegen Frauen: Von 2008 auf 2009 ist die Zahl der Morde an Frauen um 84 Prozent gestiegen. El Salvador hat die weltweit höchste Rate von femicidios weltweit.

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Doch passiert viel zu wenig, um dies zu ändern. Diese spezielle Gewalt gegen Frauen wird bis heute nicht als eine Herausforderung für die Politik der öffentlichen Sicherheit empfunden. Weshalb steigt die Gewalt gegen Frauen so stark an? Das größte Problem ist die Straffreiheit. Bei Frauenmorden ist die Aufklärungsquote besonders niedrig. In gewisser Weise ist die Gewalt aber auch eine Reaktion darauf, dass Frauen ihre Rechte heute stärker als früher einfordern. Die Männer fühlen sich in ihrer Vormachtstellung angegriffen. 2010 wurden mehrere Massengräber mit insgesamt 260 Frauenleichen gefunden. Viele dieser Frauen wiesen schreckliche Folterspuren auf: Messer oder Flaschen in ihrer Vagina zum Beispiel. Wer so etwas macht, tut dies wahrscheinlich nicht nur, um seinen persönlichen Hass zu befriedigen. Er will auch ein Zeichen setzen, dass es allen Frauen so gehen kann, die sich für ihre Rechte einsetzen. Was müsste geschehen, um diese Gewalt zu bremsen? Wir brauchen eine größere Sensibilität der staatlichen Stellen bei Fällen von Gewalt gegen Frauen, das betrifft vor allem die Polizei und die Justiz. Wir vom ISDEMU haben eine Vereinbarung mit der Polizeiakademie getroffen, um Polizisten und Polizistinnen schon in der Ausbildung zu schulen, wie sie mit Frauen umgehen sollen, die Gewalt zur Anzeige bringen wollen, dabei geht es zumeist um Fälle häuslicher Gewalt. Bislang verhal-

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ausarbeiten muss. Dabei sollen alle staatlichen Institutionen einbezogen werden, die in irgendeiner Weise mit den Auswirkungen und der Vorbeugung der Gewalt gegen Frauen zu tun haben. Dazu zählen unter anderem das Bildungs- und das Gesundheitsministerium, das Ministerium für öffentliche Sicherheit, die Polizei und die Kommunalverwaltungen. Das ISDEMU hat die Aufgabe übernommen, alle Maßnahmen zu überwachen und zu evaluieren sowie die beteiligten Institutionen zu koordinieren. Außerdem erhöht das Gesetz die Strafen für die Gewalttaten an Frauen, zum Beispiel wenn sie von Partnern oder ehemaligen Partnern verübt werden.

Foto: Mauro Arias

In welchen Bereichen fällt die Bilanz der Regierung negativ aus? Bei den reproduktiven Rechten. El Salvador hat neben Nicaragua das schärfste Abtreibungsrecht in ganz Lateinamerika. Seit 2000 ist Abtreibung grundsätzlich verboten, selbst aus medizinischen Gründen, wenn das Leben der Frau in Gefahr ist, bei Inzest oder wenn die Frau vergewaltigt wurde.

ten sich die meisten Polizisten so wie die Mehrheit der Männer in El Salvador: Sie neigen dazu, die Gewalt gegen Frauen, vor allem im häuslichen Bereich, zu bagatellisieren. Bewusst oder unbewusst solidarisieren sich viele mit den Tätern und fragen eine Frau, die eine Gewalttat anzeigen will, ob sie etwa Mitschuld trägt für das, was passiert ist – ob sie zum Beispiel treu war. Das Hauptproblem aber ist der Bereich Justiz. Viele Richter sehen Gewalt gegen Frauen im häuslichen Umfeld nicht als ein Verbrechen an, sondern suchen nach Rechtfertigungen. Häufig bleiben die Täter straffrei oder kommen mit Bewährungsstrafen davon. Und die Frauen wissen nicht, an wen sie sich wenden sollen, um Schutz vor ihren gewalttätigen Ehemännern zu finden. Das einzige staatliche Frauenhaus in El Salvador verfügt lediglich über 30 Plätze.

Haben die Frauen keine Alternative? Frauen aus der Mittel- oder der Oberschicht können im Ausland abtreiben oder sich in einer Privatklinik behandeln lassen, wenn es nach einer Abtreibung Komplikationen gibt. Diese Möglichkeit haben arme Frauen nicht. Sie versuchen, selbst abzutreiben oder lassen unsichere Abtreibungen vornehmen. Wenn sie nach Komplikationen in ein öffentliches Krankenhaus kommen, werden sie von den Ärzten oder Pflegerinnen angezeigt, weil sich diese sonst selbst strafbar machen würden. Den Frauen drohen Haftstrafen bis zu acht Jahren. Wenn die Richter die Abtreibung als schweren Mord bewerten, sogar bis zu 30 Jahren. In so einer Situation begehen viele, vor allem junge Frauen, aus lauter Verzweiflung Selbstmord. Ende Oktober hat der UNO-Menschenrechtsrat El Salvador aufgefordert, Frauen, die ihre Schwangerschaft abbrechen, nicht mehr strafrechtlich zu verfolgen. Wie reagiert die Regierung? Die Kritik des Menschenrechtsrates ist angesichts der Gesetzeslage nicht verwunderlich. Leider traut sich die Regierung an dieses Thema nicht heran. Nicht die Frauenrechte stehen im Mittelpunkt der Überlegungen, sondern Umfrageergebnisse und mögliche politische Allianzen mit anderen Parteien. Weder Präsident Funes noch die FMLN wollen sich mit der katholischen Kirche anlegen, die gegen jede Liberalisierung des Abtreibungsrechts ist. Auch ich wurde vom Präsidenten schon dafür kritisiert, dass ich mich für ein weniger absolutes Verbot ausgesprochen habe. Fragen: Michael Krämer

Wie bewerten Sie das neue Gesetz gegen Gewalt an Frauen? Dieses Gesetz ist ein riesiger Erfolg für die Frauenbewegung. Es wurde am 25. November 2010, am Internationalen Tag gegen die Gewalt gegen Frauen, einstimmig vom Parlament verabschiedet. Es bedeutet einen riesigen Fortschritt für den Schutz der Menschenrechte der Frauen, vor allem das Recht auf ein Leben ohne Gewalt. Was macht dieses Gesetz so wichtig? Es hat viele positive Aspekte. Insbesondere legt es fest, dass die Regierung eine nationale Politik gegen die Geschlechtergewalt

interview

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julia evelyn martínez

interview julia evelyn martínez Julia Evelyn Martínez bezeichnet sich selbst als feministische Ökonomin. Sie hat lange Zeit an der Jesuitenuniversität (UCA) in San Salvador Ökonomie gelehrt. Seit Juni 2009 leitet sie das staatliche Frauenentwicklungsinstitut ISDEMU.

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Illustration: André Gottschalk

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Von blutigen Spielen und grausamen Kรถniginnen 50

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Illustration: André Gottschalk

Das Thema Menschenrechte führt innerhalb der Kinder- und Jugendliteratur ein Nischendasein. Bücher, die auf dokumentarische oder realistische Weise konkrete Probleme ansprechen, liegen nicht im Trend – Fantasy und Crime dominieren den Markt. Doch auch hier finden sich Themen wie Macht, Unterdrückung und Willkürherrschaft. Wie werden sie umgesetzt? Stärken sie das Bewusstsein für Menschenrechte? Von Sarah Wildeisen

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ass Kinder grausam sind, weiß der Volksmund – und Nikolaus Heidelbach weiß es auch. Der Autor und Illustrator inszeniert in seinem Bilderbuch »Königin Gisela« eine kindliche Machtgier, die der von Erwachsenen ebenbürtig ist. Damit beweist er, dass das Bilderbuch längst nicht mehr ausschließlich eine Buchform für Vorschulkinder ist, sondern eine Kulturform, die einen offenen Adressatenkreis anspricht und generationsübergreifende Gespräche über das Gezeigte provoziert. Heidelbach verkleidet seine Botschaft in eine Gute-NachtGeschichte, die ein Vater seiner Tochter während einer Ferienwoche am Meer erzählt: Ohne Eltern will das Mädchen Gisela, das sehr reich ist, eine Reise mit einem Luxusozeandampfer machen. Doch ein Sturm versenkt das Schiff und Gisela wird an das Ufer einer einsamen Insel gespült. Acht gastfreundliche Erd-

KULTUR

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KINDER- UND JUGENDLITERATUR

männchen bewirten sie und bieten ihre Dienste an. Gisela fackelt nicht lange und macht sich die Tiere mehr und mehr zu Untertanen. »Hört mal, Herrschaften, ist euch schon aufgefallen, dass ihr alles tut, was ich sage? Meint ihr nicht auch, wir könnten das Kind beim rechten Namen nennen? Ich dachte an Königin! Königin Gisela! Anrede: Majestät!« Die Erdmännchen nicken und gehorchen. Bis Gisela ihre eigene Krönung und einen Tribut fordert: »Ich wünsche zur Krönung einen gestreiften Bikini zu tragen und zwar aus Erdmännchenfell!« Was als abenteuerliche Robinsonade beginnt, steigert sich zur imperialistischen Herrschaftsparabel. Dabei offenbart Heidelbach die Abgründe menschlichen Hochmuts ebenso wie die Möglichkeiten des friedlichen Widerstands. Denn die Erdmännchen machen sich Giselas Unwissenheit zunutze: Auf der Insel wohnen viel mehr Erdmännchen. Alle arbeiten Hand in Hand und noch bevor sie bemerkt, dass ihr Thron ein Floß ist, katapultieren sie die eitle Königin aufs Meer hinaus. Sowohl der Aufbau des Buchs – eine Geschichte in einer Geschichte – als auch der Inhalt provozieren Fragen und ermöglichen ein Gespräch über Herrschaft, Ausbeutung und Widerstand. Die amerikanische Autorin Suzanne Collins erzählt in ihrer Trilogie »Die Tribute von Panem« ebenfalls von blutigen Opfern zur Manifestierung von Herrschaft. Für den ersten Band, »Tödliche Spiele«, erhielt Collins den Preis der Jugendjury – die wohlgemerkt wirklich aus Jugendlichen besteht – des Deutschen Jugendliteraturpreises 2010. Doch nicht nur bei Jugendlichen steht die Trilogie hoch im Kurs. Ein Blick auf die Spiegel-Bestsellerliste zeigt, dass sich alle drei Titel in den vergangenen drei Jahren auf Top-Plätzen befanden.

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die zwei Geschwister Natascha und Max – erleben die politischen Strukturen einer fiktiven Diktatur – so trägt in »Ein Hund namens Grk« das fiktive Land Stanislavien alle Züge einer Militärdiktatur – oder sie sind in ganz konkreten Ländern, wie zum Beispeil Brasilien oder Indien angesiedelt. Doders Bücher richten sich an Kinder ab neun Jahren. Dennoch verschwinden Leute lebenslang hinter Gittern, weil sie nicht regierungskonform sind oder werden hingerichtet, wie die Eltern des Geschwisterpaares Natascha und Max. Dass das Polit-Märchen trotz solcher Härten bei Kindern ankommt, zeigen nicht nur die hohen Verkaufszahlen. »Ich finde das in Ordnung, dass da so grausame Sachen drin vorkommen«, sagt der achtjährige Testleser Jakob im Hessischen Rundfunk. »Weil es gibt auch Staaten, die wirklich so sind wie in Stanislavien, zum Beispiel in Afrika. Und das ist auch wichtig, dass man Kindern die Wahrheit erzählt, weil da hat man auch das Gefühl, dass man ernst genommen wird.« Was Kindern zuzumuten ist und was nicht, entscheiden letztlich Erwachsene. Sie sind es, die Kinder- und Jugendliteratur schreiben, gestalten, vermarkten und kaufen. Auch hier versteckt sich ein Machtgefälle. Kein Wunder also, dass Kinder und Jugendliche sich für Machtverhältnisse interessieren. Die Autorin arbeitet als Journalistin in Berlin, ihr Spezialgebiet ist Kinderund Jugendliteratur.

BilderBuch: Nikolaus Heidelbach: Königin Gisela. Beltz & Gelberg, Weinheim 2006. Ab 5 Jahre.

KinderBuch: Joshua Doder: Ein Hund namens Grk. Aus dem Englischen von Franziska Gehm. Beltz & Gelberg, Weinheim 2008. Ab 9 Jahre. Joshua Doder: Grk und die Pelotti-Bande. Aus dem Englischen von Katharina Distelmeier. Beltz & Gelberg, Weinheim 2008. Ab 9 Jahre. Timothée de Fombelle: Tobie Lolness. Band 1: Ein Leben in der Schwebe. Aus dem Französischen von Tobias Scheffel und Sabine Grebing. Mit Bildern von François Place. Gerstenberg/dtv, München 2010. Ab 10 Jahre. Timothée de Fombelle: Tobie Lolness. Band 2: Die Augen von Elisha. Aus dem Französischen von Tobias Scheffel und Sabine Grebing. Mit Bildern von François Place. Gerstenberg/dtv, München 2010. Ab 10 Jahre.

jugendBuch: Suzanne collins: Die Tribute von Panem. Band 1: Tödliche Spiele. Aus dem Amerikanischen von Sylke Hachmeister und Peter Klöss. Oetinger, Hamburg 2009. Ab 14 Jahre. Suzanne collins: Die Tribute von Panem. Band 2: Gefährliche Liebe. Aus dem Amerikanischen von Sylke Hachmeister und Peter Klöss. Oetinger, Hamburg 2010. Ab 14 Jahre. Suzanne collins: Die Tribute von Panem. Band 3: Flammender Zorn. Aus dem Amerikanischen von Sylke Hachmeister und Peter Klöss. Oetinger, Hamburg 2011. Ab 14 Jahre.

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Illustration: André Gottschalk

Collins entwirft in ihrer »Panem«-Trilogie ein Zukunftsszenario, in dem eine herrschende Minderheit den Rest der noch bestehenden Welt, aufgeteilt in zwölf Distrikte, unterjocht. Um Rebellionen, wie es sie einst gegeben hatte, im Keim zu ersticken, finden in jedem Jahr die sogenannten Hungerspiele statt. Je ein Mädchen und ein Junge zwischen 12 und 18 Jahren werden pro Distrikt ausgelost, um sich untereinander zu bekämpfen, bis einer von beiden stirbt. Collins gestaltet diesen Wettkampf als eine Art in die Wirklichkeit übersetztes Computerspiel, das die Geschmacklosigkeiten des Reality-TV mit der altrömischen Volksberuhigungsstrategie des »panem et circensis« verbindet. Die Welt von Panem erscheint dabei wie ein Spiegel, der sowohl die dekadente Saturiertheit unserer westlichen Welt zeigt, als auch die Nöte derjenigen, auf deren Rücken diese Dekadenz möglich wird. Die grausame Inszenierung der Hungerspiele zieht die Bewohner von ganz Panem, wo selbst die Ärmsten der Armen einen Fernseher besitzen, in den Bann, ebenso wie der Roman seine Leser. Erzählt wird der Albtraum aus der Sicht von Katniss, die als eine der Tribune in der Arena um ihr Leben kämpft. Im dritten Band ist die spröde Heldin zur Symbolfigur der Rebellion geworden. Obwohl sie eine Kämpfernatur ist, bleibt sie zutiefst misstrauisch und enttarnt letztlich die Machtbesessenheit der neuen Herrschaftsanwärter. Collins stellt in ihrer Trilogie jegliche Form von Herrschaft von Menschen über Menschen in Frage und lässt am Ende ihre Protagonistin und die wenigen Überlebenden als traumatisierte und gebrochene Personen aus diesem Krieg der Welten hervorgehen. Ein ungewöhnliches Ende für ein US-amerikanisches Science-Fiction-Jugendbuch. Während Science Fiction eine Plattform für Gesellschaftskritik und Utopie darstellen mag, steht das heute in der Kinderund Jugendliteratur dominierende Genre der fantastischen Literatur meist im Verdacht des Eskapismus. Dagegen wendet sich der französische Autor Timothée de Fombelle, der politische und gesellschaftliche Themen in einem parabelhaften Mikrokosmos abbildet. Sein zweibändiges Werk »Tobie Lolness« ist auf einem einzigen Baum angesiedelt, auf dem eine Population aus Menschen lebt, die nur wenige Millimeter groß sind. De Fombelle erzählt eine Art Heldenepos, das zwar im Gewand der fantastischen Literatur daherkommt, jedoch nur wenig mit Drachenund Zauber-Fantasy gemein hat. Der Vater des Protagonisten Tobie Lolness ist ein Wissenschaftler, der entdeckt hat, wie man aus der Substanz des Baumes Energie gewinnen kann. Weil er sein Wissen nicht preisgeben will, um den Baum zu schützen, wird er mit seiner Familie zunächst in die unteren Äste exiliert und schließlich zum Tode verurteilt. Tobie kann fliehen, erlebt Freundschaft, Verrat und eine Gesellschaft, die sich immer mehr in eine Ausbeutungsgesellschaft wandelt. Neben den Anspielungen auf die ökologische Katastrophe unseres Planeten und die Klimakatastrophe entlarven beide Bände die Mechanismen von Unterwerfung und Tyrannei. Dabei wird deutlich, wie ein Rassismus geschürt wird, der zur Ablenkung dient und wie Grausamkeit aus Dummheit, Gier und Langeweile erwächst. Der Realitätsbezug, der im erwachsenen Polit-Thriller üblich ist, findet in der Kinderliteratur kaum eine Entsprechung. Kinderkrimis, wie sie etwa in den Serien »Die drei Fragezeichen« oder »TKKG« vorliegen, sind in einem konstruierten Setting angesiedelt und weisen oft nur einen harmlosen Bezug zu politischen Themen auf. Eine Ausnahme bildet die »Grk«-Reihe des britischen Schriftstellers und Journalisten Joshua Doder. Seine Hauptfiguren – der zwölfjährige Tim, ein Hund namens Grk und


KULTUR

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KINDER- UND JUGENDLITERATUR

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Der gläserne Bürger Das Jahrbuch Menschenrechte 2011 beschäftigt sich mit der bedrohlichen Seite der digitalen Revolution: Dem unkontrollierten Datenhunger staatlicher wie privater Institutionen. Von Gerhart Rudolf Baum

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as Jahrbuch für Menschenrechte 2011 stellt die Frage »Nothing to hide – nothing to fear?«. Ausgangspunkt ist also die hohle Phrase, die von Irrtum und Anmaßung geprägt ist, wie Constanze Kurz und Frank Rieger in ihrem soeben erschienenen Buch »Die Datenfresser« schreiben: »Der Einwand aber, ich habe doch nichts zu verbergen, basiert auf der naiven, aber auch anmaßenden Annahme,

im Fall Sony bekannt wurde – sind sie illegalen Ausspähungen ausgesetzt. Die bisherigen Vorstellungen von Datenschutz sind offensichtlich unzureichend. Das Jahrbuch behandelt aber auch die europäischen Aspekte, die bereits zu Konflikten zwischen den Grundrechtspositionen der deutschen Verfassung und Entscheidungen der Europäischen Gemeinschaft geführt haben – leider nicht in der wünschbaren Konsequenz. In seinem Urteil hat das Bundesverfassungsgericht die Vorratsdatenspeicherung grundsätzlich zugelassen. Hier wurde offenbar der Konflikt mit Europa und seinen zuständigen Gerichten gescheut. Wir werden in den nächsten Jahren noch öfter in solche Konfliktsituationen geraten. Unser Grundgesetz ist konsequent auf ein sittliches Prinzip ausgerichtet, den Schutz der Menschenwürde. Das europäische

0100 01101001 dass die anderen gefälligst auch nichts zu verbergen haben. Wenn alle über alle alles wüssten, wäre die Welt eine bessere … Die Wahrheit ist doch: Jeder Mensch hat etwas zu verbergen. Die Frage lautet am Ende immer nur: Vor wem?« Ob ich etwas von meiner Privatheit verbergen möchte, das kann nicht Mehrheitsentscheidungen unterworfen werden. Es ist mein Grundrecht. Die Verfasser des Menschenrechtsjahrbuchs lenken in ihrem Vorwort die Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Aspekte der digitalen Revolution, die unsere Lebensgewohnheiten und unsere Gesellschaft verändert haben. Das Jahrbuch geht auf die verschiedenen Aspekte dieser Entwicklung ein – auf den Datenhunger staatlicher Institutionen, aber auch auf die immer weiter ausufernde Datensammelwut privater Unternehmen. Millionenfach werden Spuren registriert, mit anderen Daten vernetzt, verwertet, verkauft. Unzureichend gesichert – wie jetzt

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Bewusstsein orientiert sich nicht so konsequent an diesen Werten, die nur erklärbar sind aus der Entstehungsgeschichte unserer Verfassung. Sie ist eine Reaktion auf die schreckliche Barbarei, aus der wir uns nicht selbst haben befreien können. Wir wurden 1945 befreit und haben uns auf den Weg gemacht zu einer demokratischen Gesellschaft, zu einer, wie manche meinen, »geglückten Demokratie«. Ich schließe mich diesem Urteil grundsätzlich an, bei aller Kritik, die ich in den vergangenen Jahrzehnten an Freiheitseinschränkungen geübt habe. Das Jahrbuch setzt sich intensiv mit den verschiedenen Gefährdungen der Datenkommunikation und mit möglichen Gegenmaßnahmen auseinander. Bei allen Chancen bleibt ein Kernproblem: Aus dem täglich weltweit wachsenden Humus von Daten lassen sich Persönlichkeitsprofile entwickeln, bei denen nicht einmal sicher ist, ob sie in allen Fällen mit der Realität übereinstimmen.

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Wir sind längst beim gläsernen Menschen angekommen. Was den Staat angeht, so ist durch die Anhäufung immer neuer Sicherheitsgesetze mit Freiheitseinschränkungen in den letzten Jahrzehnten eine Situation entstanden, die man partiell als Überwachungsstaat kritisieren muss. Die Urteile des Bundesverfassungsgerichts gegen einzelne Sicherheitsgesetze und Sicherheitsmaßnahmen haben punktuell den Staat in die Schranken gewiesen. Die Entwicklung wurde damit jedoch nicht aufgehalten, im Gegenteil: Sie schreitet nahezu ungebremst fort. Immerhin beginnt sich nun Widerstand zu formieren – auch darüber informiert das Jahrbuch. So ist die Beschwerde gegen die Vorratsdatenspeicherung bekanntlich durch rund 35.000 Beschwerdeführer getragen worden. Auch andere Reaktionen unserer Gesellschaft sind ermutigend, wenn auch nicht ausreichend. Der Schutz der Privatheit ist bisher kein vorrangiges Thema auf der Tagesordnung der Politik. Das Internet führt auch zu neuer wirtschaftlicher Macht, zu sogenannten »Information Empires«. Dazu gehören Google, Apple, Facebook, Twitter etc. Sie kämpfen darum, ihre dominierende Position im Markt zu bewahren. Das sind neue wirtschaftliche Machtzentren, die nicht nach den üblichen Wettbewerbs-

wie etwa Russland, damit sie dem Einfluss von außen wehren können. Menschenrechtsverteidiger sind im Netz aber auch Gefährdungen ausgesetzt, denn die Machthaber können ihnen nachspüren. Alles in allem ist das Jahrbuch Menschenrechte 2011 eine wichtige Quelle von Informationen und Meinungen kompetenter Autoren zu den verschiedenen Aspekten der Datenverarbeitung. Es hilft, diese komplexe Materie zu durchdringen. Wir alle müssen lernen, mit der neuen Situation umzugehen. Dazu liefert das Handbuch wertvolle Beiträge. Wir haben erlebt, wie in den siebziger Jahren eine Umweltbewegung entstanden ist, die inzwischen eine tiefe Verankerung in unserer Gesellschaft erfahren hat. Manchmal stelle ich mir vor, es würde uns gelingen, eine Bürgerbewegung zum Schutz der Privatheit in Gang zu setzen und auch andere Zivilgesellschaften einzubeziehen – eine Bürgerbewegung, die nachhaltigen Einfluss auf die Entscheidungsträger nehmen kann. Am Ende des Handbuchs finden sich noch Themen außerhalb des Generalthemas, so zu den Perspektiven deutscher Menschenrechtspolitik nach der Bundestagswahl 2009, zu der Arbeit des UNO-Menschenrechtsrats, zu den Überlegungen für einen

10111010 10011101 regeln kontrolliert werden. Sie operieren global und sind in der Lage, die ihnen zufließenden Datenmengen auszuwerten und kommerziell zu nutzen. Angesichts der monopolartigen Schlüsselstellung von Datenbanken und Netzbetreibern muss auf dem »Recht auf Vernetzung« bestanden werden, das heißt auf freien Zugang zum Netz. Das Netz muss sich neutral verhalten. Im Netz muss unsere Rechtsordnung gelten. Diese muss den Besonderheiten des Netzes im Sinne »digitaler Bürgerrechte« angepasst werden. Noch ein weiterer Aspekt verdient Beachtung: Das Internet ist ein Instrument zur Durchsetzung von Menschenrechten, indem es unter anderem die Menschenrechtsverteidiger in die Lage versetzt, sich zu informieren, sich auszutauschen, Widerstand zu organisieren. Die arabischen Freiheitsbewegungen haben uns dies vor Augen geführt. Autoritäre Systeme versuchen, sich abzuschotten oder eigene soziale Netzwerke aufzubauen,

Kultur

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jahrBuch menschenrechte 2011

Weltgerichtshof für Menschenrechte oder zum Stand des Menschenrechtsschutzes durch internationale Strafgerichte. Der Band schließt mit einem Beitrag von Volkmar Deile mit dem Titel »Verschämter Stolz und andere Geschichten«. Darin erfährt man eine Menge längst vergessener Fakten über die Entwicklung von Amnesty in den vergangenen 50 Jahren. Hier wird deutlich, wie schwer der Kampf gegen Menschenrechtsverletzungen ist, aber dass er auch eine Menge bewirkt. Amnesty war und ist eine Erfolgsgeschichte. Der Autor ist Bundesminister a.D. Jahrbuch Menschenrechte 2011: Nothing to hide nothing to fear? Datenschutz, Transparenz, Solidarität. Hg. von Heiner Bielefeldt, Volkmar Deile u.a., Wien 2010, 430 S. 29,90 Euro

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Eine besondere Beziehung zum Kino Am 12. Juni 2011 jährt sich der Tag der iranischen Präsidentschaftswahlen zum zweiten Mal. Damals reagierte die Staatsmacht mit Gewalt auf Proteste von Bürgern, die Wahlfälschung vermuteten. Regisseur Ali Samadi Ahadi hat zu Beginn des Jahres mit »The Green Wave« einen preisgekrönten Film über die damaligen Ereignisse in die Kinos gebracht. Herr Ahadi, seit den Präsidentschaftswahlen im Iran sind zwei Jahre vergangen. Mit Ihrem Film »Green Wave« haben Sie den damaligen Protesten ein Denkmal gesetzt … Ich habe diesen Film über die Zustände im Iran gedreht, weil ich dachte, dass dies die Art von Verantwortung ist, die man als erwachsener Mensch übernehmen sollte. Ich habe in Uganda Filme gemacht, in Südafrika – warum nicht über den Iran? Die Menschen hatten es nötig, dass ihre Stimme gehört wird. Das große Problem bei der Produktion war natürlich, dass ich nicht in den Iran reisen konnte. Und dass die Menschen, die im Iran waren, die Journalisten und Filmemacher, keine Bilder produzieren konnten. Wie stellt sich die Lage mittlerweile dar? Seit den Wahlen versucht die iranische Regierung mit aller Macht, die Lage unter Kontrolle zu bekommen. Da sich nichts Grundlegendes geändert hat, wird eben auch weiterhin protestiert: Arbeitslosigkeit, mangelnde Pressefreiheit, kaum Perspektiven für junge Menschen, instabile internationale Beziehungen … Solange die Realität so aussieht, suchen die Menschen nach Antworten.

Worauf haben Sie bei Ihrer Arbeit besonders geachtet? Die Ereignisse vor der Wahl waren ja schon etwas Besonderes – nach 32 Jahren iranischer Revolutionsgeschichte waren die Leute euphorisch. Und dann waren die Alternativen, die sie eigentlich wählen wollten, auf einmal nicht mehr da. Die Menschen sind auf die Straße gegangen und haben gesagt: Was ist eigentlich mit unseren Stimmzetteln passiert, wir haben doch was anderes als Ahmadinedschad gewählt? Die Antwort: Kugelhagel und Gefängnis. Die Frage war dann nicht mehr: Wurde die Wahl gefälscht oder nicht, sondern etwas ganz anderes: Wollt ihr auf mich schießen, bloß weil ich nach meinen Grundrechten frage? Die Bemühungen um gesellschaftliche Veränderungen hingen beileibe nicht an einzelnen Kandidaten. Mussten die Protagonisten, die in Ihrem Film mitwirken, mit Konsequenzen rechnen? Nein, die meisten Blogeinträge, die wir verwendet haben, sind ohne Klarnamen ins Netz gestellt worden. Einige sind auch von der Regierung gelöscht worden. Ausländische Journalisten waren des Landes verwiesen, iranische Journalisten waren meist in Bedrängnis. Diejenigen, die in meinem Film mit Klarnamen auftauchen, sind alle im Ausland. Die Bilder von vor Ort stammten meist von Menschen, die die Ereignisse auf der Straße mit ihren Handys dokumentiert haben. Ästhetisch und formal hatten die aber große Schwächen: kein Anfang, kein Ende, schlechter Ton, schlechte Auflösung … Man konnte vieles erahnen, aber man konnte damit keinen Kinofilm bestreiten. Da kamen mir die Blog- und Twitter-Einträge der Iraner zur Hilfe.

Grün ist die Hoffnung. Seit 2009 ist Grün die Farbe der iranischen Oppositionellen.

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»Was ist eigentlich mit unseren Stimmzetteln passiert, wir haben doch was anderes als Ahmadinedschad gewählt? Die Antwort: Kugelhagel und Gefängnis.« Jeder, der sich mit der Menschenrechtssituation beschäftigt, muss einen hohen Preis dafür zahlen. Man wollte zeigen: Wenn wir das mit renommierten Künstlern machen, machen wir es mit weniger bekannten Personen erst recht. Ich glaube, die Künstler müssen sich zu der Haltung durchringen, dass es ein fundamentales Recht ist, sich zu äußern: Iran hat eine Verfassung, in der die Unversehrtheit von Körper und Seele steht, in der Meinungs- und Pressefreiheit zugesichert wird. Man muss das System mit diesen Aussagen konfrontieren. Menschen wie Panahi müssen auf ihrem Recht bestehen.

Haben die Menschen im Iran eine besondere Haltung zum Kino? Ich glaube schon. Jeder Iraner hat eine kinotaugliche Kamera! Nicht nur das: Jeder Iraner ist auch Erdölminister. Und Teppichhändler! Spaß beiseite: Es gibt im Iran sehr große gesellschaftliche Herausforderungen. Filmregisseure, Bildende Künstler, Buchautoren sind letzten Endes nur Menschen, die der Gesellschaft den Spiegel vorhalten. Kino wird im Iran sehr gern und sehr vielfältig gemacht. Doch viele namhafte Filmemacher durften in den vergangenen Jahren keine Filme mehr drehen. Es stimmt: Der Iran bringt extrem gute Filmemacher hervor! Aber unter Präsident Mahmud Ahmadinedschad gibt es starke Beeinträchtigungen; gesellschaftlich relevante Themen bleiben außen vor. Ich hoffe auf die Zeit, wo das anders sein wird. Und in der ich – als Deutscher iranischer Herkunft – nicht einen Film über iranische Wahlen drehen muss.

Wird man Ihren Film auch im Iran sehen können? Im Fernsehen wohl nicht, das ist ja in den Händen des Staates. Ich bin mir aber sicher, dass die Menschen im Iran den Film zu sehen bekommen. Fragen: Jürgen Kiontke

Wie schätzen Sie die Situation der Künstler ein? Wir sehen ja am Schicksal des Filmregisseurs Jafar Panahi, den man wegen seines politisch-künstlerischen Engagements mit Haft und Berufsverbot belegt hat, was passiert, wenn sich Künstler politisch betätigen. Das war ein klares Signal der Regierung:

Foto: Eric Grigorian / Polaris / laif

Foto: Stephan Röhl

twitter verfilmt

interview

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ali samadi ahadi

Ali Samadi Ahadi, 39, geboren im Iran, floh infolge des Krieges zwischen Iran und Irak, in dem er als Kindersoldat rekrutiert werden sollte, im August 1985 ohne seine Eltern nach Deutschland. Seit 2000 arbeitet er als Regisseur, Drehbuchautor und Cutter. Für seinen Dokumentarfilm »Lost Children« (D 2005) über das Schicksal von Kindersoldaten in Uganda erhielt Ahadi im Jahr 2006 den Deutschen Filmpreis in der Kategorie Bester Dokumentarfilm. 2009 kam seine Komödie »Salami Aleikum« (D 2009) in die Kinos, damit gewann er den Preis der deutschen Filmkritik für das beste Spielfilmdebüt. Für seine Fernsehdokumentation »Iran: Elections 2009« über die Proteste nach den iranischen Präsidentschaftswahlen 2009 bekam er den Menschenrechtsfilmpreis in Nürnberg und einen Grimme-Preis. Der Film dokumentiert Aussagen und Filme von Aktivisten rund um den Tag der iranischen Präsidentschaftswahl auf den Straßen Teherans und die Verfolgung durch die Polizei, nimmt aber auch Rekurs auf Internet-Blogs und Twitter-Einträge. Die stilistische Aufarbeitung in der Art einer »graphic novel« macht die besondere Atmosphäre des Films aus. Unter dem Titel »The Green Wave« kam im Februar eine 80-minütige Fassung des Films in die Kinos.

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Foto: Kees Bennema / Hollandse Hoogte / laif

Nordseeschönheiten. Holländische Musliminnen genießen die steife Brise.

Vielfalt statt Einfalt Eine deutliche Antwort hatte es nötig: das Pamphlet von Thilo Sarrazin gegen Muslime in Deutschland. Das »Manifest der Vielen« liefert sie. Von Maik Söhler

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reißig Autorinnen und Autoren gegen einen und doch ist das nicht unfair: Denn der eine heißt Thilo Sarrazin und er weiß weite Teile der deutschen Gesellschaft hinter sich, wenn er wieder und wieder seine Thesen über Migranten und Muslime verbreitet. Das »Manifest der Vielen« gibt eine Antwort auf Sarrazins »Deutschland schafft sich ab«, nein: Es gibt viele Antworten. Und stellt gleichzeitig neue Fragen. Fragen nach der Verantwortung der Medien etwa, die Sarrazin so viel Raum geben, dass »für Musliminnen und Muslime derzeit nicht einmal der Gang zum Zeitungshändler leicht ist, weil sie nie wissen, welche Schlagzeile, welches stereotype Bild sie dort erwartet«, wie es in einem »Offenen Brief deutscher Musliminnen und Muslime an Bundespräsident Christian Wulff« heißt, den die Islamwissenschaftlerin und Mitautorin Riem Spielhaus zitiert. Mit Sachverstand und großem Ernst beschreiben die Autorinnen und Autoren – unter ihnen etwa der Schriftsteller Feridun Zaimoglu – welche Folgen die Sarrazin-Debatte bereits hatte und welche sie befürchten. Ihre Ausführungen zu politischen, ökonomischen, kulturellen, religiösen und ganz alltäglichen

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Aspekten zeigen das Panorama eines Landes, in dem das Zusammenleben noch immer nicht selbstverständlich ist. Der Jurist Ekrem Senol betont dabei die Bedeutung des Grundgesetzes für alle in Deutschland lebenden Menschen: »Das Grundgesetz ist Ihr Schutzgesetz gegenüber dem Staat – und nicht umgekehrt. Der Staat ist Ihnen gegenüber verpflichtet, die im Grundgesetz verankerten Rechte zu gewähren.« Subjektive Zugänge zum Thema wechseln sich mit Essays und wissenschaftlichen Beiträgen ab. Die Tonlage schwankt zwischen offensiv und defensiv, Forderungen an die deutsche Mehrheitsgesellschaft finden sich neben Beifallsbekundungen für den Bundespräsidenten. Sichtbar werden die Vergangenheit, die Gegenwart und auch eine mögliche Zukunft von Rassismus, Diskriminierung und Ausschluss. Beim Lesen vermisst man manchmal einen roten Faden oder gemeinsame Thesen, auf den oder die sich die Beiträge beziehen. Gedankliche und stilistische Brüche erschweren die Lektüre ebenso wie manche Banalität. Doch die Schwächen dieses Buches sind zugleich seine Stärken: Gerade die vielen Differenzen und Widersprüche der Autorinnen und Autoren machen deutlich, dass »der Islam« eine Erfindung Sarrazins bleibt und dass migrantische Vielfalt mehr zu einer offenen, an den Rechten aller orientierten Gesellschaft beiträgt als deutsche Einfalt. Hilal Sezgin (Hg.): Deutschland erfindet sich neu – Manifest der Vielen. Blumenbar Verlag, Berlin 2011, 232 Seiten, 12,90 Euro

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Doppelt gestraft

Anständig leben

Als der Hurrikan Katrina im August 2005 New Orleans in ein Meer aus Trümmern und Schlamm verwandelt, wird auch Abdoulrahman Zeitoun hart getroffen. Der in Syrien geborene Vater dreier Kinder hat wenige Jahre zuvor einen Handwerksbetrieb aufgebaut und muss nun zusehen, wie seine wirtschaftliche Existenz durch eine der größten Naturkatastrophen der USA bedroht ist. Im Gegensatz zu vielen anderen bleibt Zeitoun auch nach den Tagen der Verwüstung in der Stadt, um sein Haus und seinen Besitz zu schützen und um anderen Betroffenen Hilfe zu leisten. Genau das wird ihm zum Verhängnis. Von Sicherheitskräften als potenzieller Plünderer aufgegriffen, erlebt Zeitoun den nächsten Schlag – in diesem Fall eine von Menschen gemachte Katastrophe: Er muss mehrere Wochen unter menschenunwürdigen Bedingungen in Haft verbringen, dabei wird er körperlich misshandelt, rassistisch diskriminiert und teilweise in Isolationshaft, ohne Kontakt zu einem Anwalt oder zu seinen Angehörigen gehalten. Dies ist möglich, weil ihn die Katastrophenschutzbehörde FEMA aufgegriffen hat und das Notstandsrecht zur Anwendung kommt. Als Zeitoun schließlich wieder freikommt, ist der Alltag seiner Familie nicht mehr derselbe wie vor Katrina. Der US-Schriftsteller Dave Eggers hat aus einer realen Geschichte ein eindrucksvolles literarisches Dokument geschaffen.

»Anständig essen« – ein Buch über Menschen und Tiere? Von wegen, würde Karen Duve einwenden: über Tiere und Tiere. Denn nichts anderes als ein Tier sei der Mensch und deswegen gehöre die Ausbeutung und Ermordung von Tieren beendet. Duve fängt bei sich selbst an. In vier Etappen durchläuft die in Brandenburg auf dem Land lebende Autorin alle Stationen, die hilfreich sein könnten, um diesem Ziel näherzukommen. Sie ernährt sich zwei Monate lang nur von BioProdukten, es folgen zwei Monate als Vegetarierin (kein Fleisch), wieder zwei als Veganerin (»nichts vom Tier, weder auf dem Teller noch im Kleiderschrank«), schließlich zwei als Frutarierin (»nur Pflanzenteile, die man nehmen kann, ohne die Pflanze dabei zu verletzen oder zu töten«). Duve dokumentiert, wie sich ihre Ernährungs- und Verhaltensgewohnheiten verändern. Und sie klärt auf über industrielle Tierhaltung, medizinische und pharmakologische Tierversuche, politische Interessen, Konzernprofite. So wirkt sie der selbstverschuldeten Unmündigkeit Vieler entgegen, wenn es um Ernährung, Lebensmittelkonsum und Moral geht. Moral? Ja. Denn Duves Ausführungen über Empathie und Mitgefühl, Eigennutz und Egoismus sind auch für Verfechter der Menschenrechte interessant. Sie zitiert aus Studien und Büchern und ergänzt dies mit ernsten und humorvollen Beobachtungen des eigenen Verhaltens. »Anständig essen« könnte auch »Anständig leben« heißen. Genau darum geht es der Autorin.

Dave Eggers: Zeitoun. Aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2011, 336 Seiten, 19,95 Euro

Karen Duve: Anständig essen. Ein Selbstversuch. Galiani Berlin, Berlin 2011, 335 Seiten, 19,95 Euro.

Europäische Grenzen »Die hier versammelten Reportagen handeln von Grenzen. Von den realen Grenzen des Staates und den roten Linien unserer Gesellschaft«, schreibt der österreichische Journalist Florian Klenk im Nachwort seines neuen Buches »Früher war hier das Ende der Welt«. Damit liefert der stellvertretende Chefredakteur des Wiener Stadtmagazins »Falter« eine Klammer nach, die man nach der Lektüre nicht mehr braucht. Denn schon früh wird klar, dass Klenk als Reporter Orte in Europa besucht hat, in denen die Menschenrechte verletzt werden – sei es in der Ukraine, in Tschechien, in Deutschland oder in Österreich. Seine Themen sind Migration, Flucht, Abschiebung, Frauen- und Kinderhandel sowie autoritäre Ausformungen des österreichischen Staates und der Gesellschaft.Sehr luzide beobachtet Klenk, wo Gegensätze aufeinandertreffen: Wir begegnen Flüchtlingen, die voller Hoffnung und unter vielen Beschwernissen Tausende Kilometer hinter sich gebracht haben, um an der Außengrenze der EU in einer ukrainischen Baracke zu stranden. Und wir lesen von Frauen, die der Armut Rumäniens zu entkommen hofften und als Zwangsprostituierte in Wien gedemütigt, misshandelt oder gar ermordet werden. Ruhig und nüchtern nimmt der Autor dabei auch eine Grenze der Legalität in den Blick: Was in Europa Recht ist, kann das Recht anderer auf Leben und Gesundheit durchaus gefährden.

In das Land der Menschenrechte »Manchmal muss man sich Geschichten ausdenken, damit das Leben erträglich bleibt, stimmt’s?«, fragt Gloria ihren Pflegesohn Koumaïl. Er ist der Ich-Erzähler des mehrfach preisgekrönten Buchs »Die Zeit der Wunder« von Anne-Laure Bondoux. Die französische Schriftstellerin erzählt darin von einer Kindheit auf der Flucht inmitten des Bürgerkriegs im Kaukasus. Koumaïls Geschichte ist außergewöhnlich: Er kam als Baby zu Gloria, die ihn in den Trümmern eines entgleisten Zuges neben seiner schwerverletzten Mutter fand. Sein wahrer Name sei Blaise Fortune, denn seine Mutter sei Französin, erzählt sie ihm. Die Autorin schildert in einer eindringlichen Sprache die Flucht von Koumaïl und Gloria, zunächst vor den Milizen, dann in Richtung Frankreich. Unterwegs verliert Koumaïl all seine Besitztümer. Dem inzwischen erwachsenen Erzähler bleiben nur die Geschichten, die mit den Dingen verbunden sind. Auch Gloria ist nicht mehr bei ihm, als er in Frankreich in einem Schweinetransporter entdeckt wird. Doch weil Frankreich die Kinderrechtskonvention unterzeichnet hat, darf er bleiben und wird, was Gloria ihm einflüsterte: der Franzose Blaise Fortune. Ein ergreifender Roman, der der Verzweiflung und Hoffnung von Flüchtlingen eine glaubwürdige literarische Form verleiht.

Florian Klenk: »Früher war hier das Ende der Welt«.

Anne-Laure Bondoux: Die Zeit der Wunder. Aus dem

Reportagen. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2011, 176 Seiten,

Französischen von Maja von Vogel. Carlsen, Hamburg

17,90 Euro.

2011. Ab 13 Jahre

Bücher: Maik Söhler, Sarah Wildeisen Kultur

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Bücher

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Unerwartete Entwicklungen

Polyglotter Sample

Den Alltag bewältigen unter erschwerten – weil iranischen – Bedingungen: Das ist das Thema von Asghar Fahadis Spielfilm »Nader und Simin – Eine Trennung«. Ehefrau Simin will die Welt kennenlernen. Gemeinsam mit Ehemann Nader und Tochter Termeh erhält sie ein Auslandsvisum für sechs Monate. Auf einmal aber hat Nader Bedenken: Sein Vater ist an Alzheimer erkrankt, er will ihn nicht allein zurücklassen. Simin reagiert abrupt und erklärt die ganze Ehe für gescheitert. Sie reicht die Scheidung ein, während sich Nader darum bemüht, die Pflege seines Vaters zu organisieren. Was dann in Gang gesetzt wird, hätte sich wohl keiner der Beteiligten vorstellen können. Von Mord und Todesstrafe ist die Rede angesichts einer Kaskade unglücklicher Zufälle, in denen die iranische Rechtsprechung eine tragische Komponente darstellt. Nicht zu unterschätzen ist der politische Subtext dieses Films, der als offizieller Beitrag des Irans am Wettbewerb der diesjährigen Berlinale teilnahm. Der Film gewann den Goldenen Bären, die höchste Auszeichnung der Filmfestspiele. Eine besondere Bedeutung erhielt der Film dadurch, dass Fahadis Regie-Kollege Jafar Panahi keine Ausreisegenehmigung erhielt, um sein Amt als Berlinale-Juror wahrzunehmen. Vielmehr droht ihm eine Haftstrafe von sechs Jahren und Berufsverbot für 20 Jahre. Vor diesem Hintergrund stellt sich Fahadis Geschichte um eine Ausreisegenehmigung iranischer Bürger noch einmal ganz anders dar.

Mauern zum Einsturz bringen will der Watcha Clan – etwa die Mauer zwischen Mexiko und den USA oder die zwischen »Isaak und Ismael«, wie es im Track »We are One« heißt. Betont politisch gibt sich das Musikerkollektiv aus Marseille damit auf seinem neuen Album »Radio Babel«. Wozu Grenzen? Das hat sich das polyglotte Elektronika-Projekt aus der Hafenmetropole am Mittelmeer schon gefragt, als es vor über zehn Jahren an den Start ging. Seither ist das Trio um die jüdisch-arabische Sängerin Sista K, den französischen Keyboard-Künstler Suprem Clan und den korsischen Bassisten Matt Labesse zum Quartett angewachsen. Der Algerier Nassim Kouti brachte nicht nur seine E-Gitarre und die traditionelle Gimbri-Laute ein, sondern auch seine Stimme. Zu Dub und Drum’n Bass, dem Grundgerüst ihres Sounds, kommen nordafrikanische Gnawa-Grooves, Einflüsse des Tuareg-Rock (»Hasnaduro«), des Balkan-Brass (»Gipsy Dust«) oder des algerischen Rai (»Osfour«). Heraus ragen eine Interpretation des jüdisch-jemenitischen Gospels »Im Nin’alu«, den die israelische Sängerin Ofra Haza einst zum Hit machte, und ein Chanson auf Yiddisch (»Il était une fois dans l’est«), das sich um ein Sample von Ennio Morricone rankt. Gastmusiker wie der Oud-Exzentriker Mehdi Haddab, die Gipsy-Band Fanfare Ciocarlia oder der algerische Pianist Maurice El Medioni runden das Bild ab. Auf der CD findet sich zudem ein Videoclip mit einer Mini-Dokumentation der Situation der Wanderarbeiter an der mexikanisch-amerikanischen Grenze.

»Nader und Simin – Eine Trennung«. IR 2011. Regie: Asghar Fahadi, Darsteller: Leila Hatami, Peyman Moadi u.a. Kinostart: 14. Juli 2011

Watcha Clan: Radio Babel (Piranha)

Quälende Blicke

Afrokolumbischer Sound

»Huacho« bedeutet übrig gebliebenes Stück, etwas Vergessenes. Im gleichnamigen Debüt-Film des Regisseurs Alejandro Fernández Almendras geht es um solche Relikte – die Mitglieder einer armen Familie in der chilenischen Provinz. Wie finden sich Menschen nach der langen Zeit der Pinochet-Diktatur in der Gegenwart zurecht? Die Kamera folgt den Protagonisten bei ihren Versuchen, mit den temporeichen Transformationen der Wirklichkeit mitzuhalten und dennoch beieinander zu bleiben: Die Großmutter verkauft Käse auf der Landstraße, die Tochter versucht, das Geld für die Stromrechnung zusammenzukriegen. Der Sohn ist süchtig nach der Playstation und den Spielen auf dem Handy seiner Mutter – als Ausgleich dafür, dass er in der Schule gemobbt wird. Und der Opa? Der schläft auf dem Feld, wie eh und je. »Huacho« erzählt vom Alltag in Armut – und bietet eine unprätentiöse, halbdokumentarische Erzählung mit schauspielerisch überzeugenden Laiendarstellern. Almendras’ Film ist ein weiterer Mosaikstein der jungen chilenischen Filmszene, die viel nachzuholen hat. In der Diktatur war Filmemachen kaum möglich, jetzt will vieles erzählt werden. Almendras gesellt sich zu jenen jungen lateinamerikanischen Regisseuren, die mit der Kamera einen bemerkenswert unverstellten Blick auf die Realität werfen.

Kolumbiens Wirtschaft und Politik werden bis heute von weißen Eliten dominiert. In der Musik spiegelt sich die andere Seite des Landes wider: Afrikanische Einflüsse sind dort unüberhörbar und Themen wie Armut und Gewalt, die soziale Kluft zwischen Arm und Reich oder die Kultur des Machismo werden darin meist beiläufig in Witz und Ironie verpackt. Die Compilation »Afritanga« lädt ein zum Streifzug durch die Regionen und die musikalische Vielfalt des südamerikanischen Küstenstaats, der an die Karibik und den Pazifik grenzt und sich bis zum Amazonas erstreckt. Obligatorische Latin-Klänge von Cumbia, Son und Salsa, aber auch weniger bekannte Varianten wie Champeta vermengen sich dabei mit HipHop, House und Techno, mit Reggaeton oder psychedelischem Funkrock zur unwiderstehlichen Geräuschkulisse. Bands wie Systema Solar, Choc Quip Town, Tumbacatre oder La 33 schöpfen aus den Traditionen ihrer Heimat und verbinden deren dörfliche Ursprünge mit urbanen Lyrics und Sounds zum tropischen Barrio-Underground. Dazwischen geben sich auf »Afritanga« auch Veteranen der kolumbianischen Folklore wie Alfonso Córdoba die Ehre. Der »Piko«, die kolumbianische Variante des Sound Systems, ist Partyzentrale, Treffpunkt und Nachbarschaftsradio zugleich. CD-Compiler Steen Thorsson hat das Konzept mit seinen Kumpels vom Produzententeam La Chusma nach Berlin transferiert.

»Huacho«. CH 2009. Regie: Alejandro Fernández Almendras, Darsteller: Clemira Aguayo, Alejandra Yanez u.a. Kinostart: 21. Juli 2011

Afritanga: The Sound of Afrocolumbia (Trikont)

Film: Jürgen Kiontke | Musik: Daniel Bax 60

amnesty journal | 06-07/2011


Die Porträts der Pflücker

Foto: Arthouse Films

Der Film »Waste Land« verbindet Bildende Kunst und Menschenwürde auf ganz eigene Weise. Nun kommt der Gewinner des Amnesty-Filmpreises 2010 in die deutschen Kinos. Von Jürgen Kiontke

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er Jardim Gramacho, also der Gramacho-Garten, ist ein ungewöhnlicher Garten: Hier lädt die brasilianische Metropole Rio de Janeiro ihren Müll ab. Er ist aber nicht nur Rios größte Müllkippe, sondern auch ein wichtiger Arbeitgeber: Viele Menschen betätigen sich hier als Sortierer und verkaufen die wertvollen Rohstoffe, die sie finden, an Verwertungsgesellschaften. Auch Vik Muniz versteht sich auf Recycling. Der Bildgestalter aus Rio de Janeiro gilt als Star der internationalen Kunstszene. Für seine großformatigen Objekte verwendet er die unterschiedlichsten Materialien – von Lebensmitteln bis hin zu Müll. Kein Wunder, dass er auf die Idee kam, mit den Sammlern des Jardim Bilder zu produzieren – und zu verkaufen: Der Erlös sollte den Arbeitern zugute kommen. Denn die Müllwerker hatten eine Kooperative gegründet und sogar ein Gewerkschaftsbüro eingerichtet. Doch die Kasse wurde von Straßenräubern gestohlen. Für den Wiederaufbau ihrer Organisation benötigten sie Geld. Wie dies vor sich ging, dokumentiert Regisseurin Lucy Walker in ihrem Film »Waste Land«. Muniz fertigte mit den Sammlern Porträtfotografien, die er aus großer Höhe auf den Boden einer leeren Fabrikhalle projizierte. Ihre Bilder legten die Fotografierten anschließend mit Recycling-Stoffen aus. Muniz fotografierte auch dies, vergrößerte die Motive und ließ sie rahmen. Zwischendurch erfährt man viel vom Alltag der »catadores«, der Pflücker. Oft sind sie auf der Suche nach Glück und Wohlstand in die Stadt gekommen. Menschen wie Tiao, der die Kooperative mitgegründet hat und der durch seine Arbeit zum Literaturexperten wurde: »Ich fahre jeden Tag vier Stunden mit der Bahn, ich habe viel Zeit zum Lesen.« Denn im Jardim finden sich auch viele weggeworfene Bücher. Und so suchte sich Tiao ein literarisches Motiv für sein Porträt: den erstochenen Marat in seiner Badewanne. Die 18-jährige Suelen, Mutter von zwei Kindern, arbeitet seit ihrem siebten Lebensjahr im Jardim und sagt: »Ich bin sehr stolz darauf, dass ich mich niemals prostituieren musste.« Für ihr Bild inszeniert sie sich madonnengleich. Ihr Porträt sowie alle anderen wurden in Rio de Janeiro ausgestellt. Über eine Million Menschen kamen, um sie sich anzusehen. Die anschließende Verkaufsauktion brachte hohe Erlöse. Im letzten Jahr lief dieser außergewöhnliche Film auf der Berlinale – und gewann den Filmpreis von Amnesty International. »›Waste Land‹ stellt unsere Vorurteile über Menschen am Rande der Gesellschaft in Frage. Der Film porträtiert seine Protagonisten als Menschen mit Würde und öffnet auf diese Weise das Herz des Zuschauers. Veränderungen sind möglich – mit Mut und Kreativität«, urteilte Jury-Mitglied Barbara Sukowa bei der Preisverleihung. »Waste Land«. GB, BRAS 2010. Regie: Lucy Walker.

Lastenträgerin. Irma, »catadora« auf der größten Müllkippe Rios.

Kultur

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film & musiK

Kinostart: 26. Mai 2011

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Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt oder man lässt sie »verschwinden«. amnesty international veröffentlicht regelmäßig an dieser Stelle drei Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden. Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie bitte eine Kopie an amnesty international.

amnesty international Postfach, 53108 Bonn Tel.: 0228 - 98 37 30, Fax: 0228 - 63 00 36 E-Mail: info@amnesty.de, www.amnesty.de Spendenkonto Bank für Sozialwirtschaft (BfS), Köln Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00 oder Postbank Köln Konto: 22 40 46 - 502, BLZ: 370 100 50

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Foto: privat

Briefe gegen das vergessen

aserBaidschan ruslan Bessonov, maKsim genashilKin und dmitri pavlov Weil sie einen Jugendlichen ermordet haben sollen, wurden Ruslan Bessonov, Maksim Genashilkin und Dmitri Pavlov am 14. März 2005 inhaftiert und angeklagt. Im Juni 2007 wurden sie schuldig gesprochen und zu jeweils zehn Jahren Haft verurteilt. Alle drei bestreiten die Tat. Amnesty International befürchtet, dass die Gerichtsverfahren nicht den internationalen Standards entsprochen haben. Zum Zeitpunkt ihrer Inhaftierung waren die jungen Männer noch minderjährig. Nach Angaben der Beschuldigten wurden sie unter Folter gezwungen, Geständnisse zu unterzeichnen. Man habe sie geschlagen, ihnen Beine und Rippen gebrochen, sie an den Beinen aufgehängt, ihnen nichts zu trinken oder zu essen gegeben und sie am Schlafen gehindert. Im Falle von Ruslan Bessonov bestätigten der Leiter des medizinischen Dienstes sowie der Direktor der Hafteinrichtung die Verletzungen. Bis heute sind die Folter- und Misshandlungsvorwürfe nicht untersucht worden. Obwohl der Oberste Gerichtshof in Aserbaidschan später zu dem Schluss gekommen war, dass während des Verfahrens entscheidende Beweise und Aussagen ignoriert wurden und die Geständnisse unter Verletzung der Rechte der Angeklagten erlangt wurden, bestätigte das Berufungsgericht in Baku den Schuldspruch. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Generalstaatsanwalt von Aserbaidschan. Verweisen Sie auf Berichte über schwere verfahrensrechtliche Mängel in den Gerichtsverfahren gegen Dmitri Pavlov, Maksim Genashilkin und Ruslan Bessonov, die vermuten lassen, dass das Recht der Angeklagten auf ein faires Gerichtsverfahren verletzt wurde. Fordern Sie eine umfassende, unabhängige und unparteiische Untersuchung der Folter- und Misshandlungsvorwürfe. Sollte die Untersuchung die Vorwürfe bestätigen, müssen die mutmaßlich für diese Taten Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Schreiben Sie in gutem Aserbaidschanisch, Englisch oder auf Deutsch an: Zakir Qaralov Prosecutor General 7 Rafibeyli Street Baku 370001 ASERBAIDSCHAN (korrekte Anrede: Dear Prosecutor General / Sehr geehrter Herr Generalstaatsanwalt) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: € 0,75) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an Botschaft der Republik Aserbaidschan S.E. Herrn Parviz Shahbazov Hubertusallee 43, 14193 Berlin Fax: 030 - 21 91 61 52 E-Mail: berlin@mission.mfa.gov.az

amnesty journal | 06-07/2011


Der kenianische Menschenrechtsverteidiger Al-Amin Kimathi befindet sich derzeit in Uganda in Untersuchungshaft. Die ugandische Justiz hat bisher weder Einzelheiten zur Anklage noch belastendes Material gegen ihn vorgelegt. Amnesty vermutet, dass seine Inhaftierung in Zusammenhang mit seiner Arbeit als Menschenrechtsverteidiger steht. Al-Amin Kimathi arbeitet für die kenianische Menschenrechtsorganisation Muslim Human Rights Forum. Im September 2010 war er nach Uganda gereist, um den Prozess gegen sechs Kenianer zu beobachten, denen eine Verwicklung in die Bombenattentate vom Juli 2010 in Kampala vorgeworfen wird. 76 Menschen kamen bei den Anschlägen ums Leben, Hunderte wurden verletzt. Al-Amin Kimathi wurde am 15. September 2010 inhaftiert, weil auch er angeblich für die Anschläge verantwortlich sein soll. Später wurde sein Name der Anklageschrift gegen die sechs Beschuldigten hinzugefügt. Ein Termin für die erste Verhandlung wurde bislang nicht anberaumt. Bis heute haben weder Al-Amin Kimathi noch sein Rechtsbeistand Informationen über belastendes Material gegen ihn erhalten. Dies stellt einen Verstoß gegen das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren dar, wozu auch das Recht zählt, die Verteidigung vorzubereiten. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Innenminister von Uganda und fordern Sie ihn auf, Al-Amin Kimathi und seinem Rechtsbeistand sämtliches Beweismaterial vorzulegen, das vor Gericht verwendet werden soll. Dringen Sie darauf, Al-Amin Kimathi unverzüglich das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren einzuräumen. Legen Sie dar, dass das Verfahren eingestellt und er umgehend freigelassen werden muss, sofern die Staatsanwaltschaft nicht über Beweismaterial verfügt, das die Vorwürfe gegen ihn erhärtet. Schreiben Sie in gutem Englisch oder auf Deutsch an: The Minister of Internal Affairs Hon Ali Kirunda Kivejinja Ministry of Internal Affairs Plot 75 Jinja Road P.O. Box 7191 Kampala UGANDA (korrekte Anrede: Dear Minister / Sehr geehrter Herr Innenminister) Fax: 002 56 - 414 - 34 30 88 (Standardbrief Luftpost bis 20 g: € 0,75) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an Botschaft der Republik Uganda S.E. Herrn Francis Kamujanduzi Butagira Axel-Springer-Straße 54a, 10117 Berlin Fax: 030 - 24 04 75 57 E-Mail: ugembassy@yahoo.de

Briefe gegen das vergessen

Foto: Amnesty

Foto: Frontlinedefenders

uganda al-amin Kimathi

jemen fatima hussein Badi Fatima Hussein Badi ist in Gefahr, hingerichtet zu werden. Sie und ihr Bruder Abdullah wurden im Februar 2001 in einem unfairen Gerichtsverfahren zum Tode verurteilt. Das Urteil gegen ihren Bruder wurde bereits 2005 vollstreckt. Fatima und Abdullah Hussein Badi wurden am 13. Juli 2000 verhaftet, weil sie im Verdacht standen, Fatimas Ehemann, Hamoud Ali al-Jalal, ermordet zu haben. Berichten zufolge soll die Polizei Fatima Hussein Badi fünf Stunden lang verhört haben, ohne dass ein Rechtsbeistand anwesend war. Als sie sich weigerte, den Mord zu gestehen, wurde ihr Bruder Abdullah in den Raum geführt – mit blutüberströmtem Gesicht. Man drohte ihr, sie in Anwesenheit des Bruders zu vergewaltigen. Um sie vor der Vergewaltigung zu bewahren, soll dieser daraufhin die Tat gestanden haben. Beide wurden im Februar 2001 zum Tode verurteilt. Bei mehreren gerichtlichen Anhörungen hatten die Geschwister keinen rechtlichen Beistand. Im September 2003 befand der Oberste Gerichtshof, dass Fatima Hussein Badi sich zwar schuldig gemacht habe, den Leichnam zu verstecken, aber nicht des Mordes schuldig sei. Der Oberste Gerichtshof reduzierte die Strafe daraufhin auf vier Jahre Haft. Nach einer Intervention von Staatspräsident Ali Abdullah Saleh und Parlamentsprecher Sheikh Abdullah al-Ahmar wurde der Fall erneut überprüft und die Reduzierung des Strafmaßes rückgängig gemacht. Fatima Hussein Badi ist damit weiterhin in Gefahr, hingerichtet zu werden. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den jemenitischen Staatspräsidenten und fordern Sie die Umwandlung des gegen Fatima Hussein Badi verhängten Todesurteils. Schreiben Sie in gutem Arabisch, Englisch oder auf Deutsch an: Ali Abdullah Saleh President Office of the President Sana’a JEMEN (korrekte Anrede: Your Excellency / Exzellenz) Fax: 009 67 - 127 41 47 (Standardbrief Luftpost bis 20 g: € 0,75) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an Botschaft der Republik Jemen S.E. Herrn Prof. Dr. Mohammed L. Al-Eryani Budapester Str. 37, 10787 Berlin Fax: 030 - 89 73 05 62 E-Mail: info@botschaft-jemen.de

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Foto: Amnesty

AKTIV FÜR AMNESTY

Opfer besser schützen, Täter zur Verantwortung ziehen. Mahnwache der Amnesty-Gruppe in Darmstadt.

plüschtiere, puppen und strassentheater Anlässlich des 100. Weltfrauentages thematisierten zahlreiche Amnesty-Gruppen die sexuelle Gewalt gegen Mädchen in Nicaragua. Von Jana Latschan Auf die Anliegen von Amnesty aufmerksam zu machen, ist immer wieder eine herausfordernde Aufgabe. So auch dieses Jahr zum 100. Weltfrauentag, an dem rund 60 Gruppen mit viel Engagement und Kreativität Aktionen zum Thema »Nicaragua: Sexuelle Gewalt gegen Mädchen beenden« veranstalteten. Die Aktionen sind Teil der Kampagne »Mit Menschenrechten gegen Armut«. Vergewaltigung und sexueller Missbrauch sind in Nicaragua weit verbreitet, und die Mehrheit der Opfer ist jung. Erschwerend kommt hinzu, dass seit 2008 jede Form von Abtreibung in dem zentralamerikanischen Land kriminalisiert ist – ohne jegliche Ausnahme. Daher hat die deutsche Sektion von Amnesty International den Weltfrauentag 2011 zum Anlass genommen, über die Situation von Mädchen in Nicaragua zu informieren. Die Aktionen sollten den internationalen Druck auf die dortige Regierung verstärken, sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Frauen zu verhindern, die Opfer besser zu schützen und die Täter zur Verantwortung zu ziehen. Bei verschiedenen Veranstaltungen, Straßenständen, Lesungen, Mahnwachen, Benefizkonzerten und Filmabenden sammelten lokale Amnesty-Gruppen bis Ende März über 7.500 Unterschriften gegen sexuelle Gewalt an Mädchen in Nicaragua, teils in Kooperation mit Organisationen wie ver.di, Caritas, AWO sowie Gleichstellungsbeauftragten und Kommunen. Mit Puppen und Plüschtieren als Blickfang am Stand machte die Frankfurter Amnesty-Gruppe darauf aufmerksam, dass Mädchen in Nicaragua in besonderem Maße von sexueller Gewalt betroffen sind: In fast der Hälfte der nahezu 9.700 zwischen 1998 und 2008 angezeigten Vergewaltigungen waren die

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Opfer 14 Jahre alt oder jünger. Um das Interesse der Menschen für die Lage der Mädchen in Nicaragua zu wecken, spielte die Magdeburger Gruppe Straßentheater. Sie verdeutlichte in den Szenen den Druck, der auf den Opfern lastet: Viele werden von ihren Vergewaltigern bedroht und eingeschüchtert und erstatten deshalb keine Anzeige. Häufig werden die Opfer stigmatisiert – ihnen wird die Schuld zugewiesen, nicht dem Täter. Dies verhindert, dass Mädchen über sexuellen Missbrauch sprechen. Eine Vergewaltigung kommt häufig erst ans Licht, wenn eine Schwangerschaft eintritt. Mädchen, die eine Vergewaltigung bei der Polizei melden, werden oft vom Justizsystem im Stich gelassen. Die Amnesty-Gruppen in Tübingen, Ahrensburg, Nordhorn und Stuttgart engagierten sich bei großen Straßenfesten lokaler Aktionsbündnisse. Viele Hunderte Interessierte konnten sich an Ständen, bei Theateraufführungen, Kleinkunstveranstaltungen, Lesungen und Vorträgen, die von Amnesty mitgestaltet wurden, über die Situation von Frauen in verschiedenen Ländern informieren. Andere Gruppen organisierten Gottesdienste, wie z.B. in Papenburg, wo »Frauen zwischen Auflehnung und Verfolgung« im Mittelpunkt standen. Gruppen in Stuttgart und in Oberhausen berichteten in Interviews mit lokalen Radiosendern über die Frauenrechtslage in Nicaragua. Die Amnesty-Themengruppe »Menschenrechtsverletzungen an Frauen«, die die Materialien für die Nicaragua-Aktion entwickelte und die Aktionen koordinierte, startete zum 100. Weltfrauentag eine Facebook-Seite. Darauf finden sich Hinweise auf Aktionen zu Menschenrechtsverletzungen an Mädchen und Frauen. Außerdem bietet sie Nutzerinnen und Nutzern Möglichkeiten zum persönlichen Engagement. Weitere Informationen auf www.amnesty-frauen.de

amnesty journal | 06-07/2011


Seit Anfang April sind der regierungskritische Künstler Ai Weiwei sowie mehrere Personen aus seinem näheren Umfeld an einem unbekannten Ort inhaftiert. Amnesty und weitere Unterstützer haben am 9. April vor dem Brandenburger Tor für ihre Freilassung demonstriert und ein Ende der Repression in China gefordert. Amnesty geht davon aus, dass die Behörden den Künstler wegen seines politischen Engagements festhalten. Er ist ein offener Unterstützer des Nobelpreisträgers und gewaltlosen politischen Gefangenen Liu Xiaobo. Die Lage der Menschenrechte in China hat sich seit Februar dramatisch verschlechtert: Über 100 Aktivisten, unter ihnen zwölf prominente Menschenrechtsanwälte, wurden festgenommen oder in irgendeiner Form unter Hausarrest oder Überwachung gestellt. Mindestens eine Person wurde zur Umerziehung in ein Arbeitslager gebracht.

moniKa lüKe üBer

frauenrechte

Zeichnung: Oliver Grajewski

menschenrechtler gesucht

Frauenrechte sind wichtige Menschenrechte. Manche sagen sogar, der Kampf der Suffragetten für die Gleichberechtigung Anfang des 20. Jahrhunderts sei eine Initialzündung für die Entwicklung der Menschenrechte gewesen. Doch noch heute, 100 Jahre später, sind diese Rechte noch lange nicht selbstverständlich. Amnesty hat in seiner 50-jährigen Geschichte immer wieder Frauenrechte thematisiert und zum Beispiel 2004 die weltweite Kampagne »Hinsehen & Handeln: Gewalt gegen Frauen verhindern« gestartet. Zum Frauentag 2011 haben wir das Thema sexueller Missbrauch von Frauen und Mädchen in Nicaragua in den Mittelpunkt gestellt. Mehr als zwei Drittel der fast 10.000 Vergewaltigungen, die zwischen 1998 und 2008 angezeigt wurden, wurden an Mädchen unter 17 Jahren begangen.

Foto: Amnesty

In Deutschland ist es heute schwer vorstellbar, dass Frauen bis 1977 ihre Ehemänner um Erlaubnis fragen mussten, wenn sie einer Lohnarbeit nachgehen wollten. Bis 1958 konnte der Ehemann das Dienstverhältnis seiner Frau sogar noch fristlos kündigen. Dramatische Lage. Aktion vor dem Brandenburger Tor in Berlin.

aKtiv für amnesty

Durch ganz unterschiedliche Veranstaltungen geben Amnesty-Mitglieder den Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme. Diese Aktionen vor Ort sind ein unentbehrlicher Teil der Arbeit von Amnesty International. Mehr Informationen darüber finden Sie auf www.amnesty.de/aktiv-vor-ort und www.amnesty.de/kalender

Im Augenblick beschäftigen mich die Themen Frauenrechte und Frauenrollen besonders, denn seit kurzem bin ich Mutter. Ich möchte meine Tochter zu einem starken Mädchen und einer selbstbewussten Frau erziehen. In 18 Jahren, wenn sie erwachsen ist, sind Frauenrechte hoffentlich noch selbstverständlicher in der Gesellschaft verankert, als heute. Meine Tochter heißt Mathilda Sophie, das bedeutet »die starke Kämpferin« und »die Weise«. Eine gute Kombination für die Menschenrechte, finde ich! Monika Lüke ist Generalsekretärin der deutschen Amnesty-Sektion.

impressum Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., 53108 Bonn, Tel.: 0228 - 98 37 30, E-Mail: Info@amnesty.de, Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion Amnesty Journal, Postfach 58 01 61, 10411 Berlin, E-Mail: journal@amnesty.de (für Nachrichten an die Redaktion) Redaktion: Bernd Ackehurst, Markus N. Beeko, Anton Landgraf (V.i.S.d.P.), Larissa Probst, Ralf Rebmann Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit Albrecht, Gerhart Rudolf Baum, Daniel Bax, Larissa Bender, Wolfgang Grenz, Jürgen Kiontke, Michael Krämer, Sabine Küper-Büsch, Jutta Lietsch, Monika Lüke, Jannis Papadimitriou, Wera Reusch, Uta von Schrenk, Salil Shetty, Maik Söhler, Regina Spöttl, Keno Verseck, Wolf-Dieter Vogel, Sarah Wildeisen Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck: Hofmann Druck, Nürnberg

aKtiv für amnesty

Vertrieb: Carnivora Verlagsservice, Berlin Bankverbindung: Amnesty International, Kontonr. 80 90 100, Bank für Sozialwirtschaft (BfS), Köln, BLZ 370 205 00 Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und erscheint sechs Mal im Jahr. Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Nichtmitglieder können das Amnesty Journal für 30 Euro pro Jahr abonnieren. Für unverlangt eingesandte Artikel oder Fotos übernimmt die Redaktion keine Verantwortung. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder. Die Urheberrechte für Artikel und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, für die Verbreitung im Internet oder für Vervielfältigungen auf CD-Rom.

ISSN: 1433-4356

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FLĂœCHTLINGE AUS NORDAFRIKA

OHNE CHANCE AUF ASYL?

Die politischen UmbrĂźche in Tunesien und Ă„gypten und insbesondere die Kämpfe in Libyen zwingen viele /GPUEJGP \WT (NWEJV CWU KJTGT *GKOCV <GJPVCWUGPFG XQP #TDGKVUOKITCPVGP FKG CWU .KD[GP IGĆƒQJGP UKPF MQPPVGP INĂ˜EMNKEJGTYGKUG KP KJTG *GTMWPHVUNĂ€PFGT \WTĂ˜EMMGJTGP &QEJ CWU .KD[GP ĆƒKGJGP \WPGJOGPF <KXKNKUVGP vor der eskalierenden Gewalt. Dasselbe Schicksal teilen FlĂźchtlinge aus Somalia, Eritrea, Irak, den Besetzten Palästinensischen Gebieten, Sudan und Ă„thiopien. Viele von ihnen wurden bereits vom UNHCR als schutzbedĂźrftige FlĂźchtlinge eingestuft, weil sie wegen drohender Verfolgung oder Gefahr fĂźr Leib und Leben nicht in ihre Heimat zurĂźckkehren kĂśnnen. Die Hauptlast tragen derzeit die Nachbarländer in den Regionen, die viele FlĂźchtlinge aufnehmen.

DOCH AUCH DEUTSCHLAND HAT EINE MENSCHENRECHTLICHE VERANTWORTUNG, DEN IN NOT GERATENEN MENSCHEN ZU HELFEN! FORDERN SIE DESHALB VON DER BUNDESREGIERUNG:

die Aufnahme von FlĂźchtlingen aus Nordafrika, die der UNHCR als schutzbedĂźrftig eingestuft hat. die UnterstĂźtzung der sĂźdlichen EU-Mitgliedstaaten bei der Aufnahme und Versorgung von FlĂźchtlingen und Migranten, beispielsweise durch die Aufnahme von Menschen in die Bundesrepublik Deutschland. die Sicherstellung, dass bei allen RĂźckĂźbernahmeabkommen mit nordafrikanischen Staaten die Menschenrechte der FlĂźchtlinge und Migranten gewahrt bleiben.

Tunisia transit Camp Š UNHCR/ A.Branthwaite

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WWW.AMNESTY.DE/CHANCEAUFASYL Amnesty wird die Unterschriften dem deutschen Innenminister Ăźberreichen.



WER DIE WELT VERÄNDERN WILL, MUSS SIE KENNEN amnesty international report 2011 ZUR WELTWEITEN LAGE DER MENSCHENRECHTE Am 13. Mai 2011 veröffentlicht Amnesty International weltweit den Report 2011. Der Jahresreport dokumentiert für das Jahr 2010 Menschenrechtsverletzungen in 157 Ländern. Unter dem Titel »Neue Instrumente im Kampf gegen die Unterdrückung« beleuchtet Amnesty, welche Rolle soziale Netzwerke und Online-Plattformen im Einsatz für die Menschenrechte spielen, aber auch wie Regierungen diese neue Technologien nutzen, um ihre Kritiker zu verfolgen und zu unterdrücken. Broschur mit Länderkarten, 559 Seiten, S. Fischer Verlag 2011, ISBN 978-3-10-000835-0 Art.-Nr. 03011, 14,95 Euro, © Amnesty International

ellen t s e B t z t e j ty.de @amnes nd E: versa 213 - 983 73 T: 0228 op sty.de/sh W: amne


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