Amnesty Journal Ausgabe 06/07 2018

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DAS MAGAZIN FÜR DIE MENSCHENRECHTE

AMNESTY JOURNAL

06/07

2018 JUNI/ JULI

RAUS AUS DEM ABSEITS FITTE FRAUEN UND COOLE CLUBS VERÄNDERN DEN FUSSBALL

UNGERN IN UNGARN Orbáns Kampf gegen die Zivilgesellschaft

FLUCHT ZU FLÜCHTLINGEN Kolumbien zwischen Krieg und Frieden

DIE STATUEN NIEDER Kolonialismus und Kunst in Südafrika


INHALT

12 Willkommen im Club. In Großbritannien sind Politik und Medien überwiegend feindselig gegenüber Flüchtlingen eingestellt. Nicht so die Fußballclubs: 60 englische Vereine unterstützen die AmnestyInitiative »Football Welcomes« – darunter die halbe Premier League.

TITEL: FUSSBALL UND FORTSCHRITT Großbritannien: Willkommen im Club

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Russland: Frei sich zu bewegen

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Iran: Die Fifa schaut weg

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Saudi-Arabien: Schleier in den Stadien

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Bibiana Steinhaus: Allein unter Männern

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Kommentar: Schwule Pässe gibt es nicht

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Energie Cottbus: Genervt von den Vorwürfen

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Haltung im Fußball: »Da muss man mal draufhalten!«

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28 Genervt von den Vorwürfen. Rechte Fangruppen geben den Ton an bei Energie Cottbus. Das stört moderate Anhänger des Klubs – doch sehen sie eher die Medien als Feind als die Nazis in den eigenen Reihen.

POLITIK & GESELLSCHAFT Kolumbien: Flucht zu Flüchtlingen

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Brasilien: Das Militär macht mit

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Indien: Ganz unten

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Pakistan: Das Dorf der befreiten Sklaven

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Ungarn: Legal, illegal, illiberal

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KULTUR Neue afrikanische Kunst: Flügel der Hoffnung

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Sambia: Der Rapper und die Ratten

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Architekturbiennale: Mentale Blockaden

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Mosambik: Zwei Stimmen einer Frau

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Saudi-Arabien: Weiblicher Wille und wahhabitische Wut

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Syrische Gastarbeiter: Der Staub des Krieges

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RUBRIKEN Panorama 04 Einsatz mit Erfolg 06 Markus N. Beeko über Sport und Menschenrechte 07 Spotlight: Todesstrafe – Hinrichtungen auf dem Rückzug 08 Interview: Dale Baich 09 Porträt: Andrei Paluda 54 Dranbleiben: Mexiko, Türkei, Syrien 55 Rezensionen: Bücher 67 Rezensionen: Film & Musik 68 Briefe gegen das Vergessen 70 Aktiv für Amnesty 74 Impressum 75

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Der Rapper und die Ratten. Der sambische Sänger Pilato wurde wegen eines regierungskritischen Songs bedroht und floh nach Südafrika. Nach seiner Rückkehr wurde er verhaftet.

Ganz unten. In Indien sind Millionen Dalit Gewalt und Diskriminierung ausgesetzt. 40.000 Verbrechen gegen sie werden jährlich registriert.

Flügel der Hoffnung. Eine neue Generation von schwarzen Künstlerinnen setzt sich mit den Folgen von Kolonialismus und Apartheid in Südafrika auseinander.

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Die Fifa schaut weg. Fußball genießt unter jungen Iranerinnen hohe Popularität. Doch FifaFunktionäre decken die Ausgrenzungspolitik der Islamischen Republik.

Flucht zu Flüchtlingen. Im Nordwesten Kolumbiens liefern sich linke Guerilleros und rechte Paramilitärs anderthalb Jahre nach dem Friedensschluss weiter Gefechte. Vor allem afrokolumbianische und indigene Bewohner geraten ins Visier der Kämpfer.

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48 Das Dorf der befreiten Sklaven. In Pakistan leben Millionen Menschen in Leibeigenschaft. Nur wenigen gelingt der Ausstieg.

Titelfoto: Naomi Westland organisiert die AmnestyInitiative »Football Welcomes«. Hier bei einem Spiel im April 2018 in Wetherby, Nordengland. Foto: Horst Friedrichs Fotos oben: Horst Friedrichs | Behrouz Mehri / AFP / Getty Images | Natalia Bronny Lena Mucha | Emre Çaylak | Andrzej Rybak | Esra Rotthoff | Pilato Foto Editorial: Sarah Eick / Amnesty

INHALT

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EDITORIAL

ANGRIFF IST DIE BESTE … … Verteidigung. Das gilt auf dem Rasen, wo konsequentes Forechecking noch den stärksten Gegner in die Defensive drängt. Mit Offensivgeist und langem Atem werden Fußballwunder wahr – da lohnt sich der Extrasprint in der Nachspielzeit allemal. Gesunde Angriffslust hilft aber auch abseits von Tribünen und Umkleidekabinen, Gleichberechtigung durchzusetzen. Beim Kampf gegen Funktionäre etwa, die an veralteten Regeln festhalten. Oder um rassistische und sexistische Fans ins Abseits zu stellen. Viel lesen über fitte Frauen und coole Clubs, die die Männerdomäne Fußball offener und diverser machen, können Sie in diesem WM-Journal. In unserer Reportage aus dem Gastgeberland Russland etwa, wo lesbische Sportlerinnen und schwule Sportler weiter wacker angreifen, obwohl die Regierung in Moskau versucht, ihnen mit bürokratischen Schikanen die Luft zum Atmen zu nehmen. In England haben sich sechzig Vereine der Amnesty-Initiative »Football Welcomes Refugees« angeschlossen; unser Reporter war bei einem Fußballturnier für junge Geflüchtete dabei. Und in Berichten aus Teheran und Riad erfahren Sie, wie sich die Fußballerinnen dort ihr Lieblingsspiel nicht verderben lassen von den religiösen Tugendwächtern. Die saudischen und iranischen Frauen zeigen, dass auf dem Fußballfeld eroberte Freiräume Gesellschaften verändern können. »Jeder Fortschritt wurde immer erkämpft«, singt auch der Frontmann der Hamburger Band Kettcar in »Der Tag wird kommen«, der Geschichte eines schwulen Fußballprofis. Der Song lässt sich als Soundtrack zu diesem Journal hören und der Satz von Marcus Wiebusch, »Da muss man mal draufhalten!«, als taktische Vorgabe – zum offensiven Widerspruch. Der kommt am besten mit Spiellaune daher, um Rechtsaußen und fiese Nachtreter in die Defensive zu drängen. Angriff bleibt eben die beste Verteidigung: auf dem Rasen ebenso wie abseits von Fankurven – für Fairness und Fortschritt, gegen Ausgrenzung und Rassismus. Markus Bickel ist Verantwortlicher Redakteur des Amnesty Journals.

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PANORAMA

Foto: Max Rossi / Reuters

IRLAND: SIEG FÜR ABTREIBUNGSBEFÜRWORTERINNEN

In Irland dürfen Frauen künftig legal abtreiben. Mit 66 Prozent stimmten die Iren in einem Referendum Ende Mai dafür, dass jener Zusatz aus der Verfassung gestrichen wird, der seit 1983 festlegt, dass Fötus und Mutter die gleichen Rechte haben. Das bedeutete bisher, dass Abtreibungen in Irland verboten sind – selbst bei Vergewaltigung, Inzest oder schweren Missbildungen des Fötus. Einziger legaler Abtreibungsgrund bislang: bei Gefahr für das Leben der Mutter. Künftig wird ein neues Gesetz die straffreie Abtreibung bis zur 12. Woche erlauben, danach nur in medizinisch indizierten Ausnahmefällen. Tausende im ganzen Land feierten den Erfolg.

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MYANMAR: ROHINGYA VERÜBTEN MASSAKER

Eine Miliz der muslimischen Minderheit der Rohingya hat nach Recherchen von Amnesty International am 25. August 2017 ein Massaker an hinduistischen Zivilisten in Myanmar verübt. Die Rebellengruppe ARSA (Arakan Rohingya Salvation Army) soll demnach gemeinsam mit Dorfbewohnern 53 Hindus in einem Dorf im Bundesstaat Rakhine getötet haben, darunter 23 Kinder. Tirana Hassan, Direktorin der Abteilung Krisenreaktion von Amnesty, sagte, es sei ebenso wichtig, die Gräueltaten der ARSA zu ahnden wie die der Armee. Foto: Soe Zeya Tun / Reuters

PANORAMA

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EINSATZ MIT ERFOLG

UKRAINE Am 31. März gewährleistete die Polizei in Uschhorod im Westen der Ukraine erfolgreich den Schutz aller Teilnehmenden einer Ăśffentlichen Protestaktion gegen Straflosigkeit fĂźr Rechtsextreme. Die Frauenrechtlerin und LGBTI-Aktivistin Vitalina Koval hatte die Aktion initiiert, nachdem rechtsextreme Gruppen Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Demonstrationen zum Internationalen Frauentag in Uschhorod am 8. März angegriffen und bedroht hatten. Koval dankte allen, die Appelle an die Polizei geschrieben hatten. í˘ą

KASACHSTAN Die Bloggerin Ardak Ashym ist aus der psychiatrischen Einrichtung freigelassen worden, in der sie seit dem 31. März festgehalten worden war. Wegen ihrer Posts in sozialen Medien wird sie aber immer noch strafrechtlich verfolgt. Am 5. Mai kippte die Berufungskommission des Regionalgerichts SĂźdkasachstan das am 12. April gefällte Urteil, das eine einmonatige Zwangseinweisung von Ardak Ashym in eine psychiatrische Einrichtung verfĂźgt hatte. Daraufhin kam die 52-jährige Bloggerin noch am selben Tag frei. í˘˛

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ECUADOR Nachdem das Haus der Menschenrechtsverteidigerin Patricia Gualinga am 5. Januar angegriffen worden war, wurden im April SchutzmaĂ&#x;nahmen fĂźr sie eingeleitet. Ein unbekannter Mann hatte im Januar Steine gegen die Fenster ihres Hauses in Puya in der Provinz Pastaza geworfen und Morddrohungen gegen sie gerufen. Gualinga ist besorgt, da es bislang keinen Fortschritt in den Ermittlungen gegeben hat. Patricia Gualinga ist Indigenensprecherin und setzt sich fĂźr Landrechte und Umweltschutz im Amazonasgebiet ein.

SUDAN Am 10. April wurden 56 Parteimitglieder und Menschenrechtsverteidiger freigelassen, die im Januar und Februar festgenommen worden waren. Sie waren ohne Anklage und unter schlechten Haftbedingungen im Gefängnis gehalten worden. Nach Angaben einiger Freigelassener teilten sich mehr als 20 Gefangene eine Zelle, die nur fĂźnf mal sieben Meter maĂ&#x;. Der sudanesische Geheimdienst NISS hatte sie in Verbindung mit Protestveranstaltungen gegen den Preisanstieg bei Lebensmitteln und Medikamenten festgenommen.

BAHRAIN Am 26. März wurde der Aktivist Fadhel Abbas Mahdi Mohamed aus dem Jaw-Gefängnis in Manama entlassen. Damit endete seine dreijährige Haftstrafe wegen des Verbreitens falscher Informationen. Fadhel Abbas Mahdi Mohamed ist der frßhere Generalsekretär der bahrainischen Oppositionspartei Unitary National Democratic Assemblage. Er war 2015 festgenommen worden, nachdem seine Partei in einer Stellungnahme die Luftangriffe der von Saudi-Arabien gefßhrten Militärallianz im Jemen kritisiert hatte.

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Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen an den ÂťUrgent ActionsÂŤ, den ÂťBriefen gegen das VergessenÂŤ und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz Folter verhindert, die Freilassung Gefangener bewirkt und Menschen vor unfairen Prozessen schĂźtzt, zeigt unsere Weltkarte. Siehe auch: www.amnesty.de/erfolge

EINSATZ MIT ERFOLG

MARKUS N. BEEKO ĂœBER

Foto: Bernd Hartung / Amnesty

MYANMAR Der gewaltlose politische Gefangene Lahpai Gam aus dem Bundesstaat Kachin ist aufgrund einer Präsidialamnestie am 17. April zusammen mit 8.489 weiteren Menschen aus dem Gefängnis entlassen worden. Er war seit Juni 2012 inhaftiert. Während der VerhĂśre war er gefoltert und fälschlicherweise beschuldigt worden, Mitglied einer ÂťrechtswidrigenÂŤ Vereinigung zu sein. Lahpai Gam ist krank, und sein Gesundheitszustand hat sich in der Haft weiter verschlechtert. í˘ł

SPORT UND MENSCHENRECHTE Offenheit, Gastfreundschaft, Liebe zum FuĂ&#x;ball. Im Vorfeld der FuĂ&#x;ball-WM 2018 fand Wladimir Putin blumige Worte, um das GroĂ&#x;ereignis in seinem Land zu bewerben. Russland sei der ideale Gastgeber, die ÂťFuĂ&#x;ballfamilieÂŤ dĂźrfe sich willkommen fĂźhlen. Putin gibt den weltoffenen Staatsmann. FĂźr Regierungen sind sportliche GroĂ&#x;veranstaltungen seit jeher ein gern genutzter Anlass, um sich international in ein vorteilhaftes Licht zu rĂźcken und gleichzeitig nach innen GrĂśĂ&#x;e und Stärke zu demonstrieren. Und das, obwohl – oder vielleicht gerade weil – schwere Menschenrechtsverletzungen nicht selten unweit der Spielstätten verĂźbt werden. Das war immer wieder in der Geschichte so: Die Olympischen Spiele 1936 in Deutschland und die FuĂ&#x;ballweltmeisterschaft 1978 in Argentinien sind nur zwei hervorstechende Beispiele. So schwärmte 1978 der damalige Fifa-Präsident JoĂŁo Havelange in Buenos Aires: ÂťDie Welt hat das wahre Gesicht von Argentinien gesehenÂŤ – während zur gleichen Zeit Menschen in den Folterkellern der Militärregierung misshandelt und getĂśtet wurden. Die menschenrechtlichen Ambitionen des Gastlands kĂśnnen bis heute selten mit den sportlichen und politischen mithalten: Jenseits der einladenden Worte agiert auch der russische Staat vermehrt autoritär. Seit 2012 sind zahlreiche Gesetze verabschiedet worden, die die Meinungs- und Demonstrationsfreiheit einschränken. Regierungskritik wird mit staatlichen Repressalien geahndet. Gesellschaftliche Minderheiten mĂźssen mit Schikanen und Verfolgung rechnen, Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transund Intergeschlechtliche sind von staatlicher Diskriminierung und Gewalt betroffen. Die russische Regierung sieht in der Zivilgesellschaft keine Mitspielerin, sondern eine Gegnerin: Ein Gesetz zu Âťausländischen AgentenÂŤ kriminalisiert die Arbeit vieler Organisationen, die sich fĂźr humanitäre oder menschenrechtliche Themen einsetzen. Wenn Sport die beschworene BrĂźcke zu Frieden, VĂślkerverständigung und Menschenrechten sein soll, dann ist erheblich nachzulegen: Zum einen mĂźssen die Vergaberichtlinien fĂźr internationale Sportereignisse menschenrechtliche Mindeststandards berĂźcksichtigen – und eine nachhaltige Verbesserung der Menschenrechtslage einfordern. Zum anderen befĂśrdern GroĂ&#x;ereignisse zu oft selbst unmenschliche Arbeitsbedingungen auf Baustellen, unrechtmäĂ&#x;ige Zwangsräumungen oder unverhältnismäĂ&#x;ige Polizeigewalt. Die Olympischen Spiele 2016 in Brasilien und die FuĂ&#x;ball-WM 2022 in Katar lassen grĂźĂ&#x;en. In letzter Zeit hat es wichtige Verbesserungen gegeben, aber internationale wie nationale Sportverbände und -initiativen mĂźssen noch glaubhaft beweisen, wie ernst es ihnen mit den Menschenrechten ist. Und auch die Werbewirtschaft kĂśnnte in ihren Gesprächen mit Fifa oder IOC genauer hinschauen. Der europäische FuĂ&#x;ball kann sehr bald zeigen, wie lernfähig seine Institutionen sind: Im September entscheidet das UefaExekutivkomitee, wer die Europameisterschaft 2024 ausrichten darf. Zur Wahl stehen Deutschland und die TĂźrkei. Markus N. Beeko ist Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion.

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SPOTLIGHT

Foto: Sergei Balai / Amnesty

HINRICHTUNGEN: POSITIVER TREND Aus dem Leben gerissen. Tamara Selyun mit einem Bild ihres getöteten Sohns, Minsk, 2016.

Staaten töten, immer noch. 2017 wurden in 23 Ländern auf richterlichen Beschluss mindestens 993 Menschen hingerichtet. In den meisten Fällen geschah dies durch den Strang; acht Staaten setzten auf Erschießungskommandos; die USA, China und Vietnam nutzen die Giftspritze, Saudi-Arabien enthauptete die Verurteilten. Für 84 Prozent aller Hinrichtungen, die Amnesty 2017 dokumentierte, waren nur vier Staaten verantwortlich: Der Iran richtete laut Amnesty 507 Menschen hin, Saudi-Arabien 146, der Irak 125 und Pakistan mehr als 60. Die Gesamtzahl der Hinrichtungen weltweit könnte jedoch doppelt so hoch liegen: Da Angaben zur Todesstrafe in China Staatsgeheimnis

»Die Todesstrafe hat keinen Platz im 21. Jahrhundert.« UN-GENERALSEKRETÄR ANTÓNIO GUTERRES

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sind, fehlen genaue Statistiken. Amnesty geht davon aus, dass die Volksrepublik jährlich mehr Menschen hinrichtet als alle anderen Staaten zusammen. Die gute Nachricht ist jedoch, dass Guinea und die Mongolei 2017 die Todesstrafe aus ihren Gesetzen gestrichen haben. Damit töten inzwischen 142 aller Staaten nicht mehr. 1987 waren es 69, im Jahr der Amnesty-Gründung 1961 sogar nur zehn Länder, die die Todesstrafe aus ihren Gesetzbüchern gestrichen hatten. Auch in Afrika wird der hinrichtende Staat weiter zur Ausnahme: Während 2016 noch fünf Staaten südlich der Sahara Hinrichtungen vornahmen, waren es 2017 nur noch zwei, Somalia und der

Südsudan. Seit 1981 mit Kap Verde der erste Staat in der Region auf Exekutionen verzichtete, sind 20 Länder dem Beispiel gefolgt. Außerdem sinken die Zahlen aller zum Tode verurteilter sowie hingerichteter Menschen. China ausgenommen wurden 2017 weniger als 1.000 Personen exekutiert und weniger als 2.600 Menschen zum Tode verurteilt, was einem Rückgang von vier beziehungsweise 17 Prozent im Vergleich zum Jahr 2016 entspricht. Gegenüber dem Vorjahr gestiegen ist allerdings die Zahl jener Menschen, die auf ihre Hinrichtung warteten: Saßen Ende 2016 weltweit 18.848 Menschen in Todeszellen, waren es Ende vergangenen Jahres 21.919.

21.919 142 69 STAATEN HABEN DIE TODESSTRAFE INZWISCHEN ABGESCHAFFT, 1987 WAREN ES NUR

MENSCHEN SAßEN ENDE 2017 WELTWEIT IN TODESZELLEN EIN.

Quelle: Amnesty International

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DALE BAICH

Foto: Samantha Sais / The New York Times / Redux / laif

»EINES TAGES WIRD DIE TODESSTRAFE ABGESCHAFFT« Die Regierung des US-Bundesstaats Oklahoma will zum Tode verurteilte Häftlinge künftig durch die Inhalation von Stickstoff hinrichten lassen. Der Rechtsanwalt Dale Baich vertritt mehrere Todeskandidaten in Oklahoma. Interview: Arndt Peltner

Der Generalstaatsanwalt von Oklahoma hat angekündigt, Hinrichtungen künftig mit Stickstoffgas durchzuführen. Warum? Das für den Strafvollzug zuständige Ministerium hatte zuvor erklärt, dass es nicht in der Lage sei, die für eine tödliche Injektion vorgeschriebenen chemischen Substanzen zu beschaffen. Gibt es neben Oklahoma weitere US-Bundesstaaten, die über die Nutzung von Stickstoffgas zur Vollstreckung von Todesurteilen nachdenken? Louisiana plant offenbar ebenfalls derartige Hinrichtungen, auch in Alabama denkt man darüber nach. Historisch interessant ist, dass Oklahoma der erste Bundesstaat war, der die Todesspritze für Hinrichtungen einführte. Er nimmt also eine Vorreiterrolle ein, wenn es darum geht, wie man Menschen hinrichten kann. Ab wann wird die neue Methode angewendet? Da erst noch ein Ablaufplan erarbeitet werden muss, dürfte es bis Ende 2018, Anfang 2019 dauern. Lässt sich das noch verhindern? So lange wir nicht genau wissen, was in dem Ablaufplan steht, ist es schwer, rechtliche Schritte einzuleiten. Aber wir werden uns mit medizinischen Experten in Verbindung setzen und diese Hinrichtungsmethode genauestens unter die Lupe nehmen. Sollten wir dabei ein verfassungsmäßiges Problem für unsere Klienten erkennen, werden wir das anfechten. Kann es überhaupt einen humanen Weg der Hinrichtung geben? Die Exekution durch Gas ist eine barbarische Praxis, und es gibt keinen Grund zu glauben, diese sei sicherer oder humaner als andere Verfahren. Allerdings hat der Oberste Gerichtshof in Washington entschieden, dass die Nutzung eines Barbiturats bei einer Hinrichtung nicht gegen die Verfassung verstößt. Ob das human ist, wissen wir nicht, denn es gibt keine Experimen-

SPOTLIGHT

te an Menschen, um herauszufinden, wie man einen Menschen human tötet. In den USA gibt es strikte Regeln für die Einschläferung von Tieren. Warum gibt es keine genauen Vorgaben für den Hinrichtungsprozess? Wenn wir Tiere einschläfern, dann tun wir das, um ihr Leiden zu beenden, und zwar auf der Grundlage medizinischer Forschung. Für Hinrichtungen gibt es diese nicht, und das ist auch gut so. Medizinern ist es verboten, Hinweise zu geben, wie man eine Hinrichtung durchführen sollte. Also bleibt nur die Behörde für den Strafvollzug, die vorschlägt, was sie für den besten Weg hält, einen Menschen zu töten. Für mich als Deutschen ist es verstörend, dass in den USA über die Einführung legaler Vergasung diskutiert wird. Es ist in der Tat mehr als verstörend, diesen Rückschritt in Oklahoma zu beobachten. Aber die Mehrheit der Staaten weltweit und viele US-Bundesstaaten haben erkannt, dass die Todesstrafe eine verfehlte Politik ist. Wie sehen Sie die Zukunft der Todesstrafe in den USA? Ich glaube, wir sind auf einem langen Weg hin zur Abschaffung. So will der Oberste Gerichtshof die Hinrichtung von Menschen mit geistigen Behinderungen oder Jugendlicher nicht länger erlauben. Ich glaube aber, dass die Entscheidungen auf der Ebene der Bundesstaaten in den Parlamenten getroffen werden müssen. Dort muss eine offene und ehrliche Diskussion darüber geführt werden, ob andere Möglichkeiten der Bestrafung die Todesstrafe ersetzen können. Präsident Donald Trump hat jüngst die Todesstrafe für Drogenhändler gefordert. Ich hatte gehofft, bald in Rente gehen zu können und ohne Arbeit dazustehen. Daraus wird wohl so bald nichts werden.

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TITEL

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Fußball und Fortschritt

Fußball verbindet – auf der ganzen Welt. Und er schafft Freiräume für Frauen, Homosexuelle oder Geflüchtete, die Erfolge auf dem Rasen auch als persönliche Emanzipation begreifen. Oder als Sprungbrett für gesellschaftlichen Aufstieg. Ganz besonders in Ländern, wo ansonsten Männer bestimmen, wo der Ball langläuft.

Sportliches Willkommen. Wetherby, April 2018. Foto: Horst Friedrichs

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Spielmacherin. Naomi Westland im April 2018 in Wetherby.

Willkommen im Club In Großbritannien sind Politik und Medien überwiegend feindselig gegenüber Flüchtlingen eingestellt. Nicht so die Fußballclubs: 60 englische Vereine unterstützen die Amnesty-Initiative »Football Welcomes« – darunter die halbe Premier League. Von Peter Stäuber und Horst Friedrichs (Fotos), Leeds

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ufgeregt sitzen die Fußballer auf den Holzbänken im Umkleideraum und strotzen vor Selbstbewusstsein. Die zwanzig Teenager haben ihre Gegner zwar noch nie gesehen, aber dass sie verlieren könnten, kommt ihnen erst gar nicht in den Sinn. »Ich habe mit Verlierern nichts am Hut«, meint der großgewachsene Mohammed knapp. Die Keckheit teilen sie mit sportbegeisterten Jungs auf der ganzen Welt, doch verbirgt sich dahinter manch schmerzhaftes Schicksal. Denn alle im Team sind Flüchtlinge oder Asylbewerber. Sie sind aus Konfliktgebieten wie Syrien und Sudan nach Großbritannien gekommen, aus Eritrea, Äthiopien und anderen Ländern. Manche haben ihr Hab und Gut verloren, andere Familienmitglieder; viele sind vom Krieg traumatisiert. Aber heute spielen sie Fußball. Die Mannschaft wurde von der Sozialstiftung des nordenglischen Clubs Leeds United zusammengestellt, und an diesem Samstag werden sie zum ersten Mal gegen eine auswärtige Mannschaft kicken: ein Flüchtlingsteam aus der Nachbarstadt Barnsley. Es ist der erste Tag des diesjährigen »Football Welcomes«-Wochenendes, einer von Amnesty International organisierten Veranstaltung, die in diesem Jahr zum zweiten Mal stattfindet. Es ist ungewöhnlich warm für nordenglische Verhältnisse, die Sonne scheint auf den Kunstrasen in Wetherby bei Leeds, wo das Spiel stattfindet. Beide Teams wärmen sich auf, joggen an der Seitenlinie entlang und treten locker Bälle hin und her. Kurz vor dem Anpfiff schreitet Naomi Westland in den Mittelkreis

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und trommelt die Jungs zusammen. »Alle mal herhören!«, ruft sie den Spielern zu. »Wir sind heute hier, um den Beitrag zu würdigen, den Leute wie ihr, Flüchtlinge und Asylbewerber, zum Fußball leisten. Im ganzen Land werden heute Events wie dieser veranstaltet, und es ist toll, dass ihr dabei seid.« Westland hat anstrengende Wochen hinter sich: Die Mitarbeiterin der britischen Amnesty-Sektion hat das gesamte Projekt aufgezogen. Dutzende Gespräche hat sie geführt, um Fußballclubs und Wohltätigkeitsstiftungen für die Aktion zu gewinnen . »Es war zum Schluss recht intensiv«, sagt die 41-Jährige, während sie die Partie vom Spielfeldrand aus verfolgt. »Unser Ziel war es, landesweit 50 Clubs zu finden, die mitmachen. Am Ende hatten wir 60, darunter die halbe Premier League.« »Football Welcomes« ist Teil einer breiteren Initiative von Amnesty in Großbritannien, die zum Ziel hat, Flüchtlingen humaner zu begegnen. »Es geht uns vor allem darum, die Gesellschaft offener zu machen für Asylbewerber und Migranten, damit sie sich willkommener fühlen«, sagt Westland. Als im Sommer 2015 Hunderttausende Menschen aus Syrien nach Europa kamen, um dem Krieg zu entkommen, fiel die Antwort der britischen Regierung extrem hartherzig aus: Sie erklärte, gerade einmal 20.000 Syrer aufnehmen zu wollen – und das innerhalb von fünf Jahren. Dies war ein Bruchteil dessen, was andere Länder anboten. Zudem nutzten Rechtspopulisten im Land die Situation, um Stimmung gegen die Einwanderung zu machen, mit einigem Erfolg: Die Brexit-Debatte, die zum Austrittsvotum

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im Juni 2016 führte, war von Fremdenfeindlichkeit geprägt. Nach der Abstimmung stieg die Zahl der rassistischen – insbesondere islamophoben – Übergriffe sprunghaft an. Aber dies sei nicht die ganze Geschichte, sagt Westland: »Entgegen der negativen Berichterstattung in den Medien und der Aussagen mancher Politiker wissen wir, dass sich normale Menschen im ganzen Land bemühten, Solidarität zu zeigen und Flüchtlinge willkommen zu heißen.« Viele sammelten Geld oder versuchten, örtliche Behörden dazu zu bewegen, syrische Familien aufzunehmen. Andere fuhren mit Nahrungsmittel- und Kleiderspenden direkt ins Flüchtlingslager in Calais, manche gingen sogar nach Griechenland, um in den dortigen Lagern Freiwilligenarbeit zu leisten. Solche Impulse sollen durch die Initiative gestärkt werden, sagt Westland. »Wir stellten fest, dass Fußballclubs das Zentrum vieler Communitys bilden. Sie haben die Fähigkeit, Leute zusammenzubringen, sowohl auf dem Rasen wie jenseits des Spielfelds. Fußball ist universell und verbindet Menschen miteinander.« Deshalb sei dies ein idealer Weg, um die gesellschaftliche Akzeptanz von Flüchtlingen zu fördern. Westland selbst liebt diesen Sport ebenfalls. Als Mädchen spielte sie viel und gern, doch mangelte es damals an Vereinsstrukturen für Frauenfußball. »Ich fühlte mich nicht besonders willkommen. Als Mädchen musste ich immer härter trainieren als die anderen, um zu beweisen, dass ich spielen konnte.« Mit 14 Jahren gab sie den Sport zunächst auf, spielte später aber in einem Amateurclub im Norden Londons. Heute beschränkt sie

FUSSBALL UND FORTSCHRITT

sich darauf, als Zuschauerin mitzufiebern: Sie ist Fan des Londoner Clubs Queens Park Rangers. »Auf die eine oder andere Art war Fußball schon immer Teil meines Lebens.« Auf dem Spielfeld in Wetherby ist die Zuversicht der Elf aus Leeds vorerst verpufft: Es steht 2:0 für Barnsley. Eben hat die Nummer 17 das zweite Tor erzielt, ein herrlicher Treffer in die linke Ecke. Der Trainer des Gästeteams, Jaber Abdullah, rennt pausenlos am Spielfeldrand hin und her und ruft laut Anweisungen auf Arabisch – die meisten seiner Spieler stammen wie er aus dem Sudan oder aus Eritrea. Doch dann dreht sich die Partie. Bald kommt das 2:1, wenig später der Ausgleich, und dann die Führung für die »Whites«, wie Leeds genannt wird. »Das ist schöner Fußball!«, ruft Ibrahim Inamdar den Spielern zu. Der 59-Jährige, ein ernster Mann mit grauem Bart, ist Sozialarbeiter und organisiert jede Woche Aktivitäten mit den Flücht-

Weil Fußball Menschen zusammenbringt, fördert er auch die Akzeptanz von Flüchtlingen. 13


lingen. »Schau doch mal her, was der Fußball erreichen kann«, sagt er gerührt, während er seinen Schützlingen zuschaut. Er kennt auch ihre dunklen Seiten und weiß um ihre seelischen Probleme. Als Naomi Westland begann, »Football Welcomes« zu planen, befürchtete sie zunächst, dass die Clubs ablehnend reagieren würden. »Es war das erste Mal, dass wir auf diese Weise mit Fußballclubs zusammenarbeiten wollten«, berichtet sie. »Viele Leute sagten mir, die werden da nicht mitmachen, das Thema Flüchtlinge ist zu politisch und kontrovers, und die Fans könnten feindselig reagieren.« Die Sorge war nicht unbegründet. In den siebziger und achtziger Jahren, als der Hooliganismus in englischen Stadien einen Höhepunkt erreichte, waren rassistische Ausfälle von Fans gegenüber schwarzen Spielern an der Tagesordnung. Emile Heskey, einer der bekanntesten englischen Spieler afrokaribischer Herkunft, der mehr als 60 Spiele für die Nationalelf bestritt, stellte vor Kurzem fest, Rassismus sei im englischen Fußball bis weit in die neunziger Jahre die Norm gewesen. Der gesellschaftliche Wandel sowie antirassistische Kampagnen des Fußballverbands haben zwar dazu geführt, dass rassistische Ausfälle inzwischen seltener und gesellschaftlich weniger akzeptiert sind, doch kommt es nach wie vor zu Zwischenfällen. »Doch wir dachten uns, wir versuchen es einfach mal«, erzählt Westland. »Wenn zehn Clubs mitmachen würden, wäre das schon ein Erfolg.« Das erste »Football Welcomes«-Wochenende im April 2017 markierte ein besonderes Jubiläum: 80 Jahre zuvor hatten die Nazis während des Spanischen Bürgerkriegs die Stadt Guernica bombardiert, und Großbritannien nahm daraufhin fast 4.000 geflüchtete Kinder und Jugendliche aus der baskischen Stadt auf. »Die meisten kehrten nach dem Krieg nach Spanien zurück, aber ein paar Hundert blieben hier – und sechs von ihnen wurden zu Profifußballern«, berichtet Westland. Sie war auf diese Geschichte gestoßen, als sie an der Universität Sussex ihre Abschlussarbeit in politischem Journalismus verfasste und machte damals einen der ehemaligen Kinderflüchtlinge ausfindig, der mittlerweile 89 Jahre alt war und in Cambridge lebte. »Die ganze Idee von ›Football Welcomes‹ ist inspiriert von der Geschichte der spanischen Flüchtlinge.« Entgegen aller Bedenken stieß das Projekt bei den englischen Clubs auf große Resonanz: Am ersten »Football Welcomes«-Wochenende im April 2017 beteiligten sich 30 Clubs – von der Premier League bis zu lokalen Vereinen. Sie gaben Flüchtlingen und Asylbewerbern Gratistickets für ein Spiel, ermöglichten Stadionbesuche oder organisierten Turniere in Zusammenarbeit mit Sozialstiftungen. »Angesichts dieses Erfolgs entschlossen wir uns, mit einigen Clubs längerfristig zusammenzuarbeiten und ihre Arbeit mit Flüchtlingen zu unterstützen.« Um sich inspirieren zu lassen, reiste Naomi Westland nach Deutschland, das in dieser Hinsicht weiter ist als Großbritannien: Das Integrationsprogramm »Willkommen im Fußball« baut Partnerschaften zwischen Clubs und lokalen Stiftungen auf, die für Flüchtlinge Training und Turniere anbieten sowie Bildungsprojekte und Möglichkeiten, sich zu vernetzen. »Wir überlegen, in Die Ruhe vor dem Sturm. Wetherby bei Leeds, April 2018.

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Großbritannien ein ähnliches Programm aufzubauen«, sagt Westland. Die Erfahrungen, die man in Deutschland gemacht hat, sind für sie hilfreich: Auch hier stieß die Ankunft der Flüchtlinge teilweise auf starke Ablehnung, doch ließen sich die Fußballclubs nicht davon beeindrucken. »Als beispielsweise Union Berlin 2015 ein Flüchtlingsheim einrichtete, gab es heftige Proteste der Anwohner«, sagt Westland. »Aber es gab auch viel Solidarität, und die Leute begannen, mit den Protestierenden zu diskutieren. Sie versuchten, ihnen begreiflich zu machen, dass die Flüchtlinge unsere Hilfe brauchen und nicht für unsere sozialen Probleme verantwortlich sind. Und tatsächlich hörten die Proteste nach einer Weile auf.« In England sei dies ähnlich gewesen: »Trotz der Feindseligkeit in den Medien und der Politik fiel die Reaktion der Fußballclubs überwältigend positiv aus. Sie sehen, dass sie eine Rolle dabei spielen können, Leuten bei der Anpassung an ein neues Land zu helfen, die Integration zu fördern und die Communitys zusammenzubringen.« In Wetherby ist die Partie zu Ende. Leeds hat mit 5:3 gewonnen. Einen der schönsten Treffer des Spiels hat Wael erzielt, ein untersetzter Jugendlicher mit Vollbart, der vor drei Jahren von Syrien nach England kam. Er will professioneller Fußballer werden – und scheint das Talent dazu zu haben. Nach dem Spiel gibt es Verpflegung, dann fahren beide Mannschaften nach Leeds, ins Stadion an der Elland Road, wo der gemütlichere Teil des Wochenendes beginnt: Der Verein hat den Flüchtlingen Karten für das heutige Spiel geschenkt. Zum zweiten Mal treten hier die »Whites« gegen Barnsley an, nur sind diesmal die Profis dran. Naomi Westland sitzt etwas erschöpft, aber in bester Stimmung auf der Tribüne, das Wochenende hätte nicht besser laufen können. »Wir hoffen, dass wir das Ganze im nächsten Jahr wiederholen können, die Rückmeldungen der Clubs und der Teilnehmer waren fantastisch.« Später erfährt sie, dass es beim Match zwischen den Clubs von Middlesborough und Derby, die ebenfalls zwei Flüchtlingsteams aufstellten, zu einem überraschenden Wiedersehen kam: »Ein Spieler aus Middlesborough kannte zwei Leute aus dem Derby-Team: Der eine war ein Freund aus seinem Heimatdorf im Sudan, der andere ein Flüchtling, den er in Frankreich kennengelernt hatte, als beide auf dem Weg nach Großbritannien waren. Es ist ein Klischee, dass Fußball die Leute zusammenbringt, aber hier war es wortwörtlich der Fall.« 쮿 Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app

»Football Welcomes« ist inspiriert von der Aufnahme spanischer Kriegsflüchtlinge 1937. FUSSBALL UND FORTSCHRITT

Stille Beobachter. »Football Welcomes Refugees«, Wetherby.

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Fangkünstlerin. Die russische Nationaltorhüterin Tatiana Shcherbak beim Europameisterschaftsspiel gegen Italien in Rotterdam, Juli 2017.

Frei sich zu bewegen Lesben und Schwule werden in Russland durch Gesetze und im Alltag diskriminiert. Der LGBT-Sportverband verschafft Sportlerinnen in diesem feindseligen Umfeld Freiräume. Von Ronny Blaschke, Moskau

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Foto: Tobias Schwarz / AFP / Getty Images

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er kleine Kunstrasenplatz am Stadtrand von Moskau wird von einem Zeltdach überspannt. Von außen kann man nicht hineinschauen, das ist Sorina besonders wichtig. Über ihrer schwarzen Trainingsjacke schlackert ein orangefarbenes Leibchen, ihre mittellangen Haare hat sie zu einem Zopf gebunden. Wenn sie mit einem kräftigen Schuss das Tor verfehlt, lächelt sie trotzdem. Sie klatscht sich mit ihren Gegnerinnen ab, sie machen Witze, umarmen sich. »Es geht uns nicht nur um das Gewinnen«, sagt sie später. »Der Fußball ist für uns ein Schutzraum. Hier müssen wir keine Rolle spielen, hier geht es um uns.« Ihren Nachnamen möchte sie nicht nennen, denn Sorina ist lesbisch. Die 33-Jährige ist in Tomsk aufgewachsen, im westlichen Teil Sibiriens. Als sie elf war, nahm ihr Vater sie zum ersten Mal mit ins Stadion. »Wen sollen wir anfeuern?«, fragte sie, und ihr Vater sagte: »Die Jungs in den weißen Trikots.« Seitdem ist sie dem Fußball verfallen. Doch selbst zu kicken in der Machogesellschaft Russlands? Das traute sie sich lange nicht zu. Als sie 14 war, las ihre Mutter ihr Tagebuch und fand heraus, dass sie eine lesbische Tochter hatte. Daraufhin verschlechterte

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sich ihr Verhältnis, und Sorina schottete sich immer weiter ab. Erst an der Universität stellte sie fest, dass es andere Studentinnen gab, die ebenfalls Frauen liebten. Sie wollten traditionelle Geschlechterbilder abstreifen und gründeten das Fußballteam »1604«, nach dem Gründungsjahr ihrer Stadt. Sorina schlägt vor, uns für ein Interview in einem kleinen Büro zu treffen, das in einem Hinterhof im Zentrum Moskaus liegt. Als es an der Tür klingelt, schreckt sie kurz hoch. Sie geht zur Gegensprechanlage, blickt auf den Bildschirm und ist erleichtert: keine Neonazis, keine wütenden Nachbarn, keine Behörden. Sie öffnet einem Bekannten die schwere Eisentür, als sei sie eine Sicherheitskraft in einer Bank. »Wir werden im russischen Fußball doppelt diskriminiert«, sagt Sorina. »Weil wir Frauen sind und weil wir lesbisch sind.« Nach ihrem Architekturstudium in Tomsk zog Sorina nach Moskau, wo sie fast fast niemanden kannte. In den sozialen Medien stieß sie auf die Russian LGBT Sport Federation, einen schwul-lesbischen Sportverband mit 1.700 Mitgliedern. Wieder gründete sie ein Fußballteam. Die Spielerinnen genießen die Bewegung, das Gerangel vor dem Tor. Fußballspielen gibt ihnen

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meister im Wasserspringer Greg Louganis und die niederländische Sportministerin Edith Schippers. Beide verließen die »Open Games« vorzeitig. Minuten später ließ die Polizei die Halle räumen, angeblich wegen Terrorgefahr. Andere Sportstätten und Hotels zogen ihre Unterstützung zurück und begründeten dies mit Überbuchungen, Stromausfällen und Klempnerproblemen. In einer Halle zündeten Vermummte eine Rauchbombe. Seitdem bucht der Verband für größere Veranstaltungen einen Sicherheitsdienst. Die Tätigkeiten des Verbands werden nicht nur durch das Selbstvertrauen und ermöglicht es ihnen, auszubrechen, zumin- »Agentengesetz« massiv erschwert: Seit 2013 ist es in Russland dest für ein paar Stunden. Sorina hat Spaß daran, andere zu verboten, gegenüber Minderjährigen positiv über Homosexualität zu sprechen. Der Schock, den dieses Gesetz auslöste, wirkt motivieren, doch bringt das auch Gefahren mit sich. Denn zivilgesellschaftliche Organisationen stehen in Russbis heute nach, auch bei Alexander Agapov, dem Präsidenten land seit einigen Jahren stark unter Druck. Seit 2012 müssen sich der Russian LGBT Sport Federation. An einem SonntagnachmitNichtregierungsorganisationen als »ausländische Agenten« retag befestigt er im Goethe-Institut in Moskau eine Regenbogengistrieren lassen, wenn sie finanzielle Unterstützung aus dem flagge an der Bühne – an einem Sonntag, weil dann garantiert Ausland erhalten und »politisch tätig« sind. Tausende Aktiviskeine Sprachschüler vor Ort sind. Anschließend wird der Film ten gaben seither auf, gingen ins Ausland oder halten sich mit »Wonderkid« gezeigt, der von einem schwulen Jugendkicker Kritik zurück. Die Russian LGBT Sport Federation ist nicht als handelt. Alexander Agapov hatte jedem Publikumsgast die An»ausländischer Agent« registriert, denn Sport gilt in Russland fahrtsbeschreibung persönlich geschickt. Es gab keine Plakate, als vergleichsweise unpolitisch. Gegenüber Behörden und Halkeine Onlinewerbung. Die US-Botschaft in Moskau half beim lenvermietern stellt Sorina ihr Team als einen Kreis von alten Visa-Antrag für den englischen Regisseur Rhys Chapman, der Schulfreundinnen vor. Sie betont, dass es um Bewegung und als Ehrengast zur Filmvorführung kam. Gesundheit gehe, unverdächtige Themen. Zweimal pro Woche Alexander Agapov ist ein nachdenklicher, wortgewandter nutzen sie die späten, weniger nachgefragten Abendstunden. Mann, mit Interessen weit über den Sport hinaus. Der 35-Jährige Sie verlassen die Hallen in kleinen Gruppen, kommunizieren in ist unter schwierigen Verhältnissen in einem Moskauer Vorort geschlossenen Foren. »Und im Sommer warten wir, bis ein Platz aufgewachsen. Er studierte Geschichte, war sich früh seiner frei wird.« schwulen Identität bewusst und führte das Leben eines EinzelNeben sportlichen Aktivitäten organisiert der LGBT-Verband gängers. Agapov wurde gemustert, bedroht, einmal sogar überimmer wieder auch Partys, Leseabende und Festivals. So zum fallen. Im Internet fand er die Russian LGBT Sport Federation. Beispiel 2013 die »Open Games« mit 300 Teilnehmern. Zu den Drei Viertel der Mitglieder stammen aus Moskau und Sankt prominenten Gästen zählten der US-Olympiasieger und WeltPetersburg, seit ihrer Gründung im Jahr 2011 hat der Verband siebzig Wettbewerbe organisiert. Im Vergleich zu Europa mag das wenig sein, doch Agapov erklärt: »In den kleinen Städten der Provinz gibt es keine Schwulenbars. Der Sport ermöglicht Begegnungen und hilft bei der persönlichen Emanzipation.« Nach dem Zerfall der Sowjetunion war die Hoffnung groß auf eine wachsende gesellschaftliche Teilhabe. »Russland hatte Anfang des Jahrtausends eine blühende Szene«, erzählt Ekaterina Kochergina vom Lewada-Zentrum, dem letzten unabhängigen Meinungsforschungsinstitut in Russland. Schulen starteten Wettbewerbe, Studierende gründeten Bündnisse, es entstanden Tausende Vereine, Nachbarschaftshilfen, Umweltgruppen. Auch im Umfeld der Fußballvereine übernahmen Menschen Verantwortung. Doch der Staat schränkte die Grundrechte zunehmend ein. Als die Olympischen Winterspiele 2014 nach Sotschi und die Fußball-WM Kämpft um Anerkennung. Alexander Agapov bei einer Veranstaltung im Goethe-Institut in Moskau. Foto: Russian LGBT Sport Federation

Nur acht Teams gehören der ersten russischen Liga für Frauen an.

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Foto: Russian LGBT Sport Federation

2018 nach Russland vergeben wurden, hofften viele Aktivisten auf einen Rückgang der Repressionen. Doch das Gegenteil war der Fall: Stattdessen gab es Netzsperren, Vorratsdatenspeicherung und Einschränkungen der Versammlungsfreiheit. 2014, 2015 und 2016 wurden jeweils etwa 1.000 Menschen wegen »staatsfeindlicher Aktionen« inhaftiert – 2017 waren es rund 4.000. Die ablehnende Haltung der Bevölkerung gegenüber Homosexuellen hat nach Einschätzung von Ekaterina Kochergina verschiedene Ursachen. Finanzielle Sorgen werden mit Ablehnung kompensiert, die sich vor allem gegen Einwanderer aus Zentralasien, aber auch gegen Homosexuelle richtet, weil sie keine Kinder gebären könAb durch die Mitte. Der schwul-lesbische Sportverband bei den EuroGames 2015 in Stockholm. nen. Laut Prognosen könnte die Einwohnerzahl des Landes von 143 Millionen bis zum Jahr 2050 um oder Asien zu tun hatte, nichts mit HIV-Prävention oder Landzwanzig Millionen sinken. »Deshalb nimmt auch der Druck auf minen. Doch er wusste auch, dass es bei solchen Anlässen kaum Frauen zu. Dabei ist die Geburtenrate bei uns nicht wesentlich Gelegenheiten zur Mitsprache gibt. Agapov erzählte den Gästen, geringer als in anderen Industrienationen«, erklärt Kochergina. dass er bei der Fifa und deren Sponsoren um Unterstützung ge»Homophobie und Sexismus gehen oft einher.« Nach Angaben beten, aber unbefriedigende Antworten erhalten habe. Und er des Lewada-Zentrums kennen nur zwölf Prozent der russischen kritisierte, dass ein WM-Quartier in Tschetschenien zugelassen Bevölkerung Schwule oder Lesben persönlich, 35 Prozent halten wurde, obwohl in der Region Homosexuelle gefoltert und erHomosexualität für eine Krankheit. mordet wurden. Nach dem Kommentar Agapovs herrschte StilDie Fußball spielende Aktivistin Sorina möchte die WM zum le, auf dem Podium fühlte sich niemand angesprochen. Einige Anlass nehmen für Workshops, Fanturniere oder eine AusstelKonferenzteilnehmer wunderten sich auf Twitter und Facebook, lung zur LGBT-Sportbewegung. Frühere Weltmeisterschaften warum LGBT-Rechte bei der Fifa nicht stärker zur Sprache komhaben nicht nur Fans zusammengebracht, sondern auch Wismen. In der Mittagspause kam Agapov mit Verbandsmitarbeisenschaftler, Sozialarbeiter, Fanbetreuer. Die Weltmeisterschaft tern ins Gespräch, die ihm Unterstützung zusicherten. in Deutschland 2006 strahlte damals auf alle Bereiche des FußAlexander Agapov hat es nicht leicht, in Russland einen orballs aus, auch auf die Frauenligen. Wie wird es in diesem Jahr dentlich bezahlten Job zu finden, sein Ehrenamt macht ihn zu sein? Die erste russische Liga der Frauen zählt gerade mal acht einer öffentlichen Figur. Und der LGBT-Sportverband benötigt Teams, landesweit existieren nur rund 30 größere FrauenvereiGeld für seine Veranstaltungen und um Sportler zu unterstütne. Eine landesweite Talentförderung wie in Deutschland, USA zen, aber bis heute hat sich in der Zivilgesellschaft keine veroder Schweden gibt es nicht. »Der Fußball spiegelt die geselllässliche Spendenkultur gebildet. »Die russische Gesellschaft schaftliche Entwicklung wider«, sagt Sorina. »Frauen gehören ist individualisiert«, sagt Alexander Agapov. »Viele Menschen für viele in die Küche.« haben finanzielle Probleme, sie kümmern sich um ihre GrundAlexander Agapov sieht in der WM eine Chance, auf verbedürfnisse.« Irgendwann möchte die Russian LGBT Sport Fedenachlässigte Themen aufmerksam zu machen. Er ist in diesen ration eine eigene, kleine Geschäftsstelle haben, auch wenn sie Monaten viel unterwegs, stellt seine Arbeit bei NGOs und Botvermutlich kein großes Namensschild über die Tür hängen schaften vor – ob in Düsseldorf oder Bratislava, Kopenhagen kann. 쮿 oder Berlin. Doch viele Organisationen sind vorsichtig geworden, sie wollen nicht in Russland als »ausländische Agenten« eingestuft werden. Manchmal wird erst seine dritte E-Mail beantwortet, manchmal erhält er keine Antwort. Manchmal lernt er jemanden kennen, der ihn weitervermitteln kann. Und manchmal wartet er einfach, bis sich ihm ein Mikrofon bietet. So wie im März in Zürich im pompösen Hauptquartier des Weltfußballverbandes Fifa, als 250 Gäste eine Konferenz zu »Gleichberechtigung und Inklusion« verfolgten. Als die Moderatorin die Diskussion fürs Publikum öffnete, hob Alexander Agapov sofort die Hand. Er war nervös und fühlte sich unwohl, weil sein Kommentar nichts mit Entwicklungsprojekten in Afrika

Nach dem Zerfall der Sowjetunion war die Hoffnung groß auf mehr gesellschaftliche Teilhabe.

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Die Fifa schaut weg

Balanceakt. Die iranische Trainerin Katayoun Khosrowyar in Teheran, Juli 2015.

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er Fortschritte im internationalen Frauenfußball finden will, der muss in die italienische Provinz: Ins Friaul, nach Lignano und nach Corno di Rosazzo zum Beispiel, und weiter über die Grenze nach Slowenien, nach Rence und Ajdovščina. Orte, die ganz weit weg sind vom großen Fußball. Und doch Orte, die großen Fußball im Kleinen gesehen haben, beim Torneo delle Nazione, einem Turnier, das der italienische Fußballverband auch für die weiblichen Jugendnationalmannschaften unter 17 Jahren ausrichtet. Am 25. April 2018 traten in Rence die besten Nachwuchsspielerinnen aus dem Land der Weltmeisterinnen zu ihrem ersten Match im Turnier an: Die Vereinigten Staaten von Amerika trafen dabei ausgerechnet auf die Auswahl der Islamischen Republik Iran. 8:0 endete das Match für die Amerikanerinnen, und doch waren die Iranerinnen in gewisser Weise die Siegerinnen des Tages. Denn dass der iranische Fußballverband FFIRI seine Nachwuchsspielerinnen überhaupt zu einem hochkarätig besetzten Turnier nach Europa schickte und gegen die Amerikanerinnen antreten ließ, ist ein ermutigendes Zeichen – auch wenn die Iranerinnen am Ende auf dem letzten Platz von insgesamt acht Teams landeten. Sie verloren im Übrigen nur gegen die USA so hoch. Das Spiel gegen Slowenien ging 1:1 aus, mit 1:3 endeten die Partien gegen Italien und Russland.

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Die iranischen Spielerinnen gingen aus dem Turnier mit einem Erfahrungsvorsprung gegenüber ihren Konkurrentinnen aus anderen asiatischen Ländern hervor. Die Aussicht auf Teilnahme an internationalen Spielen steigerte zudem die ohnehin große Popularität, die Fußball unter iranischen Mädchen genießt. Und nicht zuletzt war der Auftritt der Jugendmannschaft in Europa auch ein politisches Signal, dessen Bedeutung vor dem Hintergrund des jahrelangen Kampfes von iranischen Sportlerinnen und Zuschauerinnen um mehr Anerkennung und Rechte nicht zu unterschätzen ist. Während sich die Jugendmannschaft auf die Spiele in Europa vorbereitete, waren Mitte April in Teheran die besten FutsalSpielerinnen des Landes damit beschäftigt, sich auf die Verteidigung jenes Titels vorzubereiten, den sie 2015 gewonnen und der sie damals im Iran schlagartig bekannt gemacht hatte: die Asienmeisterschaft im Hallenfußball (Futsal). Mit Erfolg: Mitte Mai schlugen sie das Nationalteam aus Japan im Finale in Bangkok mit 5:2. Schon vor der Anreise zum Turnier vor drei Jahren hatte das Team Schlagzeilen gemacht – aus einem traurigen Grund. Denn Kapitänin Nilufar Ardalan konnte nicht am Turnier in Malaysia teilnehmen, weil ihr Ehemann, ein bekannter TV-Moderator, ihr die Ausreise verweigerte. Als im Frühjahr 2017 der Ehemann der Bogenschützin Sahra

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Trotz des Titels 2015 verlief die Vorbereitung auf die Asienmeisterschaft keineswegs störungsfrei. Fußball genießt unter jungen Iranerinnen hohe Popularität. Doch Fifa-Funktionäre decken die Ausgrenzungspolitik der Islamischen Republik.

Foto: Behrouz Mehri / AFP / Getty Images

Von Christoph Becker

Nemati ihr ebenfalls die Ausreise verweigerte, wurde eine Gesetzesänderung auf den Weg gebracht: Bei Künstlerinnen und Sportlerinnen sollen künftig die Justizbehörden und nicht mehr der Ehemann über die Ausreiseerlaubnis entscheiden, wenn es um Reisen zu Kulturveranstaltungen, Wettkämpfen oder um die Pilgerfahrt nach Mekka geht. Verabschiedet ist die Änderung noch nicht – auch von Frauen gab es Kritik: Sie fordern, die Regelung solle nicht nur für Künstlerinnen und Sportlerinnen, sondern für alle Frauen gelten. Trotz des Titelgewinns 2015 verlief die Vorbereitung auf die Asienmeisterschaft keineswegs störungsfrei. Das zweite Vorbereitungsspiel gegen die Ukraine nahm der Vizepräsident des Asiatischen Fußballverbands und frühere Präsident des iranischen Verbands, Ali Kafaschjan, zum Anlass für einen Besuch der Spielerinnen. Der Auftritt führte zu einer Konfrontation mit den anwesenden Journalistinnen. Kafaschjan teilte mit, dass Zuschauerinnen, anders als beim ersten Spiel wenige Tage zuvor, nicht zugelassen seien, angeblich auf Bitte des Verbandes. Zudem wurden die Journalistinnen aufgefordert, ihre Telefone am Eingang abzugeben. Daraufhin erklärten die Reporterinnen, dann würden sie auch nicht berichten. Zudem erklärten sie, Kafaschjan solle nicht daran denken, die Halle zu betreten, schließlich sei ihm als Mann der Besuch von Frauenspielen

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nicht gestattet. Der Funktionär rechtfertigte sich mit Verweis auf seine Funktion als Futsal-Beauftragter. Er verließ das Spiel allerdings schon früh, angeblich missfiel ihm, dass die Ukrainerinnen ohne Hidschab angetreten waren. Die Episode verdeutlicht, wie die Islamische Republik ihre Glaubensgrundsätze auch im Sport immer wieder durchsetzt – zum Nachteil von Sportlerinnen und Zuschauerinnen. Nicht selten werden bei Frauenspielen Handys eingezogen, aus Sorge, es könnten Bilder von Gegnerinnen ohne Hidschab verbreitet werden oder von Spielerinnen, denen das Kopftuch verrutscht ist. Aus demselben Grund ist selbst bei Frauenwettkämpfen keineswegs garantiert, dass Zuschauerinnen zugelassen sind – in Zeiten, in denen Frauen auf den Straßen iranischer Städte immer wieder demonstrativ auf die Kopfbedeckung verzichten. So sind Iranerinnen nach wie vor ausgeschlossen, wenn Fußball gespielt wird – was vor allem dann auffällt, wenn Männer spielen. Ende April feierte der FC Persepolis den elften Meistertitel im Asadi-Stadion in Teheran. Durch die sozialen Netzwerke ging ein Foto von fünf Mädchen mit angeschminkten Bärten, verkleidet als junge Männer. Während der Saison 2017/18 war dies ein gängiges Bild in iranischen Stadien: Über Twitter, Instagram und Telegram wurden sie so zu Aushängeschildern von »Open Stadiums«, einer Kampagne für mehr Gleichberechtigung – und damit für ein in der Olympischen Charta und im Reglement des Internationalen Fußballverbandes Fifa verbrieftes Recht. Doch wie wenig öffentliche Unterstützung die Aktivistinnen erhalten, ist erschütternd. So besuchte Fifa-Präsident Gianni Infantino im März Teheran, traf sich mit Präsident Hasan Rohani und verfolgte gemeinsam mit 80.000 anderen Männern das Teheraner Stadtderby zwischen Persepolis und Esteghlal, während vor dem Stadion Ordnungskräfte 35 Frauen und Mädchen »an einen sicheren Ort« verbrachten und sie erst am Abend wieder aus dem Gewahrsam entließen. »Es war ein sehr schlimmer Tag für uns«, sagte eine der Demonstrantinnen anschließend der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Die Aktivistinnen von »Open Stadiums« schrieben nach den Vorfällen den Asiatischen Fußballverband an, erhielten jedoch keinerlei Rückmeldung. Fifa-Präsident Infantino äußerte sich zu der Polizeiaktion erst, als er zurück in Zürich war, und nannte sie »zutiefst bedauerlich«. Er versicherte den Iranerinnen, dass er persönlich sich den Menschenrechten verpflichtet fühle, insbesondere den Rechten der Frauen. Bei seinem Treffen mit Rohani habe er darauf gedrungen, dass es ihnen erlaubt sein sollte, »ihre Lieblingsmannschaft anzufeuern, gerade im Iran, wo doch die gesamte Bevölkerung dem Fußball so leidenschaftlich begegnet«. Rohani habe »positive Entwicklungen in naher Zukunft« versprochen. Darauf hatte bereits Infantinos Vorgänger Sepp Blatter gesetzt, als er 2013 beim iranischen Präsidenten zu Gast war. Geändert hat sich seither nichts. 쮿

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Eingeschworene Truppe. Frauenmannschaft in Riad, Mai 2012.

Schleier in den Stadien Foto: Hassan Ammar / AP / pa

In Saudi-Arabien kämpfen Frauen seit Jahren um mehr Rechte – auch auf dem Fußballplatz. Die konservativen Herrscher gerieren sich weiter als Spielverderber. Von Sonia Larsen, Riad

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m Januar konnten saudi-arabische Frauen erstmals ihre Lieblingsmannschaften direkt von der Tribüne anfeuern. Nachdem Ende 2017 die Erlaubnis erteilt worden war, hatte man drei Stadien überstürzt renoviert, um die strengen Regeln des Königreichs zur Geschlechtertrennung einzuhalten. Der Beschluss war symbolträchtig: Bilder von weiblichen Fans, die ihre Teams feierten, sandten die Botschaft in die Welt, dass Fußball nicht nur ein Männersport ist – nicht einmal im konservativen Saudi-Arabien. Für saudische Frauen gibt es kaum Gelegenheiten, Sport zu treiben, oder sich überhaupt körperlich zu betätigen. Die rigide Geschlechterpolitik ist weltweit berüchtigt, allen voran das rückständige Fahrverbot für Frauen, das diesen Sommer enden soll. Aber auch das Vormundschaftssystem, das verhindert, dass Frauen ohne Zustimmung ihres Mannes das Land verlassen dürfen, zählt dazu. Der Sport bildet dabei keine Ausnahme. Bis 2017 war es nicht möglich, Fitnessclubs für Frauen einzurichten – obwohl bereits fünf Jahre zuvor saudische Athletinnen erstmals an den Olympischen Spielen teilgenommen hatten. Zwar gab es vereinzelt Sporteinrichtungen, doch diese wurden in der Regel als Spas deklariert – mit einer kleinen Turnhalle im hinteren Bereich. Organisierte Sportangebote oder andere physische Aktivitäten, die sich direkt an Frauen richteten, gab es darüber hinaus allenfalls in abgeschlossenen Wohnanlagen oder in privaten Veranstaltungsorten – sie richteten sich damit vor allem an Ausländerinnen und wohlhabende saudische Frauen. Zwar gab es bestimmte Gelände, die zum Walken freigehalten wurden. Doch da es in den meisten Monaten in Saudi-Arabien zu heiß ist, um sich im Freien in der Abaya fortzubewegen,

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dem langen, meist schwarzen Umhang, den Frauen tragen müssen, bleibt oft nur die Shopping Mall, um außerhalb der eigenen Wohnung ein paar Schritte zu gehen. Zwar wurde jüngst ein staatliches Programm zum Sportunterricht in Mädchenschulen gestartet, doch mangelt es weiter an ernsthaften Angeboten für organisierten Sport. Für das Recht, eine als dezidiert männlich wahrgenommene Sportart wie Fußball ausüben zu dürfen, muss weiter hart gekämpft werden. Fußball genießt eine ungeheure Popularität in Saudi-Arabien, auch unter Frauen. Die Aufregung, die mit dem ersten offiziellen Stadionbesuch einherging, vermittelt jedoch den irreführenden Eindruck, damit habe die Teilnahme von Frauen am Fußball begonnen. Denn zum einen mangelt es trotz des erstaunlichen Beschlusses weiter an Unterstützung seitens der Regierung, und konservative Teile der Gesellschaft leisten weiterhin starken Widerstand. Zum anderen haben saudi-arabische Frauen bereits seit Jahren Spiele angeschaut: zu Hause mit Freunden oder der Familie oder bei Auswärtsspielen von Vereinen wie Saudi al-Hilal. Aber nicht nur als Zuschauerinnen treten saudische Frauen in Erscheinung, sondern auch als Spielerinnen – jenseits des Rampenlichts. Schon zehn Jahre bevor ihnen offiziell der Zutritt zu den Stadien gewährt wurde, reiste eine Frauenmannschaft aus Riad in die Ostprovinz und trat zu einer Partie an, die als erstes Frauenfußballspiel in Saudi-Arabien gilt. Den Erzählungen einer beteiligten Spielerin zufolge wurde der Auftritt von zahlreichen Zuschauerinnen verfolgt. Die Begegnung markierte den Anfang einer Frauenfußballliga in Riad, machte aber auch deutlich, welche Herausforderungen noch zu bewältigen sind: Auch wenn bestimmte Medien das

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Ereignis begrüßten, sahen sich die Frauen mit Kritik von Konservativen konfrontiert, die dafür sorgten, dass ihnen neue Restriktionen auferlegt wurden. Obwohl die gesellschaftlichen Hürden hoch sind und es kaum Unterstützung durch die Behörden gibt, haben sich die Frauen Saudi-Arabiens nicht davon abhalten lassen, in inoffiziellen Mannschaften zu spielen – oft hinter hohen Mauern, die sie vor dem Blick der Öffentlichkeit abschotten. Eine Frau erinnert sich daran, dass in den ersten Mädchenmannschaften manche der Mitspielerinnen nicht einmal ihren Eltern davon erzählten. Stattdessen gaben sie an, eine Freundin zu besuchen oder für die Schule zu üben. Zehn Jahre später überwiegt die Einschätzung, dass große Fortschritte gemacht wurden. Aber obwohl viele Spielerinnen inzwischen den Rückhalt ihrer Familien genießen, erzählen sie entfernteren Verwandten und Arbeitgebern immer noch nicht davon. Medienauftritte führen weiterhin zu negativen Reaktionen in den sozialen Medien, und eine Spielerin gibt an, dass sie »dumm genug« war, die Leserkommentare zu einem Bericht über Frauenfußball in Saudi-Arabien gelesen zu haben. Immer noch halten es viele Konservative für unerhört, dass Frauen im Königreich überhaupt Fußball spielen – obwohl sie sich an die restriktiven Kleiderregeln halten und selbst bei Interviews ihr Gesicht bedecken. Als Prinzessin Rima bint Bandar Al Saud 2016 zur Vorsitzenden des Frauensportverbands ernannt wurde – als erste Frau in dieser Position –, bedeutete das den Beginn einer neuen Ära. Aber obwohl die Regierung den Frauensport weiterentwickeln will, ist es weiterhin schwer, eine Frauenfußballmannschaft in Saudi-Arabien zu unterhalten. Praktische Fragen wie die Anmie-

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tung eines Spielfelds sind nicht einfacher geworden. Eine Kombination aus strikten Trennungsregeln und Angst vor negativen Reaktionen durch die konservativen Tugendwächter halten Vermieter davon ab, Frauen ein Trainingsgelände zu überlassen. Die Managerin eines Teams merkte in einer saudischen Zeitung an, dass es nicht nur an Stadien mangele, sondern auch an gut ausgebildeten Trainerinnen. Dennoch betrachtete sie die Entwicklungen als positiv – viele Mädchen hätten die Hoffnung, Saudi-Arabien eines Tages im Ausland repräsentieren zu können, obwohl umstritten ist, ob diese Spiele auch im Fernsehen gezeigt werden sollten. Ihre Einschätzung macht deutlich, dass Saudi-Arabien eine konservative Gesellschaft bleibt, und dass viele Frauen sich nicht wohlfühlen, vor einem männlichen Publikum zu spielen. Unabhängig davon lassen sie nicht davon ab, den Sport auszuüben, den sie lieben. Seit 2017 sind große Fortschritte gemacht worden, doch der Kampf um mehr Rechte auf dem Spielfeld wird noch lange dauern. So bleiben die Spielerinnen die wahren Heldinnen, Spiel für Spiel, Schuss für Schuss. 쮿

Viele saudische Frauen verschweigen ihren Arbeitgebern, dass sie Fußball spielen. 23


Allein unter Männern Bibiana Steinhaus ist als Schiedsrichterin in der Fußball-Bundesliga angekommen, leicht hat sie es dort allerdings nicht. Von Christian Kamp

Unparteiisch. Bibiana Steinhaus beim Bundesligaspiel zwischen Borussia Mönchengladbach und dem FC Augsburg, Januar 2018.

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eleitet wird die Partie von Frau Bibiana Steinhaus.« An diese Ansage müssen sich manche erst gewöhnen. Immer noch, schließlich ist es schon der 33. und vorletzte Bundesliga-Spieltag, als der 1. FC Köln den FC Bayern empfängt – und für Steinhaus bereits der achte Einsatz in dieser Saison. Einem Kollegen auf der Pressetribüne ist das aber eine kleine Bemerkung wert. »Die Bibiana pfeift – kuck ma’ an.« Auch wenn das nur ein winziger Ausschnitt aus dem mit 50.000 Menschen vollbesetzten Kölner Stadion ist, sagt der Spruch etwas darüber aus, wie normal es ist, dass eine Frau als Schiedsrichterin in der Fußball-Bundesliga pfeift. Dass Bibiana Steinhaus, die Polizistin aus Langenhagen bei Hannover, die Männer nach ihrer Pfeife tanzen lässt, wie manchmal zu lesen war. Aber mit einem Satz wie diesem fangen die Schwierigkeiten ja schon an. Er mag humorvoll gemeint sein, vielleicht sogar emanzipatorisch, aber er führt letztlich zu konzeptuellen Verstrickungen. Weil er dann doch wieder ein Klischee bedient, das vor allem in der Gedankenwelt von Männern existieren dürfte. Wenn man so will, ist auch dieser Text in gewisser Weise kontraproduktiv für das, was Steinhaus am liebsten wäre. »Eigentlich«, sagt die 39-Jährige, »will man nicht darüber reden. Weil es nichts Besonderes ist. Aber irgendwie sind wir gezwungen, es doch zu tun, weil es eben doch verschieden ist.«

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Redebedarf gibt es an diesem Samstag auch im Kölner Stadion. In der Halbzeitpause liefert sich Mats Hummels auf dem Weg in die Kabine einen impulsiven Disput mit Steinhaus. Der Nationalspieler verabschiedet sich mit einer abfälligen Geste, so, dass sie ihm allemal eine Karte dafür zeigen könnte, aber sie ist nicht diejenige, die sich bei erster Gelegenheit angegriffen fühlt. Den Fußball, das spürt man schnell, wenn man sich mit ihr unterhält, weiß sie nicht nur mit den strengen Augen des Gesetzes zu betrachten, sondern auch mit der Leidenschaft eines Fans. Und Kommunikation, direkt und gern auch schlagfertig, ist ihre bevorzugte Art, die Dinge zu regeln. In ihren bisherigen Bundesliga-Einsätzen ist Steinhaus ohne rote oder gelb-rote Karte ausgekommen, in der zweiten Halbzeit in Köln jedoch wird es auch ihr zu bunt. Der FC-Trainer Stefan Ruthenbeck regt sich zum wiederholten Mal an der Seitenlinie auf, der vierte Offizielle sieht den »Scheibenwischer« – und Steinhaus schickt Ruthenbeck auf die Tribüne. Ganz normale Aufgaben eines Schiedsrichters, aber es wäre nicht verwunderlich, wenn Steinhaus sich manchmal ein paar Gedanken mehr machen würde. Schließlich kommt sie nicht umhin, dass tradierte Rollenbilder auf ihre Entscheidungen projiziert werden. Vor gut drei Jahren etwa legte ihr – da war sie vierte Offizielle am Spielfeldrand – der damalige Bayern-Trainer Pep Guardio-

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Foto: Norbert Schmidt / picture alliance

»Ich kann nicht unterm Radar fliegen, selbst wenn ich es wollen würde.« Bibiana Steinhaus

la ziemlich machomäßig den Arm auf die Schulter. Grenzüberschreitung oder menschlicher Umgang in der Millionenbranche? Und zu Beginn der gerade zu Ende gegangenen Saison, im Pokal, erlaubte sich der Münchner Profi Franck Ribéry einen Streich. Als er sich den Ball bei einem Freistoß zurechtlegte, zog er Steinhaus, die danebenstand, den Schnürsenkel auf – ein typischer Ribéry-Scherz oder aber einer, den er sich bei einem Mann nie erlaubt hätte? Guardiolas Hand schob sie beiseite, Ribérys Streich nahm sie mit Humor. Völlig klar indes war die Sache im November 2015, als der damalige Düsseldorfer Kerem Demirbay ihr, nachdem sie ihm Gelb-Rot gezeigt hatte, hinterherrief, dass Frauen im Männerfußball nichts zu suchen hätten. Da war auch für Steinhaus eine Grenze überschritten, Demirbay bekam vom DFB fünf Spiele Sperre aufgebrummt, sein Klub verdonnerte ihn dazu, ein Mädchenspiel zu pfeifen. Dass er dabei höchst unsportlich erschien, im modischen Mantel, kam nicht so gut an, auch nicht bei Steinhaus. Schiedsrichter, sagt sie, sollten mit ihrer Arbeit nicht im Mittelpunkt des Interesses stehen. »Ich habe aber auch gelernt, dass dieser blonde Pferdeschwanz auffällig ist und einfach etwas anderes in der Gruppe mit meinen Kollegen. Ich kann nicht unterm Radar fliegen, selbst wenn ich es wollen würde.« Ob sie es denn wollen würde? »Gerade zu Beginn«, sagt Bibiana Steinhaus, »habe ich es probiert, bis ich irgendwann verstanden

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habe, es wird mir nicht gelingen.« Das, sagt sie, sei der Moment gewesen, »in dem ich mehr zu mir selbst gefunden habe«. Mit 16 Jahren begann sie mit der Schiedsrichterei, weil es für eine aktive Karriere nicht reichte; auch ihr Vater war Schiedsrichter, erzählt sie. Schon mit 20 leitet sie Spiele der FrauenBundesliga, 2011 das Finale der Frauen-WM in Frankfurt, 2012 das olympische Endspiel. Parallel war sie immer auch bei den Männern im Einsatz, zuerst in unteren Klassen, 2007 stieg sie in die zweite Liga auf. Zu Beginn dieser Saison wurde sie in die erste Liga befördert. Ihre Premiere erlebte sie am 10. September 2017, Hertha BSC gegen Werder Bremen, das Spiel endete 1:1, über ihre Leistung wurde danach mit Anerkennung gesprochen. Doch da war auch schon klar, dass es keine leichte Saison für die Schiedsrichter werden würde, der Videobeweis macht ihnen das Leben nicht leichter, bis heute, und auch Bibiana Steinhaus hat zu kämpfen. In den Bewertungen des Fußballmagazins Kicker findet sie sich beinahe am Tabellenende der 24 Bundesliga-Schiedsrichter wieder, auch in Köln hat sie Schwierigkeiten, eine Linie zu finden, das Fachmagazin attestiert ihr »mehrere Unsicherheiten bei der Bewertung von Zweikämpfen«. Das alles war aber nichts gegen jenes Spiel Anfang April in Mönchengladbach, als Fans der Borussia sie massiv und herabwürdigend beschimpften. Pöbeleien, auch frauenfeindliche, sind nichts Neues für sie, ihr Freund, der frühere englische Spitzenschiedsrichter Howard Webb, erzählt sie, habe die ersten derben Schimpfwörter auf Deutsch gelernt, als er ihr beim Pfeifen zusah. Gladbachs Manager Max Eberl bat danach öffentlich um Entschuldigung, Steinhaus kommentiert die Vorfälle nicht. Wenn man mit ihr darüber spricht, ob sie ein Vorbild sein oder sogar zu gesellschaftlicher Veränderung beitragen wolle, dann klingt ihre Antwort ambivalent. Diversität ist schon etwas, was ihr wichtig scheint, es sei ein Verlust, dass Frauen in Firmen und Verbänden – gerade im Fußball – unterrepräsentiert seien. Aber Bibiana Steinhaus wirkt auch nicht, als wolle sie ihr Beispiel mit Wucht als ein Leitbild in diese Debatte stellen. Es gehe um die Leistung, sagt sie, und nicht um das Geschlecht. Vielleicht ahnt sie, dass es besser ist, sich in dieser Hinsicht nicht zu weit vorzuwagen. Denn dass manche Dinge gerade in dieser Branche leichter gesagt als auf dem Platz praktiziert sind, hat sie auf jeden Fall erfahren müssen. In Köln steht es kurz vor dem Abpfiff 3:1 für die Bayern, der eingewechselte Claudio Pizarro kommt im Strafraum zu Fall. Elfmeter für Köln? Ein Fall für den Videoassistenten. Steinhaus sieht sich die Szene auf dem Monitor an und entscheidet – kein Strafstoß. »Bibiana, Bibiana«, murmelt der Kollege auf der Pressetribüne. Er sagt es nur zu sich – und doch, so wirkt es, irgendwie auch von Mann zu Frau. 쮿

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Schwule Pässe gibt es nicht A

er Ball rollt. Die Stimmung ist friedlich. Von sexistischen, rassistischen oder homophoben Sprüchen auf den Rängen keine Spur. So schön kann Fußball sein. Keine Pyrotechnik, keine Schlägereien, die Spielerinnen können ungestört dribbeln, passen und flanken. Dieses entspannte Bild bietet sich jedes Wochenende in der Frauenbundesliga. Auch schön, wenn auch etwas traurig: Tickets sind noch kurz vor Anpfiff zu bekommen, weil maximal ein- bis zweitausend Zuschauerinnen und Zuschauer ins Stadion kommen. Im »richtigen« Fußball bietet sich dagegen oft ein ganz anderes Bild: Prügelnde Fans, ein riesiges Polizeiaufgebot, Affenlaute von den Tribünen, Hitlergruß oder Schmähungen des Gegners als »schwul« sind keine Einzelfälle. Sobald Männer gegen den Ball treten, scheinen die Dämme zu brechen. Das Stadion dient dann als Refugium für ein Konstrukt von Männlichkeit, das auf der Abwertung anderer basiert. Diese Art Männlichkeit muss stets bewiesen werden, oft mithilfe diskriminierender Rituale. Schwulsein kommt dabei nur als Beschimpfung vor. Dennoch bekommt der »richtige« Fußball viel mehr Aufmerksamkeit, Geld und Anerkennung, als dies für den Frauenfußball auch nur denkbar wäre. Den Gipfel des Ruhms und der Wichtigkeit stellt die Männer-Nationalelf dar, offiziell nur noch »Die Mannschaft« genannt. Sie vertritt das Land bei Weltmeisterschaften und stürzt es entweder in tiefe Depressionen oder löst eine Massenhysterie aus. Eine schwule Mannschaft, ein quasi schwules Land also, genauso enthusiastisch zu feiern, ist immer noch unvorstellbar. In Russland gilt ein Gesetz, das »Propaganda für Homosexualität« unter Strafe stellt, dabei kann es bereits strafbar sein, positiv über Homosexuelle zu sprechen. Dass bei dieser WM offizielle oder inoffizielle Aktionen gegen Homophobie im Männerfußball stattfinden, ist damit so gut wie ausgeschlossen. Schwul-lesbische Fangruppen werden zweimal darüber nachdenken, ob sie im Stadion sichtbar sein wollen. Das ist auch für die rückwärtsgewandten, machistischen Seilschaften von Fifa & Co, sehr beruhigend. Schwule im Männerfußball voll zu akzeptieren, hieße, bisherige Vorstellungen darüber, wie Männer, wie Schwule und wie Frauen zu sein haben, über Bord zu werfen. In einzelnen Bundesligavereinen gibt es bereits gute Ansätze, um den Fußball moderner und für neue Zielgruppen attraktiv zu machen. Außerdem gibt es zahlreiche schwul-lesbische Fangruppen, die offiziell von den Vereinen anerkannt sind. 2013 veröffentlichte der Deutsche Fußball-Bund die Broschüre »Fußball und Homosexualität«, und Thomas Hitzlsperger ist als schwuler Ex-Profi seit 2017 für den DFB als Botschafter für Vielfalt im Einsatz.

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Doch der Teamgeist, das, was Männerteams verkörpern, wofür sie stehen, schließt schwule Fußballer nach wie vor aus. Nicht nur in den oberen Ligen. Zusammenhalten, ein Team bilden, sich nahe kommen, auch bei unterschiedlicher sexueller Orientierung, ist immer noch sehr schwer. Das gilt weltweit. Wie sonst wäre es zu erklären, dass schwule Fußballer nicht einmal innerhalb ihrer Teams offen auftreten und sich stattdessen teilweise ein absurdes heterosexuelles Doppelleben zulegen? Aber nichts bleibt, wie es ist. Fußball ist nicht mehr unumstritten die beliebteste Sportart bei Jungs. Das könnte eine Chance für den Männerfußball sein. Die Last, als populärste Männersportart überkommene Männerbilder immer wieder zelebrieren zu müssen, könnte wegfallen. Jungs sollten von klein auf lernen, dass es auch schwule Mitspieler gibt. Vereine, Eltern und alle anderen, die darauf Einfluss haben, müssen mitziehen und eine offene Kultur pflegen. Doch diese oft sehr kleinteiligen Strukturen ändern sich nur langsam, auch hier gibt es noch viele Berührungsängste mit dem Thema Homosexualität. Es wird also noch dauern, bis der Männerfußball, der aus kleinen Jungs »richtige« Männer macht, sich in dieser Hinsicht neu erfindet. Auch im Frauenfußball ist übrigens nicht alles gut. Viele lesbische Frauen haben sich diese Sportart zu eigen gemacht, als heterosexuelle Frauen davor zurückschreckten, diese Männerdomäne zu erobern. Besonders in Ländern, in denen Lesbischsein ein Tabu ist oder Lesben verfolgt werden, ist Fußball für viele ein Freiraum, in dem sie aus vorgegebenen Rollen ausbrechen können. Lesbischsein ist dabei aber natürlich kein offenes Thema. In Deutschland treten lesbische Spielerinnen im Verein oft selbstverständlich offen auf. Auch unter den Fans sind viele lesbische Frauen, die entspannte Atmosphäre im Stadion hat auch damit zu tun. Doch öffentlich sollten lesbische Spielerinnen nicht zu sichtbar sein. Denn davor scheut auch der sonst so bemüht modern auftretende DFB zurück. Mit ein paar schwulen Fußballern im Männerfußball, so glaubt man inzwischen, komme man in Zukunft schon klar. Aber wie soll man mit den vielen lesbischen Spielerinnen in einer Sportart umgehen, die es schon schwer genug hat, neben dem dominanten Männerfußball zu bestehen? Man möchte Frauen im Fußball unterstützen – die Zahl der Fußball spielenden Mädchen wächst – und trifft doch immer wieder auf zahlreiche Lesben. Dies ist zwar an sich kein Widerspruch, passt aber nicht in ein schlichtes heterosexuelles Mann-FrauSchema. Zudem sind lesbische Frauen schwer zu vermarkten und taugen nur bedingt als Vorbilder für ein neues erfolgreiches Sport- und Eventsegment. Bis die Fußballwelt eine wirklich offene diverse Kultur pflegt, wird es noch dauern. 쮿

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Foto: Revierfoto / dpa / pa

Bis sich im Fußball eine wirklich diverse Kultur durchsetzt, wird es allen Fortschritten zum Trotz noch dauern, schreibt die Geschäftsführerin der Lesbenzeitschrift L-Mag, Gudrun Fertig


Farbe bekennen. Julian Draxler beim Freundschaftsspiel der deutschen gegen die dänische Nationalmannschaft in Kopenhagen, Juni 2017.

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Genervt von den Vorwürfen Rechte Fangruppen geben den Ton an bei Energie Cottbus. Das stört moderate Anhänger des Klubs – doch sehen sie eher die Medien als Gegner als die Nazis in den eigenen Reihen. Von Hannah El-Hitami, Cottbus

Randale, Bambule, Cottbuser Schule! Energie-Fans im Stadion der Freundschaft, Januar 2016.

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A

Foto: Thomas Eisenhuth / dpa / pa

ls schwarz vermummte Fans von Energie Cottbus im April 2017 beim Spiel gegen den SV Babelsberg 03 den Platz stürmten, saß Urmel zu Hause vor dem Fernseher. Während im Gästeblock der Hitlergruß gezeigt und »Arbeit macht frei!« skandiert wurde, dachte sie sich: »Oh Gott, warum denn schon wieder wir?« Urmel heißt eigentlich Bianca Eifert-Koch, ist 29 Jahre alt und seit Juli 2017 die gewählte Sprecherin der Cottbuser Fanszene. Dass rechtsextreme Gruppierungen aus Cottbus ausgerechnet das Spiel gegen den antirassistisch engagierten Potsdamer Verein störten, wundert sie nicht. »Wer provozieren will, der fährt natürlich zu so einem Spiel«, sagt sie ruhig und ohne zu überlegen an einem spielfreien Nachmittag im Stadion der Freundschaft. »Es ist halt nur schade, dass es wieder uns trifft.« Ein gutes Jahr liegt das Skandalspiel zwischen dem SC Babelsberg 03 und dem FC Energie Cottbus nun schon zurück. Besondere Empörung erregte damals, dass der Nordostdeutsche Fußballverband (NOFV) beide Vereine zu Geldstrafen wegen Pyrotechnik verdonnerte, Hitlergrüße und antisemitische Rufe der Cottbuser jedoch ungestraft ließ. Die Vorfälle sorgten in ganz Deutschland für Schlagzeilen. »Fanszene von Energie Cottbus im Griff von Rechtsextremen« titelten die Potsdamer Neuen Nachrichten, »Im Würgegriff der Rechten« der Spiegel. Neu ist das Thema nicht. In Cottbus existiert schon seit vielen Jahren eine starke rechtsextreme Szene – in der Stadt und im Stadion. Als besonders gefährlich gilt die Ultra-Gruppe Inferno Cottbus, gegen die der Staatsschutz ermittelt. Deren Mitglieder waren seit 1999 aktiv, ehe sie sich im Mai 2017 offiziell auflöste, nur um im Anschluss zu versuchen, die verbliebene Fanszene unter eigener Führung zu vereinen. Die Polizei geht von etwa 100 Mitgliedern und einem Kern von zehn bis zwanzig »Rädelsführern« aus, die Straftaten wie Körperverletzungen begehen. Der Verein selbst hat sich seit den Vorfällen beim Brandenburg-Derby in Babelsberg immer wieder gegen Rechtsextremismus positioniert. Runde Tische wurden ins Leben gerufen und Gremien für Vielfalt gegründet. Doch allmählich ist die Fan- und Fußballszene genervt vom Nazistempel. An diesem Frühlingsnachmittag steht Urmel am Zaun des leeren Stadions der Freundschaft. Über ihren glatten blonden Haaren trägt sie eine eng anliegende schwarze Mütze, auf die ein kleines rot-weißes Megaphon und »Fansprecher FCE« genäht sind. Urmel war in ihrer Jugend ein Riesenfan von »Urmel aus dem Eis« und ließ sich den Namen sogar auf ihr Fußballtrikot drucken. Seitdem nennt sie kaum noch jemand Bianca. Im Stadion der Freundschaft sah sie mit zwölf Jahren ihr erstes Spiel. Energie verlor. Trotzdem wurde sie zum ersten FCE-Fan ihrer Familie und zwei Jahre später einer der ersten weiblichen Ultras in Cottbus. »Damals saß ich ganz rechts oben«, sagt sie und zeigt auf die Osttribüne des leeren Stadions. An der Südtribüne ist ein Ban-

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Hitlergrüße und antisemitische Rufe der Cottbuser Fans blieben ungestraft. 29


Bei Energie Cottbus sieht man sich als Opfer von Nazis, die den Fußball zu ihrer Bühne machen.

Foto: Natalia Bronny

ner über die Sitze gespannt: »Energie für Vielfalt und Toleranz« steht rot auf weißem Hintergrund. Heute steht Urmel bei Spielen an der Nordwand, dem einzigen Bereich mit Stehplätzen, dem Bereich der Ultras. Dort hat trotz der offiziellen Auflösung die rechte Ultra-Gruppe Inferno Cottbus das Sagen. Sie bestimmt, wer Transparente aufhängen darf. Lange Zeit gab es von Seiten der Cottbuser Fans deshalb keine Spruchbänder gegen Rassismus. Denn wer sich engagierte, lief Gefahr, von Inferno gewalttätig bedroht zu werden. Doch davon will Urmel nichts hören. »Wir wissen doch nicht mal, ob die Leute bei den Ausschreitungen gegen Babelsberg Energie-Fans waren«, sagt sie mit einem Lächeln auf den Lippen. Ihre Mission ist klar: das Image der Cottbuser aufzupolieren, das leidige Thema endlich abzuhaken. Sie formuliert ihre Sätze knapp und deutlich, ihre Augen weichen dem Blick nicht aus – Urmel weiß, mit welchen Vorurteilen ihre Fans zu kämpfen haben. Dass es die Rechtsextremisten gibt, will sie nicht leugnen, doch machten diese nur einen ganz kleinen Teil der Fanszene aus. »Mit diesem Ruf haben wir schon immer zu kämpfen. Da ist es leicht für die Medien, uns wieder zum Buhmann zu machen. Aber jetzt wollen wir uns wehren.« Nicht alle nehmen das Problem mit den Neonazis so auf die leichte Schulter wie Urmel. 120 Kilometer nordwestlich von Cottbus im Berliner Stadtteil Kreuzberg lebt Rechtsextremismusforscher Robert Claus. Er beschäftigt sich seit mehr als zehn Jahren mit Rassismus im deutschen Fußball und forscht bei der Kompetenzgruppe Fankulturen und sportbezogene soziale Arbeit.

»Inferno Cottbus ist seit Jahren als extrem rechte Hooligangruppe bekannt«, sagt Claus. »In Cottbus existiert ein etabliertes Wirtschaftsnetzwerk aus Neonazis, Hooligans und Rockern, die zusammen Kampfsport machen und im Security-Business arbeiten. Inferno ist Teil davon.« In der 100.000-Einwohnerstadt in der Lausitz sind laut Radio Berlin-Brandenburg (rbb) 52 Sicherheitsfirmen mit 2.000 Mitarbeitern tätig – viele von ihnen mit Berührungspunkten zur rechten Szene, so Claus. Und was hat der Fußball damit zu tun? Der passe da wunderbar hinein, weil der FC Energie Cottbus das wichtigste Identifikationsobjekt in Cottbus sei, sagt Robert Claus. Nirgends sonst kämen am Wochenende mehrere Tausend Menschen zusammen. »Dort können rechte Gruppierungen junge Leute rekrutieren. Natürlich teilen die kein Parteiprogramm im Stadion aus, sondern sie bieten strategisch ein Gemeinschaftsgefühl an, eine Erlebniswelt aus Gewalt, Zusammengehörigkeit, Drogen und Männlichkeit.« Ende April im Friedrich-Ludwig-Jahn-Stadion in Berlin Bezirk Prenzlauer Berg: Ein Jahr nach den Krawallen gegen die linken Babelsberger spielt Energie Cottbus heute gegen den Berliner BFC Dynamo. Ein Sicherheitsspiel, denn beide Vereine sind in der Vergangenheit durch ihre rechten und gewaltbereiten Fans aufgefallen. Mario Pinkert ist aus Dessau angereist, um das Spiel zu beobachten. Schon bei seiner Ankunft hat er zwei Ordner aus Cottbus gesehen, die Kleidung von Thor Steinar anhatten – ein Erkennungsmerkmal der rechtsextremen Szene. Das will er jetzt gleich dem Verein melden. Pinkert ist seit Anfang 2018 Antirassismusbeauftragter des Nordostdeutschen Fußballverbands. Er soll die Fans im Stadion beobachten und dokumentieren, wenn es rassistische Gesten, Äußerungen oder Banner gibt. Seine Ausrüstung: ein Smartphone mit Kamera. Pinkert zeigt Bilder, die er bei vergangenen Spielen geschossen hat. Eines zeigt ein dunkelrotes Banner mit der Aufschrift »Semnonen«, daneben ein stilisierter Baum in Form eines T. Die meisten, so Pinkert, wüssten gar nicht, dass der sogenannte Weltenbaum oder Irminsul ein rechtes Symbol sein könnte, das auch während des Nationalsozialismus verwendet wurde. Auch beim Spiel im Jahn-Stadion hängt das Banner mit dem Weltenbaum im Block der BFC-Fans. Pinkert ist überzeugt, dass

Stimme der Fans. Bianca Eifert-Koch alias Urmel.

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Alles im Blick? NOFV-Funktionär Mario Pinkert.

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Foto: Natalia Bronny

Foto: Natalia Bronny

die meisten Fans gar nicht wissen, wie problematisch manche ihrer Banner und Sprüche seien. »Einmal hatte jemand ein T-Shirt an, auf dem ›Blut und Ehre‹ stand«, erinnert er sich in nuschelndem Dessauer Dialekt. »Derjenige hat nicht mal gewusst, was das bedeutet – der fand einfach nur das T-Shirt schön.« Pinkert strahlt fast immer, nur wenn man ihn auf das Skandalspiel zwischen Babelsberg und Cottbus anspricht, schaut er traurig. Der Antirassismusbeauftragte war an jenem Tag im April 2017 Spielbeobachter. Er war es, der dem Sportrichter einen Babelsberger Fan meldete, der »Nazischweine raus!« gerufen hatte. Er war es auch, der behauptete, keine Hitlergrüße gesehen oder antisemitische Parolen gehört zu haben. »Ich kann natürlich nur das dokumentieren, was ich persönlich wahrnehme«, betont er immer wieder – und dass er sich seit Jahren in Dessau gegen Rassismus engagiere. Die Reaktion der Babelsberger, zu denen er immer einen guten Kontakt gepflegt habe, enttäuscht Pinkert. Er sei irritiert über den Vorwurf, bewusst weggeschaut zu haben. »Wenn ich hier oben am Stadionrand stehe, kann ich doch nicht wissen, ob jemand in Klare Kante. Aufkleber im Karl-Liebknecht-Stadion in Potsdam-Babelsberg, April 2018. 200 Metern Entfernung ›Nazis raus!‹ oder ›Heil Hitler!‹ ruft. Das kann keiner!« Vor Spielbeginn schaut sich Mario Pinkert die Sigegen einzelne Straftaten vorgehen, weil sie das Verhalten aller cherheitskontrollen an den Einlässen an und beobachtet, wie gründlich die Ordner Taschen durchsuchen. Denn der 55-Jährige Fans neutral bewerten muss. »Sich zu treffen mit einer rechten Gesinnung ist keine Straftat«, heißt es seitens der Beamten. Eihat schon einiges erlebt: Männer etwa, die im eigenen Körper nen konkreten Plan, wie das rechtsextreme Problem im Fußball Leuchtstäbe ins Stadion schmuggeln. »Mehr Details muss ich gelöst werden kann, hat niemand. Alle sind sich einig: das ist ein da glaube ich nicht nennen.« Pinkerts Augen lachen hinter der gesellschaftliches Problem. Und: Die Medien haben das Problem Brille. In seinem linken Ohr steckt ein goldener Ring. Unter mit den Nazis völlig überzeichnet. Mag sein, dass die mediale seinem Arm hält er stets eine Mappe. Aufmerksamkeit nach dem Brandenburg-Derby etwas einseitig Pinkert redet gern über seine Arbeit, erklärt, zeigt, nimmt war – rechte Fans im deutschen Fußball gibt es nicht erst seit sich Zeit. Er sieht sich als Vermittler. Ihm ist es wichtig, die Ver2017 und nicht nur in Cottbus. Dennoch hat gerade jenes Spiel eine zu sensibilisieren; handeln müssten sie dann auf eigene verdeutlicht, wie schwer sich Vereine und Verbände damit tun, Verantwortung. Warum gerade er für den Job als AntirassismusRechtsextremismus im Stadion angemessen zu dokumentieren beauftragter geeignet ist? »Tja, das ist so eine Sache.« Pinkert lacht verlegen. »Ich bin Gefängnisbeamter und habe in den letz- und zu bestrafen. Mario Pinkert quatscht vor Spielbeginn noch kurz mit seiten 25 Jahren multikulturell viel erlebt. Außerdem habe ich viele nem Kumpel von der Polizei. Bratwurstgeruch liegt in der Luft, Freunde in Großstädten wie Hamburg oder die Tribünen im Jahn-Stadion füllen sich, wenn auch nur spärBerlin. Auch dort habe ich viel erlebt und gelich. Gleich geht es los. Die Cottbuser Fans bringen sich in Posisehen.« Eine Situation habe ihn geprägt: 1994, tion, der Capo steigt auf den Zaun, der die Tribüne vom Spielfeld Buxtehude. Mit einem Kumpel betrat er eine Kneipe. Darin: 90 Prozent Türken. »Erst waren trennt. Er wird das gesamte Spiel mit dem Rücken zum Geschehen verbringen und die Fans zum Rufen, Klatschen und Tromwir skeptisch, aber dann hatten wir einen richtig tollen Abend mit denen«, erinnert sich meln anfeuern. Anpfiff. Im Cottbuser Fanblock beginnt jemand die Trommel Pinkert. »Wir haben nun mal eine multikultuzu schlagen, ein Sprechchor von etwa 400 Anhängern wabert relle Gesellschaft, und da sollte man schon von der Tribüne Richtung Spielfeld. Arme recken sich in die tolerant sein. Wenn Fans Leute mit anderer Höhe – und klatschen im nächsten Moment. Keine auffälligen Hautfarbe beschimpfen, aber in der eigenen Gesten. Mario Pinkert steht ganz oben, auf der Presse- und VIPMannschaft auch Spieler mit anderer Glaubensrichtung oder Hautfarbe sind, dann finde Tribüne. Direkt links von ihm befindet sich der Gästeblock mit den Cottbusern. Würde Pinkert die Treppen bis ganz unten zum ich das sehr bedenklich.« Spielfeld gehen, da, wo sich jetzt die Balljungen an den Zaun Cottbuser, die sich von der rechtsextreklammern, könnte er die Cottbuser Fans gerade so von der Seite men Szene distanzieren, haben es im letzten sehen. Am gegenüberliegenden Spielfeldrand stehen und sitzen Jahr nicht leicht gehabt; genauso wie die Verdie BFC-Fans. Nur wenige große Banner sind aus der Distanz antwortlichen aus Fußball und Fanszene. Der entzifferbar, Menschen noch viel weniger erkennbar. Die Sonne Verein sieht sich als Opfer von Nazis, die den strahlt, Mario Pinkert kneift die Augen zusammen. Zwanzig MiFußball zu ihrer Bühne machen. Die Fans hanuten später ist er verschwunden. Drinnen gibt es Wurst und ben keine Lust mehr auf pauschale NazivorKuchen. 쮿 würfe. Und die Polizei in Cottbus kann nur

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Gegen den Trend: Bayern-Fans in London, Februar 2014.

»Da muss man mal draufhalten!« Kettcar-Sänger Marcus Wiebusch über Haltung im Fußball – und gegen Rechts. Interview: Markus Bickel

Im Refrain Ihres Songs »Mannschaftsaufstellung« sagt eine Frau zu ihrem fußballbegeisterten Mann, »Liebling, ich bin gegen Deutschland«. Wer ist diese Frau? Ich habe sie mir so vorgestellt, dass sie durch den Spielbericht des Radiomoderators selbst erlebt, mit welch brutalen Mitteln die Nazischläger, Rechtspopulisten und rechten Internet-Trolle vorgehen. Über die Fußballmetapher kommt sie zu dem Schluss, dass ein Deutschland mit solchen Spielern nicht gewinnen darf – dieses unmenschliche, aggressive, rechtspopulistische Deutschland. Und deshalb stellt sie sich gegen die Nationalmannschaft. Der Song ist natürlich eingebettet in ein ganzes Album, in dem wir immer wieder zeigen, dass man gegen diese Tendenzen angehen kann. Wenn man so will, ist es eine Aufforderung zum Kampf. Der Song ist hart und aggressiv – so wie die »Doppelsechs, die alles Fremde ins Abseits stellt« oder der Spieler, »der mit

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Gewalt die Kameras zu Boden schlägt«, wie es in einer Zeile heißt. Ich sage nicht, dass man, wenn man einen Nazi sieht, genauso hart zurückschlagen muss – auch wenn ich das gut nachvollziehen kann, gerade aufgrund meiner Erfahrungen aus den 1990er Jahren. Und ich rede nicht nur von den offensichtlichen Nazis, sondern auch von Verschwörungstheoretikern und jenen, die mit Sätzen wie »Das wird man doch noch sagen dürfen« den politischen Diskurs nach rechts verschieben wollen. Da muss man klar Stellung beziehen, so lässt sich kein Miteinander organisieren. Welche Rolle spielt die »schweigende Mehrheit als zwölfter Mann«, von der Sie auch singen? Wenn am Küchentisch die Diskussion losgeht, und einer kommt dann mit seinen rechtspopulistischen Phrasen, reicht es nicht zu sagen: »Onkel Fritz labert wieder.« Da muss man deutlich widersprechen, um eben nicht zur »schweigenden Mehrheit« zu gehören.

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Vom Drive her hat der Song etwas von einem WM-Hit – so wie »’54, ’74, ’90, 2006« von Sportfreunde Stiller. Wir haben den Song eigens so angelegt, dass er genau das nicht wird. Aber wir waren, sind und bleiben eine Popband, sodass er sicherlich mitreißende Motive mitbringt. Ich kenne allerdings nur wenige gute WM-Songs und finde es überhaupt schwierig, Lieder auf so ein Großereignis hin zu schreiben. Wegen der wenig massenkompatiblen Inhalte des Songs, der den deutschen Nationalismus anprangert? Der Song würde immer im Rahmen des WM-Spektakels instrumentalisiert werden. Das, was der Song eigentlich thematisiert, würde nicht durchkommen. Und – wie gesagt – Fußball ist in dem Song nur die Metapher. In »Der Tag wird kommen« thematisieren Sie Homophobie im Fußball. Auch die Affenlaute und die Bananen, mit denen dunkelhäutige Spieler noch vor zwanzig Jahren konfrontiert waren, kommen in dem Song vor. Die Zeile bezieht sich ganz eindeutig auf den Rassismus, den ich im HSV-Stadion in den 1980er Jahren erlebt habe, als Souleymane Sané von Wattenscheid 09 bei jeder Ballberührung mit Affenlauten beschimpft wurde. Als ich sah, wie Zuschauer mit Bananen ins Stadion kamen, habe ich es nicht glauben wollen, mich dann vom HSV distanziert, ehe ich kurze Zeit später zum St.-Pauli-Fan wurde. Solche Szenen habe ich in den letzten 20 Jahren nicht mehr erlebt – auch wenn es jüngst Entwicklungen mit Kevin Prince Boateng gab, die zeigen, dass es wieder losgehen kann. Das ist Irrsinn, dass man diese Errungenschaft wieder aufgeben könnte. Beim Kampf gegen Homophobie hinkt die deutsche Bundesliga der positiven Entwicklung gegen Rassismus noch hinterher? Die Fortschritte im Kampf gegen Rassismus zeigen, dass es auch auf anderen Ebenen vorwärts gehen kann – bei der sexuellen Orientierung etwa. Auf diesem Fortschrittsglauben basiert »Der Tag wird kommen«: dass wir nicht länger Höhlenmenschen sind, dass wir keine Keulen mehr schwingen und homophobe Idioten bleiben. »Geschichte ist Fortschritt, im Bewusstsein der Freiheit«, heißt es in einer Zeile. Das Zitat stammt von Hegel. Für mich heißt links sein, progressiv zu denken, die Welt stetig zu verbessern und nicht reaktionär das Alte zu bewahren. Wir können diese Gesellschaft besser machen – und da setzt der Song an, indem er fordert, dass Homosexuelle im Fußball eben nicht länger ausgegrenzt werden sollen.

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»Jeder liebt den, den er will, und der Rest bleibt still. Ein Tag, als hätte man gewonnen.« ›Der Tag wird kommen‹ Bei Vereinen wie St. Pauli, Babelsberg 03 oder dem SC Freiburg rennt man damit offene Türen ein. Das stimmt, in meinem eigenen Stadionumfeld habe ich das selbst nicht erlebt. Ich weiß aber von anderen, dass es diese Sprüche gab, »schwule Sau« etwa. Aber was den St. Pauli ausmacht, ist eben, dass dann sofort interveniert wird mit Sätzen wie: Hey, so reden wir hier nicht. Rechte würden dieses Korrektiv als »politische Correctness« abtun. Ich hingegen sage, dass das eine Form von Anstand ist: Man geht anständig mit Menschen um, und wenn das ein Fehler sein soll, dann sind wir wohl alle, die das auch so sehen, »linksgrün versifft«. Oder ein »Gutmensch« – ein sehr ambivalenter Begriff, der in mehreren Liedern auf »Ich vs. Wir« auftaucht. Das Wort kommt ursprünglich aus linken Zusammenhängen und wandte sich in den 1980er Jahren gegen diese selbstbeweihräuchernde Hippiementalität mancher Zirkel. Zu meiner Punkzeit habe ich reihenweise Songs über solche Leute geschrieben, weil ich nicht ertragen konnte, wie sie sich um die großen Zusammenhänge drückten, nur um ihre eigenes Süppchen zu kochen. Aber in Zeiten wie diesen ist der Begriff komplett verbrannt, weil er nur noch von rechts benutzt wird. Angesichts der autoritären Wende von den USA bis Europa kann man so wählerisch also nicht mehr sein, um neue Bündnisse zu schließen? Genau. Schließlich ist es nicht selbstverständlich, dass Menschen empathisch denken und fühlen, wenn sie sehen, was gerade im Mittelmeer passiert – oder im Dreck vor den Grenzzäunen des Balkans nach Hunderten Kilometern Flucht. Deshalb haben wir mit »Den Revolver entsichern« einen Song geschrieben, in dem wir diese Leute feiern, die noch etwas wollen, die sich engagieren, auch wenn sie vielleicht etwas hippiemäßig unterwegs sind – sei es bei Viva con Agua oder Amnesty International. Sie sind die letzte Bastion gegen den ganzen rechtspopulistischen Irrsinn und diese neoliberalen Ich-ich-ich-Tendenzen in der Gesellschaft. 쮿

MARCUS WIEBUSCH Foto: Andreas Hornoff

Foto: Eibner-Pressefoto / picture alliance

Das heißt, frühes Pressing ist angesagt? Um in der Fußballanalogie zu bleiben: Ja, da muss man mal draufhalten. Dabei geht es gar nicht hochtrabend um ein antifaschistisches Bollwerk, sondern darum, Haltung zu zeigen. Ich glaube, dass es genug Menschen in diesem Land gibt, die für ein empathisches Miteinander stehen und die den Hetzern den Wind aus den Segeln nehmen können. Indem man sie der Hoffnung beraubt, mit ihrem Gerede so lange durchzukommen, bis alle in diesem Land davon überzeugt sind. So weit wird es nicht kommen, aber sehr genau aufpassen sollten wir schon.

ist Gründer und Sänger der Hamburger Band Kettcar. Auf ihrem jüngsten Album, »Ich vs. Wir«, positioniert sie sich dezidiert links und wirbt für Empathie ohne Mitleid.

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Schütze die, die Menschenrechte verteidigen – denn sie leben gefährlich. Weil sie sich für die eigenen und die Rechte anderer einsetzen, werden Menschenrechtler_innen weltweit bedroht, kriminalisiert und ermordet. Deshalb brauchen sie deine Unterstützung. amnesty.de/mut-braucht-schutz


POLITIK & GESELLSCHAFT

Kolumbien

Flucht zu Flüchtlin

Zwischen den Ufern. Kinder am Rio Atrato, März 2018.

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Foto: Lena Mucha

KOLUMBIEN

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Viermal vertrieben. Elevina Palacio mit ihren Kindern in Riosucio, März 2018.

Im Nordwesten Kolumbiens liefern sich linke Guerilleros und rechte Paramilitärs auch anderthalb Jahre nach dem Friedensschluss Gefechte. Vor allem afrokolumbianische und indigene Bewohner geraten ins Visier der Kämpfer. Von Wolf-Dieter Vogel und Lena Mucha (Fotos), Riosucio Wenn Elevina Palacio von ihrem alten Dorf erzählt, kommt sie schnell ins Schwärmen: »In Truandó Medio waren wir reich, es hat uns an nichts gefehlt.« Mais, Reis, Bananen, Yucca, Kakao, Kokosnüsse, Mangos – gern zählt sie auf, was sie und ihre Nachbarn in den Gemeinden am Ufer des Rio Truandó dem fruchtbaren Boden des Regenwaldes abgerungen haben. »Dort hatte ich mein Schwein, meine Hühner, manchmal angelte ich im Fluss, und es gab immer genug Wasser«, erzählt sie. Andere hätten Rinder gezüchtet. »Auch die Kinder waren glücklich.« Sie spricht von einer perfekten Natur: »Im Dschungel ist es nie heiß, die Luft ist immer frisch.« Ganz anders als in Riosucio. Unter den Pfahlbauten sammelt sich der Abfall, bis ihn die Überschwemmungen der Regenzeit in die Häuser spülen. Doch der Regen lässt noch ein paar Monate auf sich warten. Elevina Palacio sitzt in einem roten, luftigen Kleid in ihrer Küche, ihre krausen Haare hat sie zusammengebunden. Draußen drückt die Sonne, ein Ventilator sorgt für etwas Kühle, das Wellblechdach knallt mit lauten Schlägen gegen die Balken des Hauses. Der vierjährige Sohn schreit, die älteste Tochter versucht,

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ihn zu bremsen. Niemals wäre sie freiwillig in diese Stadt gezogen, sagt die 40-jährige Afrokolumbianerin. Aber es gab keine Alternative. Sie musste flüchten. Denn in Truandó Medio, drei Stunden flussaufwärts, herrscht Krieg. Guerilleros und paramilitärische, kriminelle Banden liefern sich hier im Departement Chocó im Nordwesten Kolumbiens Kämpfe, die Armee bombardiert aus Hubschraubern. Für Elevina Palacio und ihre Gemeinde unterscheiden sich die Einheiten kaum voneinander. Sie alle leiden darunter, dass ihre Heimat Gold wert ist. Sei es, weil dort Drogen angebaut oder transportiert werden, sei es, weil der fruchtbare Boden gute Erträge für Ackerbau und Viehzucht verspricht. Es war die Landfrage, weshalb die Guerilla-Gruppen in den 1960er Jahren dem Staat den Krieg erklärten. Und es ist der Kampf um Land, weshalb bis heute Menschen vertrieben werden – oder sterben. »Erst gestern gab es einen heftigen Einsatz der Streitkräfte«, sagt Palacio. Zehn Mitglieder der linken Nationalen Befreiungsarmee (ELN) starben, melden die Nachrichten im Fernsehen. Die 40-jährige schaltet den Apparat aus und zeigt auf die andere Seite des Flusses, der die Stadt Riosucio von den Wäldern trennt. »Dort haben wir gelebt.« Der Tag, an dem Palacio und ihre sechs Kinder ihr Dorf verlassen müssen, kündigt sich vorher unüberhörbar an. Aus dem Dschungel schallen Schüsse, Hubschrauber sind zu hören. »Man schläft nicht mehr, ist panisch und immer aufmerksam«, erinnert sie sich. Am 3. März 2017 kommen die ELN-Kämpfer in

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ihre Gemeinde. Sie fordern die Bewohnerinnen und Bewohner auf, innerhalb von zwei Stunden zu verschwinden. Zu ihrer eigenen Sicherheit, sagen die Guerilleros. »Wir werden das Gebiet verminen.« Sollten die paramilitärischen Gaitanistischen Selbstverteidigungskräfte Kolumbiens (AGC) auftauchen, werde man sie angreifen. Palacio nimmt die Kinder an die Hand, springt auf eines der schmalen, tiefliegenden Holzboote, mit denen sich die Menschen auf den Flüssen bewegen, und macht sich auf den Weg nach Riosucio. Allein in diesen Wochen verlassen 800 Einwohnerinnen und Einwohner ihr Zuhause am Truandó-Ufer.

Nicht genug Jobs »Wir hatten keine Zeit, irgendetwas zusammenzupacken«, berichtet sie. Der gesamte Hausrat, die Tiere, die bestellten Felder – alles muss die Kolumbianerin den Eindringlingen überlassen. Später erfährt sie, dass Pferde und Mulis auf Landminen getreten sind. Auch ein Kind einer indigenen Nachbargemeinde wird durch die Sprengkörper schwer verletzt. Die Drohungen der Bewaffneten, daran lässt sie keine Zweifel, müsse man ernst nehmen. »Einmal sind wir in eine Gemeinde zurückgekehrt und haben nur noch die Knochen derjenigen gefunden, die sich geweigert hatten, zu gehen«, erinnert sie sich. Elevina Palacio redet ruhig und bestimmt, sie weiß, wovon sie spricht. Es ist bereits das vierte Mal, dass sie der Krieg zur Flucht gezwungen hat. Immer wieder musste sie ihr Zuhause aufgeben und sich eine neue Heimat suchen. Dieses Mal kommt sie im Holzhaus ihrer verstorbenen Mutter unter, die schon früher nach Riosucio gezogen war. Hier hält sie sich ein paar Hühner und ein Schwein. Mehrere mit Holzwänden abgetrennte Zimmer bieten Platz für fünf ihrer Kinder. Der Älteste wohnt in der Nachbarschaft, ebenfalls in einem der Pfahlbauten, die oft nur durch aufgelegte, brüchige Bretter miteinander verbunden sind. Sein Geld verdient er als Motorrad-Taxifahrer. »Nicht viel, aber immerhin muss ich für ihn nicht auch noch sorgen«, sagt Palacio. Am frühen Morgen war sie bereits in einer Schule, in der sie Getränke verkauft. Außerdem wäscht sie Kleider, 5.000 bis 10.000 Pesos (1,50 bis 3 Euro) verdient sie so am Tag. »Es ist schwierig, damit fünf Kinder zu ernähren«, sagt sie. Aber mit staatlicher Hilfe kann sie kaum rechnen. Das Unterstützungsgeld für die Familie wird an ihren Ex-Mann ausgezahlt, der sie wegen einer anderen Frau verließ, als sie mit ihrem jüngsten Kind schwanger war. Und in Riosucio sieht es mit Arbeit schlecht aus. Manche der 30.000 Einwohner am Zusammenfluss zwischen Riosucio und Rio Atrato sind auf Bananen- oder Palmenplantagen tätig, andere als Fischer oder in der Verwaltung. Weil die Flucht in die Gemeinde bereits vor zwanzig Jahren begann, gibt es bei weitem nicht genug Jobs für alle. Es war die Zeit, in der die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) große Gebiete in der Region kontrollierten. Immer wieder kam es zu Angriffen auf die zivile Bevölkerung. Vor allem aber der Terror paramilitärischer Banden zwang viele, ihre Dörfer zu verlassen. So beispielsweise im Februar 1997 in der afrokolumbianischen Gemeinde Curvaradó. Angeblich um gegen die FARC vorzugehen, griffen Soldaten sowie Paramilitärs das Dorf an. Nach dieser »Operation Genesis« flohen 4.000 Menschen. Insgesamt flüchteten während des Bürgerkriegs seit 1964 nach staatlichen Abgaben 7,26 Millionen Menschen, etwa 268.000 starben. Auch Elevina Palacio wurde 1997 das erste Mal mit ihrer

KOLUMBIEN

Ob der Traum vom eigenen Hof jemals wahr wird? Familie vertrieben. Ihr Vater erlitt einen Herzinfarkt und starb. »Aus einem Flugzeug wurden Bomben geworfen, das hat er nicht verkraftet«, sagt sie. Fünf Jahre später zog sie weiter in die Provinzhauptstadt Apartadó, 2012 kehrte sie ans Ufer des Tuandó-Flusses zurück. Als sie im vergangenen Jahr ihr Dorf erneut verließ, hatte die Regierung gerade ein Friedensabkommen mit der FARC abgeschlossen. Anfang 2017 zogen sich die Aufständischen aus den von ihnen kontrollierten Gebieten zurück. 6.803 Guerilleras und Guerilleros leben seither in 26 Camps. Von dort aus sollen sie in die Gesellschaft integriert werden.

Die Erben der FARC Etwa eineinhalb Autostunden von Riosucio entfernt befindet sich ein solches Lager. Alle in der Region kennen die Ansiedlung mit dem Namen Caracoli. Zwischen 120 und 130 Menschen leben hier – es sind demobilisierte Kombattanten, die in der FARCEinheit »Frente 57« auch am Truandó-Ufer gekämpft haben. Einige Männer spielen gerade am Fluss Volleyball, einige Frauen Fußball. Andere genießen die kühle Abenddämmerung auf ihren Balkonen. Viele von ihnen haben mehr als ihr halbes Leben im Regenwald verbracht, sind jahrzehntelang mit dem Rucksack von einem Ort zum nächsten gezogen. Nun wohnen sie in festen Gebäuden. Studenten aus Medellín haben ihre Häuser mit revolutionären Parolen und bunten Bildern von Papageien oder Fantasielandschaften verziert. Und mit den Gesichtern der FARCKommandanten, die im kubanischen Havanna den Friedensvertrag aushandelten. Rundherum haben die ehemaligen Kämpfer Gärten mit Blumen, Bananenstauden und Hochbeeten für Kohl, Tomaten sowie Zwiebeln angelegt. Wie alle in Caracoli hofft Wilson Enrique Duarte darauf, eines Tages ein Stück Land zu besitzen. Dort will er professionell Ackerbau oder Viehzucht betreiben. Das verstört. Denn Duarte, 30 Jahre, kurze schwarze Hose, dunkles T-Shirt, hat keine Hände mehr. Kurz nachdem er 2009 zur FARC ging, explodierte ihm bei einer Übung eine Mine. Die Explosion zerstörte auch ein Auge. Aber er hat eine Technik entwickelt, um mit Harken und anderen Gartengeräten zu arbeiten. Auch beim Volleyball ist er mit dabei. Es hätte noch schlimmer kommen können, meint Duarte, den die Guerilleros mit 18 Jahren rekrutierten. »Manche Freunde haben für die Sache ihr Leben gelassen.« Obwohl er der »Sache« seine besten Jahre geopfert hat, ist er noch heute von ihr überzeugt: »In der FARC haben wir viel gelernt. Wer nicht schreiben konnte, dem wurde es dort beigebracht.« Und die zahlreichen Opfer, die der Krieg gefordert hat? »Wir haben nur die Befehle der Führung umgesetzt.« Trotzdem ist er froh, dass seine Organisation die Waffen abgegeben hat. Ob aber der Traum vom eigenen Hof, den er mit seiner Frau betreiben würde, jemals wahr wird? »Ich hoffe, dass die Regierung die Vereinbarungen von Havanna einhält«, sagt er. Dort haben die Verhandlungspartner eine Landreform fest-

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Viele, die mit dem Gewehr groß geworden sind, sehen im legalen Leben keine Perspektive. geschrieben, die Bauern, aber auch FARC-Kämpfern zugute kommen soll. Der Staat soll zudem deren Integration ins gesellschaftliche Leben unterstützen und garantieren, dass sie sich sicher legal politisch betätigen können. Doch damit sieht es schlecht aus. Seit über einem Jahr sind die Ex-Guerilleros schon im Lager, und alles deutet darauf hin, dass sie noch lange Zeit dort verbringen werden. Die Agrarunternehmen, die sich in den 1990er Jahren widerrechtlich den Boden angeeignet haben, weigern sich, ihn zurückzugeben. Auch die Präsidentschaftswahlen lassen Duartes Hoffnungen schwinden. Denn es spricht alles dafür, dass Iván Duque vom rechtskonservativen Demokratischen Zentrum der nächste Staatschef wird – ein radikaler Gegner des Friedensprozesses, der beste Chancen hat, Mitte Juni die Stichwahl gegen den linken Kandidaten Gustavo Petro zu gewinnen. »Damit die Gewalt wirklich beendet wird, müssen auch die Paramilitärs und die ELN ihre Waffen niederlegen«, sagt Duarte .

Leider passierte zunächst das Gegenteil. Kaum hatten die FARC das von ihnen kontrollierte Gebiet verlassen, besetzten andere bewaffnete Gruppen den frei gewordenen Raum. Viele wechselten die Organisation. Die einen, weil sie den staatlichen Angeboten nicht trauten oder mit dem Friedensprozess nicht einverstanden sind. Die anderen, weil sie mit dem Gewehr groß geworden sind und im legalen Leben keine Perspektive sehen. Das stärkt vor allem die ELN, aber auch die paramilitärischen AGC. Die beiden liefern sich blutige Kämpfe um das Erbe der FARC. Vor allem geht es um Geld: Der schwer zu durchdringende Dschungel bietet optimale Bedingungen, um Koka für die Kokain-Herstellung zu pflanzen und illegal Gold oder Holz abzubauen. Und die wilden Läufe des Rio Atrato, des Riosucio oder des Truandó helfen, Drogen unkontrolliert in den Pazifikhafen Turbo zu bringen. Von dort aus gelangen sie nach Zentralamerika, Mexiko oder direkt in die USA.

Aktivisten im Visier Playa Roja ist eine Gemeinde an der staubigen, von Erdrutschen und Schlaglöchern gezeichneten Straße, die Riosucio mit dem Rest des Landes verbindet. Drei Restaurants, mehrere kleine Läden, ein paar Jugendliche, die Motorrad fahren. Eine Handvoll Soldaten bewacht den Ortsausgang. »Die stehen erst hier, seit mein Vater ermordet wurde«, erklärt Ramón Bedoya. Dann läuft der 18-Jährige ein paar Schritte aus dem Dorf hinaus und zeigt auf den Boden. »Kein Vergessen – Hernán Bedoya« steht da in großen weißen Lettern auf dem Asphalt. Genau hier starb Ramóns Vater. 14 Mal feuerten die beiden Täter am 8. Dezember 2017 auf ihn, als er sich gerade mit dem Pferd

Kriegsversehrt. Ex-FARC-Kämpfer Wilson Enrique Duarte in Caracoli, März 2018.

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Gefährdet. Die Kinder von Hernán Bedoya im März 2018 am Ortsausgang von Playa Roja, wo ihr Vater ermordet wurde.

auf den Weg zu seinem Hof machte. Mitten am Tag, kurz nach 13 Uhr. Viele Menschen waren um diese Uhrzeit auf der Straße. Einige sahen ganz genau, wer Hernán Bedoya getötet hatte. Doch keiner würde es wagen, auszusagen. »Sie haben Angst zu reden, weil sie sonst selbst ermordet werden könnten«, sagt Sohn Ramón. »Meinen Vater haben sie getötet, weil er sich dafür eingesetzt hat, dass uns unser Land zurückgegeben wird.« Es ist nicht der erste Angriff auf die Bedoyas. Im Jahr 1997 wurde die Familie erstmals von ihrer Finca vertrieben. Einheiten der paramilitärischen AUC zwangen damals zahlreiche Bauern, ihr Land zu verlassen. Kurz darauf eigneten sich Großunternehmer die fruchtbaren Ländereien an, pflanzten Bananen und Ölpalmen oder züchten Rinder. Zahlreiche Menschen wurden von den paramilitärischen Operationen terrorisiert oder ermordet. Schützenhilfe bekamen die AUC und die Agrarindustriellen vom damaligen Gouverneur und späteren Präsidenten Álvaro Uribe, der selbst aus einer Großgrundbesitzerfamilie stammt. Die Bedoyas kehrten zwar in den Folgejahren mehrmals auf ihren Hof zurück, mussten aber immer wieder der Gewalt weichen. Erst 2012 gelang es ihnen, sich wieder dort festzusetzen. Der Zeitpunkt erschien günstig: Im Jahr zuvor hatte die Regierung ein Gesetz zur Landrückgabe und Entschädigung der Opfer unterzeichnet. Bis zu acht Millionen Hektar zwangsenteignete Bodenfläche sind davon in ganz Kolumbien betroffen. Doch bis heute ist nur ein Bruchteil an die ursprünglichen Eigentümer zurückgegangen. Auch Hernán Bedoya erhält nach seiner Rückkehr nur einige seiner Felder wieder. Die Unternehmer verweigern die Rückgabe und die Behörden sind unfähig, das Recht durchzusetzen. Oder unwillig, wie Ramón Bedoya vermutet. Sein Vater organisierte sich deshalb nach seiner Rückkehr mit anderen Bauern der Region. Mit ihnen kämpfte er auch

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dagegen, dass durch den massenhaften Anbau von Ölpalmen der Wald zerstört wird. Die Gewalt fand indes kein Ende. Trotz des Rückgabegesetzes, trotz des Friedensabkommens, trotz der offiziellen Auflösung der AUC im Jahr 2006. Viele Paramilitärs kämpfen heute bei der Nachfolgeorganisation, den Gaitanistischen Selbstverteidigungskräften. Sie stecken hinter zahlreichen Angriffen auf die Bauernführer. Nur zwei Wochen vor Bedoya wird dessen Mitstreiter Mario Castaño ermordet. Allein 2017 starben nach Angaben des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte 105 Aktivistinnen und Aktivisten durch solche Attentate. Ramón Bedoya verließ die Finca nach dem Mord an seinem Vater. Sie würden auch ihn töten, haben die Täter angekündigt. Ob er wieder zurückkommen sollte? Trotz seines jungen Alters ist er nicht naiv. Er weiß, dass ihn die Soldaten in Playa Roja nicht schützen werden. Er blickt auf die Felder, die auf dem Weg zum Hof der Familie liegen. Eine Piste, die nur außerhalb der Regenzeit befahrbar ist, umsäumt von Plantagen, auf denen unendlich viele Palmen und Bananenstauden wachsen. Derzeit geht er zur Schule, so wie es sein Vater immer wollte. Eigentlich würde er gern Rechtswissenschaften studieren. »Aber das Recht auf unser Land will ich mir nicht nehmen lassen.« Auch Elevina Palacio will nicht aufgeben. Zu Hause in Truandó Medio wartet viel Arbeit auf sie: die Ställe, die Früchte, das Reisprojekt, das sie mit den Nachbarn ins Leben gerufen hat. Wer weiß, was die Eindringlinge alles zerstört haben. »Wir warten ständig darauf, dass der Staat uns Sicherheit und Schutz garantiert, um zurückzukehren«, sagt sie. 쮿 Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app

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Das Militär macht mit

Am helllichten Tag ermordet. Demonstrantin mit Bild von Marielle Franco, São Paulo, März 2018.

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Foto: Cris Faga / ZUMA Press / pa

In Brasilien hat sich die Lage der Menschenrechte unter Präsident Michel Temer erheblich verschlechtert. Von Christine Wollowski, Salvador da Bahia Mitte März wurden die Stadträtin Marielle Franco und ihr Fahrer in Rio de Janeiro in ihrem Auto erschossen. Der offenbar sorgfältig geplante, professionell ausgeführte Mord geschah mitten im Zentrum der Stadt, vor Zeugen. Die Ermordung der linken Politikerin führte zu landesweiten Protesten. Tausende Menschen gingen auf die Straße und forderten Aufklärung. Doch bis heute sind weder die Täter noch die Drahtzieher identifiziert. Der gewaltsame Tod von Marielle Franco ist symptomatisch für ein Land, in dem der Präsident den Einsatz der Armee anordnet, um die öffentliche Sicherheit zu garantieren. Ein Land, in dem Polizisten Landarbeiter töten und Militärgerichte künftig für Menschenrechtsverletzungen zuständig sein werden, die Militärs an Zivilpersonen verüben. Ein Land, in dem Kultstätten afrobrasilianischer Religionen von Andersgläubigen niedergebrannt werden und eine Transfrau vor Zeugen und am helllichten Tag von mehreren Männern zu Tode geprügelt wird. Diese und weitere Menschenrechtsverstöße finden sich in einem neuen Bericht von Amnesty International über Brasilien. Er zeigt, dass Intoleranz und Gewalt im größten Land Südamerikas auf dem Vormarsch sind. Linke Politiker und Aktivisten befürchten, der Mord an Marielle Franco könnte das fatale Signal setzen, dass es straflos bleibt, unbequeme politische Führungspersönlichkeiten aus dem Weg zu schaffen. Marielle Franco war schwarz, lesbisch und stammte aus einem der größten Slums von Rio. Sie hatte bei den Wahlen zum Stadtparlament mehr Stimmen erhalten als die meisten anderen Abgeordneten. Die Politikerin setzte sich unermüdlich für Menschenrechte ein und kritisierte offen den Einsatz des Militärs in den Straßen von Rio. Ihr gewaltsamer Tod ist kein Einzelfall. Die katholische Organisation Comissão Pastoral da Terra verzeichnete 2016 insgesamt 61 ermordete Aktivisten, im vergangenen Jahr insgesamt 65 und 2018 bereits zwölf – unter ihnen Indigene, Landrechtsaktivisten und Gewerkschaftsführer. Kaum eines dieser Verbrechen wird aufgeklärt. »Brasilien gehört zu den Ländern, in denen die meisten Morde an Menschenrechtsverteidigern geschehen«, sagt Jurema Werneck, Leiterin von Amnesty International in Brasilien. »Wer einen Menschenrechtsverteidiger ermordet, will meist nicht nur diese Person zum Schweigen bringen, sondern eine Spirale der Angst und des Schweigens auslösen, eine Gruppe und einen Kampf demoralisieren.« Unter dem amtierenden Präsidenten Michel Temer erlebt das Land eine scharfe Rechtswende. Mit schnell und diskret verabschiedeten Erlassen und Verordnungen macht er unzählige Errungenschaften vor allem im Sozial-, Umwelt- und Kulturbereich rückgängig. Das Ministerium für Frauen, Rassengleichheit und Menschenrechte wurde direkt zu Beginn seiner Amtszeit abgeschafft und auf drei Büros mit Spezialbeauftragten reduziert. Den seit 1995 jährlich ausgeschriebenen Preis für Menschenrechte lässt Temer nur noch alle zwei Jahre verleihen. Das nationale Programm zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern wurde eingestellt. »Die Menschenrechtsagenda gilt in Brasilien zunehmend nur noch als Kostenfaktor«, kritisiert der Politikwissenschaftler und Soziologe Ronald Vizzoni Garcia. Im Februar 2017 meldeten die Medien: »Temer schafft ein Ministerium für Menschenrechte«. Tatsächlich war es 1999

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erstmals gegründet worden und Temer hatte lediglich das von ihm geschaffene Menschenrechtsbüro wieder aufgewertet. Dessen unbequeme Leiterin, Flavia Piovesan, hatte er in der Zwischenzeit jedoch zur »Beauftragten für Bürgerschaft« degradiert. Wenige Monate später verzichtete sie auf ihr Amt, nachdem sie die Regierung scharf kritisiert und einen Erlass von Temer als »inakzeptablen Rückschritt« bezeichnet hatte, weil dieser die Kontrolle und Vermeidung sklavenähnlicher Arbeitsbedingungen erschwere. Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte hatte die brasilianische Regierung bereits ein Jahr zuvor dafür verurteilt, dass sie »moderne Sklaverei nicht verhindere«. Der strittige Erlass wurde inzwischen vom Obersten Gerichtshof Brasiliens aufgehoben. Unterdessen ergriff die Regierung weitere drastische Maßnahmen, wie etwa die inflationäre Anordnung von Militäreinsätzen unter Berufung auf die in der Verfassung verankerte Garantie von Sicherheit und Ordnung (Garantia da Lei e da Ordem). Sie erlaubt auf ausdrücklichen Befehl des Präsidenten den Einsatz der Armee in Situationen, in denen die Möglichkeiten der traditionellen Sicherheitskräfte erschöpft sind und die öffentliche Ordnung akut bedroht ist. In der Vergangenheit geschah dies etwa einmal pro Jahr, etwa anlässlich der Olympischen Spiele oder der Fußballweltmeisterschaft. Michel Temer suchte die Unterstützung der Truppen allein im vergangenen Jahr mehrfach: Militärs durchsuchten Gefängniszellen auf Waffen und Handys, besetzten Gefängnisse, in denen Aufstände ausgebrochen waren und gingen gegen Demonstranten vor. Außerdem patrouilliert das Militär voraussichtlich noch bis Ende dieses Jahres in den Straßen von Rio de Janeiro. »Das ist nur Show und keine effiziente Politik«, urteilt die Anthropologin Jacqueline Muniz von der Universität Fluminense. »Solche Aktionen werden immer dann eingesetzt, wenn Politiker ihre Popularität steigern wollen.« Im März 2018 hielten 74 Prozent die Regierung Temer für schlecht oder sehr schlecht. »Seit 2016 beobachten wir, dass einerseits zuvor errungene institutionelle Strukturen und Programme zur Sicherung der Menschenrechte demontiert werden und der Staat andererseits bei kritischen Themen wie der öffentlichen Sicherheit versagt«, sagt Jurema Werneck von Amnesty International in Brasilien. »In unserem Bericht zur Lage der Menschenrechte ist nachzulesen, dass Brasilien weltweit die meisten Morde an Angehörigen bestimmter Personengruppen aufweist, nämlich an jungen schwarzen Männern, an Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transund Intergeschlechtlichen, an Angehörigen indigener Bevölkerungsgruppen, an Polizisten, Landrechtsaktivisten und Menschenrechtsverteidigern.« Amnesty verlangt von den brasilianischen Behörden weiterhin die Aufklärung des Mordes an Marielle Franco. 쮿

Noch bis Ende des Jahres darf die Armee in den Straßen von Rio de Janeiro patrouillieren. 43


Auf den Spuren der Mรถrder. Kamilta nahe Saharanpur, wo ihre Tochter Meenu ums Leben kam, April 2018.

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Ganz unten In Indien sind Millionen Dalit Gewalt und Diskriminierung ausgesetzt. Von Maja Weiss und Emre Çaylak (Fotos), Pune Der 14. April 2014 sollte ein fröhlicher Tag werden. Manik Udage und seine Freunde hatten sogar eine Trommelgruppe für ihre kleine Parade organisiert, Girlanden gebastelt und Poster drucken lassen. »Etwa 200 bis 300 Leute nahmen teil«, erinnert sich sein Bruder Shravan, ein bedächtiger 23-Jähriger, der für sein Alter sehr erwachsen wirkt. Er sitzt auf einem Bett in der Wellblechhütte der Familie am Rand der westindischen Fünf-Millionenstadt Pune und zeigt Fotos seines Bruders auf dem Handy. Es sind Tatortfotos: Manik, den Kopf blutig bis zur Unkenntlichkeit, erschlagen in einem Steinbruch, weil er es gewagt hatte, den Geburtstag von B. R. Ambedkar zu feiern, dem Vater der indischen Verfassung. Dass immer mehr Dalit in ihm einen Vorkämpfer für ihre Rechte sehen, passt längst nicht allen in Indien. Schließlich stehen die Dalit ganz am Rand der starren Kastengesellschaft. Früher wurden sie »Unberührbare« genannt, weil Mitglieder höherer Kasten sich für »beschmutzt« hielten, wenn auch nur der Schatten eines Dalit auf sie fiel. Heute ist es zunehmend gefährlich in Indien, Dalit zu sein. Gewalt und Diskriminierung haben in den vergangenen Jahren zugenommen: Mittlerweile werden jährlich 40.000 Verbrechen gegen Dalit registriert. Mehr als 200 Millionen der 1,3 Milliarden Inder sind Dalit. Zwar ist Diskriminierung wegen Kastenzugehörigkeit laut Verfassung verboten, aber die jahrhundertealte Hierarchie bestimmt vielerorts noch immer den Alltag. Mancherorts dürfen Dalit nicht aus demselben Brunnen trinken wie andere. Teils ist ihnen der Besuch hinduistischer Tempel verwehrt, weil sie den heiligen Ort angeblich verunreinigen. Immer noch arbeiten viele Dalit als Straßenfeger, Gerber, Abfallsammler oder Latrinenreiniger –Tätigkeiten, die als unrein gelten. Kurz vor dem Fest zu Ehren von Ambedkar hatte Manik Udage Besuch von seinem Nachbarn Satish Bhatia erhalten. Er terrorisiert mit seinen Leuten das Viertel und lebt angeblich von Schutzgelderpressung. »Sei nicht so arrogant«, sagte er zu Udage. »Wenn du es wagst, das Fest zu feiern, zeigen wir dir, wo du hingehörst.« Bhatia selbst gehört zu den Maratha, die schon vor 300 Jahren die Herrscher im heutigen westindischen Bundesstaat Maharashtra stellten und bis heute die Politik dort dominieren. Bhatia konnte es nicht auf sich sitzen lassen, dass ihm ein Dalit widersprach, einer wie Manik Udage. Das Fest fand statt, wie geplant. Sein Bruder Shravan sah Bhatia kurz am Straßenrand, als die Parade vorbeizog: »Er sah wütend aus.« Zwei Wochen später schreckten die Udages aus dem Schlaf auf. Taschenlampen blitzten, Bhatia und drei weitere Männer rissen Manik aus seinem Bett, zerrten ihn in ein Auto und fuhren davon. »Das Ganze dauerte keine zehn Minuten«, sagt Shravan. Er suchte die ganze Nacht und den nächsten Morgen nach seinem Bruder. Die Polizei behandelte die Udages unhöflich.

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Und sie registrierte Manik zunächst nur als vermisst. »Ich war noch nie in meinem Leben auf einer Polizeiwache, deshalb wusste ich nicht, dass ich das Protokoll noch einmal hätte durchlesen müssen«, sagt Shravan.

Ein Mord mit Folgen »Wir kennen viele ähnliche Fälle«, sagt Asha Kowtal. Die 42-Jährige arbeitet für AIDMAM, eine Organisation, die sich für die Rechte vor allem von Dalit-Frauen einsetzt. »Es kommt auch vor, dass Polizisten und Ärzte bestochen werden, damit sie die Untersuchungsberichte fälschen.« Die Diskriminierung diene dazu, »soziale Mobilität zu verhindern«, sagt Kowtal. »Es ist für viele aus den dominanten Kasten schwer zu verdauen, dass wir zu den gleichen Dingen fähig sind wie sie selbst.« Nur mit Mühe erreichten die Udages, dass der Fall unter dem »Anti-Grausamkeiten«-Gesetz registriert wurde, das den Dalit und auch den ähnlich diskriminierten Adivasi besonderen Schutz bietet. Es gewährt in solchen Fällen das Recht auf juristische Unterstützung und staatliche Entschädigung. Zudem verhinderte es, dass Bhatia noch während des laufenden Verfahrens gegen Kaution freikam. Doch selbst aus der Untersuchungshaft heraus schüchterte er offenbar Zeugen ein oder bestach sie, damit sie ihre Aussagen änderten oder widerriefen. Der Mord hatte weitere fatale Folgen für die Dalit-Familie: Shravan Udage lebt heute in Angst. Seit dem Mord verlässt er das Haus nur noch, wenn es unbedingt nötig ist. Die Familie hat Polizeischutz erhalten. Ein Beamter sitzt auf dem kleinen Feldweg, der hinter den Wohnblocks zur Hütte der Udages führt, unter einem Baum. »Früher habe ich öfter mal Freunde getroffen«, sagt Udage. »Jetzt komme ich nach der Arbeit sofort nach Hause.« Selbst seine beruflichen Pläne musste er ändern, um seine Mutter und seinen Bruder, einen Epileptiker, nicht allein zu lassen. »Ich wollte eigentlich Polizist werden, das war Maniks Wunsch«, sagt er. »Aber dafür hätte ich sechs Monate zu einer Schulung fortgehen müssen.« Das Kastensystem spaltet Indien. Immer wieder sorgen Attacken radikaler Hindus gegen Dalit, Muslime oder Mitglieder anderer Minderheiten für Schlagzeilen. Nach Ansicht von Kritikern trägt die hindunationalistische Regierungspartei BJP eine Mitschuld an den Vorfällen. Einzelne BJP-Mitglieder äußern sich immer wieder abfällig über Dalit und Muslime. Aber Diskriminierung und Gewalt gehen nicht nur von radikalen Hindus aus, das Problem ist viel grundsätzlicher und bestand auch schon, als noch die säkulare Kongresspartei regierte.

Die Diskriminierung der Dalit soll soziale Mobilität verhindern. 45


Zwar wurde im vergangenen Jahr mit Ram Nath Kovind ein Dalit zum Staatspräsidenten gewählt. Regierungskritiker halten ihn aber nur für ein Feigenblatt der BJP. Die Opposition spielt allerdings dasselbe Spiel: Die Kongresspartei hatte 2017 ebenfalls einen Dalit als Präsidentschaftskandidaten aufgestellt, um nicht als elitär zu gelten. Die Nationale Dalit-Bewegung für Gerechtigkeit (NDMJ) hat inzwischen eine Datenbank eingerichtet, in der mehr als 1.000 Diskriminierungsfälle dokumentiert sind. Sie liest sich wie eine Sammlung von Horrorgeschichten: Ein Dalit wurde ermordet, weil er sich weigerte, auf den Feldern der Grundbesitzer zu arbeiten; ein anderer attackiert, weil er es wagte, zu seiner Hochzeit ein Pferd zu reiten – traditionell ein Privileg der oberen Kasten. Ein 17-Jähriger wurde von einem Mob zu Tode geschleift und an einem Baum aufgehängt, weil er angeblich eine Affäre mit einem Mädchen aus einer höheren Kaste hatte. Auch viele Fälle sexueller Gewalt finden sich in der Datenbank. Asha Kowtal von der Hilfsorganisation AIDMAM spricht angesichts der Tatsache, dass Frauen in Indien allgemein viel Gewalt erfahren, von einer doppelten Diskriminierung: »Der Körper einer Dalit-Frau ist nicht mehr wert als ein Wegwerfbecher. Ein Mann aus einer dominanten Kaste mit einem toxischen Verständnis von Männlichkeit denkt sich: ›Sie hat mir sexuell gefügig zu sein. Dafür ist sie da.‹ Der Kampf der Kasten wird auf unseren Körpern ausgetragen.«

Jeder kennt die Täter So wie im Fall der Schülerin Meenu aus einem Dorf im nördlichen Bundesstaat Uttar Pradesh: Gegen vier Uhr nachmittags

Die Kastenhierarchie beschränkt sich nicht auf Hindus – auch Indiens Muslime fallen darunter. wurde die Zwölfjährige auf dem Weg zur Nachhilfe entführt. »Wir suchten alle Felder ringsherum ab«, erzählt Kamilta, ihre Mutter. Sie besteht darauf, nur ihren Vornamen zu verwenden – die Nachnamen weisen meist auf die Kastenzugehörigkeit hin. Das Gebäude, in dem Meenus Unterricht stattfand, liegt an einem Feldweg an einem Kanal, keine zehn Gehminuten vom Haus der Familie entfernt. Auf der gegenüberliegenden Seite des Kanals gibt es ein paar Läden, es ist daher fast undenkbar, dass niemand die Entführung beobachtet hat. Doch wie sich später herausstellte, gehören die mutmaßlichen Täter zur reichsten Familie im Dorf. Sie standen bereits zuvor wegen zahlreicher Vergehen vor Gericht, darunter Brandstiftung, schwerer Raub, Geldfälschung und Mord. Doch ihre Familie hat viel Einfluss. Kamilta kommen die Tränen, als sie erzählt, in welchem Zustand ihr Mann und ihre anderen Kinder Meenu fanden: In einem Feld, mehrfach vergewaltigt, die Beine gebrochen, ihr

Staatlicher Schutz. Shravan Udage in Pune, März 2018.

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Beschützt von den Eltern. Vishal und Neha in Saharanpur, April 2018.

Halstuch in den Mund gestopft, die Kehle durchgeschnitten. Ihr Zustand beschreibt, dass die Mörder sie als ein Ding ansahen, das man benutzt und wegwirft. Kamilta hält kurz inne, wischt sich mit einem Schal die Tränen aus dem Gesicht, fasst sich und spricht weiter. Sie will, dass jeder erfährt, was mit ihrer Tochter geschah, damit ihr endlich Gerechtigkeit widerfährt. Der Fall zieht sich seit sieben Jahren vor Gericht hin. Die Kastenhierarchie beschränkt sich längst nicht nur auf den Hinduismus. Auch Inder, die unter den muslimischen Eroberern zum Islam konvertierten, behielten das Kastenwesen bei. Kamiltas Dorf wird dominiert von einer Kaste muslimischer Großgrundbesitzer. Zwischen ihnen und den Tagelöhnern, bei denen es sich größtenteils um hinduistische Dalit handelt, herrscht ein kühles Verhältnis, »Sie neiden es uns, wenn unsere Kinder lernen und weiterkommen«, sagt Kamilta, die selbst Analphabetin ist. Die Familie der Mörder schien zu glauben, sie könnten über die Dalit verfügen wie über ihren Besitz: Zwei, drei Jahre bevor Meenu ermordet wurde, hatte der Clan damit begonnen, ihre ältere Schwester Pooja, die damals ebenfalls zwölf Jahre alt war, mit zweideutigen Angeboten zu belästigen. »Sie sagten, wir sollen sie auf ihr Feld oder in ihr Haus zum Arbeiten schicken. Dazu machten sie Bemerkungen über ihr hübsches Aussehen«, erzählt die Mutter. Pooja, eine schlanke junge Frau mit heller Haut, war gut in der Schule und hätte gern studiert. Doch die Belästigungen schüchterten sie ein. »Sie folgten mir, wenn ich aus dem Haus ging, nahmen mir mein Handy weg«, erzählt sie. Als ihre Mutter sich weigerte, dem Drängen nachzugeben, begannen sie zu drohen: »Dafür wirst du bezahlen.« Die Eltern wussten keine

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bessere Lösung, als Pooja mit nur 15 Jahren in ein anderes Dorf zu verheiraten, um sie in Sicherheit zu bringen. Statt zu studieren, ist sie nun eine Hausfrau mit zwei Söhnen, die etwa so alt sind wie ihr jüngster Bruder. Auch die zweitälteste Tochter nahmen die Eltern aus der Schule und verheirateten sie zwei Jahre später. Neha, die Jüngste, lebt noch zu Hause. Sie möchte Ärztin werden. Sie sagt zwar, sie habe keine Angst, aber die Eltern lassen sie nicht allein vor die Tür. Anfang April gingen Hunderttausende Dalit in ganz Indien auf die Straßen, um gegen die drohende Aufweichung des Antidiskriminierungsgesetzes zu protestieren. Die Wut richtet sich gegen ein Urteil des Obersten Gerichtshofes, das die obligatorische Inhaftierung von Verdächtigen bei Verstößen gegen das »Anti-Grausamkeiten«-Gesetz aus dem Jahr 1989 aufgehoben hat, um einem angeblich verbreiteten Missbrauch des Gesetzes entgegenzuwirken. Viele Dalit empört das. Das Urteil schwäche das Gesetz ab, sagen Vertreter von Menschenrechtsgruppen wie Jesi Antony von der Nationalen Dalit-Bewegung: »Andere Gerichte werden sich darauf berufen und ähnlich urteilen. Wir sehen schon jetzt neue Fälle, bei denen Polizei oder Gerichte dem Urteil folgen und sich weigern, Beschuldigte zu inhaftieren.« Nachdem es bei den Protesten gegen das Urteil zu gewaltsamen Auseinandersetzungen und Toten kam, erklärte die Regierung, sie werde Berufung gegen das Urteil einlegen. Auch mehrere Dalit-Organisationen wollen sich wehren. Anhand konkreter Fälle wollen sie vor Gericht deutlich machen, wie real Diskriminierung und Gewalt für die Dalit sind – so wie für Meenu und Manik Udage. 쮿

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Aussteiger. Sodho Oad in einer Ziegelei in Azad Nagar, Februar 2018.

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In Pakistan leben immer noch Millionen Menschen in Leibeigenschaft. Nur wenigen gelingt der Ausstieg aus der Versklavung. Von Andrzej Rybak (Text und Fotos)

Das Dorf der befreiten Sklaven

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Es war Liebe auf den ersten Blick. Als Ali Bux seiner Nusrat das erste Mal begegnete, wusste er, dass er sein Leben mit ihr verbringen will. Doch seine Familie war arm, er hatte weder Land noch das Brautgeld. Verzweifelt suchte Ali Bux nach einer Lösung. Da bot ihm ein mächtiger Landbesitzer aus dem südpakistanischen Sanghar ein Darlehen über 15.000 Rupien an, damals fast 300 US-Dollar. Nach der Hochzeit könne Bux die Schuld auf seinem Hof abarbeiten, sagte der Patron. Der Bauer stimmte sofort zu, nahm das Geld und heiratete. Kurz danach begannen die Eheleute, gemeinsam das Darlehen abzustottern. Es war der Anfang eines jahrelangen Leidenswegs. Wer denkt, die Sklaverei gehöre in die Geschichtsbücher, irrt. In Pakistan werden nach Schätzungen der australischen Menschenrechtsorganisation Walk Free Foundation mehr als zwei Millionen Menschen wie Leibeigene gehalten. Lokale Vereinigungen gehen gar von vier Millionen Sklaven aus, die täglich zur Arbeit auf dem Feld oder in den Ziegeleien gezwungen werden. Nur in Indien und China gibt es noch mehr Leibeigene. Ihr Schicksal ist überall das Gleiche: Sie dürfen den Wohnort nicht verlassen und können von ihren »Besitzern« wie Vieh verkauft werden. Männer werden geschlagen, Frauen sexuell belästigt und vergewaltigt. Es trifft auch Kinder: Wenn ihre Eltern sterben, haften sie sogar für deren Schulden. Familie Bux erging es ähnlich. »Wir haben vom Morgengrauen bis in die Nacht geschuftet, zwölf bis 14 Stunden am Tag«, sagt Ali Bux, ein schmaler Mann mit weißem Haar und Vollbart. »Ich habe die Felder gepflügt, Bewässerungskanäle gegraben und die Ernte eingefahren. Nusrat versorgte die Tiere, brachte die Saat aus, jätete das Unkraut. Aber: Unsere Schuld wurde nicht kleiner.« Der Trick des Patrons: Familie Bux musste für ihre einfache Hütte auf dem Hof eine hohe Miete zahlen. Auch für das tägliche Essen – Brot und Chilis mit Buttermilch – berechnete ihr der Zamindar, wie Großgrundbesitzer in Pakistan genannt werden, einen stolzen Preis. Zwei Dutzend Familien lebten wie Leibeigene auf dem Land des Zamindars. Seine Aufseher zwangen sie früh morgens auf die Felder, selbst als sie krank waren. Wer nicht gehorchte, wurde geschlagen. Sie bewachten das Dorf und hinderten die Bauern daran, das Land zu verlassen. »Wir waren alle Sklaven«, sagt Nusrat Bux. Der Großgrundbesitzer entschied sogar, mit wem die Bauern ihre Töchter verheiraten durften. Offiziell ist Leibeigentum in Pakistan unter Strafe verboten. Doch Politik, Justiz und Polizei decken die Sklavenhalter, die oft zu den reichsten Familien des Landes gehören. Seit 1992 gibt es in Pakistan ein Gesetz gegen Zwangsarbeit, im Alltag hat es jedoch nicht viel verändert. »Wir müssen jedes Mal gegen die Sklavenhalter vor Gericht klagen«, schimpft Ghulam Hyder. »Erst wenn wir mit dem Urteil kommen, lassen die Großgrundbesitzer ihre Leibeigenen gehen.« Hyder leitet die Green Development Rural Organisation (GDRO), eine Nichtregierungsorganisation, die ursprünglich gegründet wurde, um in der Provinz Sindh modernes Landwirtschaften mit Wassermanagement, Dünger und Pestiziden einzuführen. Hyder war immer wieder überrascht, wie oft er mit dem Problem der Leibeigenschaft konfrontiert wurde. »Wir konnten unsere Augen nicht verschließen und so tun, als passiere

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Die Landbesitzer sind gut vernetzt und bekleiden oft wichtige Staatsämter. nichts«, sagt der Agrarexperte, der irgendwann zum Menschenrechtler wurde. »Jetzt kämpfen wir und vertreten die ehemaligen Sklaven vor Gericht.« Die Landbesitzer sind aber gut vernetzt. Sie gehören zur Elite, ihre Angehörigen bekleiden oft wichtige Staatsämter. Auch wenn sie nach einem Gerichtsbeschluss ihre Sklaven freilassen müssen, wird kaum einer wegen Freiheitsberaubung verurteilt. »Es ist ein Kampf gegen Windmühlen«, sagt Hyder. »Wir befreien einige Menschen, die Großgrundbesitzer versklaven neue, die wir ein paar Monate oder Jahre später wieder befreien. Weil die Schuldigen nicht bestraft werden, dreht sich das Rad endlos weiter.« Ganze 14 Jahre schufteten Ali und seine Frau Nusrat Bux auf dem Hof. Sie brachte in dieser Zeit drei Kinder zur Welt. Bis kurz vor der Entbindung musste sie auf dem Feld schuften. Eines Tages erzählte ein Reisender ihnen von einem Dorf, in dem entflohene Sklaven in Sicherheit lebten. Ein paar Wochen dachten sie nach. Dann, im Schutz der Nacht, wagten sie die Flucht. »Wir haben unser ganzes Hab und Gut auf dem Hof gelassen, um keinen Verdacht zu erwecken«, sagt Bux. »Zwei Tage marschierten wir ohne Rast, bis wir in Azad Nagar ankamen. Dann waren wir frei.« Seit zehn Jahren lebt Bux mit seiner Familie in Azad Nagar, was auf Hindi »Dorf der Freien« bedeutet. Äußerlich unterscheidet es sich kaum von anderen in der Provinz Sindh im Südosten des Landes. Ein sandiger Fußweg führt von einem Gemeindehaus durch das Dorf. Links und rechts stehen kleine Häuser aus Ziegel, Zweigen und Lehm. Frauen schleppen Wasser von einem Brunnen, neben den Häusern grasen Ziegen und Kühe. »Wir sind arm, aber glücklich«, sagt Nusrat. »Hier kann uns niemand etwas befehlen, wir können tun, was uns gefällt.«

Familie Bux verdingt sich als Tagelöhner auf den Höfen der Umgebung, ihr ältester Sohn ist inzwischen 16 und arbeitet als Schneider in der Provinzhauptstadt Karatschi. Ihr früherer Zamindar schickte einmal seine Schergen, um die Bauern zurückzuholen. Doch die Bewohner blockierten die Dorfzufahrt und ließen die Sklavenjäger nicht hinein. In den ländlichen Gebieten Pakistans herrschen bis heute feudale Verhältnisse. Fast das gesamte landwirtschaftlich nutzbare Land gehört Großgrundbesitzern und wird meist von landlosen Bauern beackert, die in armseligen Dörfern auf dem Land ihrer Herren leben. Die Bauern sind der Gnade des Großgrundbesitzers ausgeliefert: Er entscheidet über ihre Entlohnung – und über ihre Bewegungsfreiheit. Besonders anfällig für Ausbeutung sind die Angehörigen religiöser Minderheiten: Hindus, Christen und Schiiten, die auf der sozialen Leiter ganz unten stehen und meist zu den Ärmsten der Armen gehören. »Diese Leute wagen es nur selten, ihrem Feudalherren zu widersprechen«, sagt Hyder. In Azad Nagar leben heute fast 200 Familien ehemaliger Leibeigener, vor allem Hindus, aber auch einige Muslime. Die meisten verdanken ihre Freiheit der GDRO. Nur wenige Leibeigene wagen die Flucht – auch um ihre beim Zamindar zurückgebliebenen Angehörigen nicht zu gefährden. Das Dorf gibt es erst seit 2007, es wurde auf Land errichtet, das die GRDO mit Spenden der Menschenrechtsorganisation Action Aid International erworben hatte. Den Einwohnern stehen etwa 39 Hektar zu Verfügung, ein Teil des Landes wird gemeinsam kultiviert. Die meisten arbeiten als Tagelöhner auf Höfen in der Umgebung oder in den umliegenden Ziegeleien. »Die Leute sind frei zu tun, was sie wollen«, sagt Hyder. »Manche gehen nach einigen Monaten weg, wenn sie woanders bessere Jobs finden.« Viele bleiben für immer. In Azad Nagar gibt es eine kleine Grundschule, die von der Bildungsstiftung der Provinz unterhalten wird. Mädchen und Jungs lernen lesen, schreiben, rechnen – und sogar ein bisschen Englisch. »Manche Familien wollen nicht weg, weil ihre Kinder hier eine Ausbildung bekommen«, sagt Hyder. »Wir organisieren auch Kurse, damit die Leute einen Beruf erlernen können: Als Schneider oder Schlosser haben sie bessere Chancen, einen Job zu finden.«

Arm, aber frei. Nusrat und Ali Bux sowie Bachando Machi in Azad Nagar, Februar 2018.

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Den Großgrundbesitzern ein Dorn im Auge. Fatima Ghulam und Ghulam Hyder.

Bachando Machi ist nun schon zum zweiten Mal in Azad Nagar. Der Mann ist etwa 60, so genau weiß er es nicht. Sein ganzes Leben hat er in Ziegeleien gearbeitet. Dort schleppte er die tonhaltige Erde, mischte sie mit Wasser, knetete sie und formte Ziegel daraus. 14 Stunden pro Tag, von der Morgendämmerung bis in die Nacht, etwa 1.000 Ziegel pro Tag. Vor zehn Jahren verlor er zum ersten Mal seine Freiheit. Er habe Geld von einem Ziegeleibesitzer geliehen, an die Summe kann er sich angeblich nicht mehr erinnern. »Drei Jahre habe ich mit meiner Frau und fünf Kindern für ihn geschuftet«, sagt Machi. »Wir schliefen auf dem Lehmboden in einem winzigen fensterlosen Raum, hatten keine Möbel und kein fließendes Wasser. Das Leben war eine Hölle.« Natürlich kassierte der Ziegeleibesitzer trotzdem eine hohe Miete. Nach ihrer Befreiung durch die GRDO lebte Familie Machi mehrere Jahre in Azad Nagar. Aber es war schwer, einen gut bezahlten Job in der Umgebung zu finden. »Wir gingen in die weiter nördlich gelegene Stadt Hala, um in einer Ziegelei zu arbeiten«, sagt Machi. Dort wurde sein Sohn krank und brauchte dringend Medikamente. Der Vater sah keinen anderen Ausweg, als sich wieder Geld von dem Ziegeleibesitzer zu leihen. Und alles begann von vorn. »Der Zamindar trickste beim Ziegelzählen, zahlte wenig Lohn und berechnete hohe Zinsen auf das Darlehen«, schimpft Machi. »Ein Jahr hielt er uns fest, erst vor einer Woche kamen wir frei.« Der alte Mann hat keine Angst vor harter Arbeit. »Ich werde auch hier hart schuften müssen, um meine Familie zu ernähren«, sagt er. »Aber ich arbeite auf eigene Rechnung. Und: Ich kann mich frei bewegen und das verdiente Geld ausgeben, wofür ich will. Als Leibeigener bist du immer der Verlierer.« Die Green Rural Development Organisation ist in der Millionenstadt Hyderabad zu Hause. Sie wird finanziell von der norwegischen Menschenrechtsstiftung, von der US-Hilfsorganisation Care und der Internationalen Arbeitsorganisation ILO unterstützt. Außer Azad Nagar hat sie noch zwei weitere Dörfer für ehemalige Leibeigene in der Provinz Sindh gegründet. Für Großgrundbesitzer ist die GRDO Feind Nummer eins. »Unsere Aktivisten werden immer wieder angegriffen«, schimpft der Menschenrechtler Hyder. »Auch ich erhielt bereits Morddrohun-

PAKISTAN

gen.« Aus Rache lassen die Zamindars manchmal auch gegen die befreiten Sklaven unter falschen Vorwand ermitteln. »Die Polizei ist korrupt«, sagt Hyder. »Man zitiert falsche Zeugen, die den Leibeigenen Diebstahl vorwerfen.« Wie skrupellos die Sklavenhalter in Pakistan sind, hat auch Fatima Ghulam erfahren müssen. Schergen eines Ziegeleibesitzers bei Lahore im Nordosten des Landes zerschossen ihr und ihrem Bruder die Knie, weil sie sich für die Rechte der Leibeigenen in seiner Ziegelei einsetzte. Damals war sie 22 Jahre alt. Heute ist Fatima Ghulam 49 – und kämpft weiter gegen die Sklavenhalter in der Provinz Punjab. Sie hat bislang mehr als 80.000 versklavte Arbeiter vor Gericht freigeboxt. Die Frau, die nach dem örtlichem Brauch immer eine Dupatta, einen großen Schal über Kopf und Schulter trägt, wird oft mit Harriet Tubman verglichen. Die ehemalige Sklavin hatte Mitte des 19. Jahrhunderts vielen schwarzen Sklaven in den USA zur Flucht nach Kanada verholfen. Schon 1990 gründete Fatima Ghulam die Front zur Befreiung von Zwangsarbeit. Fatima Ghulam wünscht sich mehr internationalen Druck auf die Regierung. »Die EU könnte Importerleichterungen für pakistanische Produkte mit der Einhaltung von internationalen Konventionen verknüpfen«, sagt sie. »Das dürfte unserer Regierung mehr Ansporn geben, die Sklaverei zu beenden.« Immerhin: Um die Finanzierung ihres Vereins muss sie sich keine Sorgen mehr machen. 2015 veröffentlichte ein US-Fotograf ihre Geschichte im Internet. Daraufhin spendeten rund 75.000 Menschen innerhalb weniger Tage mehr als 2,3 Millionen Dollar. Mit dem Geld errichtet sie nun ein großes »Freiheitszentrum« in Lahore. Befreite Zwangsarbeiter sollen dort psychologischen Beistand bekommen und einen Beruf erlernen. Doch die Bauarbeiten kommen nur langsam voran. »Die Ziegeleibesitzer nutzen ihren Einfluss, um den Bau des Zentrums zu behindern«, sagt Ghulam. Alles dauere länger als normal: die Baugenehmigung, der Anschluss von Strom oder Wasser. Einige pakistanische Zeitungen haben ihr deshalb bereits die Veruntreuung der Millionenspenden vorgeworfen. »Früher oder später werden wir es schaffen«, sagt die Frau, die an ihre Mission glaubt. »Ich will etwas hinterlassen, das mich überlebt.« 쮿

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Legal, illegal, illiberal

Feindbild. George Soros auf einem Plakat der Fidesz-Partei mit dem Slogan »Stoppt die Soros-Kandidaten«, Budapest, April 2018.

Mit seiner Zweidrittelmehrheit im Parlament kann Ministerpräsident Viktor Orbán den Umbau Ungarns zu einer illiberalen Demokratie vorantreiben. Kritische NGOs zählen zu den ersten Opfern. Von Ramin Nowzad Im Sommer 1989 betrat auf dem Budapester Heldenplatz ein langhaariger, unrasierter Jungpolitiker die Bühne und hielt eine Rede, die ihn über Nacht bekannt machte. Der 26-Jährige forderte den Abzug der russischen Truppen und das Ende der EinParteien-Herrschaft in Ungarn. Sein Name: Viktor Orbán. Wie sich die Zeiten ändern. Heute ist Orbán Ministerpräsident seines Landes, hofiert den russischen Präsidenten Wladimir Putin und ist auf dem besten Wege, Ungarn erneut in einen Ein-Parteien-Staat zu verwandeln. Dass seine Fidesz-Partei bei der Parlamentswahl im April stärkste Kraft wurde, kam wenig überraschend. Wahlen sind in Ungarn noch immer frei, aber längst nicht mehr fair. Die Regierung hat den staatlichen Rundfunk in eine Propagandamaschine verwandelt, die Paranoia vor Migranten und Muslimen schürt, während Orbán-Vertraute fast alle kritischen Zeitungen des Landes aufgekauft haben. Und seit 2011 sind auch die Wahlkreise ganz auf die Bedürfnisse der Regierungspartei zurechtgeschnitten: Fidesz errang bei der jüngsten Wahl zwar nur 49 Prozent der Stimmen, belegt damit aber zwei Drittel der Parlamentssitze – und kann so die Verfassung weiter aushöhlen. »Nach den Wahlen werden wir uns rächen, wir werden uns moralisch, politisch und juristisch rächen«, hatte Orbán seinen Gegnern vor dem Urnengang gedroht. Nun sollen Taten folgen: Mit der neuen Mehrheit will Fidesz gegen kritische Nichtregierungsorganisationen (NGOs) vorgehen, die zu den letzten unab-

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Foto: Bernadett Szabo / Reuters

hängigen Kontrollinstanzen des Landes zählen. »Orbáns Regierung versucht, jeden Widerspruch, jede Opposition, jede abweichende Stimme zu ersticken«, sagt Anikó Bakonyi. Seit acht Jahren arbeitet sie für das ungarische Helsinki-Komitee, eine NGO, die sich für die Rechte von Geflüchteten und Inhaftierten einsetzt. Nun fürchtet sie, dass es damit bald vorbei ist. »Die Regierung will die Zivilgesellschaft strangulieren und aushungern«, sagt Bakonyi. Während des Wahlkampfes hatte Orbán mit riesigen Plakaten geworben, die einen grinsenden alten Mann zeigen, versehen mit dem Schriftzug: »99 Prozent lehnen illegale Migration ab. Lassen wir nicht zu, dass Soros zuletzt lacht«. Kurz darauf postete ein Parlamentarier der Regierungspartei auf Facebook das Foto eines verkohlten Schweins, auf dessen Haut das Wort »Soros« zu lesen war. Der US-Börsenspekulant George Soros ist ein Lieblingsfeind antisemitischer Verschwörungstheoretiker. Er kam 1930 in Budapest zur Welt, überlebte den Holocaust und unterstützt seit vielen Jahren weltweit NGOs, die sich für Bürgerrechte und den Schutz von Geflüchteten einsetzen. Orbán nennt ihn einen »Feind des Volkes«, der den Kontinent mit Afrikanern und Arabern überschwemmen wolle. Im Mai gab die Soros-Stiftung bekannt, ihren Sitz nach Berlin zu verlegen. Grund: die »repressive Politik« Orbáns. Flüchtlinge, eine tote Sau und ein lachender Jude: Die Rhetorik ist düster geworden im EU-Mitgliedsland Ungarn. »Geflüchtete Menschen sind zu einem fiktiven Feind avanciert«, sagt Anikó Bakonyi. »Die meisten ungarischen Bürgerinnen und Bürger haben in ihrem Leben noch nie einen Ausländer gesehen, insbesondere wenn sie auf dem Land leben. Aber die Gehirnwäsche der Regierung wirkt.«

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Vorbild. Demonstration gegen den Wahlsieg der Fidesz-Partei, Budapest, April 2018.

»Stop Soros« nennt die Regierung das Gesetzespaket, das sie nun durchpeitschen will, um gegen Flüchtlingshelfer vorzugehen. Es sieht vor, dass NGOs, die Migranten und Asylbewerber unterstützen, für ihre Arbeit künftig eine Genehmigung des Innenministeriums benötigen. Damit wäre es auch einfacher, Organisationen zu verbieten. Der Entwurf sieht vor, dass ihren Mitarbeitern untersagt werden kann, sich der ungarischen Grenze auf acht Kilometern zu nähern. Zudem sollen NGOs, die sich zu einem Großteil aus ausländischen Spenden finanzieren, künftig auf diese Einnahmen eine Strafsteuer von 25 Prozent zahlen. Dies ist nicht der erste Schlag gegen die ungarische Zivilgesellschaft. Bereits seit dem vergangenen Jahr müssen sich NGOs registrieren lassen, wenn sie jährlich mehr als 24.000 Euro aus dem Ausland erhalten, und sich in allen Publikationen als »aus dem Ausland finanziert« ausweisen. Die Regierung behauptet, das Gesetz fördere die Transparenz und verhindere, dass Spenden für Geldwäsche oder zur Finanzierung terroristischer Aktivitäten missbraucht werden. Tatsächlich geht es wohl darum, Menschenrechtsarbeit als »unpatriotisch« zu brandmarken. Regierungssprecher Zoltan Kovacs nannte Menschenrechtsaktivisten »ausländische Agenten, finanziert mit ausländischem Geld«, während Fidesz-Vizeparteichef Szilard Nemeth forderte, regierungskritische Organisationen »mit allen Mitteln zurückzudrängen und wegzuputzen«. Viele NGOs haben sich bisher geweigert, den neuen gesetzlichen Bestimmungen nachzukommen – so auch die ungarische Amnesty-Sektion und das Helsinki-Komitee. Noch ist unklar, welche Konsequenzen dies für sie haben wird.

UNGARN

Foto: Attila Volgyi / Polaris / laif

Soviel steht aber fest: Mit der neuen Zweidrittelmehrheit im Rücken wird die Regierung die Daumenschrauben anziehen. Wenige Tage nach der Wahl veröffentlichte die regierungsnahe Zeitschrift Figyelö eine Liste von 200 Journalistinnen, Wissenschaftlern und Menschenrechtlerinnen und nannte sie von Soros bezahlte »Söldner«, die am Regierungsumsturz arbeiteten. Auch das Personal von Amnesty in Ungarn und des Helsinki-Komitees war unter den Genannten. »Es war für mich keine Überraschung, meinen Namen auf der Liste zu sehen«, sagt Anikó Bakonyi. »Viele Menschen haben inzwischen Angst, öffentlich ihre Meinung zu sagen. Aber für uns steht fest, dass wir weiterkämpfen werden.« Ungarn galt einst als das demokratische Musterland der ehemaligen Ostblockstaaten. Heute spricht Ministerpräsident Viktor Orbán davon, sein Land in einen »illiberalen Staat« umzubauen – und hat Nachahmer gefunden von Warschau bis Washington. Es ist eine erstaunliche Entwicklung für einen Mann, der im Sommer 1989 für den demokratischen Wandel in seiner Heimat kämpfte und wenige Monate später nach Oxford zog, um die Geschichte der liberalen Philosophie zu studieren. Seinen Studienaufenthalt finanzierte damals übrigens ein Wohltäter aus den USA. Sein Name: George Soros. 쮿

Wahlen sind in Ungarn noch immer frei, aber längst nicht mehr fair. 53


PORTRÄT

Foto: Natalia Bronny

Auf Leben und Tod Andrei Paluda setzt sich für die Abschaffung der Todesstrafe in Belarus ein. Von Natalia Bronny Andrei Paluda war in der belarussischen Polizei bereits einige Karrierestufen emporgestiegen, bevor er eine Kehrtwende machte – aus Gewissensgründen. Das war 2004. Heute ist der Vater zweier Söhne eine der wichtigsten Aktivisten im Kampf gegen die Todesstrafe in Belarus. Massiv gebaut ist Paluda, der breite Rücken immer durchgestreckt. 1976 in Minsk geboren, studierte er Jura an der Akademie des Innenministeriums der Republik Belarus, bevor er zur Polizei ging. »Damals war der Eiserne Vorhang gerade gefallen und Alexander Lukaschenko noch nicht an der Macht – die Freiheit war überall zu spüren.« Nach elf Jahren und mehreren Disziplinarverfahren wegen regierungskritischer Äußerungen verließ er die Polizei. Der Grund: »Ich konnte nicht länger Teil dieses repressiven Systems sein.« Seit 2008 nun ist er für die belarussische Menschenrechtsorganisation Viasna (Frühling) tätig, der die Behörden seit anderthalb Jahrzehnten die offizielle Registrierung verweigern – was die Arbeit nicht leichter macht. In Zusammenarbeit mit dem Helsinki-Komitee koordiniert Paluda bei Viasna die Kampagne »Menschenrechtsverteidiger gegen die Todesstrafe in Belarus«. Ein zentrales Ziel sei Aufklärung, weil die Regierung Informationen zur Todesstrafe geheim halte. So erfährt die Öffentlichkeit weder von Hinrichtungen, noch wissen betroffene Familien, wann ihre Angehörigen hingerichtet und wo sie beigesetzt werden. Mehr als 400 Menschen sollen in Belarus seit der Unabhängigkeit 1991 hingerichtet worden sein. Auch dieses Jahr verhängte die Justiz zwei Todesurteile. Es dürften nicht die letzten geblieben sein. »Wir sind ja nicht nur in Europa der letzte Staat, der noch immer hinrichtet, sondern auch auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Damit

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hat die belarussische Regierung ein Faustpfand in der Hand«, so Paluda. »Die Todesstrafe bildet den Kern der Macht von Präsident Lukaschenko.« Offiziell halte das Staatsoberhaupt wegen eines Referendums daran fest: 1996 waren 80 Prozent derjenigen, die sich an der Abstimmung beteiligten, für die Todesstrafe. Dies sei jedoch kein Grund, sie nicht abzuschaffen, sagt Paluda: »Erstens hatte das Referendum lediglich Empfehlungscharakter, zweitens sind seitdem 22 Jahre vergangen.« Die junge Generation denke heute anders als vor zwei Jahrzehnten, selbst wenn es immer Leute geben werde, die sagten: »Je weniger ich weiß, desto einfacher ist mein Leben.« An Universitäten aber, wo Viasna viele Veranstaltungen organisiert, habe er nicht einen Vegetarier getroffen, der für die Todesstrafe sei. Zum Umdenken habe vor allem ein Anschlag in der Metro von Minsk 2011 beigetragen, bei dem 15 Menschen ums Leben kamen, glaubt der 42-Jährige. So seien viele überzeugt, dass damals »nicht die wahren Täter gefunden und hingerichtet worden« seien, sondern dass zwei Unschuldige wegen Terrorismus verurteilt wurden. »Die Menschen haben damals verstanden: ›Es könnte jeden von uns treffen‹.« Mit welcher Willkür die belarussische Justiz Todesurteile verhängt, erlebt Paluda täglich in seiner Arbeit. So etwa im Fall von Aleksandra Yakovitskaya, die er jüngst zu einem Besuch nach Berlin begleitete: Ihr Vater war in einem Prozess ohne Beweise zum Tode verurteilt worden – mit Zeugen, die nicht nur während der vermeintlichen Tat betrunken waren, sondern auch während ihre Aussagen vor Gericht. Zuversichtlich, etwas verändern zu können, bleibt Paluda dennoch. »Ohne Hoffnung auf Wandel könnte ich mich mit der Todesstrafe nicht beschäftigen.« 쮿

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DRANBLEIBEN

Mutmaßlicher Journalistenmörder gefasst Mexikos Strafverfolger haben einen mutmaßlichen Mörder des Journalisten Javier Valdez verhaftet. Ende April erließ ein Bundesrichter Haftbefehl gegen Heriberto N., alias »El Koala«, der als Auftragskiller für das Sinaloa-Kartell gearbeitet haben soll. Ein weiterer Verdächtiger sei schon früher bei Kämpfen zwischen Kriminellen getötet worden. Der 50-jährige Valdez war im Mai 2017

in seiner Heimatstadt Culicacán im Bundesstaat Sinaloa auf offener Straße erschossen worden. Der preisgekrönte Herausgeber der Zeitschrift Ríodoce war ein ausgesprochener Kenner des Kartells. Er hatte über den mexikanischen Drogenkrieg berichtet – in einem Land, in dem viele Medien sich aus Angst vor Gewalt selbst zensieren. Alles spricht dafür, dass er wegen seiner Veröffentlichungen über

die Organisation ermordet wurde. Aktivisten fordern, dass die Ermittler auch gegen die Hintermänner der Tat vorgehen. Valdez war einer von 13 Medienschaffenden, die 2017 in Mexiko ermordet wurden. Damit war Mexiko das gefährlichste Land für Journalisten. In diesem Jahr wurden bereits vier getötet. »Tödliche Berichte«, Amnesty Journal 12/2017-01/2018

Journalisten in der Türkei verurteilt

»Im Zweifel für den Ankläger«, Amnesty Journal 04-05/2018

Foto: Ozan Kose / AFP / Getty Images

Ein Gericht in der Türkei hat Ende April hohe Haftstrafen gegen führende Mitarbeiter der regierungskritischen Zeitung Cumhuriyet verhängt. Das Gericht in Silivri verurteilte den Herausgeber Akin Atalay zu acht Jahren Haft, Chefredakteur Murat Sabuncu und den Redakteur Ahmet Sik zu je siebeneinhalb Jahren Gefängnis – alle wegen angeblicher Unterstützung von Terrororganisationen. »Die Urteile sind politisch motiviert«, sagte Milena Buyum, Türkei-Expertin von Amnesty International. »Sie sollen ein Klima der Angst schüren und jegliche Opposition zum Schweigen bringen.« Insgesamt waren 18 aktive oder ehemalige Mitarbeiter der Zeitung angeklagt. Einige erhielten kürzere Haftstrafen, drei wurden von den Vorwürfen freigesprochen. Die meisten von ihnen waren Ende 2016 in U-Haft genommen worden. Justizopfer. Murat Sabuncu und Ahmet Sik im März 2018 in Istanbul.

Giftgaseinsatz in Syrien bestätigt Die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) hat den Einsatz von Giftgas bei einem Angriff in Syrien im Februar bestätigt. Eine Erkundungsmission sei zu dem Ergebnis gekommen, dass in der Stadt Sarakeb Anfang Februar Chlorgas aus Zylindern freigesetzt worden sei, teilte die Organisation Mitte Mai in Den Haag mit. Das Chlorgas sei »wahrscheinlich als chemische Waffe eingesetzt wor-

PORTRÄT

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DRANBLEIBEN

den«, resümierten die Experten. Wer die chemische Waffe eingesetzt hat, bleibt jedoch ungeklärt. Syrische Aktivisten hatten am 4. Februar gemeldet, dass elf Menschen nach Luftangriffen von Regierungstruppen in Sarakeb mit Atembeschwerden behandelt worden seien. Die OPCW arbeitet derzeit auch an einer Untersuchung des mutmaßlichen Einsatzes von Chemiewaffen im April in

Duma. Nach Angaben von Helfern und Ärzten wurden bei dem Angriff mehr als 40 Menschen getötet. Infolgedessen hatten die Luftwaffen der Vereinigten Staaten, Frankreichs und Großbritanniens Einrichtungen zur Giftgasherstellung des Regimes von Präsident Baschar al-Assad bombardiert. »Im Visier der Ermittler«, Amnesty Journal 06-07/2017

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KULTUR

Flügel

Statue der Befreiung. Sethembile Msezane bei der Entfernung der Statue für den britischen Kolonialisten Cecil Rhodes in Kapstadt, April 2015.

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der Hoffnung

Foto: Charlie Shoemaker / Getty Images

SĂœDAFRIKA

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Die koloniale Deutung der Welt. Grada Kilomba in ihrem Werk »The Kosmos 2«.

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Eine neue Generation von schwarzen Künstlerinnen setzt sich mit den Folgen von Kolonialismus und Apartheid in Südafrika auseinander. Von Martina Schwikowski

Foto: Esra Rotthoff

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uf dem Boden ist Kakaopulver zu einem Kegel aufgetürmt. Rundherum stecken weiße Kerzen. Weiter oben sind Zucker, Kaffeebohnen, gemahlener Kaffee und dunkle Schokolade in Mulden gebettet. »Das sind die Elemente, die Afrika produziert und die wir täglich konsumieren«, sagt die Künstlerin Grada Kilomba. Sie will mit ihrer Arbeit zeigen, dass Europäer und Afrikaner durch ihre gemeinsame Geschichte miteinander verbunden sind und der Kolonialismus bis heute nachwirkt, psychologisch wie politisch. »Alles basiert auf dem Sklavenhandel und seinen Objekten, die Europa und seine Freuden füttern.« Die weiße Goodman Gallery im Norden Johannesburgs präsentiert unter dem Titel »Speaking the Unspeakable« Grada Kilombas erste Einzelausstellung auf dem afrikanischen Kontinent. »Unaussprechlich« sind für die Künstlerin Traumata, die ihren Ursprung in der Kolonialzeit haben: »Der Kolonialismus ist eine Wunde, die nie ordentlich behandelt worden ist, eine infizierte Wunde, die immer weh tut und manchmal blutet.« Grada Kilomba gehört zu einer neuen Generation von (schwarzen) Künstlern, die sich mit der Bedeutung von Rasse, Klasse und Geschlecht in Afrika auseinandersetzen. »Ich will keine Antworten geben. Ich bin mehr daran interessiert, etwas Neues zu schaffen und neue Fragen aufzuwerfen«, sagt die 49Jährige. »Es ist wie bei einem Puzzle: Aus vielen kleinen Steinchen ergibt sich irgendwann ein Bild.« Kilombas Kunst ist vielschichtig, sowohl in den Darstellungsformen als auch in den Fragen, die sie aufwirft. Sie kombiniert Kunstformen des Erzählens, der Installation und der Performance. Diese Vielschichtigkeit findet ihren Ursprung in der Biografie der Künstlerin. Geboren wurde Kilomba in Portugal, ihre Wurzeln liegen in Angola sowie in São Tomé und Príncipe. Heute lebt sie in Berlin und in Südafrika, der Heimat ihres Mannes. »Ich arbeite, um zu verstehen, wer ich bin«, sagt die Künstlerin. Durch ihre Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus erobere sie sich ihre Menschlichkeit zurück. Charakteristisch für Kilombas Werk ist ein subversives Geschichtenerzählen. So ist eine ihrer Arbeiten in der Goodman Gallery der Angolanerin Escrava Anastacia gewidmet, die von den Portugiesen versklavt wurde. Die redegewandte Sklavin hatte Fragen, die die Kolonialherren nicht mochten, denn dadurch emanzipierten sich auch andere, erzählt Kilomba. »Also erhielt sie einen Maulkorb.« Das Bild der Frau mit dem gewaltsam verschlossenen Mund hängt über einem kleinen Tisch, der mit Opfergaben belegt ist. »Schrein« hat die Künstlerin ihre Installation genannt. »Diese Maske vor dem Gesicht, das Bild der Frau ist sehr symbolisch in Bezug auf Rasse und Geschlecht – und es ist immer noch aktuell«, sagt Kilomba. Nur einen Steinwurf von der Goodman Gallery entfernt hat die Momo Gallery ihren Sitz. Sie ist die erste und bislang einzige Kunstgalerie in Südafrika, die von einem schwarzen Team gegründet wurde. Zu den lokalen und internationalen Künstlern, die die Galerie vertritt, zählt Sethembile Msezane. Arbeiten der erst 27-jährigen Südafrikanerin sind auch im Zeitz Museum of Contemporary Art Africa (MOCAA) in Kapstadt zu sehen. Eine

SÜDAFRIKA

zeigt eine Glocke aus dem 18. Jahrhundert, deren Seil aus blondem Haar geflochten ist. Haar spielt auch in anderen Werken der Künstlerin eine wichtige Rolle. So dient in einer ihrer Installationen eine viktorianische Tür von 1895 als Tischfläche, unter der Mengen afrikanischen Haars hervorquellen. Auf dem Tisch steht eine Klingel, mit der einst die weißen Kolonialherren ihre schwarzen Diener riefen. »Woran werden wir uns erinnern, was wird vergessen werden?«, fragt der Titel des Werkes. Im April 2015 beteiligte sich Msezane mit einer mehrstündigen Performance an der Studentenkampagne »Rhodes must fall«. Die Proteste richteten sich gegen die Denkmäler der weißen Eroberer aus der Kolonialzeit, die immer noch an vielen Plätzen in Südafrika zu finden sind, so auch vor der Universität in Kapstadt. Während eine Statue des britischen Politikers Cecil Rhodes abgebaut wurde, stand Sethembile Msezane stundenlang als schwarze weibliche Statue auf einem Podest. Ihre Arme trugen weit ausgebreitete Flügel aus geflochtenem Haar, ihr Gesicht war hinter einem Perlenvorhang verborgen, ihr Körper nur mit einem eng anliegenden schwarzen Einteiler bekleidet. Sie verkörperte Chapungu, einen der heiligen Vögel, dessen Skulptur Rhodes einst in seinen Besitz brachte. Als die Statue von Rhodes entfernt war, hob sie ihre Flügel – eine Geste, die die Hoffnung ausdrücken sollte, dass Afrika seine Kolonialgeschichte überwinden wird. »An öffentlichen Orten präsent zu sein, erfordert Bereitschaft, man muss sich dafür wappnen, denn die Symbole dort sind sehr dominant«, sagt Sethembile Msezane. Bereits 2013 begann die Künstlerin, damals noch Studentin, in Kapstadt die Repräsentation der Körper schwarzer Frauen im öffentlichen Raum einzufordern. »In den Straßen der Stadt konnte ich mich nicht mit den Symbolen der nationalen Helden identifizieren, es waren alles weiße Männer, Kolonialherren, Niederländer oder afrikanische Nationalisten«, erzählt sie. Frauen hätten so viel zur Wirtschaft, zur Entwicklung beigetragen und ihre Anerkennung sei doch so minimal. Also stellte sie sich stellvertretend für die vielen afrikanischen Frauen aus, die nicht im Stadtbild auftauchten. Am Tag des Friedens wurde Sethembile Msezane zur weiblichen Freiheitsstatue, am Tag der Arbeit zur südafrikanischen Arbeiterin in Fabrikkleidung. Sie nannte die Serie »Public Holiday«, offizieller Feiertag. Öffentliche Symbole und Architektur verkörpern aus Sicht der Künstlerin Ideologien, haben eine psychologische Wirkung auf die Gesellschaft. Im öffentlichen Raum, so Msezane, nehme jeder »die Energie von anderen Menschen an, von Gebäuden und Statuen – das ist anstrengend. Deine Identität in diesem Raum ist irrelevant. Aber in privaten Räumen fühle ich Liebe, Menschlichkeit und kann einfach ich sein.« Eine treibende Kraft ihrer künstlerischen Arbeit seien ihre Ahnen, erzählt die Künstlerin. Sie meditiere und nutze ihre Träume als Material. Egal ob Kilombas Frau mit Maulkorb oder Msezanes Flügel aus Haar – die Arbeiten beider Künstlerinnen zielen auf den Umgang der (süd)afrikanischen Gesellschaft mit dem kulturellen Erbe von Apartheid und Kolonialismus. 쮿

»Ich arbeite, um zu verstehen, wer ich bin.« Grada Kilomba 59


Der Rapper und die Ratten Der sambische Sänger Pilato wurde wegen eines regierungskritischen Songs bedroht und floh nach Südafrika. Nach seiner Rückkehr wurde er verhaftet. Von Daniel Bax

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utoritäre Politiker und Autokraten verstehen keinen Spaß. Das gilt nicht nur für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, für Russlands Präsident Wladimir Putin oder Donald Trump in den Vereinigten Staaten, sondern auch für afrikanische Politiker, die autoritäre Tendenzen entwickeln. Das musste jetzt auch der Rapper Pilato aus Sambia erfahren. Im Januar floh er nach Informationen von Amnesty nach Südafrika, nachdem ihm Gewalt angedroht wurde. Der Auslöser dafür war sein satirischer Song »Koswe Mumpoto« (»Ratte im Topf«), den er im Dezember in Sambia veröffentlicht hatte. Nach vier Monaten im Exil kehrte Pilato Mitte Mai nach Sambia zurück und wurde direkt nach der Landung am internationalen Flughafen in Lusaka festgenommen. Im Internet kann man sich den Song mit den fröhlichen Elektrobeats im Stil des südafrikanischen Kwaito-Genres weltweit anhören. In seinem provokanten Stück schlüpft Pilato in die Rolle einer Kunstfigur, um Korruption und Machmissbrauch von Politikern zu geißeln. Dass er sie dabei mit Ratten vergleicht, steigerte den Affront nur noch. Anhänger der Regierungspartei Patriotische Front (PF) sahen darin einen unverblümten Angriff auf Sambias Präsidenten Edgar Chagwa Lungu und dessen Kabinett. Lungu war 2016 bei der Präsidentschaftswahl mit einer knappen Mehrheit im Amt bestätigt worden. Die Wahl war von Gewalt zwischen Anhängern und Gegnern der Regierungspartei überschattet. Die Opposition hatte zudem von Wahlbetrug gesprochen, aber trotz Neuauszählungen in einigen Wahlkreisen keine Belege vorweisen können. Sein Amt hatte Lungu erst ein Jahr zuvor vom verstorbenen Vorgänger Michael Sata übernommen. Seitdem machten er und seine Minister der Patriotischen Front durch die Einschränkung von Meinungsfreiheit und Rechten der Opposition von sich reden. Gegen Treffen der Opposition ging die Polizei mit exzessiver Gewalt vor, Oppositionspolitiker wurden angeklagt und unabhängige Medien und Journalisten schikaniert. Korruptionsvorwürfe wurden immer wieder laut. In seinem Song »Koswe Mumpoto« führt Pilato die Zustände regelrecht vor. »Die Höhle des King Cobra wurde von Ratten übernommen, deren Job das Stehlen ist«, heißt es darin. King Cobra war der Spitzname des verstorbenen Ex-Präsidenten und Gründers der Regierungspartei, Michael Sata. »Wir müssen vorsichtig sein mit diesen Ratten, denn wir würden sterben, wenn wir nicht stark sind.« Außerdem spielt Pilato in seinem Song auf

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fragwürdige Deals mit chinesischen Investoren an, die sich in Sambia am Bau von Straßen und Krankenhäusern beteiligen. Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Schon im Dezember, kurz nachdem das Stück erschienen war, stellte ein Funktionär der Regierungspartei dem Rapper ein Ultimatum, seinen Song zurückzuziehen. Auch wenn in dem Stück keine Namen genannt würden, sei es »beleidigend und erniedrigend« gegenüber der Führung des Landes. Radiostationen und Fernsehsender wurden unter Druck gesetzt, den Song nicht zu spielen. Für mehrere geplante Konzerte wurde dem Sänger die Auftrittserlaubnis verweigert, andere Auftritte konnten nur unter Auflagen stattfinden. Außerdem wurde von Regierungsseite ein Gegensong in Auftrag gegeben, in dem Pilato persönlich angegriffen und ihm vorgeworfen wurde, es auf Präsident Edgar Lungu abgesehen und dafür bezahlt worden zu sein. Pilato berichtete außerdem, PF-Kader hätten ihm in einer Videobotschaft gedroht, dass sie ihn sich vorknöpfen würden. Sambia ist seit 1991 eine Demokratie. Durch die Abwahl des Regierungschefs fand damals einer der ersten friedlichen Machtwechsel des Kontinents statt. In dem südafrikanischen Binnenstaat stellt sich die Lage der Menschenrechte, verglichen mit vielen Nachbarländern in der Region, wie die Demokratische Republik Kongo, Angola, Tansania und Simbabwe, noch vergleichsweise gut dar. Gerade deswegen hat die Affäre um den Rapper Pilato solchen Symbolcharakter. Kontroversen sind Pilato nicht fremd. Den früheren Präsidenten Michael Sata bezeichnete er einmal als »Lügenvater«, unfähige Politiker beschimpfte er als »Psychopatienten«. Und als Edgar Lungu 2015 zum Staatschef ernannt wurde, verfasste er einen Song über einen Alkoholiker namens Lungu, der auch als Präsident ständig mit einem Koffer voller Whisky unterwegs sei. Dafür wurde er wegen »Aufwiegelung« angeklagt, doch das Verfahren wurde eingestellt. Im September des vergangenen Jahres hatte er gegen den Kauf der Regierung von auffallend überteuerten Feuerwehrautos protestiert. Deswegen sollte er sich während seines Auslandsaufenthaltes vor Gericht verantworten. Pilato ließ den Termin verstreichen, daher nun der Haftbefehl – den Amnesty scharf verurteilt: »Dies ist ein klassischer Fall von Missbrauch der Strafjustiz in Sambia«, sagt Deprose Muchena, Regionaldirektorin für das südliche Afrika von Amnesty International.

Radiostationen wurden unter Druck gesetzt, den Song nicht zu spielen. AMNESTY JOURNAL | 06-07/2018


Foto: Pilato

Stimme der Stimmlosen. Der sambische Rapper Fumba Chama alias Pilato.

Pilato steht für »People in lyrical arena taking over«. Der Musiker mit bürgerlichem Namen Fumba Chama kam 1984 in der Industriestadt Ndola zur Welt. Seinen ersten Preis, den »Ngoma Award« als bester Lyriker, gewann er 2010. Mehrmals war er seitdem für andere Musikpreise nominiert, darunter 2014 für den besten »Conscious Song«. Er hat mehrere Alben veröffentlicht und ist in diversen Nachbarländern aufgetreten. Fans hat er in Südafrika, im Kongo, in Tansania und Großbritannien. Am bekanntesten ist er aber in seinem Heimatland Sambia, dort wird er als »Stimme der Stimmlosen« gefeiert. Seine sehr direkten Texte gefallen freilich nicht jedem. Mehr als einmal ist er im Laufe seiner Karriere bedroht worden. Doch die jüngsten Angriffe haben eine andere Qualität. Nachdem Pilato Sambia Anfang Januar heimlich verlassen hatte, meldete er sich auf Facebook zu Wort und erklärte, sich mehrere Tage lang »im Busch« versteckt zu haben und nun im Ausland zu sein. Außerdem zeigte er sich um seine Familie in Sambia besorgt. Er bete für die Würde seiner Landsleute. »Aber was ist Würde ohne eine anständige Gesundheitsversorgung? Wenn unsere Leute keine Medizin in den Krankenhäusern finden können? Was ist ihre Würde, wenn Studenten von der Polizei brutal zusammengeschlagen werden, weil sie Essenszulagen

SAMBIA

von der Regierung gefordert haben? Wenn die Mehrheit unserer jungen Leute keine Jobs findet und wenn, dann unter unmenschlichen Bedingungen, wo ist ihre Würde?«, schrieb er. Es sei manchmal wichtig, für eine Sache zu sterben, aber noch wichtiger sei es, dafür zu leben. In Sambia liege die Macht in den Händen »blutrünstiger Satanisten, die Menschen straflos schlagen und töten«. Oppositionsführer Hakainde Hichilema machte die Regierungspartei verantwortlich, sollte dem Rapper etwas zustoßen. Nach Pilatos Verschwinden meldete sich der Staatspräsident zu Wort. Nach dem Besuch eines katholischen Gottesdienstes in der ostsambischen Bergstadt Chinsali beklagte er sich, die Beleidigungen »eines gewissen gedungenen Musikers« hätten seine Arbeit erschwert und es ihm unmöglich gemacht, wichtige Termine wahrzunehmen. Im März veröffentlichte der Zambian Observer ein Interview mit dem untergetauchten Sänger. »Ich bin nicht für immer weg, ich werde zurückkehren«, erklärte Pilato, kündigte Konzerte in Sambia an und deutete an, dass er sich vorstellen könnte, zu einem späteren Zeitpunkt in die Politik zu gehen. Zurückgekehrt ist der Rapper, doch sein politisches Engagement ist offensichtlich nicht erwünscht. 쮿

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Mentale Blockaden

Beschränkter Horizont. Grenzzaun zwischen den USA und Mexiko nahe dem kalifornischen Calexico, März 2018.

Fast drei Jahrzehnte nach dem Fall der Berliner Mauer schränken Grenzanlagen die Freiheit von Menschen weltweit weiter ein. Damit beschäftigt sich der Deutsche Pavillon auf der Architekturbiennale in Venedig. Von Clemens Bomsdorf

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r. Gorbachev, tear down this wall.« – » I will build a great, great wall on our southern border, and I will make Mexico pay for that wall.« Rund 30 Jahre liegen zwischen diesen beiden Aussprüchen von Ronald Reagan und Donald Trump. Die Berliner Mauer fiel zwei Jahre nach Reagans publikumswirksam vor dem Brandenburger Tor vorgebrachter Forderung. Was genau zwischen Mexiko und den USA passieren wird, ist unklar. In jedem Fall hat Trumps Rhetorik etlichen US-Amerikanern Hoffnung gegeben, vielen anderen bereitet sie ebenso wie vermutlich den meisten Mexikanern Sorge. Wenn Trump über seine Mauerbaupläne spricht,

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erweckt er immer wieder den Eindruck, die nordamerikanische Gesellschaft würde wirtschaftlich und sozial gerettet werden, wenn bloß mit der Errichtung der Mauer im Süden sowohl die Drogen als auch die illegalen Einwanderer von dort draußen gehalten würden. »Es ist sehr interessant, dass ausgerechnet in einer Zeit, wo die Welt immer globaler, vernetzter wird, der Ruf nach einer neuen Abgrenzung laut wird«, sagt Marianne Birthler. Die aus Ost-Berlin stammende ehemalige Grünen-Politikerin und frühere Bundesbeauftragte für Stasi-Unterlagen kuratiert gemeinsam mit dem Architektenbüro Graft den Deutschen Pavillon bei der diesjährigen Architekturbiennale von Venedig. In der Ausstellung mit dem Titel »Unbuilding Walls« steht im Zentrum, was aus dem deutsch-deutschen Todesstreifen sowie den westöstlichen Diskrepanzen mittlerweile geworden ist. Globalpolitisch noch interessanter ist der zweite Teil: Hier geht es um sechs internationale zum Teil hoch umstrittene Grenzen – die auf Zypern, die nordirische, die zwischen Marokko und Spanien, zwischen Süd- und Nordkorea, die israelisch-palästinensische und jene, die Trump nun befestigen möchte. »Wann immer

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Foto: Darren Ell / Polaris / laif

»Mauern sind ein Ausdruck politischen Scheiterns.« Marianne Birthler

Mauern entstehen, ist es ein Zeichen, dass man nicht mehr weiter wusste, konnte oder wollte. Im Grunde ein Versagen von Kommunikation, Verhandlung, anderen Modellen. Ich will nicht behaupten, dass es immer ohne geht, aber es ist eigentlich ein Ausdruck politischen Scheiterns«, sagt Birthler. In diesem Jahr, in dem die deutsch-deutsche Mauer mittlerweile so lange gefallen ist, wie sie einst existierte, setzt auch der Westen inklusive Europa und Deutschland auf immer sicherere Grenzen, um die globalen Probleme außen vor zu halten. Der Grenzzaun zwischen Marokko und der spanischen Exklave Ceuta ist strengstens bewacht und wer sie überwindet, muss mit Misshandlungen rechnen. Amnesty International kritisiert kollektive Abschiebungen Spaniens und Gewalt gegen Flüchtlinge, die die Grenze überqueren wollen. Die marokkanisch-spanische Grenze kommt in der Architekturausstellung vor, weil sie eine physisch existierende Landgrenze ist. Sie ist aber nicht die einzige europäische Außengrenze zum afrikanischen Kontinent. »Was die Mauer in Libyen gerade ist, weiß keiner genau. Sie wird derzeit extrem verschoben aus dem Meer in den Kontinent hinein, die Außenmauer

ARCHITEKTURBIENNALE

Europas steht schon nicht mehr auf eigenem Territorium«, sagt Graft-Architekt Lars Krückeberg. Sich abzuschotten, ist eine scheinbar ebenso einfache wie populistische Lösung, die verdient, genauer reflektiert und debattiert zu werden. Genau dazu soll die Ausstellung im Deutschen Pavillon beitragen. Statt dabei wie häufig üblich vor allem Spitzenpolitiker und Wissenschaftler zu befragen, hat das Kuratorenteam Journalisten ausgesandt, um an den sechs Grenzen von den Anwohnern zu hören, was sie über diese Art von »Schutzwall« denken. Deren Reflexionen sind in Filmen zu sehen. Die Kuratoren wollen nicht Stellung beziehen, sondern einfach nur zeigen, was ist. Sie werden, wie es Architekt Krückeberg ausdrückt, »den texanischen Ranger, der die Mauer zwischen den USA und Mexiko gut findet, ebenso zu Wort kommen lassen, wie eine mexikanische Mutter, die das nicht so sieht, weil sie dadurch von ihrem Kind getrennt ist«. Krückeberg sagt, dass üblicherweise nur eine Seite die Mauer unbedingt wolle. Doch auch da gebe es Nuancen, wie die Videos zu Nordirland zeigten: »Ich fand es erstaunlich, dass viele sagten, ich mag die Mauer auch nicht, aber im Moment hilft sie uns sehr – wenn sie nicht da wäre, würden wir uns die Köpfe einschlagen.« Dass selbst mit dem Abbau einer Grenzanlage nicht das Ende der Geschichte erreicht ist, wollen die Architekten und Marianne Birthler im Hauptteil der Ausstellung zeigen. »Unser Titel lautet ›Unbuilding Walls‹, während man im Deutschen von ›Mauerfall‹ spricht. Wir zeigen aber, dass Baustein für Baustein abgebaut wird«, sagt Graft-Architekt Wolfram Putz. Steinchen für Steinchen – noch lange, nachdem Grenzen aufgehoben wurden, entfalten sie psychologische und gesellschaftliche Wirkung. »Auch wenn die Mauer ganz schnell fällt, ist es mental die Mauer in den Köpfen, die zyklisch immer wiederkehrt, bevor sie wirklich erledigt ist«, sagt Putz. Bei der Architekturbiennale vor zwei Jahren stand im Deutschen Pavillon die Integration von Einwanderern im Zentrum, die Stadt Offenbach wurde damals als vorbildliches Beispiel präsentiert. Die Planung der Ausstellung lief, als die Zahl der nach Europa kommenden Flüchtlinge besonders hoch war und Angela Merkel sich mit ihrem berühmten »Wir schaffen das« viele Freunde und Feinde machte. Letztlich ist die damit verbundene Diskussion ein Thema, auf das der diesjährige deutsche Biennalebeitrag zurückkommt. »Die Frage wird komplizierter, je tiefer man einsteigt«, sagt Birthler. »Auf der einen Seite ist es für mich selbstverständlich, dass ein Land als Souverän auch bestimmt, wer hinein darf. Wenn es aber um Menschen in großer Not geht, sind wir als zivile Gesellschaft auch herausgefordert.« Eine hochkomplexe Frage, die die Ausstellung nicht wird auflösen können. 쮿 Architekturbiennale Venedig: 26. Mai bis 25. November 2018

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Zwei Stimmen einer Frau Zweimal Medea. Maria Goldblum und Yolanda Fumo in Osnabrück, Februar 2018.

Das Theater Osnabrück und das Teatro Avenida aus Maputo bringen in Mosambik das altgriechische Frauendrama »Medea« auf die Bühne. Die Neufassung thematisiert die Benachteiligung von Frauen in dem südostafrikanischen Land. Von Alexandra Mankarios

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hre Haare trägt Manuela Soeiro aus Mosambik kurz und pink. Die kleine Frau ist 72 Jahre alt, und sie tut, was sie für richtig hält. »Immer wieder wollen mich Politiker drängen, mit meiner Arbeit aufzuhören. Ich höre da einfach nicht mehr hin«, erzählt sie. Sogar ihre Geschwister habe man darauf angesetzt, sie zum Aufhören zu bewegen. »Das ist mein Leben. Ich verdiene meinen eigenen Lebensunterhalt, ihr könnt mir nichts vorschreiben«, sagt sie ihnen dann. Soeiro ist Leiterin des Teatro Avenida in Mosambiks Hauptstadt Maputo. Als sie das Theater Anfang der 1980er Jahre gründete, wollte sie dem von Kolonialismus und Bürgerkrieg erschütterten Land wieder zu einer eigenen Identität verhelfen – mit Geschichtenerzählen. Dass sie dabei seither regelmäßig soziale Probleme aufgreift – etwa die Benachteiligung von Frauen oder Korruption –, macht sie unbequem. So richtig versteht sie den Aufruhr allerdings nicht: »Wir geben schließlich keine Lösungen vor. Ich verstehe unsere Stücke eher als Inspirationen.« Auch die deutsch-mosambikanische Koproduktion von »Medea2 – Dois Mundos, uma Narração« (»Zwei Welten, eine Erzählung«) ist als Inspiration gedacht. Der altgriechische, häufig bearbeitete Stoff erzählt die Geschichte der Königstochter und Zauberin Medea, die aus Liebe zu Iason ihre eigene Familie verrät. In Iasons Heimat Korinth wird sie jedoch zur Fremden. Iason lässt Medea fallen und verlobt sich mit der Königstochter Kreusa. »Als Dominique Schnizer vom Theater Osnabrück vorschlug, ›Medea‹ zu inszenieren, war ich sofort begeistert«, sagt Soeiro. »In Mosambik geht es vielen Frauen wie Medea.«

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Foto: Uwe Lewandowski / Theater Osnabrück

Eines der großen Probleme vieler Mosambikanerinnen ist Polygamie – verboten, aber weit verbreitet. Im Norden des Landes hat rund jeder fünfte Mann mehr als eine Ehefrau. Oft reicht das Geld nicht für alle, viele Frauen kämpfen ums Überleben für sich und ihre Kinder. Auch sonst steht es um die Frauenrechte in Mosambik schlecht. Beinahe die Hälfte der Mädchen wird vor dem 18. Lebensjahr verheiratet, 14 Prozent bereits mit 15 Jahren. Damit sie nicht aufbegehren, lernen Mädchen in Initiationsriten schon früh, wie sie ihre zukünftigen Ehemänner sexuell befriedigen und sich unterordnen sollen. Gewalt gegen Frauen ist an der Tagesordnung: Die Wahrscheinlichkeit, im Leben mindestens einmal Opfer körperlicher Gewalt zu werden, liegt für mosambikanische Frauen bei 35 Prozent, jede fünfte erlebt sexualisierte Gewalt. Gesetzesänderungen sollen die Rechte der Frauen stärken, zeigen im Alltag aber keine Wirkung. In »Medea2« erlebt das Publikum aus nächster Nähe mit, was sonst meist im Verborgenen bleibt: Wie es sich anfühlt, wie Medea gedemütigt, ausgestoßen, aller Rechte beraubt zu werden. Jede der drei Figuren – Medea, Iason und Kreusa – ist doppelt besetzt, jeweils einmal deutsch und einmal mosambikanisch. Das macht es einfach, den Stoff auf das Hier und Jetzt zu übertragen. So etwa, wenn der deutsche Iason die mosambikanische Medea zurück nach »Afrika« schicken will und es ihm sein mosambikanisches Alter Ego mit selbstgefälliger Mine gleich tut. Indes: Weder die mosambikanische noch die deutsche Medea fügt sich. Keine willigt ein, fortan als zweite Geliebte versteckt im Haus zu leben und sich Iasons Wünschen auszuliefern, während Kreusa öffentlich als seine neue Frau auftritt. In ihrer tiefen Verzweiflung finden die beiden Medeas mehr und mehr zusammen. Gemeinsam stellen sie fest: »Ich bin zwei Stimmen einer Frau. Eine, die lacht, und eine, die weint.« Und dann töten sie Iason und Kreusa – anders als in der altgriechischen Sage, in der Medea neben Kreusa und deren Vater ihre eigenen Kinder vernichtet. Nach Vorführungen im Februar in Osnabrück folgen im August Auftritte in Mosambik: Zunächst sind drei im Teatro

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Den Entrechteten eine Stimme geben. Das Teatro Avenida in Maputo.

venida geplant, danach stehen auf Wunsch von Manuela Soeiro Gastspiele im Norden des Landes auf dem Programm, wo Polygamie besonders verbreitet ist und junge Frauen sich häufig in Medeas Lage wiederfinden. Soeiros Teatro ist nah am Leben. So gibt es zum Beispiel eine theatereigene Bäckerei, die dabei hilft, die Einnahmen zu erhöhen. Oder das Konzept der am Teatro angeschlossenen Schauspielschule: Wer hier lernt, muss auch Kulissen tischlern, Kostüme schneidern und eben Brot backen. »Ich finde es wichtig, dass sie alles lernen, was zu einem Theater dazugehört, und nicht bloß schauspielern«, meint Soeiro. Außerdem besucht ein Team des Teatro Avenida Schulen und klärt in Stücken über Sexualität, Verhütung und HIV auf. »Die Lehrkräfte sind sehr froh, wenn wir ihnen das abnehmen«, erzählt Soeiro. »Für sie ist das ein schambehaftetes Thema, über das sie nicht gern sprechen. Mit Theater kann man das leichter vermitteln.« In einem weiteren Projekt sammelt sie selbst Geschichten: Mit dem Fahrrad sind »Geschichtenanimateure« des Teatro Avenida regelmäßig in Dörfern und Städten unterwegs, um sich von Kindern die Legenden und Mythen erzählen zu lassen, die sie von ihren Eltern und Großeltern gehört haben. Die Kooperation mit dem Theater Osnabrück ist für das Ensemble des Teatro Avenida nichts Ungewöhnliches, die Schauspielerinnen und Schauspieler sind seit Jahren regelmäßig auf europäischen Bühnen zu sehen. Dass es so kam, ist allerdings einer Zufallsbegegnung zu verdanken. Etwa zwei Jahre nach Gründung des Teatro besuchte der schwedische Theaterregisseur Henning Mankell – in Deutschland bekannt als Autor der Wallander-Krimireihe – während eines Mosambikurlaubs eine Vorstellung. Mankell war begeistert und verbrachte fortan jedes Jahr mehrere Monate in Maputo und inszenierte zusammen mit Soeiro zahlreiche Stücke. Auch die Zusammenarbeit mit Dominique Schnizer vom Theater Osnabrück geht auf Mankell zurück: Als er und Soeiro 2003 in Graz gemeinsam Mankells Stück »Butterfly Blues« inszenierten, war Schnizer Regieassistent. Heute, drei Jahre nach

MOSAMBIK

Foto: Átila Cézar / Teatro Avenida

Mankells Tod, hält er den Kontakt aufrecht. Der internationale Erfolg hat sich auch auf das Repertoire des Teatro Avenida ausgewirkt, das häufig eine Mischung aus mosambikanischen und europäischen Stoffen zeigt. So sind zum Beispiel in »Medea2« auch Texte der mosambikanischen Schriftstellerin Paulina Chiziane eingeflossen. Die bekannte Romanautorin und Frauenrechtlerin arbeitet häufig mit Soeiro zusammen. Für »Medea2« hat sie den Sandowane-Mythos aus Mosambik in Worte gefasst. Er erzählt von einem Land voller Frauen. Auf der Jagd finden sie ein seltsames Tier, das den Schwanz nicht hinten sondern vorn trägt: einen Mann. Die Königin findet Gefallen an ihm und tut sich mit ihm zusammen, auch andere Frauen finden Partner. Daraufhin beginnen Konflikte. Dass Soeiro neben mosambikanischen Stoffen auch europäische Stücke inszeniert, widerspricht ihrer Ansicht nach nicht dem Wunsch, die einheimischen Erzähltraditionen zu fördern – sie verankert die Stücke einfach in Mosambik noch einmal neu. Für die Inszenierung von »Medea2« sind die Schauspielerinnen und Schauspieler gemeinsam durch das Land gereist und haben Geschichten gesammelt. »Zunächst konnte ich mich nicht so sehr mit Medea identifizieren«, gesteht etwa die mosambikanische Medea-Darstellerin Yolanda Fumo. »Aber auf der Reise haben wir von vielen Erfahrungen gehört, die Parallelen zu Medea haben. Danach fiel es mir sehr leicht, mich in die Figur hineinzuversetzen.« Medea hat in Mosambik ihren Platz gefunden. 쮿

Das Publikum erlebt mit, wie es sich anfühlt, gedemütigt und ausgestoßen zu werden. 65


Weiblicher Wille und wahhabitische Wut Erst seit Anfang des Jahres gesteht das Königshaus in Riad Frauen in Saudi-Arabien vereinzelt mehr Rechte zu. Ein Sachbuch und ein Roman widmen sich den Verhältnissen in dem Königreich. Von Maik Söhler

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Najem Wali: Saras Stunde. Aus dem Arabischen von Markus Lemke. Hanser, München 2018. 352 Seiten, 23 Euro. Kholoud Bariedah: Keine Träne für Allah. Aus dem Arabischen von Günther Orth. Knaur, München 2018. 320 Seiten, 16,99 Euro.

Foto: John May / Polaris / laif

in Sachbuch und ein Roman liefern sich einen kleinen Wettbewerb. Wer kann die frauenfeindlichen Verhältnisse in Saudi-Arabien am realistischsten darstellen? Das dort vorherrschende Bündnis zwischen dem Königshaus und dem wahhabitischen Klerus unterdrückt Frauen seit der Staatsgründung 1932. Die exil-saudische Autorin Kholoud Bariedah hat ihre Geschichte in dem Sachbuch »Keine Träne für Allah« aufgeschrieben, der im Irak geborene deutsche Schriftsteller Najem Wali legt mit »Saras Stunde« einen neuen Roman vor. Während Bariedah aus dem Inneren eines saudischen Frauengefängnisses erzählt, wendet sich Wali literarisch der Rache einer Frau an einem religiösen Sittenwächter zu. Bariedah wird im Jahr 2006 in Dschidda von der Religionspolizei auf einer Party überrascht. Männer und Frauen, die nicht verwandt sind, feiern zusammen. Bei ihrer Festnahme wehrt sich Bariedah. Das reicht für ein hartes Urteil – vier Jahre Haft und 2.000 Stockhiebe. Nichts und niemand kann daran etwas ändern, außer: Sollte die Strafgefangene es schaffen, den Koran auswendig zu lernen, wird ihr ein Teil der Strafe erlassen. Und Kholoud Bariedah schafft das, was keiner Insassin des Frauengefängnisses in Mekka zuvor gelang. Damit nicht genug: Sie kommt vorzeitig frei, packt ihre Sachen, verlässt Saudi-Arabien und wendet sich öffentlich vom Islam ab. Heute lebt die bekennende Atheistin in Berlin. Bariedah nimmt den Leser mit in den Alltag eines saudi-

schen Frauengefängnisses. Einzelhaft, Schikanen, Strafen, aber auch Solidarität und Hoffnung prägen ihr Leben dort, das ein knappes Jahr währen wird, 600 Stockhiebe werden tatsächlich an ihr vollzogen: »Mit einem Rohrstock wurde mir auf den Rücken geschlagen, der Schmerz zerriss mich, und das Herz brach mir vor Demütigung.« Ihre Geschichte dem Schmerz und der Demütigung zum Trotz aufgeschrieben zu haben, ist eine große Leistung und herausgekommen ist ein Buch, das Mut macht. Das gilt auch für Najem Walis Roman, der seine Protagonistin Sara zuerst als selbstbewusstes Mädchen und später als wütende Frau zeigt. Eine Frau, die den Kampf gegen die privilegierte Männerwelt in Saudi-Arabien aufnimmt, im Speziellen gegen einen Leiter der »Behörde für die Verbreitung der Tugendhaftigkeit und für die Verhinderung von Lastern«, also der Religionspolizei. Von Beginn an macht Wali klar, was Sara umtreibt: »Ein Leben nur nach dem eigenen Willen zu wählen«. Dabei kommt ihr wieder und wieder ihr Onkel in die Quere, Scheich Jussuf alAhmad samt seiner Religionsbehörde. Eine arrangierte Ehe und lange Jahre in London lassen Sara auf Abstand zu Saudi-Arabien gehen. Doch seiner Rache entkommt der Scheich nicht. »Saras Stunde« ist ein Roman, der nicht nur den Ausbruch einer Frau aus unerträglichen Zuständen schildert, sondern auch dem Wandel im Machtgefüge Saudi-Arabiens gekonnt nachspürt. Der Irakkrieg und 9/11 verändern das Land, ohne am System zu rütteln. Das wiederum machen diese beiden unterschiedlichen Bücher umso mehr.

Freiheit im Blick. Am Roten Meer bei Dschidda, Januar 2018.

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Was ein schwarzes Leben zählt

Russische Frauenkörper

Als #BlackLiveMatters ist die Wortkombination online schon lange bekannt, auf Facebook, Twitter und Instagram macht dieser Hashtag darauf aufmerksam, dass über Rassismus und (Polizei-)Gewalt gegen schwarze US-Amerikaner geschrieben und gesprochen wird. Patrisse Khan-Cullors heißt die Autorin des gleichnamigen Buches und die Schöpferin des Hashtags. Sie führte diesen ein, als der weiße Täter, der den unbewaffneten Jugendlichen Trayvon Martin ohne Not erschoss, im Jahr 2013 vor Gericht freigesprochen wurde. Für Khan-Cullors, die als politische Aktivistin und Künstlerin in Los Angeles lebt, ist das nur einer von vielen Fällen rassistischer Gewalt gegen Schwarze und doch ist er einer, der vieles verändert. Denn über Online-Netzwerke und Medien kann endlich eine große gesellschaftliche Aufmerksamkeit geweckt werden, die solche Morde von jeher verdient gehabt hätten. Khan-Cullors’ Buch reflektiert die eigene Diskriminierungserfahrung ebenso wie Solidarität, schildert Diversität in den Handlungsmöglichkeiten und enthält analytische Passagen zum Rassismus als Unterdrückung mit System. Leider wird auch viel Privates und Esoterisches ausgeplaudert, sodass kein Platz mehr bleibt für Anmerkungen und Fußnoten, die auf Studien und Analysen zum US-Rassismus verweisen könnten. Ein nur teilweise gelungenes Buch.

Ein kleiner Roman über eine Mädchenfreundschaft am Stadtrand von Sankt Petersburg leistet, wozu manches Sachbuch nicht in der Lage ist: den Alltag junger Russinnen zwischen Perspektivlosigkeit, Armut, Freundschaft, Konkurrenz sowie Hoffnungen und Enttäuschungen auszuleuchten. Wlada Kolosowas Romandebüt »Fliegende Hunde« handelt von den Freundinnen Oksana und Lena, die als Kinder unzertrennlich sind und dann eigene Wege gehen müssen. Während es Lena als Model nach Shanghai verschlägt, bleibt Oksana in Russland. Bei beiden wird fortan ihr Umgang mit dem eigenen Körper im Mittelpunkt stehen. Lena erlebt die Ausbeutung von Models in China, Oksana gerät in schlechte Gesellschaft – in einem Online-Netzwerk für Magersüchtige, die sich an der Belagerung Leningrads durch die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg und der folgenden Hungersnot orientieren. Sehr präzise beschreibt Kolosowa, wie junge Russinnen über ihren Körper definiert werden, in welche gesellschaftlichen Rollen diese Körper eingeschrieben sind und wie schwierig es ist, sich gegen diese Anforderungen aufzulehnen. Dazu passt, dass das lesbische Verhältnis der beiden Protagonistinnen kein Thema in Gesprächen sein darf – nicht einmal bei ihnen selbst. Sie haben Sex, können aber nicht darüber reden. Wie wenig Wert der sexuellen und körperlichen Selbstbestimmung junger Frauen in Russland eingeräumt wird, das zeigt Kolosowas erhellender Roman eindrücklich.

Patrisse Khan-Cullors: #Black Lives Matter. Eine Geschichte vom Überleben. Aus dem amerikanischen Englisch von Henriette Zeltner. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 288 Seiten, 20 Euro.

Poetischer Höllentrip Endlich, 26 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung, liegt nun ein Roman auch auf Deutsch vor, der einen vergessenen, aber noch aktuellen politischen Konflikt ins Gedächtnis zurückholt: In Aka Morchiladzes »Reise nach Karabach« bricht der junge Georgier Gio nach Aserbaidschan auf, um Drogen zu besorgen, und landet dabei mitten im Kriegsgebiet BergKarabach. Das Buch spielt im Jahr 1992, Armenien und Aserbaidschan liefern sich einen bewaffneten Konflikt um eine Region, die nach dem Zerfall der Sowjetunion von beiden Staaten beansprucht wird. Im Nachbarstaat Georgien, aus dem Gio kommt, herrschen zu jenem Zeitpunkt instabile politische Verhältnisse. Und so nimmt uns der georgische Schriftsteller und Journalist Morchiladze mit auf eine Reise in Zustände, die irgendwo zwischen Krieg, Zerfall, Milizen, Banditentum, Lösegelderpressung und dem geopolitischen Einfluss Russlands angesiedelt sind. »Reise nach Karabach« gehört zu den literarischen Klassikern Georgiens, es ist ein Buch, das seine Spannung aus dem Blick des anfangs von allem gelangweilten Gio bezieht, der plötzlich im Kriegsgebiet zurechtkommen muss und nach seiner Rückkehr zusammenbricht. Und es ist ein Buch, das der Trostlosigkeit junger Leute in Georgien literarisch Ausdruck verleiht: »Ich weiß nicht, wann wir uns je an etwas Schönes aus unserer Kindheit erinnert haben.« Aka Morchiladze: Reise nach Karabach. Aus dem Georgischen von Iunona Guruli. Weidle, Bonn 2018. 176 Seiten, 20 Euro.

Wlada Kolosowa: Fliegende Hunde. Ullstein, Berlin 2018. 224 Seiten, 20 Euro.

Jugend im Untergrund Rafik Schamis autobiografischer Tagebuchroman »Eine Hand voller Sterne« erschien vor über 30 Jahren, wurde in mehr als 15 Sprachen übersetzt und gilt längst als Klassiker der Jugendliteratur. Ein Klassiker, der auch heute nichts an Aktualität verloren hat – wie Markus Köningers gleichnamige Version als Graphic Novel eindrucksvoll zeigt. In dynamischen, ganz in schwarz, weiß und ockergelb gehaltenen Bildern nimmt Köninger das Leben des jugendlichen Tagebuchschreibers in den Blick und stellt den Alltag im multikulturell geprägten Damaskus der späten 1950er und frühen 1960er Jahre in atmosphärisch dichten Bildern dar. Das Buch erzählt von der ersten Liebe, den Eltern, Freunden, Onkel Salim und dem Wunsch, Journalist zu werden. Aber auch politische Unterdrückung, Willkür, Bespitzelung und Angst gehören zum Alltag des Jugendlichen: Sein Vater und auch sein Mentor, der regierungskritische Journalist Habib, werden verhaftet und gefoltert. Der Widerstand, der mit der Jungenbande »Schwarze Hand« seinen Anfang nimmt und sich zunächst gegen Ungerechtigkeiten im privaten Umfeld richtet, wird immer politischer. Gemeinsam mit Habib schreiben, drucken und verteilen die Jugendlichen eine Untergrundzeitschrift, die weit über die Stadtgrenze von Damaskus hinaus für Aufsehen sorgt. Rafik Schami, Markus Köninger: Eine Hand voller Sterne. Beltz & Gelberg, Weinheim 2018. 144 Seiten, 16,95 Euro. Ab 14 Jahren.

Bücher: Maik Söhler, Marlene Zöhrer BÜCHER

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Von Opfern und Träumen

Träume und Traumata

Wie sind Frauen gestrickt, die Karriere in der Kunst machen? Mitra, eine ehrgeizige Künstlerin, will das wissen. Und nun bekommt sie die Chance, einen Film über ihre Heldin zu drehen: die ägyptische Sängerin Oum Kulthum – die so berühmt war, dass zu ihrer Beerdigung 1975 in Kairo Millionen Menschen kamen und den Trägern den Sarg abnahmen, um ihn drei Stunden lang durch die Menge wandern zu lassen. Der Plan, sich Kulthums Leben mit einem eigenen Kunstprojekt zu erschließen, führt Mitra zwangsläufig zu der Frage, welche Opfer man in einer restriktiven Umgebung bringen muss, um seine Träume zu leben. Widerstände seitens der Produzenten und im Drehteam machen ihr zu schaffen. Zudem verschwindet ihr Sohn auch noch während der Dreharbeiten. Die Regisseurin operiert an der Grenze von Selbstfindung und Zusammenbruch. Shirin Neshat nähert sich in ihrem zweiten Werk nach »Women Without Men« (2009) der berühmten Sängerin in einer verschachtelten Film-im-FilmErzählung über weibliche Identitätssuche auf verschiedenen Ebenen. Sie verknüpft exzellent fotografierte Spielfilmszenen mit historischen Aufnahmen; in jeder Einstellung ist der Wille zur Kunst spürbar. Eine kraftvolle Arbeit, die sie selbst in die Tradition des Ausdrucks und der Intensität von Künstlerinnen in der arabischen Welt stellt.

Sie sind die Shooting-Stars des Tuareg-Rock: die junge Band Imarhan aus Tamanrasset im Süden Algeriens, an der Grenze zu Mali. Von dort bis an die Küste des Mittelmeers sind es fast 2.000 Kilometer. Im Videoclip zu »Ammazan«, dem Opener ihres zweiten Albums »Temet«, legt Imarhan die Strecke auf dem Highway nach Algier in knapp vier Minuten zurück. Impressionen von Wüste und Meer, von einem Picknick am Straßenrand und den Häuserschluchten und Satellitenschüsseln der algerischen Hauptstadt schimmern auf. Der Albumtitel »Temet« bedeutet Verbindungen: zwischen Lagerfeuer und Stadtleben, zwischen Heimweh nach der Sahara und politischen Utopien, zwischen den über mehrere Länder verstreuten Tuareg und deren gemeinsamen Traditionen. Mit energiegeladenem Rock, der sich mit ruhigeren und meditativen Stücken abwechselt, verarbeiten Imarhan das Trauma der Tuareg-Rebellion in Mali im Jahr 2012, die von al-Qaida quasi gekidnappt und mit französischer Hilfe niedergeschlagen wurde. In dem Song »Imuhagh« fordert Sänger Samad: »Tuareg, hört auf, einander zu hassen«, und schließt: »Da die Unabhängigkeit nicht erreicht wurde / könnten wir genauso gut die Gemeinschaft vereinen.« Und im ruhigen Abschlusssong »Ma-S-Abrok« flüstert er: »Ich sehe Leute, die ihre eigene Stadt zerstören / Eine Schande, der sie sich immer noch zu rühmen vermögen.«

»Auf der Suche nach Oum Kulthum«. D/AUT/I/MAR 2017. Regie: Shirin Neshat, Darstellerinnen: Neda Rahmanian, Yasmin Raeis. Kinostart: 7. Juni 2018

Imarhan: Temet (Glitterbeat)

Globale Bande

Magie und Migration

»Wir lebten im Paradies«, sagt Tochter Yasmin zu Beginn des Films »Global Family«. Und es stimmt: Vater Cabtan Shaash war ein berühmter Fußballspieler. Sein Anhang wäre heute womöglich prominent – hätte es ab 1989 in Somalia keinen Bürgerkrieg gegeben: Seitdem sind die Shaashs Teil einer Internationale der Flucht. Wie es ist, wenn man in alle Welt verstreut wird, davon lassen die Regisseure Melanie Andernach und Andreas Köhler die Mitglieder der globalen Familie Shaash berichten. Es ist ein Leben in Unruhe. Sohn Aden ist obdachlos in Italien, der größere Teil wohnt seit den neunziger Jahren in Deutschland und kommt einigermaßen zurecht, und Großmutter Imra lebt in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba. Dort kann sie nun jedoch nicht mehr bleiben. Ein Familiennachzug scheint nicht möglich. Und Imra möchte sowieso am liebsten zurück nach Somalia, wo jedoch verfeindete Clans herrschen. Der Film erzählt entlang der Wegstrecke moderner Fluchtgeschichten: Menschen auf kleinen Booten, Flüchtlingslager, Todesangst. »Die Familie steht stellvertretend für viele, die in die Diaspora gezwungen wurden, wegen Krieg, Vertreibung, Hunger«, sagt Andernach. Ereignisse, die ihre Spuren hinterlassen. »Früher konnte ich kein Blut sehen«, sagt Sohn Aden. »Seit dem Krieg ist das anders.« Der Gewinner des Preises »Bester Dokumentarfilm« auf dem Max-Ophüls-Festival 2018 in Saarbrücken ist ein Werk über Erfahrungen, die die Protagonisten lieber nicht hätten machen müssen.

Vor sieben Jahren machte Fatoumata Diawara mit ihrem Debüt »Fatou« Furore. Seitdem stand sie mit Weltstars wie Paul McCartney und Herbie Hancock auf der Bühne, tourte mit dem kubanischen Jazz-Pianisten Roberto Fonseca, initiierte mit einer malischen All-Star-Band ein »Friedenslied« für ihr Land, nahm ein schillerndes Disco-Album mit dem französischen Gitarristen Mathieu Chedid alias »M« auf, trat auf Theaterbühnen und in Filmen (»Timbuktu«, »Mali Blues«) auf. Heute ist sie der größte weibliche Star des afrikanischen Kontinents. »In einer Welt, in der mehr als sieben Milliarden Menschen leben, sind mehr als eine Milliarde Migranten« – mit diesem Satz eröffnet das Musikvideo zu dem Song »Nterini«, mit dem die malisch-französische Songwriterin auf ihr neues, zweites Solo-Album »Fenfo« Geschmack macht. Der Videoclip, in der Wüste Äthiopiens gedreht, folgt einem jungen Mann, der sein Bündel packt und seine Liebsten zurücklässt, auf der Suche nach einer besseren Zukunft. Doch die Nachricht, die seine Familie am Ende erhält, lässt nichts Gutes erahnen. Die magischen Bilder, mit denen die äthiopische Künstlerin Aida Muluneh den Afro-Folk der Sängerin in Szene setzt, liefern einen bewegenden Kommentar zu den globalen Fluchtbewegungen. So wie »Nterini«, kreisen auch die anderen Songs auf »Fenfo« um Migration, Respekt, Demut, Liebe und um die Frage, wie sich für kommende Generationen eine bessere Welt schaffen lässt.

»Global Family«. D 2018. Regie: Melanie Andernach, Andreas Köhler. Kinostart: 28. Juni 2018

Fatoumata Diawara: Fenfo (Wagram / Montuno / Indigo)

Film: Jürgen Kiontke | Musik: Daniel Bax 68

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Foto: 3 Rosen / deutschfilm

Der Staub des Krieges

Über den Dächern von Beirut. Auf libanesischen Baustellen arbeiten viele syrische Flüchtlinge.

Der syrische Regisseur Ziad Kalthoum setzt in seinem Dokumentarfilm »Der Geschmack von Zement« geflüchteten Arbeitern in Beirut ein Denkmal aus fantastischen Bildern. Von Jürgen Kiontke

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elchen Inhalt hat Krieg? Mord und Totschlag, Zerstörung und Aufbau sicherlich. Und noch fokussierter: das Zersprengen von Baustoffen. Diese Perspektive wählt der 37-jährige syrische Regisseur Ziad Kalthoum für seinen Film »Der Geschmack von Zement«. Egal ob Bomben fallen und die Toten und Verletzten aus den Trümmern geborgen werden müssen oder der Krieg vorbei ist und die Infrastruktur wieder aufgerichtet werden muss: Es wird auf jeden Fall staubig sein. Kalthoums Film handelt vom Leben syrischer Arbeiter, die auf den Hochhausbaustellen in Beirut ein Auskommen gefunden haben. Ihr Leben als Flüchtlinge ist stark reglementiert. Sie wohnen in, nein, unter der Baustelle. Abends ziehen sie sich in ein Kellerloch zurück, wo sie auf dem Boden schlafen. Ausgang nach 19 Uhr ist ihnen verboten, das Leben bestimmen die Baustoffe. Der Zement ist überall, die Arbeit ist gefährlich. Aber mit der Beschreibung des Inhalts wird diesem Film kaum Genüge getan. Kalthoum, selbst 2013 vor dem Krieg geflohen, findet so schräge Perspektiven, so außergewöhnliche Einstellungen, um das Leben der Menschen und ihre Arbeit zu bebildern, dass man ihm dafür jeden Filmpreis überreichen möchte. Für das Thema Zerstörung dienen ihm Panzerfahrten durch die zerlegten Städte Syriens, die Kamera auf dem Geschützturm montiert. Die Kanone kracht, Gebäudetrümmer fliegen durch die Gegend, Staub verteilt sich. Jene Zementstaubwolken, die sich wieder aufwölben, wenn nachts eine Bombe in ein Wohnhaus gefallen ist und Rettungsmannschaften und Nachbarn

FILM & MUSIK

versuchen, Verletzte zu bergen. Drohnenflüge und Unterwasserkamerafahrten besorgen weitere Bilder – eigentlich ist dieser Film selbst wie ein Kriegseinsatz. Dass das Herkunftsland der Arbeiter in Trümmern liegt und sie das Nachbarland aufbauen, ist gefilmter Zynismus. Aber der Einsatz syrischer Arbeiter im Libanon hat auch Tradition, wie der Erzähler im Off-Text erklärt. Schon die Vorfahren gingen dort arbeiten. »Vaters Hände sahen aus wie der Stadtplan Beiruts«, heißt es an einer Stelle. Die Aufzüge fahren hier auf dem Kopf stehend nach unten, durch die Rohbau-Etagen leuchtet der Sonnenuntergang. Hier macht ein Künstler entschiedene Anleihen beim expressionistischen Stummfilm der zwanziger Jahre – mit modernster technischer Ausstattung. Nicht ohne sich Zeit zu nehmen für das zutiefst Menschliche: Morgens kämmen sich die Arbeiter mit Blick in einen abgenutzten Handspiegel – einen der wenigen persönlichen Gegenstände –, obwohl sie wahrscheinlich den ganzen Tag von niemandem gesehen werden außer den Kollegen. Ein sehr privater Moment. Dieser Film steuert unaufhaltsam auf seinen cineastischen Höhepunkt zu: eine Rundfahrt durch Beirut, gefilmt aus einem rotierenden Zementmischer heraus. Spätestens hier fährt das Publikum Karussell. »Ich setze den Betrachter selbst in die erste Person«, sagt der Regisseur. »Mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln des Kinos mache ich exemplarisch die Situation der syrischen Arbeiter in Beirut spürbar. Ich setze hierbei meine eigenen Erfahrungen als Geflohener in meine Filmsprache um: das Gefühl des Abwartens, das Hereinbrechen der Traumata in der Nacht, das Gefangensein in den Mühlen unserer Gesellschaft.« Dies ist wahrscheinlich einer der besten Dokumentarfilme des Jahres. »Taste of Cement – Der Geschmack von Zement«. D/LBN 2017. Regie: Ziad Kalthoum. Kinostart 24. Mai 2018

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MACH MIT: BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN Foto: Anton Naumlyuk

Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt, oder man lässt sie verschwinden. AMNESTY INTERNATIONAL veröffentlicht regelmäßig an dieser Stelle drei Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden.

RUSSISCHE FÖDERATION ALEXANDR KOLCHENKO UND OLEG SENZOW Der Gesundheitszustand des Filmregisseurs Oleg Senzow und des Aktivisten Alexandr Kolchenko verschlechtert sich zusehends. Die beiden Männer sind ukrainische Staatsbürger und waren 2014 von Angehörigen des russischen Geheimdiensts (FSB) auf der besetzten Krim festgenommen worden. Am 25. August 2015 wurden sie in einem unfairen Verfahren vor einem russischen Militärgericht zu 20 bzw. zehn Jahren Haft verurteilt. Sie hatten an friedlichen Demonstrationen gegen die russische Besetzung der Krim teilgenommen und wurden deshalb wegen »terroristischer Aktivitäten« angeklagt. Die Männer wurden auf der Grundlage von Aussagen verurteilt, die wahrscheinlich durch Folter erzwungen worden waren. Oleg Senzow und Alexandr Kolchenko leisten ihre Strafe unter harten Bedingungen in einem Arbeitslager ab. Laut der Menschenrechtsgruppe Ural wurde Alexandr Kolchenko am 8. März zum zweiten Mal innerhalb der vergangenen vier Monate für zwei Wochen in Einzelhaft verlegt. Er habe gegen die Kleiderordnung verstoßen und ohne Begleitung die Gefängnisbibliothek aufgesucht. In der Einzelhaft wurden Alexandr Kolchenko die Medikamente für seine Herzrhythmusstörungen verweigert. Erst nach Beendigung der Strafmaßnahme am

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Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes.

21. März wurde ihm ein Arzneimittelpaket der Menschenrechtsgruppe ausgehändigt. Auch der Gesundheitszustand von Oleg Senzow gibt bereits seit längerem Anlass zur Sorge, wie seine Schwester am 16. März auf Facebook postete. Seit er am 14. Mai einen Hungerstreik begann, verschlechtert sich sein Gesundheitszustand jedoch rapide. Seine Cousine wollte ihn besuchen und er hat sich geweigert, sie zu empfangen – vermutlich, weil sie ihn in seinem Zustand nicht sehen soll. Oleg Senzow fordert die Freilassung aller ukrainischen Gefangenen aus russischer Haft. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den russischen Generalstaatsanwalt und fordern Sie, dass die Anklagen wegen terroristischer Aktivitäten gegen Oleg Senzow und Alexandr Kolchenko fallengelassen und die Urteile gegen sie aufgehoben werden. Bitten Sie darum, die Männer freizulassen oder nachvollziehbare Anklagen gegen sie zu erheben. In einem solchen Fall müssten sie auf der Krim unter ukrainischem Recht vor Gericht gestellt werden. Dringen Sie zudem auf eine sofortige, wirksame und unparteiische Untersuchung aller Folter-

und Misshandlungsvorwürfe. Außerdem muss sichergestellt werden, dass Oleg Senzow und Alexandr Kolchenko gemäß den UN-Mindestgrundsätzen für die Behandlung von Gefangenen behandelt werden und uneingeschränkten Zugang zu jeder nötigen medizinischen Behandlung erhalten. Schreiben Sie in gutem Russisch, Englisch oder auf Deutsch an: Yurii Yakovlevich Chaika Prosecutor General’s Office ul. B. Dmitrovka, d.15a 125993 Moscow GSP- 3 RUSSISCHE FÖDERATION Fax: 007 - 495 987 58 41 oder 007 - 495 692 17 25 (Anrede: Dear Prosecutor General / Sehr geehrter Herr Generalstaatsanwalt) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,90 €)

Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Russischen Föderation S. E. Herrn Sergei Nechaev Unter den Linden 63–65, 10117 Berlin Fax: 030 - 229 93 97 E-Mail: info@russische-botschaft.de (Standardbrief: 0,70 €)

AMNESTY JOURNAL | 06-07/2018


Rafael Marques de Morais wurde im Juni 2017 wegen »Verleumdung einer öffentlichen Behörde« und »Beleidigung einer souveränen Institution« angeklagt und steht nun vor Gericht. Der investigative Journalist und Menschenrechtsverteidiger wird bereits seit langem von den angolanischen Behörden strafrechtlich verfolgt, die ihn damit von seiner Berichterstattung und Menschenrechtsarbeit abbringen wollen. Zuletzt wurde er 2015 wegen eines 2011 erschienenen Buches verurteilt, in dem er mehrere Generäle und zwei private Bergbauunternehmen mit

Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den angolanischen Justizminister und fordern Sie ihn auf, die Anklagen gegen Rafael Marques de Morais fallenzulassen, da er sich nur aufgrund der friedlichen Wahrnehmung der Rechte auf freie Meinungsäußerung und Pressefreiheit in Haft befindet. Drängen Sie auf ein Ende der Schikanen und Einschüchterungen von Journalist_innen, Menschenrechtsverteidiger_innen und Aktivist_innen und die Achtung der Rechte auf Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Zudem soll er gewährleis-

Foto: privat

ANGOLA RAFAEL MARQUES DE MORAIS

Menschenrechtsverletzungen in den Diamantenfeldern der Provinz Lunda in Verbindung gebracht hatte. Auch die jüngsten Anklagen wurden im Zusammenhang mit seiner Arbeit erhoben: wegen eines Artikels, den er auf seiner Website »Maka Angola« veröffentlicht hatte. Darin ging es um den fragwürdigen Erwerb von Land durch den angolanischen Generalstaatsanwalt. Im Falle einer Verurteilung drohen Rafael Marques de Morais bis zu drei Jahre Haft.

Foto: Amnesty

Briefentwürfe auf Englisch und Deutsch finden Sie unter www.amnesty.de/briefe. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie sie bitte an: info@amnesty.de

MEXIKO JOSÉ ADRIÁN Der 14-jährige José Adrián gehört der indigenen Gemeinschaft der Maya an und lebt im Bundesstaat Yucatán. Am 25. Februar 2016 war er gegen 21 Uhr auf dem Nachhauseweg, als sich in der Nähe mehrere Jungen prügelten. Als die Polizei eintraf, warfen Unbekannte mit Steinen und beschädigten den Streifenwagen. Als José Adrián an der Stelle vorbeikam, wurde er festgenommen und dabei gegen das Polizeiauto geschleudert. Im Polizeiwagen trat einer der Beamten gegen seinen Kopf und verletzte ihn. Laut Polizeibericht wurde er wegen Vandalismus und

BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN

ten, dass die Verleumdungsgesetze abgeschafft werden, da sie die Pressefreiheit untergraben. Schreiben Sie in gutem Portugiesisch, Englisch oder auf Deutsch an: Minister für Justiz und Menschenrechte Rui Jorge Carneiro Mangueira Ministry of Justice and Human Rights Rua 17 Setembro, No. 32, CP 1986 Luanda, ANGOLA E-Mail: rui.mangueira@minjus.gov.ao Fax: 002 44 - 222 33 99 14 oder 002 44 - 222 33 03 27 Facebook: https://www.facebook.com/McsGovAO?fref=ts (offizielle Facebook-Seite aller Ministerien) (Anrede: Your Excellency / Exzellenz) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,90 €)

Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Angola S. E. Herrn Alberto Correia Neto Wallstraße 58, 10179 Berlin Fax: 030 - 24 08 97 12 E-Mail: botschaft@botschaftangola.de (Standardbrief: 0,70 €)

AMNESTY INTERNATIONAL Zinnowitzer Straße 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0, Fax: 030 - 42 02 48 - 488 E-Mail: info@amnesty.de, www.amnesty.de

Beschädigung des Polizeiwagens festgenommen. José Adrián wurde in eine Hafteinrichtung der Stadt Chemax gebracht. Er wurde an Handschellen aufgehängt und schließlich zu einem Geständnis gezwungen. Als die Eltern in einer Erklärung zusagten, für den Schaden am Polizeiwagen aufzukommen und eine Geldstrafe zu zahlen, kam José Adrián frei. Die Familie reichte eine Beschwerde bei der Menschenrechtskommission von Yucatán (CODHEY) ein. Aber auch zwei Jahre nach dem Vorfall ist noch niemand zur Rechenschaft gezogen worden. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Gouverneur des Bundesstaates Yucatán und bitten Sie ihn, sicherzustellen, dass José Adrián und seine Familie entsprechend ihren Wünschen angemessen für die erlittene Verletzung ihrer Menschenrechte entschädigt werden.

Schreiben Sie in gutem Spanisch, Englisch oder auf Deutsch an: Lic. Rolando Rodrigo Zapata Bello Gobernador del Estado Palacio de Gobierno, Calle 61 x 60 y 62 Col. Centro, C.P. 97000, Mérida, Yucatán, MEXIKO Fax: 00 52 - 999 930 31 00, Durchwahl 100 53 Twitter: @RolandoZapataB @GobYucatan (Anrede: Dear Governor / Estimado Señor Gobernador / Sehr geehrter Herr Gouverneur) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,90 €)

Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Vereinigten Mexikanischen Staaten S. E. Herrn Rogelio Granguillhome Morfín Klingelhöferstraße 3, 10785 Berlin Fax: 030 - 26 93 23 - 700 E-Mail: mexale@sre.gob.mx (Standardbrief: 0,70 €)

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BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN – UPDATES In jedem Amnesty Journal veröffentlichen wir drei Einzelschicksale, verbunden mit dem Appell, einen Brief zu schreiben, um Menschenrechtsverletzungen zu beenden. In regelmäßigen Abständen informieren wir darüber, wie sich die Situation der Betroffenen weiterentwickelt hat. Hier nun neue Informationen zu »Briefen gegen das Vergessen« von Mai bis Oktober 2017.

langfristige Umweltschäden verantwortlich, die die Lebensgrundlage ihrer Mitglieder gefährden. Alexandre Anderson De Souza und seine Frau Daize Menezes de Souza sind aufgrund ihrer Arbeit wiederholt bedroht worden. Der Gewerkschaftsvorsitzende hat eigenen Angaben zufolge in den vergangenen Jahren sechs Mordanschläge überlebt. Update: Alexandre Anderson de Souza und seine Familie haben einen neuen Wohnort und wurden in das Nationale Programm zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern aufgenommen. Sie können weiter in ihrem Bereich arbeiten.

Foto: Sergio Ortiz / AMnesty

Berta lebt! Der Kampf um indigenes Land geht weiter.

HONDURAS – ORGANISATIONEN VON INDIGENEN (MAI 2017)

Im März 2016 wurde Berta Cáceres, die Leiterin und Mitgründerin der Indigenenorganisation COPINH, in ihrer Heimatstadt La Esperanza ermordet. Berta Cáceres und COPINH hatten sich gegen den Bau des Wasserkraftwerks Agua Zarca am Fluss Gualcarque und auf dem Land der indigenen Gemeinschaft der Lenca eingesetzt. Andere Organisationen wie MILPAH hinterfragen den Bau von weiteren Wasserkraftwerken und argumentieren, dass die Lenca-Gemeinden nicht rechtmäßig konsultiert worden seien. Seit der Ermordung von Berta Cáceres sind weitere Mitglieder von COPINH und MILPAH bedroht, überwacht, schikaniert, tätlich angegriffen oder sogar ermordet worden. Update: Im Oktober 2017 gab es ein Urteil gegen Jorge Adalberto Vásquez, der den Anführer von MILPAH, Víctor Vásquez, 2016 mit einem Messer angegriffen und bedroht haben soll, weil dieser sich für Landrechte und Indigene einsetzt. Am 2. März 2018 wurde ein weiterer Verdächtiger im Mordfall Berta Cáceres festgenommen. Der Mann namens David Castillo war Manager bei DESA, dem Unternehmen, gegen dessen Staudammbau die Umweltaktivistin protestiert hatte. Am 14. März 2018 richtete der Generalstaatsanwalt eine Dienststelle zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern und Journalisten ein.

Jatupat Boonpattararaksa, bekannt unter dem Namen »Pai«, studiert Jura an der Universität Khon Kaen im Nordosten von Thailand. Er ist ein bekannter Menschenrechtsverteidiger, der seit dem Militärputsch in Thailand im Mai 2014 friedlich und öffentlich für bürgerliche und politische Rechte eintritt und deswegen von den Justizbehörden schikaniert wird. Weil er auf Facebook einen Link zu einem BBC-Artikel gepostet hatte, der von den Behörden als Kritik an Thailands neuem König aufgefasst wurde, drohten ihm bis zu 15 Jahre Haft. Amnesty International geht davon aus, dass die Vorwürfe politisch motiviert sind, weil mehr als 2.000 Personen den Artikel auf Facebook geteilt haben, ohne dafür strafrechtlich verfolgt zu werden. Update: Jatupat Boonpattararaksa wurde im August 2017 wegen Beleidigung des Königs zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt.

Foto: Yingcheep Atchanont

THAILAND – JATUPAT »PAI« BOONPATTARARAKSA (MAI 2017)

MADAGASKAR – CLOVIS RAZAFIMALALA (JUNI 2017)

Der Umweltschützer Clovis Razafimalala befand sich seit dem 16. September 2016 im Gefängnis von Toamasina in Untersuchungshaft. Er hat in der Vergangenheit den Schmuggel von Palisanderholz angeprangert – das geschützte Edelholz wird illegal aus Madagaskar verschifft. Man warf ihm vor, er habe bei einer Protestveranstaltung dazu aufgerufen, ein Verwaltungsgebäude zu plündern und Unterlagen zu zerstören. Er wurde wegen Rebellion, Verbrennung von Verwaltungsakten sowie Zerstörung öffentlicher Dokumente und Güter angeklagt. Zahlreiche Perso-

Alexandre Anderson de Souza ist Vorsitzender der Fischereigewerkschaft AHOMAR im Bundesstaat Rio de Janeiro. Er engagiert sich seit Langem gegen eine große petrochemische Raffinerie, eine Ölplattform und mehrere Pipelines in der Guanabara-Bucht. Nach Ansicht der AHOMAR sind diese Vorhaben für schwere

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Foto: Selina Nelte / Amnesty

Foto: Amnesty

BRASILIEN – ALEXANDRE ANDERSON DE SOUZA (MAI 2017)

Beschützt die Bäume. Clovis Razafimalala nach seiner Freilassung 2017.

AMNESTY JOURNAL | 06-07/2018


nen können jedoch bezeugen, dass sich der Umweltschützer zum Zeitpunkt der Protestveranstaltung in einem Restaurant in Maroantsetra aufhielt. Clovis Razafimalala sowie einige Umweltorganisationen sind der Ansicht, dass er wegen seines Engagements für den Umweltschutz ins Visier genommen wurde. Update: Im Juli 2017 wurde Clovis Razafimalala zu fünf Jahren Haft auf Bewährung verurteilt und aus der Haft entlassen. Er hat Berufung gegen das Urteil eingelegt.

Der 25-jährige Zirkuskünstler hatte zwischen dem 17. April und dem 27. Mai 2017 an einem 40-tägigen Hungerstreik teilgenommen, um gegen die Verwaltungshaft zu protestieren. Update: Am 30. August 2017 wurde Mohammad Faisal Abu Sakha aus der Haft entlassen.

Der Journalist Ebrima Manneh wurde am 11. Juli 2006 in den Redaktionsräumen der regierungsnahen Zeitung Daily Observer mutmaßlich von Angehörigen des gambischen Geheimdiensts National Intelligence Agency (NIA) festgenommen. Der NIA bestritt anschließend jedoch jegliche Beteiligung an der Festnahme von Ebrima Manneh. Amnesty International hat auf verschiedene Weise versucht, das Schicksal von Ebrima Manneh aufzuklären. Am 31. März 2017 erhielt Amnesty von der Familie des Journalisten die traurige Nachricht, dass die Polizei ihr gegenüber bestätigt habe, dass Ebrima Manneh tot sei. Die Familie wurde jedoch nicht darüber informiert, wann, wie und wo der Journalist gestorben ist. Sein Leichnam wurde den Angehörigen bislang nicht zur Bestattung übergeben. Update: Am 2. November 2017 erklärte die neugewählte Regierung Gambias sich bereit, der Familie Ebrima Mannehs eine Entschädigung von 100.000 US-Dollar zu bezahlen. Im Mai 2018 bestätigte der Kommunikationsminister diese Absicht erneut.

Am 20. Januar 2010 wurde Tran Huynh Duy Thuc wegen Blogbeiträgen über das politische und wirtschaftliche Leben in Vietnam zu 16 Jahren Haft mit anschließendem fünfjährigem Hausarrest verurteilt. Tran Huynh Duy Thuc ist ein Verfechter sozialer und wirtschaftlicher Reformen. Er hat vor Gericht ausgesagt, im Gewahrsam gefoltert worden zu sein, um ein »Geständnis« von ihm zu erzwingen. Aufgrund der schlechten Haftbedingungen hat Tran Huynh Duy Thuc Sehschwierigkeiten, eine Augenuntersuchung wird ihm jedoch bislang verweigert. In seine Zelle fällt tagsüber kaum Licht. Tran Huynh Duy Thuc wurde die Freilassung angeboten, wenn er dafür in die USA ins Exil geht. Er hat dies abgelehnt und fordert, die Anklagen gegen ihn fallen zu lassen und das Urteil aufzuheben. Update: Die Haftbedingungen von Tran Huynh Duy Thuc haben sich etwas verbessert. Laut seinem Bruder erlaubten die Gefängnisbehörden seiner Familie, ihm eine Leselampe und die dafür notwendigen Batterien sowie Musik und Gedichte zu bringen.

ISRAEL UND BESETZTE GEBIETE – MOHAMMAD FAISAL ABU SAKHA (JULI 2017)

Mohammad Faisal Abu Sakha ist ein palästinensischer Unterhaltungskünstler und Lehrer, der an der Zirkusschule in Ramallah Kinder mit Lernschwierigkeiten unterrichtete. Am 14. Dezember 2015 wurde er auf dem Weg zur Zirkusschule am Kontrollpunkt Za’atara im besetzten Westjordanland von israelischen Militärs festgenommen und anschließend ohne Anklage oder Gerichtsverfahren im Gefängnis Ktziot in Israel festgehalten. Die von den israelischen Behörden angewandte Praxis der Verwaltungshaft ermöglicht es, Personen bis zu sechs Monate lang ohne Anklage oder Gerichtsverfahren festzuhalten. Verwaltungshaftanordnungen können beliebig oft verlängert werden.

KASACHSTAN – MAKS BOKAEV UND TALGAT AYAN (AUGUST 2017)

Foto: B. A. Toregozhina

Foto: privat

VIETNAM – TRAN HUYNH DUY THUC (JULI 2017)

Foto: privat

GAMBIA – EBRIMA MANNEH (JULI 2017)

Ende April und Anfang Mai 2016 fanden in ganz Kasachstan Demonstrationen gegen geplante Änderungen des Bodengesetzes statt. Maks Bokaev und Talgat Ayan wurden aufgrund ihrer Beteiligung an der Organisation friedlicher Demonstrationen und Veröffentlichungen in sozialen Medien im Februar 2017 zu einer fünfjährigen Haftstrafe verurteilt. Maks Bokaev leidet seit fünf Jahren an Hepatitis C. Nach einer erfolgreichen Behandlung vor zwei Jahren befand er sich auf dem Weg der Besserung, seit seiner Inhaftierung hat sich sein Gesundheitszustand jedoch wieder erheblich verschlechtert. Die Familien von Maks Bokaev und Talgat Ayan sind wegen der Gesundheit und der schlechten Haftbedingungen in großer Sorge. Update: Im August 2017 wurde Maks Bokaev medizinisch behandelt. Talgat Ayan wurde am 28. April 2018 gegen Kaution aus der Haft entlassen.

Lustiger Lehrer. Mohammad Abu Sakha an der Zirkusschule, Birzeit.

BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN – UPDATES

Nach einer Fehlgeburt wurde Teodora del Carmen Vásquez 2008 wegen »Mordes« zu 30 Jahren Haft verurteilt – man warf ihr vor, heimlich einen verbotenen Schwangerschaftsabbruch vorgenommen zu haben. Update: Am 15. Februar 2018 wurde Teodora del Carmen Vásquez nach zehn Jahren aus der Haft entlassen, nachdem ein Gericht ihre Haftstrafe reduziert hatte.

Foto: Amnesty

Foto: Richard Burton / Amnesty

EL SALVADOR – TEODORA DEL CARMEN VÁSQUEZ (OKTOBER 2017)

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Fotos: Sarah Eick / Amnesty

AKTIV FÜR AMNESTY

Raus zu den Menschen. Papenburg im Mai 2018.

GLOBAL DENKEN, LOKAL HANDELN Papenburg am dritten Samstag im Mai: Rund 500 Teilnehmer der Amnesty-Jahresversammlung sind auf dem Vorplatz der St.Antonius-Kirche zusammengekommen, gemeinsam mit dem stellvertretenden Bürgermeister Heiner Butke. Der CDU-Politiker nimmt ein Transparent entgegen mit der Aufschrift »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren« und findet lobende Worte: Er sei stolz darauf, dass seine Heimatstadt als Tagungsort ausgewählt worden sei, sagt er, dies sei nicht zuletzt dem Engagement der aktiven Amnesty-Gruppe vor Ort zu verdanken. Und noch bevor die Demonstranten sich auf den Weg zurück in die Tagungshalle machen, hängt Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte bereits am Balkon des Rathauses. Die Mitglieder der vor elf Jahren gegründeten Gruppe hatten bereits im Vorfeld alles dafür getan, in der 37.000-Einwohnergemeinde an der Ems ein Fest für die Menschenrechte zu veranstalten: Mit Schildern und Bannern, auf denen Auszüge aus den 30 Artikeln der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zu lesen waren, zogen die Teilnehmer der Jahresversammlung über den Hauptkanal hinweg. Dort warben bereits seit Wochen leuchtend gelbe Schilder für die UN-Deklaration, die im Dezember siebzig Jahre alt wird. Und vor der St.-Antonius-Kirche standen ein überdimensionales Buch mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie eine sechs Meter hohe Skulptur des österreichischen Künstlers Erik Tannhäuser. Eingestimmt worden auf den Marsch in die Innenstadt waren die Delegierten durch die internationalen Gäste. Ramate Guissé, Amnesty-Direktorin in Mali, schilderte den schweren Kampf gegen Straflosigkeit in ihrem Land, ihre polnische Kollegin Urzula Skonecka die dreifache Herausforderung, mit der Demokraten in Deutschlands Nachbarland konfrontiert sind: Systematisch schränke die Regierung in Warschau die Unabhängigkeit der Justiz ein, gehe gegen Meinungsfreiheit vor und behindere zivilgesellschaftliche Gruppen, indem sie diesen die Finan-

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zierung erschwere. Dass Zehntausende dagegen auf die Straßen gingen, mache ihr jedoch Hoffnung, so Skonecka. Die verbreitete auch Thomas Schulz-Jagow, Direktor für Kampagnen und Kommunikation im Internationalen AmnestySekretariat in London. In seinen Gesprächen mit dem designierten Amnesty-Generalsekretär Kumi Naidoo habe dieser deutlich gemacht, dass er auf die Jugend setze – und auf neue Allianzen, um aktiv ins Weltgeschehen einzugreifen. Als »Activist-inchief« sehe sich Naidoo, der im August die Nachfolge von Salil Shetty antritt. Damit, so Schulz-Jagow, rücke Amnesty näher an die Basis heran. Die Teilnehmer der Jahreskonferenz dankten in Papenburg der türkischen Amnesty-Direktorin İdil Eser mit Standing Ovations für ihren Einsatz. Live zugeschaltet aus Istanbul warb sie dafür, trotz düsterer Zeiten weiterzukämpfen – schließlich habe sie Glück gehabt, zwischen Juni und Oktober 2017 nur vier Monate lang inhaftiert gewesen zu sein, im Gegensatz zu Tausenden anderen Häftlingen. »Macht weiter mit der guten Arbeit!«, ermunterte sie die Delegierten. »Die Welt braucht Amnesty!«

Nah am Wasser. Amnesty-Demonstranten am Hauptkanal von Papenburg.

AMNESTY JOURNAL | 06-07/2018


GROSSE GALA FÜR NADEEM Der Name jenes Mannes, dessen Behörden den Preisträgerinnen die Ausreise verweigerten, fiel erst um fünf vor zehn. Sieben Jahre sei es her, dass er Abdel Fattah al-Sisi zuletzt begegnet sei, erzählte der Generalsekretär von Amnesty International, Salil Shetty, in seiner Laudatio auf die Leiterinnen des NadeemZentrums für die Rehabilitierung von Opfern von Gewalt und Folter in Kairo, den Trägerinnen des Amnesty-Menschenrechtspreises 2018. Im Juni 2011 habe er Sisi getroffen, wenige Monate nach dem Sturz Hosni Mubaraks. Ägyptens heutiges Staatsoberhaupt stand da noch an der Spitze des Armeegeheimdiensts, die Euphorie des Umsturzes auf Kairos Tahrirplatz war längst nicht verebbt. Angenehm sei die Begegnung mit dem mächtigen Mann

fürs Grobe des Militärs nicht gewesen, so Shetty im April vor 800 Gästen in der Berliner Volksbühne. Doch wirksam: Noch im selben Jahr stellte die Armee die frauenverachtenden Jungfräulichkeitstests ein, mit denen Demonstrantinnen auch nach dem Sturz Mubaraks drangsaliert worden waren. »Ab und zu muss man ein bisschen Lärm machen, um gehört zu werden«, fasste Shetty seinen Besuch bei den ägyptischen Militärs zusammen – und pries damit auch die Leiterinnen des Nadeem-Zentrums, die Ärztinnen und Psychiaterinnen Aida Seif al-Dawla, Magda Adly, Suzan Fayad und Mona Hamed. Dass diese »vier außerordentlichen Frauen« nicht an der Feier in Berlin teilnehmen konnten, weil die Regierung in Kairo ihnen die Ausreise verweigerte, habe ei-

nen einfachen Grund. Mit ihrer Arbeit forderten sie »das System endemischer Folter der ägyptischen Sicherheitskräfte« heraus – kurzum, sie leisteten Widerstand. Mehr als 7.000 Menschen sind seit 1993 von den Nadeem-Mitarbeiterinnen behandelt worden. Stellvertretend für die Frauen aus Kairo nahm der ägyptische Arzt Taher Mokhtar den Preis entgegen, der aus dem französischen Exil nach Berlin gekommen war. Die Nadeem-Macherinnen seien Lehrerinnen für ihn gewesen, das Zentrum seine Schule, so Mokhtar.

HER MIT DEM HEFT

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Foto: Lucas Keckeisen

AKTIV FÜR AMNESTY

Mitglieder von Amnesty International versuchen auf vielfältige Art und Weise, Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme zu geben. Dazu zählen Aktionen und Veranstaltungen in vielen deutschen Städten. Wenn Sie mehr darüber erfahren oder selbst aktiv werden wollen: http://blog.amnesty.de www.amnesty.de/kalender

Gruppenbild mit Gerbera. Taher Mokhtar (Mitte) im April in der Berliner Volksbühne.

IMPRESSUM Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V. Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 E-Mail: info@amnesty.de Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion Amnesty Journal Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin E-Mail: journal@amnesty.de Adressänderungen bitte an: info@amnesty.de Redaktion: Markus Bickel (V.i.S.d.P.), Jessica Böhner, Hannah El-Hitami, Anton Landgraf, Katrin Schwarz

AKTIV FÜR AMNESTY

Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit Albrecht, Daniel Bax, Christoph Becker, Markus N. Beeko, Ronny Blaschke, Clemens Bomsdorf, Natalia Bronny, Gudrun Fertig, Christian Kamp, Jürgen Kiontke, Sonia Larsen, Alexandra Mankarios, Ramin Nowzad, Arndt Peltner, Wera Reusch, Andrzej Rybak, Uta von Schrenk, Martina Schwikowski, Maik Söhler, Peter Stäuber, Wolf-Dieter Vogel, Maja Weiss, Christine Wollowski, Marlene Zöhrer Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck und Verlag: Hofmann Druck, Nürnberg GmbH & Co. KG

Bankverbindung: Amnesty International Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE23 3702 0500 0008 0901 00 BIC: BFS WDE 33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00) Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und erscheint sechs Mal im Jahr. Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.

und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, für die Verbreitung im Internet oder für Vervielfältigungen auf CD-Rom.

ISSN: 2199-4587

Für unverlangt eingesandte Artikel oder Fotos übernimmt die Redaktion keine Verantwortung. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder. Die Urheberrechte für Artikel

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