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täter: unbekannt warum übergriffe durch die polizei in deutschland nur schwer aufzuklären sind und es kaum verurteilungen gibt
früchte des zorns italienische bürgerwehr vertreibt afrikaner
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ruanda auf der bühne das politische theater des hans-werner kroesinger
08/09
2010 august september
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EDITORIAL
Foto: Amnesty
Anton Landgraf ist Redakteur des Amnesty Journals
freunde und helfer sollen sie sein… …doch zu oft entpuppen sich die Hüter des Gesetzes selbst als mutmaßliche Gesetzesbrecher. »Schläger in Uniform«, überschrieb kürzlich eine große Illustrierte einen Artikel. Es ging darin um den aktuellen Amnesty-Bericht »Täter unbekannt« über Polizeigewalt in Deutschland. Unsere Titelgeschichte widmet sich diesem Thema. Dabei ist klar, dass die meisten Polizisten ihre oft schwierige Aufgabe in der Regel sehr professionell erledigen. Das wissen gerade auch die Polizeibeamten, die zugleich Mitglied von Amnesty International sind (S. 33). Wie aufwendig die Ausbildung für diejenigen ist, die eine Pistole und einen Schlagstock tragen, haben wir selbst erlebt (S. 34). Die Polizeischule in Eutin erwies sich dabei für unsere Reportage als eine besonders gute Wahl: Menschenrechtsbildung gehört dort zum Unterricht, die Schulleitung arbeitet mit der örtlichen Amnesty-Gruppe zusammen. Im Vergleich mit anderen Ausbildungsstätten ist dies alles andere als selbstverständlich. Wie nötig eine gezielte Ausbildung in Menschenrechtsfragen ist, zeigen die Fallbeispiele über Misshandlungen und Übergriffe durch die Polizei, die Amnesty in dem Bericht stellvertretend für viele andere dokumentiert hat. Besonders erschreckend ist dabei der Umstand, dass kaum einer der mutmaßlichen Täter zur Rechenschaft gezogen wurde. Die große Resonanz, die der Bericht bereits wenige Tage nach seiner Veröffentlichung erfahren hat, belegt, dass er ein wichtiges Problem berührt. Wir werden die weitere Entwicklung in den kommenden Ausgaben verfolgen. Viel Aufmerksamkeit hat auch das Amnesty Journal kürzlich erhalten, und zwar beim »Best of Corporate Publishing«, dem europaweit größten Wettbewerb für Zeitschriften-Design. Dort erreichten wir einen zweiten Platz. Wir freuen uns sehr über die mittlerweile vierte Auszeichnung in fünf Jahren für das Journal. Nicht zuletzt möchte ich mich bei Ferdinand Muggenthaler bedanken, der mich in den vergangenen sechs Monaten während meiner Elternzeit ausgezeichnet vertreten hat. Nun genießt er seinen Urlaub. Falls für Sie ebenfalls die Sommerferien beginnen, wünsche ich Ihnen eine gute Reise und eine interessante Lektüre.
editorial
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INHALT
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Titelfoto: Demonstration am 2. Juni 2007 in Rostock gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm. Die Fotojournalistin KI dokumentiert, wie Polizisten auf sie zu rennen und sie anschließend mit dem Schlagstock verprügeln. Foto: Amnesty
titel 23 Befangene Beamte Von Katharina Spieß
24 Täter: unbekannt
Trotz zahlreicher Klagen wegen mutmaßlicher Misshandlungen durch Polizisten kommt es selten zu einer Verurteilung. Von Anton Landgraf
28 »Das Vertrauen ist weg, die Angst ist da«
Almuth Wenta wurde von einem Polizisten grundlos zusammengeschlagen. Der Täter kam straffrei davon.
rubriken 06 Reaktionen 07 Erfolge 10 Aktion 12 Panorama 14 Nachrichten 15 Interview: Wiltah Nyabate Ombese 17 Porträt: Paolino Tipo Deng 19 Kolumne: Corinna Arndt 75 Rezensionen: Bücher 76 Rezensionen: Film & Musik 78 Briefe gegen das Vergessen 80 Amnesty Aktuell: Salil Shetty 82 Aktiv für Amnesty 83 Monika Lüke über die Wirtschaftskrise
30 »Niemand ermittelt gerne gegen sich selbst« Ein Streitgespräch zwischen Monika Lüke, Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International, und Konrad Freiberg, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GDP).
33 Konstruktive Spannung
Warum es nicht immer einfach ist, Polizist und Mitglied von Amnesty International zu sein. Von Olaf Diedrich
34 Wir sind Polizei
Daniel Kreuz (Text) und Bernd Hartung (Fotos) haben Polizeianwärter in Schleswig-Holstein zwei Tage lang begleitet.
38 Die Hautfarbe zählt
In Österreich fallen Polizei und Justiz immer wieder durch rassistische Diskriminierung auf, wie ein Amnesty-Bericht belegt. Von Michaela Klement
41 Ein Modell für alle
Seit 2005 untersucht in Irland eine unabhängige Kommission Anzeigen gegen Polizeibeamte. Von Alexander Bosch
Fotos oben: Bernd Hertung | Jan Lieske | Jerome Sessini / laif | Michael Danner
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berichte
kultur
44 Früchte des Zorns
64 »Der Hunger des Theaters nach Realität«
Im süditalienischen Rosarno schossen Einheimische auf afrikanische Orangenpflücker. Die Saisonarbeiter rebellierten. Eine Bürgerwehr verjagte die wütenden Afrikaner. Von Johan Kornder
50 Das zweite Leben
Mitten im gewaltsamen Konflikt im Ostkongo gelingt es der Organisation BVES, Kindersoldaten die Chance auf ein friedliches Leben zu bieten. Von Andrea Riethmüller
52 Der Teufel aus Stahl
Im mexikanischen Arriaga versuchen jedes Jahr tausende Menschen illegal in die USA zu kommen. Von Hauke Lorenz
56 Das Erbe von Nürnberg
Künftig soll der Internationale Strafgerichtshof auch »Verbrechen gegen den Frieden« verfolgen können. Von Nils Geißler
57 Augen zu
In Sri Lanka weigert sich die Regierung, die Verbrechen des Bürgerkrieges untersuchen zu lassen. Von Martin Wolf
58 Der Hass gegen die Liebe
In Malawi hat der Präsident im Mai ein schwules Paar begnadigt, das zu 14 Jahren Gefängnis mit Arbeitslager verurteilt worden war. Von Pamo Roth
Der Berliner Theaterautor und Regisseur Hans-Werner Kroesinger beschäftigt sich mit Kriegsschauplätzen der Gegenwart und der jüngsten Geschichte.
68 Musikalischer Anatom
John Harbison ist einer der wenigen Vertreter der E-Musik, der aktuelle politische Themen kritisch verarbeitet. Von Eva C. Schweitzer
70 Sauerstoff brennt
Egal ob Taliban, al-Qaida oder Hamas: Islamisten führen ihren antimodernen Kampf mit modernen Medien. Von Daniel Kreuz
72 Ein Weckruf mit Musik
Mexikos populäre Ska-Rock Combo Panteón Rococó ist nicht nur musikalisch erfolgreich, sie tritt auch für die Rechte der Bevölkerung ein. Von Knut Henkel
74 Die Liebe zur Dunkelheit
»Die Kinogänger von Chongjin« ist eine ungewöhnliche Liebesgeschichte aus Nordkorea. Von Ines Kappert
77 Bittersüße Fröhlichkeit
Die Sierra Leone’s Refugee All Stars haben sich in einem Flüchtlingslager in Guinea gegründet. Heute treten die Musiker weltweit auf. Von Daniel Bax
60 Zittern wie vor Stalin
Swetlana Gannuschkina, Mitglied des Menschenrechtsrats, zieht eine vorsichtig optimistische Bilanz.
inhalt
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REAKTIONEN
usa
slowakei
türkei
Richard Smith wird nicht hingerichtet. Am 19. Mai wandelte der Gouverneur des USBundesstaates Oklahoma das Todesurteil gegen den 47-Jährigen in eine lebenslange Haftstrafe ohne Bewährung um. Smith war 1987 wegen Mordes zum Tode verurteilt worden. Wenige Monate danach erließ Oklahoma ein Gesetz, das eine lebenslange Haftstrafe ohne die Möglichkeit einer vorzeitigen Haftentlassung zur Bewährung vorsieht. Sechs Geschworene des Gerichtsverfahrens gegen Smith erklärten, dass sie nicht für die Todesstrafe gestimmt hätten, wenn es diese Option gegeben hätte. Sie betonten, dass sie der Umwandlung zustimmen. Ein Bruder des Opfers unterstützte die Begnadigung ebenso wie Amnesty International.
Drei im Januar aus dem US-Gefangenenlager Guantánamo in die Slowakei überstellte Häftlinge sind im Juni in einen Hungerstreik getreten. Nach Auskunft der slowakischen Sektion von Amnesty International protestieren sie damit gegen die schlechten Bedingungen, unter denen sie in einem Flüchtlingslager untergebracht sind. Auch nach fünf Monaten Aufenthalt in der Slowakei sei ihr rechtlicher Status noch immer nicht geklärt, zudem fühlten sie sich isoliert und schlecht verpflegt. In einem Telefonat mit Amnesty sprachen sie von »Bedingungen ähnlich wie in Guantánamo«. Die slowakische Einwanderungsbehörde bestritt die Vorwürfe.
Als einen »wichtigen Schritt im Kampf gegen die Straflosigkeit in der Türkei« hat Amnesty International die Verurteilung von 19 Beamten, darunter Polizisten und Gefängniswärter, begrüßt. Vier von ihnen wurden Anfang Juni zu lebenslanger Haft verurteilt. Sie wurden für schuldig befunden, für den Tod von Engin Ceber verantwortlich zu sein. Der 29-jährige Aktivist war am 28. September 2008 während einer Demonstration gegen Polizeigewalt in Istanbul festgenommen und während der Haft wiederholt geschlagen und getreten worden. Am 10. Oktober 2008 starb er an den Verletzungen. Es ist das erste Mal in der türkischen Rechtsgeschichte, dass Beamte wegen Folter mit Todesfolge lebenslange Haftstrafen erhalten.
Ausgewählte Ereignisse vom 19. Mai bis 8. Juli
sudan kolumbien Ein Zivilgericht hat am 11. Juni sechs Soldaten wegen des Mordes an Edwin Legarda schuldig gesprochen. Legarda war der Ehemann von Aída Quilcué, der Leiterin der Indigenen-Organisation CRIC. Er wurde im Dezember 2008 von der Armee in seinem Wagen erschossen, als er seine Frau in Popayán abholen wollte. Sie kam gerade von einer Sitzung des UNO-Menschenrechtsrates in Genf nach Kolumbien. Quilcué vermutet, dass sie das eigentliche Ziel des Anschlags war. Amnesty International begrüßte das Urteil, forderte die Behörden aber auf, zu überprüfen, ob die Soldaten auf Befehl gehandelt hatten. Falls ja, müssten die Verantwortlichen ebenfalls bestraft werden.
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Sie hatten gestreikt und wurden deswegen inhaftiert. Am 24. Juni sind die sechs Ärzte ohne Anklageerhebung wieder freigelassen worden. Ahmed Alabwabi, Alhadi Bakhit, Abdelaziz Ali Jamee, Ahmed Abdallah Khalafallah, Ashraf Hammad und Mahmoud Khairallah Mohammed waren zwischen dem 1. und 8. Juni von Angehörigen des Nationalen Geheimdienstes NISS festgenommen und an einen unbekannten Ort verschleppt worden. Zwei von ihnen wurden während der Haft gefoltert. Die Festnahmen stehen wahrscheinlich im Zusammenhang mit einem Streik für bessere Arbeitsbedingungen der Ärzteschaft im Sudan. Die sechs Männer sind Mitglieder des Streikkomitees. Amnesty International hatte ihre Freilassung gefordert.
china Amnesty International hat China aufgefordert, die tibetischen Umweltschützer und Brüder Karma Samdrup, Rinchen Samdrup und Chime Namgyal freizulassen. Karma und Rinchen waren Anfang Juli in unfairen Prozessen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden, unter anderem wegen »Separatismus«. Rinchen und Chime waren im August 2009 festgenommen worden. Ihre NGO hatte gedroht, Beweise vorzulegen, dass korrupte Beamte illegal bedrohte Tiere jagten. Karma wurde im Januar festgenommen, weil er sich für die Freilassung seiner Brüder eingesetzt hatte. Er gab an, in der Haft gefoltert worden zu sein. Als er im Juni vor Gericht erschien, war er so abgemagert, dass seine Frau ihn kaum wiedererkannte.
amnesty journal | 08-09/2010
Foto: Michelle Shephard / AP
ERFOLGE
»Unschuldig« und »ungefährlich«. Ein Guantánamo-Häftling dreht auf einem Übungsgelände des Lagers einsam seine Runden, April 2010.
deutschland nimmt ehemalige guantánamo-gefangene auf Amnesty International hat die Aufnahme von zwei unschuldigen, entlassenen Guantánamo-Gefangenen in Deutschland begrüßt. »Die Bundesregierung hat das menschenverachtende ›System Guántanamo‹ oft und zu Recht kritisiert. Jetzt leistet auch Deutschland endlich einen Beitrag zum Ende dieses Menschenrechtsskandals«, sagte Monika Lüke, Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland. Die Männer, die in Hamburg und Rheinland-Pfalz Aufnahme finden werden, wurden von verschiedenen US-Behörden übereinstimmend als unschuldig und ungefährlich eingestuft. Trotzdem wurden sie noch in Guantánamo festgehalten. Amnesty appelliert an die Bundesregierung und an die entsprechenden Landesregierungen, die beiden Männer bei der Integration in
deutschland
eu-parlament hilft bhopal-opfern
Das Europäische Parlament hat sich bereit erklärt, die Kosten für eine gründliche Untersuchung des Verschmutzungsgrades der Bhopal-Unglücksstelle zu tragen. Das geht aus einem Brief hervor, den Mitglieder des Europäischen Parlaments Ende Juni an die indische Regierung geschrieben haben. Die Opfer der Giftgaskatastrophe in Bhopal warten seit 25 Jahren auf Gerechtigkeit. Im zentralindischen Bhopal waren im Dezember 1984 tonnenweise tödliche Chemikalien aus der Pestizidfabrik des Unternehmens Union Carbide Corporation (UCC) mit
indien
reaktionen
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erfolge
die Gesellschaft in Deutschland zu unterstützen. Dazu gehören medizinische und psychologische Betreuung, Sprachkurse sowie weitere soziale Maßnahmen. »Grundsätzlich liegt die Verantwortung für die Aufnahme entlassener Gefangener aus Guantánamo bei den USA«, betonte die Amnesty-Generalsekretärin. Doch leider stünden dort die Chancen dafür innenpolitisch schlecht. US-Präsident Barack Obama sei auf Unterstützung aus Europa angewiesen. »Bundeskanzlerin Merkel sollte sich bei ihren Amtskollegen in der Europäischen Union dafür einsetzen, dass weitere EU-Staaten unschuldige, entlassene Gefangene aufnehmen. Nur so wird Obama sein Versprechen einlösen und Guantánamo endlich schließen können.«
Sitz in den USA entwichen. Rund eine halbe Million Menschen waren dem Giftgas ausgesetzt. Bis zu 10.000 Menschen starben unmittelbar danach, weitere 15.000 in den folgenden Jahren. Über 25 Jahre lang wurde niemand für diese Katastrophe zur Rechenschaft gezogen. Erst Anfang Juni 2010 wurden sieben indische Staatsbürger wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Die Initiative des Europäischen Parlaments ist ein wichtiger Schritt, um endlich eine Reinigung des Gebiets und eine effektive Hilfe für die betroffenen Menschen zu erreichen.
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Foto: Kåre Viemose
»Wir fühlten uns sicher und waren stolz.« Teilnehmer der Baltic-Pride-Parade in der litauischen Hauptstadt Vilnius am 8. Mai 2010.
einsatz mit erfolg
litauische behörden erlauben erste schwulen-parade
litauen Rund 500 Aktivistinnen und Aktivisten, darunter 50 Amnesty-Mitglieder aus 20 Ländern, demonstrierten am 8. Mai 2010 mit der Baltic-Pride-Parade in der litauischen Hauptstadt Vilnius für die Gleichberechtigung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender (LGBT). Es war die erste Parade dieser Art in der Geschichte des Landes. Erst einen Tag zuvor entschied das Oberste Verwaltungsgericht in Vilnius, dass die Parade stattfinden könne. Am 5. Mai 2010 hatte das Verwaltungsgericht der Stadt Vilnius sie verboten. Es war damit einem Gesuch des litauischen Generalstaatsanwalts nachgekommen, der Zusammenstöße mit Gegendemonstranten befürchtete. Das Oberste Verwaltungsgericht wies die
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Begründung des Verbots jedoch zurück und bezog sich dabei auf die ausdrückliche Zusage der Polizei, die notwendigen Maßnahmen getroffen zu haben, um die Sicherheit der Demonstrierenden zu gewährleisten. Über 600 Polizisten, darunter berittene Einheiten, beschützten die Route der Demonstration. Den rund 1.000 Gegendemonstranten, vor allem Rechtsextremisten, gelang es nicht, den Marsch zu stören. »Die Polizisten haben einen tollen Job gemacht«, sagte ein Demonstrationsteilnehmer von Amnesty International. »Wir fühlten uns sicher und waren stolz, an der Seite der litauischen Aktivistinnen und Aktivisten an der Baltic-Pride-Parade teilzunehmen.«
davon aus, dass die Inhaftierung und Verurteilung politisch motiviert waren. Sie stehen vermutlich in Zusammenhang mit einer diplomatischen Krise zwischen Libyen und der Schweiz, ausgelöst durch die Festnahme des Sohnes des libyschen Staatschefs Muammar al-Gaddafi im Juli 2008 in der Schweiz. Göldi und sein Landsmann Rachid Hamdani wurden am 19. Juli 2008 festgenommen und zwischen September und November 2009 an einen geheimen Ort verschleppt. Hamdani wurde im Februar 2010 freigesprochen, Göldi zu einer Haftstrafe von 16 Monaten verurteilt, die später auf vier Monate reduziert wurde. Seit ihrer Festnahme hatte sich Amnesty für die Frei-
max göldi ist frei
Fast zwei Jahre lang wurde der Schweizer Geschäftsmann Max Göldi in Libyen festgehalten. Am 13. Juni konnte er endlich in die Schweiz zurückkehren. Er hatte zuvor eine viermonatige Gefängnisstrafe verbüßt, zu der er im Februar 2010 wegen Verstoßes gegen die Einwanderungsbestimmungen verurteilt worden war. Amnesty International geht
libyen/schweiz
Foto: privat
Weltweit beteiligen sich viele tausend Menschen mit Appellschreiben an den »Urgent Actions«, den »Briefen gegen das Vergessen« und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz drohende Menschenrechtsverletzungen verhindert und Menschen in Not hilft, zeigen diese Beispiele.
Wieder frei. Rachid Hamdani und Max Göldi.
amnesty journal | 08-09/2010
vereinigte arabische emirate Der pakistanische Staatsbürger Dr. Ayyaz Ali Khan wurde am 8. Juni 2010 von der Polizei der Vereinigten Arabischen Emirate freigelassen. Zuvor hatte sie ihn 65 Tage ohne Anklage oder Gerichtsverfahren inhaftiert. Khan war am 5. April 2010 in Ras al Khaimah festgenommen worden, wo er sich aufhielt, um an der dortigen Universität eine Abteilung für Zahnmedizin aufzubauen. Khan war die ganze Zeit an einem nicht bekannten Ort in Einzelhaft und hatte weder Zugang zu seiner Familie noch zu Anwälten oder dem pakistanischen Konsulat. Er kennt den Grund für seine Festnahme nicht. Während seiner Haft wurde er korrekt behandelt. Er ist bei guter Gesundheit und erholt sich nun bei seiner Familie in Pakistan. Khan bedankte sich bei den Mitgliedern von Amnesty für ihre Bemühungen und Appellschreiben: »Als man mich festnahm, hatte ich eine 25-köpfige Familie, jetzt besteht sie aus Tausenden von Menschen. Ich bin Amnesty International extrem dankbar für all die Unterstützung.«
militärdienstverweigerer gewinnt prozess
Ivan Mikhailau, ein Militärdienstverweigerer aus Gewissensgründen, ist freigesprochen worden. Da er wegen seiner religiösen Überzeugung keine Waffen tragen kann, hatte er den Militärdienst verweigert. Daraufhin war er am 15. Dezember 2009 festgenommen worden. Am 1. Februar 2010 befand ihn das Bezirksgericht von Minsk für schuldig, »sich der Einberufung entzogen zu haben«, und
belarus
erfolge
Muss nicht mehr zum Militär. Ivan Mikhailau.
verurteilte ihn zu drei Monaten Haft. Nachdem er Rechtsmittel eingelegt hatte, wurde das Urteil am 9. März vom Regionalgericht Minsk aufgehoben. Am folgenden Tag ließ man Ivan Mikhailau gegen Kaution frei. Das Regionalgericht Minsk kam zu dem Schluss, dass es während der ursprünglichen Ermittlungen zu Verfahrensfehlern gekommen sei, und forderte ein neues Verfahren, das am 4. Mai mit einem Freispruch endet. Zum Zeitpunkt der Freilassung hatte Ivan Mikhailau seine Strafe bereits bis auf sechs Tage verbüßt. In Belarus ist der Militärdienst für Männer zwischen 18 und 27 Jahren Pflicht. Einen Zivildienst gibt es nicht.
yusak pakage ist wieder frei
indonesien Der gewaltlose politische Ge-
fangene Yusak Pakage ist am 7. Juli aus dem Doyo-Baru-Gefängnis in der indonesischen Provinz Papua entlassen worden. Er war zu zehn Jahren Haft verurteilt worden, weil er im Dezember 2004 an einer friedlichen Demonstration für die Unabhängigkeit Papuas teilgenommen hatte, bei der die verbotene Morgensternflagge gehisst worden war. Pakage hatte bereits die Hälfte der Haftstrafe abgesessen, als ihn der indonesische Präsident im Juni begnadigte. Der 31-Jährige bedankte sich bei Amnesty International und allen anderen, die sich für ihn eingesetzt haben.
gehandelt« und »Unruhe in der Öffentlichkeit gestiftet« habe. Amnesty International betrachtete ihn als gewaltlosen politischen Gefangenen. Bakas ist Mitglied der Organisation »Student Committee for the Defence of Political Prisoners« und Aktivist für die Rechte der iranisch-aserbaidschanischen Minderheit. Er war nach den umstrittenen Präsidentschaftswahlen Mitte Juni 2009 verhaftet worden.
ermittlungen gegen frauenrechtsaktivistinnen eingestellt
nicaragua Am 28. April 2010 bekamen
neun Frauenrechtsaktivistinnen aus Nicaragua die Bestätigung, dass die Ermittlungen gegen sie nach mehr als zweieinhalb Jahren eingestellt worden sind. Ana María Pizarro, Juanita Jiménez, Lorna Norori, Luisa Molina Arguello, Marta María Blandón, Martha Munguía, Mayra Sirias, Violeta Delgado und Yamileth Mejía waren von einer kirchlichen Organisation angezeigt worden, weil sie im Jahr 2003 einem vergewaltigten neunjährigen Mädchen zu einem Schwangerschaftsabbruch verholfen hatten. Der Abbruch war zu diesem Zeitpunkt legal, drei Jahre später wurden jedoch alle Formen der Abtreibung in Nicaragua unter Strafe gestellt. Der Vergewaltiger des Mädchens, ihr Vater, wurde im November 2007 zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt. Die Einstellung der Ermittlungen gegen die neun Frauen ist ein großer Erfolg und ein Beweis dafür, dass internationaler Druck sehr viel erreichen kann. Sie bedanken sich bei allen, die ihnen geholfen haben. Eine der Frauen erzählte, der Justizminister Nicaraguas habe die große Menge an Briefen erwähnt, die ihm Amnesty-Mitglieder und Unterstützer zugeschickt hatten.
freispruch für menschenrechtler
iran Der iranische Menschenrechtler Ali Bikas wurde am 29. Juni 2010 aus dem Teheraner Evin-Gefängnis entlassen, nachdem man ihn im Berufungsverfahren von allen Vorwürfen freigesprochen hatte. Er war am 7. Januar 2010 zu sieben Jahren Haft und 74 Peitschenhieben verurteilt worden, weil er »durch konspirative Treffen gegen die nationale Sicherheit
Fotos: Amnesty
ayyaz ali khan ist wieder bei seiner familie
Foto: privat
lassung der beiden Schweizer eingesetzt. So rief die Organisation im Dezember 2009 zu einer groß angelegten Web- und Postkartenaktion auf: Im Internet wurden über 15.000 virtuelle Solidaritätskerzen angezündet und mit persönlichen Nachrichten an Hamdani und Göldi gesendet. Göldis Familie bedankte sich bei Amnesty für den Einsatz während seiner Gefangenschaft in Libyen. »Die Unterstützung von Amnesty war für uns sehr eindrücklich«, schrieb die Familie in einer ersten Stellungnahme nach der Freilassung. »Die Kerzenaktion zur Weihnachtszeit, aber auch die Urgent Action im Februar haben die ganze Familie Göldi moralisch sehr unterstützt.«
Unschuldig. Aktivistinnen aus Nicaragua.
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PANORAMA
Foto: Victor Drachev / AFP / Getty Images
türkei. prügel und hohe haftstrafen auch für kinder , Kinder werden auf Demonstrationen verprügelt, festgenommen, mit Erwachsenen in eine Zelle gesperrt und schließlich wegen »Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation« zu hohen Haftstrafen verurteilt. All dies ermöglichen die Antiterrorgesetze in der Türkei. Auf Polizeiwachen werden Kinder ohne Anwalt oder Sozialarbeiter verhört und zu belastenden Aussagen gezwungen. Diese werden später vor Gericht als Beweismittel verwendet. Die meisten Verfahren enden mit Haftstrafen, oft von vielen Jahren, selbst für Zwölfjährige. Das belegt ein aktueller Bericht von Amnesty International. Demnach wurden seit 2006 in der Türkei Tausende von Kindern wegen der Teilnahme an Demonstrationen in den kurdischen Gebieten festgenommen, zu denen die verbotene »Kurdische Arbeiterpartei« aufgerufen haben soll. Nach den Antiterrorgesetzen können Teilnehmer an diesen Demonstrationen wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation angeklagt werden – und zwar ausdrücklich ohne tatsächlich Mitglied zu sein. Das Foto zeigt eine Demonstration in Istanbul im März 2009. Weitere Informationen auf www.amnesty.org
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amnesty journal | 08-09/2010
% kirgisistan: angespannte lage nach unruhen Amnesty International fordert die usbekischen Behörden auf, keine Flüchtlinge nach Kirgisistan abzuschieben, solange die Stabilität und Sicherheit im Süden des Landes nicht wieder hergestellt sind. Obwohl die Regierung das Gegenteil behauptet, ist die politische Lage in dem zentralasiatischen Land noch immer angespannt und brüchig. Die ethnischen Usbeken vertrauen den kirgisischen Sicherheitsbehörden nicht, weil diese sich als unfähig erwiesen haben, die Menschen zu schützen. Außerdem wird ihnen die Beteiligung an Tötungen und Plünderungen vorgeworfen. Der Konflikt zwischen Usbeken und Kirgisen eskalierte Anfang Juni: Berichten zufolge wurden mehr als 2.000 Menschen getötet, Tausende wurden verletzt. Etwa 400.000 Menschen mussten aus ihren Häusern fliehen. Viele halten sich noch immer in Flüchtlingslagern nahe der Grenze auf (Foto). Amnesty fordert eine internationale Untersuchung der gewaltsamen Ausschreitungen. Weitere Informationen auf www.amnesty.de
Foto: Murad Sezer / AP
panorama
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Foto: Franklin Reyes / AP
NACHRICHTEN
Ein wichtiger Schritt. Die kubanische Menschenrechtlerin Laura Pollan telefoniert am 7. Juli 2010 mit dem inhaftierten Dissidenten Guillermo Farinas.
kuba will politische gefangene freilassen Die Regierung von Raúl Castro hat angekündigt, 52 gewaltlose politische Gefangene freizulassen. »Das ist ein großer und wichtiger Schritt hin zu einer Verbesserung der Menschenrechtslage auf der Karibikinsel«, erklärte Maja Liebing, Kuba-Expertin der deutschen Amnesty-Sektion. »Es gibt allerdings keinen Grund, warum nicht alle Gefangenen sofort, sondern, wie von der Regierung in Havanna angekündigt, teilweise erst in den nächsten drei bis vier Monaten entlassen werden sollen.« Die Männer sind seit der großen Verhaftungswelle im März 2003 im Gefängnis und wurden einzig aufgrund der friedlichen Ausübung ihrer Rechte auf Meinungs- und Versamm-
kuba
lungsfreiheit inhaftiert. Einige Gefangene konnten mittlerweile mit ihren Familien nach Spanien ausreisen. Unklar ist, ob die Dissidenten freiwillig Kuba verließen. Eine erzwungene Ausreise wäre ein weiterer Versuch, die Meinungsfreiheit auf der Insel zu unterdrücken. Ein von Amnesty als gewaltloser politischer Gefangener anerkannter Häftling ist bislang von den Freilassungsplänen ausgenommen. Der Anwalt Rolando Jiménez Posada wurde wegen »Missachtung der Staatsgewalt und Verrat von Geheimnissen der Staatssicherheitspolizei« zu einer zwölfjährigen Haftstrafe verurteilt, weil er friedlich seine Unterstützung für die politischen Gefangenen erklärt hatte. Amnes-
beispiellose anhörung im fall von troy davis
usa In einer beispiellosen Anhörung haben sieben von neun Zeugen ihre Aussagen gegen den Afroamerikaner Troy Davis zurückgezogen, der seit 19 Jahren in den USA in einer Todeszelle sitzt. Mehrere Zeugen gestanden, sie hätten aus Angst vor der Polizei behauptet, Davis habe 1989 den weißen Polizisten Mark McPhail
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ermordet. Der Oberste Gerichtshof der USA will nun eine Wiederaufnahme des Falls prüfen. Davis sitzt seit 1991 in der Todeszelle und hat bereits drei Mal erreicht, dass die Vollstreckung der Strafe ausgesetzt wurde. Er wurde ausschließlich aufgrund der damaligen Zeugenaussagen zum Tode verurteilt. Eine Tatwaffe,
ty fordert die Regierung auf, ihn sofort und bedingungslos freizulassen. Ende Juni kam bereits der Menschenrechtler Darsi Ferrer frei. Die Entlassung der gewaltlosen politischen Gefangenen allein reicht nach Meinung von Liebing jedoch nicht aus, um die Menschenrechte auf Kuba zu garantieren. Notwendig seien zudem umfassende rechtliche Reformen, da sonst eine erneute Inhaftierung dieser oder anderer Dissidenten jederzeit wieder möglich sei. Erst kürzlich hat Amnesty einen Bericht zur Meinungsfreiheit auf Kuba veröffentlicht. Demzufolge unterliegen Zeitungen, Rundfunk und Internet der strikten staatlichen Kontrolle.
konkrete Beweise oder DNA-Spuren, die auf Davis als Täter hingedeutet hätten, wurden nie gefunden. Im August 2009 sprach der Oberste Gerichtshof Davis das Recht auf eine neue Anhörung zu. Es war das erste derartige Urteil seit Wiedereinführung der Todesstrafe in den USA im Jahr 1976.
amnesty journal | 08-09/2010
interview
wiltah nyabate ombese
Wiltah Nyabate Ombese ist Mitbegründerin des SowetoForums, das sich für die Menschenrechte in Kenias größtem Slum Kibera einsetzt. Nyabate ist zweifache Mutter und eine von elf Menschenrechtsverteidigern, die Amnesty International anlässlich der Fußballweltmeisterschaft mit der Stand-UpUnited-Kampagne unterstützte.
kenia
Wie sieht Ihr Tagesablauf aus? Ich arbeite als Putzkraft in einer Reinigungsfirma. Um sechs Uhr morgens gehe ich zur Arbeit und komme erst spät abends wieder zurück. In dieser Zeit sind meine Kinder in der Schule. Die beiden sind acht und 14 Jahre alt. Ich verdiene einen USDollar pro Tag. Das reicht gerade, um meine Familie zu ernähren. Die Arbeit für das Soweto-Forum mache ich ehrenamtlich. Sind viele Frauen in Kibera in einer ähnlichen Situation? Ja, viele Mütter in Kibera sind alleinerziehend und auf sich gestellt. Aber sie halten durch. Einige von ihnen arbeiten als Hausmädchen oder haben andere Jobs. Nur so können sie und ihre Kinder überleben. Die Väter interessieren sich oft nicht für ihre Familie. Ist ein Paar geschieden, müssen die Frauen die gesamte Verantwortung für die Familie übernehmen. Mit welchen Problemen haben die Slumbewohner zu kämpfen? Die meisten Leute haben keine Arbeit oder verdienen wie ich zu wenig. Ein anderes Problem ist das Trinkwasser, das nur an bestimmten Orten verkauft wird. Dafür müssen wir oft einen langen Weg zurücklegen. Wer kein Geld hat, kann sich natürlich auch kein Trinkwasser leisten. Es ist somit ein Privileg der Menschen mit Geld. Auch die Benutzung von sanitären Anlagen kostet eine Gebühr. Die Menschen, die kein Geld haben, benutzen Plastiktüten und werfen diese oft einfach auf die Straße. Zudem sind die Bewohner ständig von Zwangsräumungen bedroht.
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Foto: Amnesty
»trinkwasser ist ein privileg der reichen« Wie versucht das Soweto-Forum das Leben der Menschen zu verbessern? Wir unterstützen sie zum Beispiel dabei, ihr eigenes Geld zu verdienen. Einige Frauen verkaufen selbstgekochte traditionelle Gerichte, andere fertigen Schmuck an. Dadurch entkommen die Leute der absoluten Armut. Außerdem klären wir die Menschen über ihre Rechte auf und ermutigen sie, einen HIV-Test zu machen. Häufig beginnen die Leute erst dann mit der Einnahme der lebenswichtigen Medikamente. Wie reagiert das Forum auf die vielen Zwangsräumungen? Zwangsräumungen sind eine Verletzung der Menschenrechte. Darauf machen wir die kenianische Regierung aufmerksam. Gemeinsam mit Vertretern der Regierung und von Amnesty International bin ich in einer Arbeitsgruppe, die Richtlinien für Zwangsräumungen erarbeitet. Wir fordern von der Regierung, den Betroffenen alternative Unterkünfte zu bieten. Die Slumbewohner müssen außerdem ein Mitspracherecht erhalten. Die Verbreitung von Informationen ist ein großes Problem. Oft werden die Menschen nicht einmal über die bevorstehende Zwangsräumung benachrichtigt. Im Juni wurde der Slum South B in Nairobi geräumt. Was genau ist passiert? Hunderte Häuser wurden zerstört, rund tausend Familien sind nun obdachlos und auf humanitäre Hilfe angewiesen. Ihnen wurden keine alternativen Unterkünfte angeboten. Sie sind notdürftig in Zelten untergebracht, die Hilfsorganisationen bereitgestellt haben. Doch dort können die Menschen nicht ewig bleiben. Also ziehen sie weiter, bis sie einen neuen Slum gefunden haben. Dann droht ihnen die nächste Zwangsräumung. Ein normales Leben ist so kaum möglich. Fragen: Malena Theele
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gaza-blockade trifft die schwächsten Amnesty International hat eine internationale Untersuchung der israelischen Militäraktion gegen die Schiffsflotte verlangt, die Ende Mai Hilfslieferungen in den Gazastreifen bringen wollte. Zwar liegt die Hauptverantwortung der vollständigen Aufklärung der Militäraktion bei der Regierung in Tel Aviv. Eine israelische Untersuchung allein reicht
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tod eines bloggers
Die ägyptische Staatsanwaltschaft ermittelt gegen zwei Polizisten, die für den Tod des 28-jährigen Bloggers Khaled Said verantwortlich sein sollen. Die beiden Polizisten hatten den jungen Mann, der ein Video über korrupte Beamte veröffentlicht hatte, am 6. Juni in der Hafenstadt Alexandria aus einem Internetcafe gezerrt und auf ihn eingeschlagen, bis er seinen Kopfverletzungen erlag.
Medikamenten, Unterrichts- und Baumaterialien stellt eine völkerrechtswidrige kollektive Bestrafung der palästinensischen Bevölkerung in Gaza dar und trifft vor allem die Schwächsten. Die Blockade verhindert nicht nur den Wiederaufbau des Gazastreifens. Sie verbietet auch den Export und verhindert damit jede wirtschaftliche Entwicklung.
In dem offiziellen Bericht wurde Drogenmissbrauch als Todesursache aufgeführt. Doch Bilder der Leiche zeigen schwere Wunden, die nicht mit dem Tathergang in Einklang zu bringen sind, wie ihn die Behörden geschildert haben. Der gewaltsame Tod des Bloggers hatte in Ägypten ungewöhnlich heftige Proteste ausgelöst. So beteiligten sich Ende Juni mehrere tausend Menschen an einer Demonstration in Alexandria. Anders als
sonst üblich, schritt die Polizei nicht ein, selbst als regierungskritische Parolen gerufen wurden. Das seit fast drei Jahrzehnten geltende Ausnahmerecht gibt Polizei und Justiz nahezu unbeschränkte Macht. Jeder kann ohne Grund festgenommen, misshandelt und inhaftiert werden. Es kommt daher äußerst selten vor, dass Beamte sich wegen Misshandlungen und Folter vor Gericht verantworten müssen.
Foto: Amr Nabil / AP
ägypten
jedoch nicht aus, da der Vorfall nach Auffassung der Organisation eine internationale Dimension hat. Israel soll deshalb die entsprechenden UNO-Experten einladen. Darüber hinaus fordert Amnesty International ein sofortiges Ende der fast dreijährigen Blockade des Gazastreifens. Die beschränkte Einfuhr von Lebensmitteln,
Ungewöhnlich heftige Proteste. Demonstranten in Alexandria fordern am 26. Juni 2010 die Bestrafung der Mörder von Khaled Said.
zehntausende unterschreiben petition für mehr gleichbehandlung Mehr als 50.000 Europäer haben mit ihrer Unterschrift die Bundesregierung aufgefordert, ihren Widerstand gegen die neue EU-Gleichbehandlungsrichtlinie aufzugeben und damit zur Beendigung von Diskriminierung in Europa beizutragen. Am 7. Juli übergab die Ge-
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neralsekretärin der deutschen AmnestySektion, Monika Lüke, die Petitionen dem Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung, Markus Löning. Die zuständige Bundesministerin Kristina Schröder war nicht bereit, sie entgegenzunehmen und mit Amnesty zu sprechen.
Amnesty kritisiert die Blockadehaltung der Bundesregierung. Sie verkenne offenbar die Tatsache, dass Millionen Menschen in Europa der Rechtsschutz gegen Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung, Religionszugehörigkeit, Alter oder Behinderung verweigert wird.
amnesty journal | 08-09/2010
PORTRÄT
PAOLINO TIPO DENG
tschad Der 39-jährige Sudanese Paolino Tipo Deng ist katholischer Priester und kämpft als Leiter des interreligiösen Begegnungszentrums »Tente d’Abraham« in der tschadischen Hauptstadt N’Djamena für die Rechte von Flüchtlingen.
Paolino Tipo Deng hat gelernt zuzuhören. Der gebürtige Sudanese ist Leiter des »Tente d’Abraham« (Abrahams Zelt) – einem interreligiösen Begegnungszentrum für Christen und Muslime in der tschadischen Hauptstadt N’Djamena. Er hat katholische Theologie und Islamwissenschaften studiert und arbeitet seit vier Jahren im Tschad. Das Begegnungszentrum beschreibt der 39-Jährige als einen Ort des kulturellen Austauschs: »Wir versuchen, Vorurteile zwischen Christen und Muslimen abzubauen und sie dazu zu bewegen, friedliche Lösungen für ihre Konflikte zu finden. Auch für Flüchtlinge ist das Zentrum eine wichtige Anlaufstelle.« Vor den blutigen Auseinandersetzungen in der sudanesischen Krisenregion Darfur, die zum Teil auch auf den Tschad übergegriffen haben, sind bis heute rund 260.000 Sudanesen und 180.000 Tschader geflohen. Die Flüchtlinge leben in zwölf Lagern entlang der tschadisch-sudanesischen Grenze. Im April dieses Jahres organisierte Tipo Deng einen »Runden Tisch« mit Flüchtlingsvertretern, religiösen Stammesführern und zivilgesellschaftlichen Gruppen. Dabei ging es um grundsätzliche Fragen: Religion, Gewalt, die Rechte von Flüchtlingen und Formen friedlicher Konfliktlösung. Tipo Deng wertet das Treffen als Erfolg: »Wir haben erreicht, dass die unterschiedlichen Gruppen die Probleme der anderen wahrnehmen. Einzelne Vertreter haben angekündigt, ein ähnliches Programm in ihren Camps durchzuführen und den Kontakt aufrechtzuerhalten.« Oft vermittelt Tipo Deng bei Konflikten, die aus alltäglichen Situationen entstehen. Wie bei einem Streit zwischen einer Gruppe Viehzüchter und Getreidebauern: »Vieh wird im Tschad normalerweise frei gehalten. Leider wird dabei manchmal ein Teil der Ernte zerstört«, so Tipo Deng. Eine religiöse Komponente er-
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porträt
Foto: Amnesty
der vermittler hielt der Konflikt dadurch, dass die Viehzüchter hauptsächlich muslimisch und die Getreidebauern christlich waren. Um zwischen den Gruppen zu vermitteln, wurde ein gemeinsames Essen organisiert. »Ein Großteil der Konflikte lässt sich nicht auf religiöse Unterschiede, sondern auf Vorurteile und Missverständnisse zurückführen. So befürworten weder der Islam noch das Christentum Gewalt«, betont Tipo Deng. Neben seiner Arbeit im »Tente d’Abraham« engagiert er sich bei verschiedenen Jugendprojekten. Eines davon ist die Organisation »Young Christian Students« (YCS), die Bildungs- und Sportmöglichkeiten für Jugendliche anbietet. Er schätzt die Energie junger Menschen: »Sie sind sehr motiviert. Außerdem fällt es ihnen leichter die Perspektive zu wechseln und Vorurteile abzubauen.« Auch deshalb fordert er, mehr in Bildungsprojekte für Jugendliche zu investieren: »Viele Probleme lassen sich nicht sofort lösen. Aber Bildung hilft, die Perspektive der Menschen zu erweitern und sie für die Probleme anderer zu sensibilisieren – sie ist der Ausgangspunkt.« Bevor er in den Tschad kam, arbeitete Tipo Deng als Lehrer im Süden Sudans und unterrichtete Arabistik. Danach entschied er sich, eine Priesterausbildung zu absolvieren, während der er als Vertreter der »Comboni Missionare«, einer römisch-katholischen Ordensgemeinschaft, unter anderem nach Peru, Spanien, Italien und in den Tschad reiste. Tipo Deng war Missionar, aber er hat nichts Missionarisches. »Ich kann keinen Muslim von der christlichen Dreifaltigkeit überzeugen«, sagt er. »Unterschiedliche Perspektiven sind nichts Negatives. Im Gegenteil – sie sind wertvoll und wichtig.« Er plädiert dafür, sich auf die Suche nach Gemeinsamkeiten zu machen, an die man anknüpfen kann. Und um diese Gemeinsamkeiten zu entdecken, müsse man vor allem eines tun – einander zuhören. Text: Ralf Rebmann
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Foto: Michael Kamber / Polaris / laif
Auf der Suche nach dem »Don«. Soldaten patrouillieren durch das Viertel Tivoli Gardens in der jamaikanischen Hauptstadt Kingston, Mai 2010.
teil der gewaltkultur Jamaika hat einen mutmaßlichen Drogenboss an die USA ausgeliefert. Während der Jagd auf ihn starben über 70 Menschen. Ein Symptom für die Gewaltkultur in dem karibischen Inselstaat. Von Klaus Naßhan Am Ende ging alles ganz schnell: Christopher Coke, genannt »Dudus«, verzichtete auf Rechtsmittel und wurde am 24.Juni 2010, zwei Tage nach seiner Festnahme, an die USA ausgeliefert. Die US-Justiz sieht in Coke einen der »weltweit gefährlichsten« Figuren im Drogen- und Waffenhandel. Viele Bewohner des Stadtteils Tivoli Gardens von Kingston, der Hauptstadt Jamaikas, sehen in ihm dagegen ihren Wohltäter. Er war dort der unumstrittene Chef, der »Don«. Als Polizisten und Soldaten Ende Mai Tivoli Gardens umstellten, um ihn zu verhaften, bauten die Bewohner Barrikaden, und seine Anhänger brannten zwei Wachen nieder. Die Geschichte der Karibikinsel ist von Gewalt geprägt: Wahlkämpfe endeten regelmäßig mit Hunderten von Toten. Die Partei, die gerade an der Regierung war, ließ neue Stadtteile bauen und verteilte die Wohnungen unter ihren Anhängern. So entstanden Parteihochburgen, die
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»Garrissons« (Festungen) genannt werden. In den Garrissons der Oppositionspartei investierte die jeweilige Regierung nicht, die Viertel verwahrlosten. Ein Vakuum, das Banden ausfüllten. Neben ihren kriminellen Aktivitäten, wie Drogenschmuggel, Mord und Vergewaltigung, sorgen sie, wie Coke in Tivoli Gardens, auch für Strom- und Wasserversorgung, Arbeit und Lebensmittel. Die Polizei wird von vielen als Teil der Gewaltkultur des Landes empfunden. In der vergangenen Dekade erschossen Polizisten in Jamaika über 2.000 Menschen, allein im vergangen Jahr 253. Lediglich vier Polizisten wurden verurteilt. Die Polizei spricht meist von Schießereien mit bewaffneten Banden, oft deutet aber vieles darauf hin, dass die Opfer unbewaffnet waren. Erst im März 2010 reagierte das Parlament auf die anhaltende Kritik und beschloss die Einrichtung einer unabhängigen Untersuchungskommission zur Verfolgung von Straftaten durch Polizisten. Auch Amnesty fordert seit langem eine solche Kommission. Es bleibt abzuwarten, ob sie die Möglichkeiten bekommt, effektiv zu arbeiten. Auch die Ereignisse bei der Jagd auf Coke zeigen, dass eine konsequente Be-
kämpfung der rechtswidrigen Polizeigewalt dringend notwendig ist. Nach offiziellen Angaben starben bei der Erstürmung von Tivoli Gardens drei Sicherheitskräfte und 73 Zivilisten. Der Public Defender, ein parlamentarischer Ombudsmann, der Beschwerden über Polizeiübergriffe untersuchen soll, erklärte dazu im »Jamaica Observer«: »Uns liegen Berichte über außergerichtliche Hinrichtungen und Polizeiübergriffe vor, einschließlich der Zerstörung von Eigentum und Misshandlungen.« Auch die Organisation »Jamaicans for Justice« hat Fälle dokumentiert, in denen die Umstände auf eine gezielte Tötung durch die Polizei hinweisen. Amnesty International und lokale Menschenrechtsorganisationen fordern eine unabhängige Untersuchung aller Todesfälle und Übergriffe. Coke selbst fanden die Soldaten und Polizisten während der Erstürmung von Tivoli Gardens nicht. Er wurde Tage später festgenommen, angeblich als er sich auf dem Weg zur US-Botschaft befand, um sich selbst auszuliefern. Der Autor ist Sprecher der Ländergruppe zur englischsprachigen Karibik der deutschen Amnesty-Sektion.
amnesty journal | 08-09/2010
Zeichnung: Oliver Grajewski
kolumne corinna arndt
südafrika: was nach dem fussball kommt
Die Vuvuzelas dröhnten noch, als die frisch in den Fifa-Farben übertünchte Fassade Südafrikas erste Risse zeigte: Gewalt gegen Immigranten – schon wieder! Schön war sie ja, die Fußballzeit; und fast fühlt man sich ein wenig schäbig, wenige Stunden nach dem Ende der Weltmeisterschaft Wasser in den Wein zu gießen. Seitdem klar ist, dass Südafrika die WM erfolgreich veranstaltet hat, sind Optimismus, Stolz und Patriotismus das Gebot der Stunde. Doch die Fakten sprechen für sich: Nachdem bereits wochenlang Gerüchte über eine erneute Gewaltwelle gegen afrikanische Ausländer kursierten, kam es am Tag des Endspiels in mehreren Townships in der WestkapProvinz zu Übergriffen. Vor allem somalische Ladenbesitzer waren davon betroffen. Hunderte flüchteten aus Angst vor dem Mob aus ihren Häusern. In einigen der betroffenen Gemeinden kommen solche Übergriffe seit Jahren immer wieder vor. Doch seit die Medien das Thema entdeckt haben, verbreiten sich entsprechende Gerüchte wie ein Lauffeuer. Mit Fußball hat das wenig zu tun. Aber es bedarf schon einer gehörigen Portion Zynismus, die Themen so zu trennen, wie es die Ausländerhasser offensichtlich tun. Man darf getrost annehmen, dass jene, die heute ihre malawischen Nachbarn bedrohen, gestern noch lautstark die ghanaische Mannschaft anfeuerten, damit sie die Ehre Afrikas rette, nachdem Bafana-Bafana in der Vorrunde ausgeschieden war. Dennoch ist es zu einfach, jetzt in moralische Entrüstung zu verfallen. Wer nicht täglich in den südafrikanischen Armenvierteln ums Überleben kämpft und mit hilflosem Neid auf die bescheidenen Erfolge der Immigranten in der Nachbarhütte schaut, dem fällt es leicht, Menschlichkeit und Toleranz anzumahnen. Selbstverständlich müssen diese Prinzipien auch im Slum gelten. Doch die Ursachen liegen nicht im mangelnden Verständnis, sondern in den unverändert harschen ökonomischen Realitäten der südafrikanischen Gesellschaft – gepaart mit einer anhaltenden Einwanderungswelle. Millionen Flüchtlinge haben keine andere Wahl, als in Gemeinden Fuß zu fassen, in denen die Ressourcen besonders knapp, die Arbeitslosenquoten besonders hoch und die Lebensperspektiven besonders schlecht sind. Südafrikas wirtschaftliche und soziale Probleme zu lösen, wird selbst mit bestem Willen noch Jahrzehnte dauern. Das Mindeste, was die Regierung heute unternehmen kann, ist, klarzumachen, dass die Zeit des kollektiven Wegschauens vorbei ist. Derzeit patrouillieren Polizisten und Soldaten in den gefährdeten Gebieten – ein erster Schritt, ein erstes Signal. Nun geht es darum, die Täter zügig vor Gericht zu stellen. Dass die Justiz funktioniert, haben die WM-Sondergerichte gezeigt, die mit nie da gewesener Effizienz Kriminelle aburteilten, die sich an Touristen und Journalisten vergriffen hatten. Offensichtlich existieren unterschiedliche Prioritäten: Der Raub an einem kongolesischen Flüchtling erregt bei weitem nicht die gleiche Empörung wie der Überfall auf einen US-Touristen. Der Preis für die südafrikanische Regierung, in puncto WM-Sicherheit als Versager dazustehen, war hoch. Entsprechend hat sie gehandelt. Doch ein Sport-Großereignis zu sichern, ist eine Sache – eine andere, seine eigene Bevölkerung davon zu überzeugen, dass Menschenrechte und Gesetze für mehr als nur vier Wochen gelten. Corinna Arndt ist Journalistin und lebt in Johannesburg.
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Titel: Polizeigewalt in Deutschland
Die Polizei soll den Rechtsstaat schützen, notfalls auch mit Gewalt. Was aber geschieht, wenn die Gesetzeshüter selbst das Gesetz missachten, ohne dafür belangt zu werden? Ein Bericht von Amnesty International dokumentiert zahlreiche Fälle von Polizeigewalt und beschreibt, warum kaum einer der mutmaßlichen Täter sich dafür verantworten muss.
Gleich geht die nächste Übung los. Polizeischüler in der Polizeidirektion für Ausund Fortbildung des Landes Schleswig-Holstein. Reportage Seite 34. Foto: Bernd Hartung
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Schwarzer Block. Bundespolizisten auf dem Weg zu einer Gegendemonstration w채hrend des G8-Gipfels in Heiligendamm, 6. Juni 2007.
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Foto: Johannes Eisele / dpa
Befangene Beamte
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polizeigewalt in deutschland
Manchmal ändert sich ein Leben in wenigen Momenten. So wie bei dem jungen Mann, der sich Ende April vergangenen Jahres mit Freunden an einem Kiosk traf. Als plötzlich Polizisten auftauchten, rannte er weg, weil er sich illegal in Deutschland aufhielt. Die Beamten verfolgten ihn und verletzten ihn bei der Festnahme so stark, dass er sein rechtes Augenlicht verlor. Obwohl der Mann der Polizei vorwarf, ihn mehrmals ins Gesicht geschlagen zu haben, nahm die Staatsanwaltschaft keine Ermittlungen auf. Was an dem Tag tatsächlich geschah, wurde nie aufgeklärt. Einige Wochen später informierte sein Bruder Amnesty International über den Vorfall. Solche Berichte haben uns immer wieder erreicht. Einige davon haben wir sehr genau recherchiert. Unser Ergebnis ist beunruhigend. Auch wenn die große Mehrheit der Polizeibeamten in Deutschland gute Arbeit leistet, so gibt es doch eine besorgniserregende Zahl von Misshandlungsvorwürfen. In knapp 3.000 Fällen ermittelte die Staatsanwaltschaft im Jahr 2009 gegen Polizisten und Polizistinnen. Der neue Bericht von Amnesty International dokumentiert: Auch in Deutschland gibt es Beschwerden gegen Polizeibeamte wegen Misshandlung oder unverhältnismäßiger Gewalt. Beunruhigend ist, dass die Fälle oft nicht ausreichend untersucht werden. Dazu ist Deutschland aber verpflichtet: denn alle ernst zu nehmenden Vorwürfe müssen umfassend ermittelt und aufgeklärt werden. Oft aber bleiben Täter straflos. So ist es nicht verwunderlich, dass manche Opfer resignieren und das Vertrauen in die Polizei verlieren. Manchmal werden Ermittlungen gar nicht erst eingeleitet, manchmal kann der beteiligte Beamte nicht ermittelt werden, weil er zum Zeitpunkt des Vorfalls einen Helm oder eine Maske trug. In einem Fall, den Amnesty dokumentiert hat, ermittelte sogar ein Polizist zu Vorwürfen, die sich gegen ihn selber richteten. Dass der Eindruck der Befangenheit entsteht, wenn die Polizei gegen sich selbst ermittelt, ist in den vergangenen Jahren international anerkannt worden. So erstaunt es nicht, dass immer mehr Menschenrechtsexperten, wie der Menschenrechtskommissar des Europarates, empfehlen, institutionell und personell unabhängige Untersuchungsstellen einzurichten, die an Stelle der Polizei ermitteln. Einige europäische Länder sind dieser Empfehlung bereits gefolgt, zum Beispiel England, Norwegen und Irland. Auch Deutschland sollte sich diesem Modell anschließen, damit Fälle wie die des jungen Mannes schnell und umfassend aufgeklärt werden können. Katharina Spieß ist Referentin für Polizei und Menschenrechte der deutschen Amnesty-Sektion.
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Täter: unbekannt Trotz zahlreicher Klagen wegen mutmaßlicher Übergriffe und Misshandlungen durch Polizisten kommt es selten zu einer Verurteilung. Ein aktueller Bericht von Amnesty International dokumentiert, warum die meisten Ermittlungen im Sande verlaufen. Von Anton Landgraf
Kein Durchkommen bei der Polizei. Straßensperre bei einer Demonstration in Hamburg, Mai 2007.
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s ist einer der wärmsten Tage des Jahres, als der Verdächtige auf dem Schlossplatz in Stuttgart von zwei Polizisten angesprochen wird. Wie üblich drängen sich auf der breiten Einkaufsmeile zahlreiche Passanten. Die Beamten verlangen von dem 39-jährigen J.E. den Personalausweis, weil sie ihn verdächtigen, ein T-Shirt gestohlen zu haben. Eigentlich keine große Sache, denn solche Bagatelldelikte werden täglich zu Dutzenden gemeldet. Doch was dann geschieht, ist alles andere als alltäglich. Obwohl J.E. den Beamten sofort seinen Ausweis zeigt, reagieren diese völlig ungehalten. Sie stoßen den Verdächtigen herum, werfen seine Einkäufe auf die Straße und zwingen ihn, auf dem belebten Platz seine Hose auszuziehen. Er wird in Handschellen abgeführt und auf dem Weg zur Polizeiwache getreten und bedroht. Als er sich später in der Zelle weigert, ein Dokument zu unterzeichnen, das er gar nicht gelesen hatte, eskaliert die Situation. »Daraufhin trat mir ein Polizist in die Lebergegend und schlug mir mit der Faust ins Gesicht. Ich bat darum, einen Arzt zu sehen. Dieser Bitte kam man allerdings nicht nach«, berichtete J.E. gegenüber Amnesty International. Kurz nach dem Vorfall durfte er zwar die Wache verlassen, die Schmerzen aber blieben. Zwei Tage später wurde J.E. wegen eines Kieferbruchs operiert. Die Geschichte von J.E. ist nur eine von vielen, die Amnesty International in dem aktuellen Bericht »Täter unbekannt – mangelnde Aufklärung von mutmaßlichen Misshandlungen durch die Polizei in Deutschland« dokumentiert. Mehr als 850 Beschwerden über Probleme mit der Polizei erreichten Amnesty in den vergangenen fünf Jahren, von denen 160 Fälle genauer recherchiert wurden. Die betroffenen Polizeidienststellen wurden angeschrieben, Mitarbeiter von Amnesty sprachen mit Staatsanwälten und Zeugen und fungierten gelegentlich als Prozessbeobachter. Amnesty ist sich dessen bewusst, dass die meisten Beamten ihre schwierige und oft auch gefährliche Aufgabe professionell
ausüben. Dennoch belegen die vielen Vorwürfe über rechtswidrige Polizeigewalt, dass es sich um ein ernst zu nehmendes Problem handelt. Immer wieder werden Menschen von Polizisten misshandelt, oft mit schwerwiegenden Folgen für die Opfer. Wie im Falle des E.R., der mitten in der Nacht in seiner Wohnung von einem Spezialkommando festgenommen wurde. Der 17-Jährige wurde verdächtigt, einen bewaffneten Raubüberfall auf einen nahe gelegenen Supermarkt begangen zu haben. Die Polizisten brachen die Eingangstür auf und stürmten in sein Schlafzimmer. Über die anschließenden Ereignisse gehen die Darstellungen weit auseinander. Fest steht nur, dass E.R. mehrfache Verletzungen an Kopf und Nase, im Gesicht und am Oberkörper sowie an den Nieren davontrug. Der Jugendliche schilderte seine Festnahme als einen wahren Alptraum: Er habe einen Knall gehört, dann habe man ihn im Bett festgehalten, ihm den Mund zugehalten und insgesamt etwa 30 Mal geschlagen. Die Polizisten behaupteten hingegen, er sei gegen ein Schild gelaufen, das die Beamten zu ihrem Schutz bei sich trugen – er habe sich sozusagen die Verletzungen selbst zugefügt. Dass der ursprüngliche Verdacht gegen den Jugendlichen offensichtlich unbegründet war, spielte zu diesem Zeitpunkt schon fast keine Rolle mehr: Der Mitarbeiter des Supermarktes, auf dessen Hinweis die Festnahme erfolgte, erkannte ihn bei einer Gegenüberstellung nicht wieder. Die Misshandlungen belasten die Opfer oft lange Zeit. So wurde bei E.R. eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) diagnostiziert. Doch mindestens ebenso gravierend ist der Umstand, dass die Vorfälle meistens nicht aufgeklärt werden. Erstattet ein mutmaßliches Opfer Anzeige gegen Polizisten, dann übernimmt zwar die Staatsanwaltschaft das Verfahren. Die eigentlichen Untersuchungen führt jedoch die Polizei selber durch, die Beamten müssen also gegen ihre eigenen Kollegen ermitteln. Auf Grundlage dieser Ergebnisse entscheidet die Staatsanwaltschaft über den Fortgang des Verfahrens – und stellt es in den meisten Fällen ein.
Foto: Dagmar Schwelle / laif
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So kam es zwischen 2006 und 2008 in Berlin gerade mal zu 13 Verurteilungen, obwohl in diesem Zeitraum über tausend Anzeigen wegen Körperverletzungen durch Polizisten vorlagen. In Hessen wurden in einem Zeitraum von zwei Jahren 490 Verfahren wegen rechtswidriger Übergriffe eingeleitet, gerade mal sechs endeten mit einer Verurteilung. Umgehende, unparteiische, unabhängige und umfassende Untersuchungen aller Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei sind dem Bericht von Amnesty zufolge nicht gewährleistet. Wenn jedoch die Gesetzeshüter das Gesetz verletzen können, ohne deswegen belangt zu werden, sind fatale Folgen unvermeidbar: Das Vertrauen der Öffentlichkeit, dass niemand, auch nicht die Polizei, über dem Gesetz steht, wird erschüttert. Gerade wenn einer Institution wie der Polizei Misshandlungen vorgeworfen werden, muss der Staat besonders gründlich ermitteln. Eine bundesweit einheitliche Statistik über Strafanzeigen gegen Polizisten wegen Körperverletzung im Amt gibt es aber erst seit dem vergangenen Jahr. Im Juni wurden die Zahlen für 2009 veröffentlicht. Demnach wurden 2.955 Ermittlungen
eingeleitet, u.a. wegen Tötungsdelikten, Gewaltanwendung und Amtsmissbrauch. Hinzu kommt, dass es insbesondere bei Großeinsätzen, etwa bei Demonstrationen oder Fußballspielen, kaum möglich ist, Polizisten zu identifizieren. Die Beamten sind dann unter ihren Helmen, oder, wie bei Spezialkommandos, unter Gesichtsmasken, nicht mehr zu erkennen. Eine persönliche Kennzeichnung einzelner Polizisten durch Namensschilder oder eine individuelle Nummer ist wiederum nirgends vorgeschrieben. Täter unbekannt: Kommt es zu Übergriffen, dann weiß das mutmaßliche Opfer nicht, mit welchen Beamten es zu tun hat. Entsprechende Anzeigen verlaufen daher meist im Sande. Auch im Falle des mutmaßlichen Ladendiebs J.E. aus Stuttgart stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren ein. Es sei nicht zu beweisen, dass er seinen Kiefer nicht bereits vor der Festnahme gebrochen habe, hieß es zur Begründung. Dabei war eine Zeugin, die J.E. angegeben hatte, von der Staatsanwaltschaft nicht einmal befragt worden. Sein Anwalt legte deswegen Beschwerde gegen die Einstellung des Verfahrens ein und benannte zudem eine Ver-
Keine unabhängigen Ermittlungen. Nur 13 Verurteilungen bei über tausend Anzeigen gegen Berliner Polizisten wegen Körperverletzung.
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amnesty journal | 08-09/2010
Foto: Bodo Marks / dpa
Im vergangenen Jahr wurden 2.955 Ermittlungen eingeleitet, u.a. wegen Tötungsdelikten, Gewaltanwendung und Amtsmissbrauch.
Foto: R. Wolf / plainpicture
Ohne Namen. Die Beamten 34, 34 und 34 nehmen nach Ausschreitungen in der Hamburger Innenstadt einen mutmaßlichen Randalierer fest.
käuferin, die kurz vor der Festnahme J.E. noch beim Essen beobachtet hatte. Die Beschwerde wurde jedoch abgewiesen: Weil der Beschuldigte einen Bart trug, seien die Beobachtungen nicht aussagekräftig. Immerhin erreichte der Anwalt über eine Klageerzwingung, dass sich das Oberlandesgericht Stuttgart noch mit dem Fall beschäftigte. Nur selten landet ein Verfahren vor Gericht. Und wenn doch, dann endet es oft wie im Fall von J.E.: Zwei Jahre nach dem Vorfall wurden die angeklagten Beamten freigesprochen, weil der genaue Tathergang nicht mehr zu klären war. Die Strafanzeige des 17-jährigen E.R. aus Berlin blieb ebenfalls erfolglos. Die Staatsanwaltschaft wollte zunächst die Anonymität der Mitglieder des Spezialkommandos nicht lüften, weil dies die Beamten gefährden könnte. Als das Berliner Kammergericht das Verfahren dann doch zuließ, erschienen in der Verhandlung drei der vier Beschuldigten mit Gesichtsmasken. Weil die Beamten übereinstimmend erklärten, dass E.R. gegen das Schild gelaufen sei, sprach der Richter sie frei. Bemerkenswert war das Urteil dennoch. Der Richter kritisierte darin die schweren Defizite bei der polizeilichen Ermittlung. Er forderte den Polizeipräsidenten von Berlin auf, künftig Ermittler einzusetzen, die einer solch schwierigen Aufgabe gewachsen seien. Schließlich obliege es ihnen zu untersuchen, ob diejenigen, die mit der Durchsetzung des Gewaltmonopols des Staates betraut seien, auch selbst rechtmäßig handelten. Den vollständigen Bericht und weitere Informationen finden Sie auf www.amnesty.de/polizei
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forderungen von amnesty international Individuelle Kennzeichnungspflicht: Die persönliche Identifizierung, zum Beispiel durch das sichtbare Tragen eines Namens oder einer Nummer, holt Täter aus der Anonymität. Sie verbessert die effektive Strafverfolgung von Polizisten bei Misshandlungen oder sonstigen Gesetzesverstößen. Unabhängige Untersuchung: Statt einer polizeilichen Untersuchung sollen unabhängige Ermittler den Vorwürfen nachgehen und Gerichtsurteile bewerten. Ihre Aufgabe ist es, Vorwürfe gegen Polizisten wegen Misshandlungen umgehend, unabhängig, unparteiisch und umfassend zu ermitteln. Sie müssen personell und finanziell unabhängig sein und über entsprechende Rechte wie die Akteneinsicht verfügen. Menschenrechtsbildung: Die Menschenrechtsbildung für Polizeibeamte soll gestärkt und weiter verbessert werden. Insbesondere soll sie regelmäßig und praxisorientiert durchgeführt werden. Videoüberwachung von Polizeidienststellen: In den Zellenbereichen soll die Videoüberwachung ausgeweitet werden, sofern dadurch keine Persönlichkeitsrechte oder das Recht auf vertrauliche Gespräche verletzt wird. Dadurch sollen mögliche Übergriffe verhindert oder zumindest dokumentiert werden. Die Aufzeichnungen sollen über einen angemessenen Zeitraum an einem sicheren Ort verwahrt werden.
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»Das Vertrauen ist weg, die Angst ist da« Almuth Wenta kam am 1. Mai 2007 von einem Straßenfest in Berlin-Kreuzberg, als sie in einen Polizeieinsatz geriet. Ein Beamter schlug die damals 30-Jährige grundlos zusammen. Der Täter konnte nie ermittelt werden. Amnesty International schildert ihren Fall im aktuellen Bericht über rechtswidrige Polizeigewalt in Deutschland. Was ist damals genau passiert? Ich hatte gemeinsam mit einer Freundin das traditionelle MaiStraßenfest in Berlin-Kreuzberg besucht. Die Stimmung war entspannt. Gegen 23.30 Uhr machten wir uns auf den Heimweg, der über die Oranienstraße führte. Dort war die Situation sehr angespannt, es gab Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Randalierern. Vereinzelt flogen Flaschen, die Polizei rückte vor und zog sich schnell wieder zurück. Wir wollten über den breiten Bürgersteig schnell vorbei, doch dort standen schon andere Passanten, die nicht weiterkamen. Wir beschlossen, vor einem Hauseingang stehen zu bleiben und zu warten. Wir waren absolut friedlich und provozierten auch niemanden. Plötzlich,
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ohne jeden ersichtlichen Grund, wurde gezielt Tränengas in unsere Richtung gesprüht. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie eine Gruppe Polizisten auf uns zu rannte. Dann ging alles sehr schnell. Ich spürte vier Schläge mit dem Schlagstock: in die Kniekehle, auf den Oberschenkel und zwei Mal in die Rippen. Ich ging schon nach dem ersten Schlag sofort zu Boden, bei dem zweiten spürte ich, dass etwas gebrochen war. Ich verlor für einige Minuten das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir kam, lag ich im Hauseingang, hing am Tropf und trug eine Atemmaske. Wie schwer waren Sie verletzt? Im Krankenhaus stellte man noch in derselben Nacht fest, dass
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Foto: Thomas Rassloff
»Ich dachte, der Polizist schlägt mich tot.« Nach dem Angriff eines Beamten liegt Almuth Wenta schwer verletzt am Boden. Berlin, 1. Mai 2007.
eine Rippe gebrochen war. Erst am nächsten Morgen wurde ich mit Schmerzmitteln und Stimmungsaufhellern nach Hause geschickt. Drei Wochen lang nahm ich diese starken Mittel ein und musste ruhig liegen. Insgesamt konnte ich fünf Wochen nicht arbeiten. Erst später bemerkte ich, dass mich der Angriff traumatisiert hatte. Ich fühlte mich diesem Polizisten völlig ausgeliefert. Im ersten Moment dachte ich sogar, er würde mich totschlagen. Dieses Gefühl der Hilflosigkeit hielt noch lange an. Ich litt unter Schlaf- und Essstörungen und Geräuschempfindlichkeit, später kamen Angstzustände hinzu. Das ging so weit, dass ich selbst beim dickbäuchigsten Streifenpolizisten, der Knöllchen verteilte, die Straßenseite gewechselt habe. Ich fühlte mich sofort bedroht. Konnten Sie erkennen, wer Sie geschlagen hatte? Nein, die Polizisten trugen Helme und verstärkte Uniformen. Aufgrund der Bewegungen und der Statur gehe ich davon aus, dass es ein Mann war. Auf Video- und Fotoaufnahmen sieht man, dass unmittelbar nach dem Vorfall 13 Polizisten einer Berliner Hundertschaft um mich herum standen. Darunter befand sich wahrscheinlich auch der Täter. Im Juli 2007 erhielt ich vom Land Berlin eine finanzielle Entschädigung. Zeugen hatten meine Version des Tathergangs bestätigt. Den Angreifer konnte allerdings niemand identifizieren. Die Polizisten waren nicht individuell gekennzeichnet, was die Sache nicht leichter machte. Am 3. Mai 2007 erstatteten Sie Anzeige gegen Unbekannt wegen Körperverletzung im Amt. Wie hat die Polizei reagiert?
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Sehr schnell, weil der öffentliche Druck enorm war. Die Medien berichteten ausführlich über meinen Fall. Amnesty International, wo ich damals als Referentin arbeitete, forderte eine zügige Aufklärung. Die Staatsanwaltschaft und das Landeskriminalamt (LKA) Berlin wollten die Tat unbedingt aufklären, aber die Ermittlungen verliefen ergebnislos. Keiner der beteiligten Polizisten sagte zur Sache aus. Die Beamten wurden befragt, hatten aber angeblich zum besagten Zeitpunkt nichts gehört und nichts gesehen. Ein gleichzeitiger Blackout von 13 Polizisten – an solche Zufälle kann und möchte ich nicht glauben. Diese Beamten haben ein falsches Verständnis davon, was es heißt, Polizist zu sein. Sie sollen die Bürger schützen und nicht ihre Kollegen. Dank des öffentlichen Drucks war ich in einer relativ privilegierten Position. Doch, wenn selbst in meinem Fall kein Täter ermittelt werden konnte, wie sollen sich dann Betroffene wehren, die über gar keine Lobby verfügen, wie Obdachlose, Punker oder Ausländer? Wie verlief die Vernehmung bei der Polizei? Bereits einen Tag nach der Anzeige lud mich das LKA zur Zeugenvernehmung. Das war keine angenehme Atmosphäre. Schon die Anwesenheit im Polizeigebäude war belastend. Das ist ungefähr so, wie wenn man von einem Hund gebissen wird und danach in einen Hundezwinger muss. Zudem führte das Gespräch ein Polizist und somit ein Kollege des Täters. Ich fragte mich immer wieder: Vielleicht kennen sich die beiden, fahren zusammen zum Kegeln oder sie teilen sich eine Doppelhaushälfte. Und abends reden sie dann über mich. Im November 2007 teilten Ihnen die Behörden mit, dass das Verfahren eingestellt wurde, weil der Täter nicht zu ermitteln war. Wie haben Sie diese Entscheidung aufgenommen? Ich war maßlos enttäuscht und wütend. Es belastet mich sehr, dass die Tat nicht aufgeklärt wurde und ungesühnt bleibt. Das ist in doppelter Hinsicht ein verheerendes Signal. Den Betroffenen zeigt es, dass sie gegen den Übergriff eines Polizisten so gut wie nichts machen können. Und den Beamten, die rechtswidrig Gewalt anwenden, zeigt es: Du kommst damit durch. Dabei gibt es viele Polizisten, die ihren Job gut erledigen. Und ich bewundere diejenigen ein Stück weit, die sich jeden 1. Mai in Berlin oder anderswo zwischen Linke, Rechte, Möchtegern-Hooligans und Betrunkene stellen. Die Polizisten haben auch Kinder und einen Partner zu Hause, die sich Sorgen machen. Aber es gibt eben auch einige, die ihre Aufgabe falsch verstehen und die gefährlich sind. Sie können mit der Macht, die ihnen der Staat gibt, nicht richtig umgehen. Das darf nicht sein. Hat sich Ihr Bild von der Polizei geändert? Ich habe mittlerweile Angst vor Polizisten, und versuche, jeden Kontakt mit ihnen zu vermeiden. Ich gehe nicht bei Rot über die Ampel, und wenn ich auch nur ein kleines Bier getrunken habe, überlege ich mir drei Mal, ob ich noch aufs Fahrrad steige. Der Anblick von Bereitschaftspolizisten, zum Beispiel bei Sportveranstaltungen, löst in mir Panik aus. Am 1. Mai 2007 bin ich das erste und einzige Mal in meinem Leben Opfer von Gewalt geworden. Und ausgerechnet von einem Polizisten, einem Repräsentanten des Staates, der mich ja eigentlich schützen sollte. Vorher dachte ich, so etwas kann mir nie passieren. Dieses Vertrauen ist nun weg, und die Angst ist da. Fragen: Daniel Kreuz
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»Niemand ermitt gerne gegen sich Kennzeichnungspflicht für Beamte und unabhängige Ermi Ein Streitgespräch zwischen Monika Lüke, Generalsekretär und Konrad Freiberg, Vorsitzender der Gewerkschaft der P Lüke: Die Polizei gehört zu den wenigen Staatsorganen, die Gewalt ausüben dürfen. Deshalb müssen wir genau hinsehen. Das haben wir gemacht, und uns fiel auf, dass in vielen Fällen die Ermittlungen gegen Polizisten im Sande verlaufen, weil die Beamten nicht identifiziert werden können. Deshalb fordern wir als eine Maßnahme die allgemeine Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamte. Freiberg: Natürlich muss staatliches Handeln in einem Rechtsstaat immer überprüfbar sein. Aber dazu bedarf es nicht der Kennzeichnungspflicht. Die Polizei bei uns in Deutschland geht offen mit dem Bürger um, wird vom Bürger bezahlt und orientiert sich immer am Bürgerwillen. Wir genießen eine sehr große Zustimmung in der Öffentlichkeit. Darauf sind wir stolz. Im Alltag spielt die Frage nach der Kennzeichnung keine Rolle, und viele Polizisten sind auch im Alltag mit Namensschild versehen. Die Diskussion um die Kennzeichnungspflicht kommt nur bei geschlossenen Einsätzen auf, typischerweise bei Demonstrationen, wie etwa am 1. Mai in Berlin oder Hamburg. Die Polizei sieht bei diesen Einsätzen durch ihre Schutzkleidung martialisch aus. Diese Schutzkleidung ist aber lebensnotwendig, denn die Gewalt gegen die Polizei wächst und wird immer brutaler. Da stellen sich für uns ganz andere Fragen, nämlich die nach einem besseren Schutz für die Polizei. Wenn sich unsere Einsatzkräfte wehren, kommen Klagen, die Polizei habe unverhältnismäßige Gewalt angewendet. Das sind sicher die Fälle, auf die Sie anspielen. Lüke: Nicht nur. Es gibt auch Fälle, in denen eine Diskothek gestürmt wird, weil jemand gesucht wird, und dann Unbeteiligte verletzt werden. Die Polizisten, die dort geprügelt haben, konnten nie ermittelt werden, weil sie Masken und Helme trugen. Deswegen denken wir, dass eine Kennzeichnung sinnvoll ist. Freiberg: Aber bei einer Gewahrsamsnahme steht in der Regel fest, wer wo was macht. Mir ist kein Fall in Berlin in den vergangenen Jahren bekannt, wo hinterher der beschuldigte Kollege nicht festgestellt werden konnte. Es wird ja heutzutage fast jeder Einsatz mit Video aufgezeichnet. Lüke: Aber wenn er sowieso identifiziert wird, warum dann keine Kennzeichnung an der Uniform? Freiberg: Weil es dann auch privat zu Bedrohungen kommt. Sie sollten mal lesen, wie Kollegen schon jetzt im Internet übelst beschimpft werden und wie mit Fotos nach ihnen gefahndet wird. Aus diesen Gründen lehnen alle Kollegen bei geschlossenen Einsätzen die Kennzeichnung ab. Das Risiko, das der Einzelne eingeht, ist einfach zu groß. Lüke: Aber mit Nummern wäre das doch nicht der Fall. Freiberg: Wenn Sie die Berliner Kollegen fragen, die wirklich ohne Ausnahme jedes Wochenende die Einsätze fahren, dann sagen die: Kommt gar nicht in Frage. Man muss
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elt selbst« ttlungen bei Übergriffen: Wie viel Kontrolle braucht die Polizei? in der deutschen Sektion von Amnesty International, olizei (GDP). ja immer sehen, dass die Gewalt gegen Polizisten ein Ausmaß angenommen hat, das früher undenkbar war. Und wenn der Polizist das Gefühl hat, er gefährdet sich und seine Familie auch privat, dann schreitet er nicht mehr ein oder zu spät. Lüke: Damit keine Missverständnisse aufkommen: Wir sind gegen Gewalt gegen Polizisten. Und die muss und wird ja auch bekämpft und die Täter zur Rechenschaft gezogen. Aber wir müssen als zivilgesellschaftliche Organisation die anderen Fälle aufnehmen, in denen Staatsorgane im Verdacht stehen, jemanden misshandelt zu haben und dann die Strafverfolgung nicht funktioniert. Ich sehe aber nicht, dass durch die Kennzeichnung ein Nachteil für den einzelnen Polizisten entsteht. Im Gegenteil, es würde auch falschen Vorwürfen gegen die Polizei vorgebeugt. Freiberg: Nein, denn die Anzeigen, die nicht gerechtfertigt sind, die bleiben ja. Lüke: Das glaube ich nicht. Wenn Sie eine Einheit haben und Ihre Kamera wird kaputt geschlagen und Sie wissen, das war die Einheit X5. Sie haben fünf Polizisten, zum Glück geschützt, mit Helm. Dann erstatten Sie eine Anzeige, auch aus zivilrechtlichen Gründen, gegen alle fünf. Wenn Sie sich aber erinnern können, dass es X51 und X52 waren, die Ihnen direkt gegenüberstanden mit Knüppeln, dann machen Sie das im Zweifel nur gegen X51 und X52. Freiberg: Das gewährleistet schon das heutige System. Wenn Sie eine Anzeige gegen die Einheit erstatten, wird intern ermittelt und Sie kriegen raus, wer das war. Lüke: Da kommen wir zu unserer zweiten Forderung, die nach unabhängiger Ermittlung. Freiberg: Was meinen Sie mit einer unabhängigen Ermittlung? Die Beamten der internen Ermittlungen stehen nicht in dem Ruf, parteiisch zu sein. Und dass Staatsanwaltschaften in solchen Fällen polizeifreundlich wären, ist mir auch neu. Legitimierte Enquete-Kommissionen und Untersuchungsausschüsse haben auch nicht Foto: Philipp von Recklinghausen / lux
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»Wir sehen das größte Problem darin, dass bei Ermittlungen gegen die Polizei oft nicht handwerklich sauber gearbeitet wird.« Monika Lüke diesen Ruf. Die Polizei ist umzingelt von Kontrollmechanismen, einschließlich der Medien. All denen Abhängigkeiten zu unterstellen, halte ich nicht für angemessen. Lüke: Das machen wir nicht. Aber wir kennen Fälle in Deutschland, in denen Beamte aus der gleichen Einheit ermittelt haben, und niemand ermittelt gerne gegen sich selbst. Beispiele aus anderen Staaten zeigen, dass Ermittlungen umfassender, schneller und unparteiischer geführt werden, wenn man eine unabhängige Untersuchungskommission hat. Freiberg: Den Grundgedanken verstehe ich durchaus. Man muss nicht von Corpsgeist sprechen, aber eine gewisse Geschlossenheit nach außen gibt es in allen Berufsgruppen. Das gilt für Amnesty International, für die Ärzte und auch für die Polizei. Aber nehmen Sie Kunstfehler bei Ärzten. Auch da untersuchen die Ärzte selbst. Wer soll es sonst machen? Ich bin sogar überzeugt, dass bei der Polizei die Kollegen viel mehr der Wahrheit verpflichtet sind als in anderen Bereichen. Deswegen sind fast alle Fälle, die durch die Medien gehen, auch durch Kollegen aufgeklärt worden. Natürlich muss man darauf achten, dass nie der Verdacht aufkommt, dass Verdächtiger und Ermittler unter einer Decke stecken. In Hamburg hat man deshalb eine Einheit geschaffen, die nur gegen die Polizei selbst ermittelt. Die Einheit hat bewusst gesagt, wir kappen die Drähte zum Rest der Polizei, die sind auch woanders untergebracht. Das geht soweit, dass die Kollegen sagen, das sind nicht unsere Kollegen. Lüke: Ja, Hamburg hat da einen großen Schritt in die richtige Richtung gemacht. In diese Richtung müssten die anderen Bundesländer auch gehen. Aber selbst in Hamburg ist die Einheit noch Teil der Polizei. Wir wollen eine institutionell völlig unabhängige Ermittlungsinstanz. Freiberg: Es kann nur jemand ermitteln, der das Polizeihandwerk gelernt hat und an Recht und Gesetz gebunden ist. Lüke: Richtig. Aber wir sehen das größte Problem darin, dass bei Ermittlungen gegen die Polizei oft nicht handwerklich sauber gearbeitet wird. Amnesty beschäftigt sich ja auch mit Polizeifragen in anderen europäischen Ländern. In Österreich haben wir dabei institutionellen Rassismus festgestellt. Was sich in Deutschland durchzieht, und was ich besorgniserregend finde, ist, dass es bei Vorwürfen gegen die Polizei Indizien gibt, dass die Ermittlungen nicht umfassend geführt werden, nicht unverzüglich und nicht unparteiisch. Ein Beispiel ist der Fall Özda-
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mar, ein drogenabhängiger und psychisch kranker Mann, der auf der Polizeiwache in Hagen starb. Da sagte die Staatsanwaltschaft einen Tag nach dem Vorfall, sie sehe kein Fehlverhalten der Polizisten. Das kann keine gründliche Ermittlung gewesen sein. Dadurch gerät auch die Polizei unnötig in Misskredit. Auch dieser Misskredit könnte durch unabhängige Untersuchungskommissionen vermieden werden, wie es sie zum Beispiel in Irland und Großbritannien gibt. Freiberg: Ich kann die Situation in anderen Ländern nicht beurteilen. Was Deutschland angeht: Natürlich ist nichts vollkommen, auch bei der Polizei nicht. Aber schon heute kennt der Kollege, der ermittelt, die Kollegen gar nicht, gegen die er ermittelt. Hier sehe ich also kein grundsätzliches Problem. Natürlich ist es für die Betroffenen unbefriedigend, wenn Verfahren eingestellt werden. Aber dass die Beweislage schlecht ist, gibt es auch in anderen Fällen. Aber das ist manchmal so im Rechtsstaat. Im Fall Hagen wurde sogar sehr gründlich ermittelt und nicht nur von der Polizei. Lüke: Das sehen wir in dem Fall anders. Aber Sie stimmen mir doch zu, dass man gründlich in alle Richtungen ermitteln muss. Freiberg: Ja, natürlich. Lüke: Aber das ist das größte Problem leider, dass nicht umfassend ermittelt wird. Freiberg: Das glaube ich nicht. Nach meinem Eindruck ermitteln die Polizisten ganz professionell und die Staatsanwaltschaft, die die Ermittlungen in diesen Fällen leitet, arbeitet genauso ordentlich und entscheidet hinterher, ob das Verfahren eingestellt oder Anklage erhoben wird. Und wenn jemand den Eindruck hat, hier sei nicht umfassend ermittelt worden, dann kann er dieses Verfahren auch überprüfen lassen. Lüke: Ja, das ist der normale Instanzenweg. Aber der Knackpunkt liegt darin, dass nicht umfassend und unverzüglich ermittelt wird und so Beweise verloren gehen. Deshalb empfiehlt der Europarat unabhängige Untersuchungskommissionen. Freiberg: Diese Diskussion muss auf der politischen Ebene geführt werden. Ich sehe Ihre Empfehlungen auch nicht als Angriff. Aber man muss versuchen, die Kollegen, die in der Praxis sehr schwierigen Situationen ausgesetzt sind, zu überzeugen. Und man muss sie vor unhaltbaren Vorwürfen schützen. Moderation: Ferdinand Muggenthaler
»Natürlich muss man darauf achten, dass nie der Verdacht aufkommt, dass Verdächtiger und Ermittler unter einer Decke stecken.« Konrad Freiberg amnesty journal | 08-09/2010
Konstruktive Spannung Warum es nicht immer einfach ist, Polizist und Mitglied von Amnesty International zu sein. Von Olaf Diedrich
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Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft ebenso wenig verschont wie couragierte S-Bahn-Fahrer. Hier hat der Staat gegenüber seinen Beamten einen Schutzauftrag. Im Einzelfall darf der Angriff aber nicht dazu führen, dass aus verständlicher Empörung die Verhältnismäßigkeit aus dem Blick gerät und ein Beamter, der rechtswidrig Gewalt anwendet, anschließend nicht zu ermitteln ist. Denn aus menschenrechtlicher Sicht ist ein (zu viel) schlagender Polizist etwas völlig anderes als ein betrunkener und gewalttätiger Fußballhooligan. Dem gewöhnlichen Straftäter steht ein Repräsentant des Staates gegenüber, dessen Handeln verantwortlich und überprüfbar sein muss. Daher nimmt Amnesty International auch in ihrem neuen Bericht »Täter unbekannt« lediglich zu polizeilichen Misshandlungen Stellung. Schließlich ist der Staat dazu verpflichtet, mögliche Menschenrechtsverletzungen schnell und effektiv zu untersuchen – auch und gerade bei denjenigen, deren Beruf es ist, die Gesetze zu hüten. Der Autor ist Polizist in Bielefeld und seit 1988 Mitglied von Amnesty International.
Foto: Peter Jülich / ip-photo
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ie Polizei ist übrigens die größte Menschenrechtsorganisation.« Diesen Satz des ehemaligen Leiters der Landespolizeischule Hamburg, Gerhard Müller, würde meine kleine Tochter wahrscheinlich unterschreiben. Für sie wie für zwei Drittel der Bundesbürger ist die Polizei etwas Gutes. Wenn sie Polizisten in den Medien sieht, die Menschenrechte verletzt haben, ist sie verunsichert. Der Hinweis auf »gemeine Polizisten«, auf Ausnahmen von der Regel, beruhigt sie kaum. Ihr Gerechtigkeitsgefühl ist schwer getroffen. Und tatsächlich: Setzt sich die Polizei, z.B. im Falle von häuslicher Gewalt, nicht genau für die Rechte ein, die Amnesty International immer fordert: Die körperliche Unversehrtheit der von Gewalt Betroffenen? Dennoch erleben Amnesty-Mitglieder Polizisten eher in einer anderen Rolle: als Exekutive einer repressiven Politik, die sich vielfacher Menschenrechtsverletzungen bedient, um autoritäre Ziele durchzusetzen. Gleichzeitig Polizist und Mitglied von Amnesty zu sein, ist nicht immer einfach. Menschenrechtsbildung für Polizisten anzubieten, hielt mancher bei Amnesty für ein sinnloses Unterfangen. Andere fragten besorgt: »Darfst du als Polizist eigentlich bei Amnesty mitarbeiten?« Ein Polizeigewerkschafter versicherte mir vorauseilend seine Solidarität für den Fall, »…dass man dir mal was will…!« Doch beim Amnesty-Infostand meiner Gruppe erschienen kürzlich wieder drei Kollegen. Das Interesse ist also vorhanden. Wir haben innerhalb der deutschen Amnesty-Sektion 1993 eine Gruppe zum Thema Polizei gegründet. Seitdem beschäftigten wir uns unter anderem mit den Folgen von deutscher Polizeientwicklungshilfe im Ausland. Nicht immer wird diese Ausrüstungs- oder Ausbildungshilfe dazu verwendet, den menschenrechtlichen Standard im Zielland zu verbessern. Oft führt das zusätzliche Wissen lediglich zu einer effektiveren Verfolgung von »Abweichlern«. Wir engagieren uns auch für Kollegen und Kolleginnen im Ausland, die Opfer von Menschenrechtsverletzungen wurden, weil sie sich gewerkschaftlich engagierten oder Missstände in den eigenen Reihen aufdeckten. Unser Hauptaugenmerk liegt dabei auf den Briefappellen, um Beamte, die für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind, von »Kollege zu Kollege« anzusprechen. So wollen wir vermeiden, als realitätsferne Gutmenschen angesehen zu werden. Denn machen wir uns nichts vor: Zur Durchsetzung des (immens wichtigen) staatlichen Gewaltmonopols gehört manchmal auch eigene Gewaltanwendung! Aber: Wenn die Hände auf dem Rücken sind, ist Schluss. Nachtreten haben wir nicht nötig! Was aber, wenn das polizeiliche Gegenüber zum Angriff übergeht? Wenn ein Ultra glaubt, er könne seinen Fußballverein unterstützen, indem er Polizisten mit Holzlatten attackiert? Nach der aktuellen Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen zur »Gewalt gegen Polizeivollzugsbeamte« nehmen solche Angriffe ebenso zu wie die Schwere der dabei erlittenen Verletzungen. Die Polizei bleibt von der steigenden
Kein Nachtreten, wenn die Hände auf dem Rücken sind. Polizeieinsatz bei einer Demonstration.
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Angetreten. Nadine Kurz (Zweite von rechts) und ihre Kollegen vor dem Beginn des Einsatztrainings in Eutin.
Wir sind Polizei In welche Grundrechte greife ich als Polizist ein, wenn ich jemanden festnehme? Wie feuere ich eine Waffe ab? Wann darf ich den Schlagstock einsetzen? Daniel Kreuz (Text) und Bernd Hartung (Fotos) haben Polizeianw채rter in Schleswig-Holstein zwei Tage lang begleitet.
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»Wir zivilen Lehrer sind hier ganz klar die Exoten. Und so mancher Uniformierter belächelt uns sicherlich auch ein wenig.«
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rgendwo hier muss der Mann sein. In aller Eile durchsucht die Polizistin Nadine Kurz zusammen mit drei Kollegen die Werkstatt. Der Lärm ist ohrenbetäubend, immer wieder heulen Pressluftschrauber auf, es riecht nach Öl und Abgasen. Es fällt schwer, sich in der großen Halle zwischen den aufgebockten Fahrzeugen auf den Hebebühnen und den vielen Geräten zu orientieren. Wie der Gesuchte genau aussieht, wissen die Polizisten nicht. Nur, dass er hier arbeitet. Und dass er kein angenehmer Zeitgenosse zu sein scheint: wegen gefährlicher Körperverletzung, Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung hätte er heute eine Haftstrafe antreten sollen. Doch ist er nicht im Gefängnis erschienen. Dafür sollen nun Nadine Kurz und ihre Kollegen sorgen. Nach langen Minuten haben sie ihn endlich gefunden. Die Verhaftung verläuft reibungslos. Im Gefängnis wird der Gesuchte aber trotzdem niemals ankommen. Denn er ist in Wirklichkeit ein Ausbilder der Landespolizei Schleswig-Holstein, der den Kriminellen nur mimt, und die Werkstatt steht auf dem Gelände der Polizeidirektion für Aus- und Fortbildung der Bereitschaftspolizei des Landes Schleswig-Holstein in Eutin. Nadine Kurz ist eine von rund 150 Polizeischülerinnen und -schülern, die das erste Jahr der Grundausbildung für den mittleren Dienst fast hinter sich haben. Die angehenden Polizisten werden in Strafrecht, Selbstverteidigung, Schießen und Psychologie unterrichtet, zu ihren Fächern gehören aber auch Deutsch, Englisch, Sport sowie Staats- und Verfassungsrecht. Außerdem gibt es Rollenspiele und Einsatztrainings, so wie heute. In wechselnden Teams müssen die Schüler vier Einsätze absolvieren: Neben der Vollstreckung eines Haftbefehls geht es um Ruhestörung, Körperverletzung und Diebstahl. Am Ende der Ausbildung sollen sie in der Lage sein, selbstständig und eigenverantwortlich zu handeln. Und daher bestimmen die Polizeischüler selbst, wie sie im Einsatz vorgehen. Auch darüber, von welcher Seite sie sich der Werkstatt nähern wollen. »Wir fahren von links vor«, schlägt Nadine Kurz vor. »Aber das ist doch eine Einbahnstraße, von der Seite dürfen wir gar nicht kommen«, entgegnet ihr Kollege. »Doch, wir sind Polizei.« Die Schüler sollen bei diesen Trainings alles anwenden, was sie bis dahin gelernt haben. Insgesamt dauert die Ausbildung zweieinhalb Jahre, sie ist in drei Abschnitte gegliedert: Im ersten Jahr erfolgt die Grundausbildung, im zweiten Jahr gibt es neben der fachlichen Ausbildung ein sechsmonatiges Berufspraktikum auf einem Polizeirevier oder einer anderen Dienststelle. Danach kehren die Polizeischüler wieder sechs Monate nach Eutin zurück, um ihre Abschlussprüfung abzulegen. Das 35 Hektar große Gelände liegt wenige Autominuten vom Eutiner Zentrum entfernt auf einer Anhöhe, umgeben von Wäl-
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dern und Wiesen. Der Rasen vor den rot geklinkerten Gebäuden aus den Fünfzigerjahren ist frischt gemäht, die Hecken sind akkurat geschnitten. In den Fenstern sieht man Sportpokale, zum Trocknen aufgehängte Handtücher oder schwarz-rot-goldene Blumenketten. Fast könnte man meinen, man blicke auf ein Studentenwohnheim – hinge nicht im nächsten Fenster eine schusssichere Weste. Ein 36-jähriger ehemaliger Zeitsoldat drückt in Eutin ebenso die Schulbank wie ein 19-jähriger Abiturient oder eine 16-jährige Realschülerin. Privatsphäre gibt es kaum. Bis zu drei Auszubildende teilen sich eine Stube, nach Frauen und Männern getrennt. Jeder Auszubildende ist verpflichtet, hier zu wohnen. Wer will, kann abends nach Hause fahren, solange er morgens wieder fit zum Dienst erscheint.
Ein Kopftreffer mit dem Schlagstock kostet 50 Liegestütze Gewöhnlich beginnt ein Ausbildungstag in Eutin um 7:30 Uhr und endet um 16 Uhr. Bis sieben Uhr müssen die Schüler in der Mensa gefrühstückt haben. Dann geht es entweder auf den Übungsplatz, den Sportplatz oder in den Seminarraum. Dort gibt es theoretischen Unterricht, manchmal wird aber auch hier richtig geschwitzt. Die Tische sind an die Wand gerückt, in einer Ecke sitzen Schülerinnen und Schüler in grünen Hosen, schwarzen T-Shirts und schusssicheren Westen und beobachten ihren Mitschüler, der gerade versucht, einen Angreifer abzuwehren: »Auf den Boden, oder ich setze den Schlagstock ein!« Auch in diesem Fall ist der vermeintliche Angreifer ein Ausbilder. Er trägt einen Helm und dicke Schutzpolster am ganzen Körper, auch der Schlagstock ist mit Schaumstoff ummantelt. Durch die weit geöffneten Fenster dringen die Schreie bis auf die Straße. Es ist stickig und heiß. Das Quietschen der Turnschuhe wechselt sich ab mit dem lauten Knall, wenn der Schlagstock mit voller Wucht auf die Schutzpolster trifft. Wie Boxer tänzeln die beiden Kontrahenten umeinander herum, Schweißperlen rinnen an ihren Schläfen herab. Ein weiterer Ausbilder feuert die Schüler an, wie ein Boxtrainer seinen Schützling: »Achten schlagen, Achten schlagen, und näher ran jetzt!« Noch lauter ruft er, wenn die Schüler auch dann noch einmal zuschlagen, wenn der Angreifer eine Verletzung simuliert oder sich schon ergeben hat: »Niemals über den schwächsten Punkt hinaus schlagen, Mensch!« Schläge gegen den Kopf sind strikt verboten. Trifft einer der Auszubildenden doch den Kopf des Angreifers, drohen ihnen im nächsten Sportunterricht 50 Liegestütze.
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Alles sicher. Bevor das Einsatztraining beginnt, überprüft ein Ausbilder, ob die Waffen ungeladen sind.
Selbstständiges Arbeiten statt Marschieren Wer in Eutin ausgebildet wird, kehrt irgendwann während seiner Polizeilaufbahn hierher zurück. Entweder im Rahmen einer Fortbildung – oder als Ausbilder, so wie Arnd Näthke. Der Erste Polizeihauptkommissar arbeitet seit 1988 in Eutin, 1983 wurde er hier selbst ausgebildet. »Damals orientierte sich alles an militärischen Abläufen, und nicht daran, was im Dienst gefragt war. Die meiste Zeit haben wir mit Marschieren zugebracht«, sagt der 46-Jährige kopfschüttelnd. »Seither sind wir ein großes Stück weitergekommen.« Spindkontrollen oder Wachhabende, die überprüfen, ob auch alle um 22 Uhr im Bett liegen, gibt es nicht mehr, abgeschafft ist auch die Meldung im Klassenzimmer »Ausbildungsgruppe angetreten«. Zwar müssen die Schüler tagsüber ihre blaue Uniform tragen, doch nur bis zum Dienstschluss um 16 Uhr. Auch das Grüßen vor dem Vorgesetzten ist nicht mehr vor-
geschrieben, stattdessen heißt es meist: »Moin, moin, und?« – »Jo, muss, nich’?« Während der Ausbildung wird auch das Thema rechtswidrige Polizeigewalt angesprochen, vor allem, wenn die Polizeischüler ihr sechsmonatiges Praktikum beendet haben. »Regelmäßig berichten uns dann einige Schüler, dass sie Übergriffe von Polizisten erlebt haben«, so Näthke. Die Erlebnisse werden dann in Einzelgesprächen oder Gruppendiskussionen aufgearbeitet und die jeweilige Dienststelle informiert. Vor wenigen Jahren erstattete eine Polizeischülerin mit der Rückendeckung ihrer Ausbilder gegen einen Polizisten Anzeige wegen Körperverletzung im Amt. Es wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und der Polizist verurteilt. Dass dieser Fall eine Ausnahme ist, darüber ist sich in Eutin nicht nur Andreas Schütt im Klaren. Der ehemalige Realschullehrer ist als Leiter des Fachbereichs Allgemeinbildung unter
»Es ist wohl bundesweit einmalig, dass die Eutiner Polizeidirektion so offen und bereitwillig brisante Themen aufgreift.« 36
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Schlagen, schießen, suchen, festnehmen. Praxisnahe Ausbildung in Eutin.
anderem zuständig für Menschenrechtsbildung. Er weiß: »Wenn die Schüler in das Praktikum gehen, sind sie das schwächste Glied in der Kette. Und niemand möchte als Nestbeschmutzer dastehen.« Bei der Polizei gebe es ein besonderes Zusammengehörigkeitsgefühl. »Das ist einerseits verständlich und teilweise auch nötig, weil sich Polizisten im Einsatz aufeinander verlassen müssen«, so der 57-Jährige. »Andererseits bedeutet das aber auch: Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus.« Sprich: Polizisten sagen selten gegen ihre Kollegen aus. Dass auch zivile Lehrer an der Ausbildung beteiligt sind, ist für Schütt ein Zugewinn: »Ein externer Blick auf ein so hierarchisches Gebilde wie die Polizei ist hilfreich und notwendig.« Bis auf wenige Ausnahmen werde dies auch begrüßt. »Aber wir sind hier ganz klar die Exoten. Und so mancher Uniformierter belächelt uns sicherlich auch ein wenig.« Bereits zwei Mal hat Schütt mit der Eutiner Gruppe von Amnesty International zusammengearbeitet, unter anderem im September vergangenen Jahres bei einer gut besuchten Podiumsdiskussion auf dem Gelände der Polizeidirektion über das absolute Folterverbot. Die Sprecherin der Amnesty-Gruppe Miranda Krützfeldt lobt die gute Zusammenarbeit: »Es ist wohl bundesweit einmalig, dass die Eutiner Polizeidirektion so offen und bereitwillig brisante Themen aufgreift.« Die nächste gemeinsame Veranstaltung ist bereits für den kommenden September geplant. Dann geht es um den im Juli veröffentlichten Amnesty-Bericht »Täter unbekannt« zu rechtswidriger Polizeigewalt in Deutschland.
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»Das Polizist-Sein hört nie auf« Wenn Einsatztrainings oder Schießübungen anstehen, haben die Schüler immer ihre Pistole dabei, um sich an das Tragen einer Waffe zu gewöhnen. Ansonsten verstauen sie die Walther P99 in Schließfächern auf den Fluren. Schon in den ersten beiden Wochen der Ausbildung beginnen die Schüler, den Umgang mit der Pistole zu erlernen. Für Nadine Kurz ist das Tragen einer Waffe mittlerweile nicht mehr ungewöhnlich: »Ich weiß, dass sie später meinem Kollegen, mir oder jemandem in Not das Leben retten kann. Aber ich hoffe, dass ich sie niemals einsetzen muss.« Etwas mehr als ein halbes Jahr muss die Polizeianwärterin noch warten, bis ihr Praktikum auf einer Dienststelle beginnt. Dann wird sie nicht mehr nach Ausbildern suchen, sondern nach echten Kriminellen. Und sie wird über ihre Einsätze Berichte anfertigen müssen – genauso, wie sie es in Eutin gelernt hat. Auch über den Einsatz in der Werkstatt und die anderen Trainings und Rollenspiele an diesem Tag muss sie einen Bericht verfassen. Dann hat sie Feierabend, und bald ist Wochenende. Wie die meisten wird sie es nicht auf dem Gelände verbringen. »Hier hat man fünf Tage die Woche, 24 Stunden am Tag nur Polizei um sich herum. Das Polizist-Sein hört einfach nie auf«, sagt Kurz. »Da kann ein Tapetenwechsel am Wochenende nicht schaden.« Der Autor ist Volontär beim Amnesty Journal.
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In Österreich fallen Polizei und Justiz immer wieder durch rassistische Diskriminierung auf, wie ein AmnestyBericht belegt. Alles nur Einzelfälle, beschwichtigt das Innenministerium in Wien und startet ein groß angelegtes Projekt zur Menschenrechtsbildung für Polizeibeamte. Von Michaela Klement
Foto: Dominic Ebenbichler / Reuters
Die Hautfarbe zählt »Wir wollen die unsäglichen Worte ›bedauerlicher Einzelfall‹ nicht mehr hören.«
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isshandlungen, Prügel von Polizisten, unzureichende Untersuchung von rassistisch motivierten Straftaten und Nachlässigkeit bei der Verfolgung der Täter: Das sind nur einige Formen rassistischer Diskriminierung im Bereich des österreichischen Strafjustizsystems. Amnesty International durchleuchtete im vergangenen Jahr das österreichische Polizei- und Justizsystem. Die Bilanz: Beide Institutionen versäumen es, allen Personen, unabhängig von deren Herkunft oder Hautfarbe, die gleichen Rechte und Dienstleistungen zu gewähren. Migranten und Angehörige ethnischer Gruppen geraten viel leichter als weiße Österreicher unter Verdacht, Straftaten begangen zu haben. Das Recht auf Gleichbehandlung wird ihnen von Polizei und Justizsystem regelmäßig verweigert. Ebenso ist es viel wahrscheinlicher, dass ihre Rechte nicht respektiert werden, wenn sie Opfer eines Verbrechens werden. So stößt H., ein österreichischer Staatsbürger polnischer Herkunft, an einem Abend im Juni 2007 auf eine Gruppe hitzig diskutierender Polen. H. versucht zu vermitteln. Als die Situation eskaliert, stößt die Polizei dazu. Anstatt die Zeugenaussage von H. aufzunehmen, wird er von der Polizei beschimpft, geschlagen und zu Boden geworfen. H. gelingt es, mit seinem Handy den Polizeinotruf anzurufen. Obwohl ihm der Beamte das Handy
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aus der Hand schlägt, bricht das Telefonat nicht ab und die wüsten Beschimpfungen und Schläge werden mitgeschnitten. Später wird er wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt angeklagt. »Die Zweigleisigkeit des österreichischen Justiz- und Polizeisystems widerspricht absolut dem Konzept einer gerechten Justiz. Vorurteile und Stereotypen bezüglich Ausländern oder religiösen und ethnischen Gruppen haben hier keinen Platz«, kritisierte Heinz Patzelt, Generalsekretär von Amnesty International Österreich bei der Präsentation des Berichts im vergangenen Jahr. Die Ursache für die bestehenden Missstände sieht Amnesty International im institutionellen Rassismus. Doch schon unmittelbar nach der Präsentation verkündeten das Innenministerium und die österreichische Polizeigewerkschaft, dass es keinen institutionellen Rassismus in Österreich gebe, sondern dass es sich lediglich um Einzelfälle handle. »Die Häufigkeit solch rassistisch motivierter Vorfälle im österreichischen Polizei- und Justizsystem gibt Anlass zur Sorge«, sagt Patzelt. »Wir wollen die unsäglichen Worte ›bedauerlicher Einzelfall‹ nicht mehr hören und erwarten dringend wirksame strukturelle Maßnahmen gegen das Krebsgeschwür des Rassismus.« Parallel zu dem Bericht startete Amnesty International eine Appell-Aktion an die Bundesministerien für Inneres und Justiz in Wien. Die Reaktion: Alles nur Einzelfälle.
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Festnahme eines verletzten Demonstranten bei Protesten gegen eine Wahlkampfveranstaltung der rechtsgerichteten FPÖ. Wien, 28. September 2008.
Eine ähnliche Problematik gab es früher auch im Bereich von häuslicher Gewalt, die als »innerfamiliäres Problem« gesehen wurde. Auch hier war von Einzelfällen die Rede. Erst kürzlich erinnerte die Innenministerin an den schwierigen Paradigmenwechsel innerhalb der Exekutive vor 15 Jahren: »Es galt, Polizistinnen und Polizisten beizubringen, bei Gewalt in der Familie nicht nur zu versuchen, die Situation zu befrieden. Denn das Ziel lautete, verstärkt den Opferschutz in den Mittelpunkt zu stellen. Damals ist ein gesellschaftlicher Wandel in Gang gekommen.« Im Bereich Rassismus sieht man das offensichtlich noch nicht so klar. Doch es gibt auch Lichtblicke wie das Projekt »Polizei.Macht. Menschen.Rechte«, das im vergangenen Dezember vom Innenministerium vorgestellt wurde. Demnach soll jedem Polizeibeamten bewusst gemacht werden, dass es vorrangiges Ziel jeder Amtshandlung ist, die Menschenrechte zu schützen. Das Berufsbild der Polizisten soll nachhaltig und strukturell geändert werden. Ob das Projekt tatsächlich die erwünschte Wirkung zeigt, hängt allerdings davon ab, ob es auch in der Praxis umgesetzt und entsprechendes Fehlverhalten konsequent sanktioniert wird. So wie im Fall des Gambiers Bakary J., der 2006 von Polizisten schwer misshandelt wurde. Die Disziplinar-Oberkommission entschied im vergangenen November, dass zwei Beamte,
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frankreich Der französischen Polizei warf Amnesty International in einem 2009 erschienen Bericht »Stehen Polizisten über dem Gesetz?« schwere Menschenrechtsverletzungen vor und kritisierte eine unzureichende Kontrolle der Sicherheitskräfte. Oft folgten auf Klagen über illegale Tötungen, Misshandlungen, rassistische Beschimpfungen und unangemessene Gewaltanwendung durch Polizeibeamte keine wirksamen Untersuchungen, heißt es dort. Besorgt zeigte sich Amnesty International auch über eine »wachsende Tendenz«, Opfer oder Zeugen von Misshandlungen wegen Beamtenbeleidigung und Auflehnung gegen die Staatsgewalt anzuklagen. Diese Praktiken können eine sehr stark abschreckende Wirkung auf Menschen haben, die versuchen, Gerechtigkeit zu erhalten. Klagen über Polizeigewalt gibt es in vielen europäischen Ländern, darunter Griechenland, Dänemark, Moldawien und die Ukraine. Amnesty International hat dazu in den vergangenen Jahren immer wieder Berichte veröffentlicht.
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Foto: Heinz-Peter Bader / Reuters
Rein und raus. Polizisten stürmen ein besetztes Haus. Wien, 13. April 2008.
die daran beteiligt waren, aus dem Dienst entlassen werden und dass ein inzwischen pensionierter Polizist die Ansprüche aus seinem Dienstverhältnis verliert. Ein vierter, am Rande beteiligter Polizist erhielt die finanzielle Höchststrafe von fünf Monatsbezügen und versieht nur mehr Innendienst. In der Zwischenzeit hat der Verwaltungsgerichtshof allerdings wegen zwei Beschwerden der Polizisten gegen diese Entscheidung Berufung eingelegt. Bakary J. selbst hat immer noch keine Entschädigung erhalten und befindet sich nach wie vor in Gefahr, abgeschoben zu werden. Im Fall Y. wurden im April 2010 drei von fünf angeklagten Polizisten verurteilt, weil sie den Sportler beschimpft hatten bzw. seine Anzeige nicht aufnehmen wollten. Er hatte an einem frühen Sonntagmorgen im November 2006 eine Polizeiwache in Wien-Margareten aufgesucht, weil er zuvor von einem Betrunkenen mit einem Baseballschläger bedroht worden war. Die zwei Beamten, die sich damals weigerten, seine Anzeige aufzunehmen, wurden wegen Amtsmissbrauchs zu acht bzw. sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Ein weiterer Polizist wurde wegen Beleidigung des Sportlers zu einer Geldstrafe verurteilt.
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Ein besonders unrühmliches Beispiel für das nach wie vor fehlende Bewusstsein für Rassismus ereignete sich im vergangenen Sommer in Wien: Damals wurden unter dem Einsatz von so genanntem »Ethnic Profiling« alle Haushalte, in denen Personen georgischer oder moldawischer Herkunft gemeldet waren, aufgesucht. Alle dort anwesenden Personen wurden allein wegen ihrer ethnischen Herkunft ohne Vorliegen eines konkreten Verdachts kontrolliert und befragt, um zu ermitteln, ob sie potenzielles Diebesgut oder Einbruchswerkzeuge besaßen. Rassismus im Alltag ist schon schlimm genug, doch institutioneller Rassismus bei Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichten als den zentralen Säulen der Rechtsstaatlichkeit ist eine menschenrechtliche Katastrophe, die grundlegende Veränderungen zwingend notwendig macht. Die Autorin ist Pressesprecherin der österreichischen Sektion von Amnesty International.
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In der Schweiz kommt es immer wieder zu schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei. So kritisierte Amnesty unter anderem unverhältnismäßige Gewalteinsätze und die unnötige Anwendung von gefährlichen Methoden wie Elektroschockpistolen (Taser), Paintballmunition, Tränengas in geschlossenen Räumen. Polizisten, denen ein Fehlverhalten vorgeworfen wurde, kommen praktisch straflos davon, weil es keine gründlichen und unparteiischen Untersuchungen gab. Amnesty kritisierte auch die zunehmende Übertragung von Polizeiaufgaben an private Sicherheitsfirmen, die ihre Mitarbeiter nur lückenhaft ausbilden.
Amnesty International kritisierte in einem 2007 erschienen Bericht, dass Folter, grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung durch Polizeibeamten in Spanien praktisch straflos bleiben. Die spanischen Gerichte versagten bei der Aufgabe, Foltervorwürfe und andere Formen von Misshandlungen prompt, gründlich und unparteiisch zu untersuchen. Zudem werden Personen, die sich beschweren wollen, eingeschüchtert. Amnesty forderte die spanische Regierung auf, die Menschenrechtsbildung für Polizeibeamte zu stärken und weiter zu verbessern. Insbesondere soll sie regelmäßig und praxisorientiert durchgeführt werden.
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Ein Modell für alle Seit 2005 untersucht in Irland eine unabhängige Kommission Anzeigen gegen Polizeibeamte. Sie gilt europaweit als vorbildlich. Von Alexander Bosch
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polizeigewalt in deutschland
und die Opfer einbeziehen. Zudem sollte ein solches Gremium institutionell unabhängig von der Polizei und der Staatsanwaltschaft agieren und in der Lage sein, auch strukturelle Defizite zu untersuchen und Empfehlungen auszusprechen. Amnesty International fordert schon seit langem einen solchen Untersuchungsmechanismus auch für Deutschland, bislang jedoch ohne Erfolg. Dass diese Forderung alles andere als utopisch ist, zeigt nicht nur das Beispiel Irland. In zahlreichen Ländern existieren bereits unabhängige Untersuchungsmechanismen, die Vorwürfe wegen Menschenrechtsverletzungen gegen Polizisten überprüfen. So gibt es in Australien, Belgien, Irland, Kanada, Südafrika und in Großbritannien unabhängige Untersuchungskommissionen speziell zur Überwachung der Polizei. Und in Frankreich, Portugal sowie den Niederlanden wurden ebenfalls unabhängige Untersuchungskommissionen eingeführt, damit öffentliche Einrichtungen besser kontrolliert werden können. Der Autor ist Sprecher der Amnesty-Themengruppe Polizei und Menschenrechte.
Foto: Mel Longhurst / World Pictures / Photoshot / picture-alliance
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in 39-jähriger Mann osteuropäischer Herkunft wird Anfang Juni in Dublin festgenommen und stirbt wenig später auf einer Polizeiwache. Sofort beginnt eine unabhängige Kommission zu ermitteln. Sie veröffentlicht noch am selben Tag eine Presseerklärung, in der sie den Vorfall beschreibt und eine eigene Untersuchung ankündigt. Wenn bei einem Polizeieinsatz Personen schwer verletzt werden oder gar zu Tode kommen, schaltet sich die »Irish Garda Ombudsman Commission (IGOC)« automatisch ein. Ein Vorgang, der in Deutschland bislang nicht vorstellbar ist. In Irland ist er längst alltäglich. Die Untersuchungskommission wurde 2005 in Irland eingerichtet, um alle Beschwerden gegen Polizisten zu überprüfen. In dem Gremium arbeiten so genannte »Commissioners«, die vom Präsidenten ernannt und vom Obersten Gerichtshof überwacht werden. Keiner von ihnen darf über ein aktuelles Parlamentsmandat verfügen oder im Polizeidienst stehen. Unterstützt werden sie durch eine eigene Verwaltung und ein eigenes Ermittlungsteam. Die Kommission soll Bürgerbeschwerden gegen die Polizei untersuchen, aber auch selbst Untersuchungen initiieren, wenn sie dies für erforderlich hält. Außerdem überprüft sie polizeiliche Verordnungen und Verfahrensweisen. Die Kommission ermittelt nicht immer autonom, sondern greift je nach Schwere des Falls auch auf polizeiliche Untersuchungen zurück. Bei minderschweren Fällen untersucht die Kommission die Vorfälle selbst und verfasst anschließend einen Bericht für die zuständige Polizeistelle, die dann gegebenenfalls disziplinarische Maßnahmen ergreift. Liegen schwere Vorwürfe vor, verfügt das Ermittlungsteam der Kommission über alle polizeilichen Befugnisse, wie Spurensicherung, Verhöre oder Festnahmen. Nur wenn eine Polizeidienststelle durchsucht werden soll, ist eine gesonderte Erlaubnis erforderlich. Bei strafrechtlich relevanten Fällen werden die Untersuchungsergebnisse der Staatsanwaltschaft übermittelt. In der Öffentlichkeit genießt die Behörde hohe Zustimmungswerte, und auch wenn die Polizei ihr noch kritisch gegenübersteht, so wird sie doch selbst dort zunehmend akzeptiert. Im vergangenen Jahr gingen bei der Kommission rund 2.000 Beschwerden ein. Dass die Arbeit der IGOC wegweisend ist, wird deutlich, wenn man sich die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ansieht. Er hat immer wieder betont, dass alle Vorwürfe wegen polizeilicher Misshandlung unabhängig untersucht werden müssen. Das gleiche gilt, wenn eine Person im Polizeigewahrsam ums Leben kommt. Der Menschenrechtskommissar des Europarats, Thomas Hammarberg, hat die Arbeit der Kommission daher unlängst als vorbildlich bezeichnet. Entsprechend empfiehlt auch er unabhängige Gremien einzuführen. Denn, wenn Polizisten gegen Kollegen ermitteln, können die Ergebnisse fehlerhaft sein. Die Untersuchungen sollten nicht nur unmittelbar, umfassend, unabhängig und unparteiisch sein, sondern auch der öffentlichen Kontrolle unterliegen
2009 gingen bei der Kommission rund 2.000 Beschwerden ein. Polizeiwache in Dublin.
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Berichte
44 Italien: Jagd auf afrikanische Erntehelfer 50 Kongo: Hilfe für Kindersoldaten 52 Mexiko: Keine Normalität nach dem Putsch 56 Strafgerichtshof: Verbrechen gegen den Frieden 57 Sri Lanka: Sieger ohne Reue 58 Malawi: Schwule Liebe wird bestraft 60 Russland: Hört der Präsident zu?
Gebraucht und betrogen. Orangenpflücker in Süditalien. Reportage Seite 44. Foto: Jan Lieske
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Im süditalienischen Rosarno schossen im Januar 2010 Einheimische auf afrikanische Orangenpflücker. Die Saisonarbeiter rebellierten. Eine Bürgerwehr verjagte die wütenden Afrikaner. Viele Tagelöhner kehrten dennoch zurück. Von Johan Kornder (Text) und Jan Lieske (Fotos)
Arbeitsvermittlung. Saisonarbeiter warten im süditalienischen Rosarno auf Arbeitgeber.
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Der Traum von einem besseren Leben schmeckt süß. Keine Kerne. Mit kräftigen Fingern pellt Saikou Foroyaa eine Mandarine, lässt drei Schnitze in seinem Mund verschwinden und schmatzt. Die übrigen verteilt er – wie ein Priester Oblaten. Er lagert mit ein paar anderen auf schmierigen Schlafsäcken, hinter dem Bahnhof von Bari. Hier vertreiben sie sich die Stunden und Tage. Seit ihrer Vertreibung aus Rosarno. Die Realität schmeckt bitter. Kein Filter. Mit steifen Fingern dreht Saikou Foroyaa eine Kippe, steckt sie sich zwischen die Lippen und qualmt. Den Stummel reicht er weiter – wie einen Joint. Er drängelt sich jetzt mit den anderen vor der Essensausgabe der Caritas, vor vergitterten Fenstern. Hier sind sie gestrandet. Hier verflüchtigt sich ihre Hoffnung. Nach der Flucht aus Afrika. Seit 243 Tagen lebt Saikou in Italien, seit 13 Tagen in Bari. Der Grund: Er hat demonstriert. In seiner Heimat Gambia, wie im süditalienischen Rosarno. In Jambanjelly/Gambia ging Saikou auf die Straße, nachdem das Militär einen Wassertank in seinem Stadtviertel zerstörte. In Rosarno/Kalabrien ging er auf die Straße, nachdem zwei Afrikaner von Italienern mit Luftpistolen beschossen wurden. Beide Male wurde er verjagt. »It’s not easy« – »Es ist nicht einfach«, sagt Saikou. Mit seiner roten Baseballkappe, den weiß-roten Turnschuhen und dem etwas zu weiten, braunen Mantel, sieht der 27-Jährige aus wie eine Mischung aus Hip-Hopper und Rentner. Drahtiger Körper eines Basketballers, traurige Augen eines alten Mannes. Er zieht seinen Geldbeutel aus der Tasche. »Das ist mir geblieben. Nach acht Monaten in Europa.« Achtzig Cent purzeln in seine Handfläche. »Not easy.« Von seinem letzten Tageslohn in Rosarno – 25 Euro für neun Stunden Orangenpflücken, minus drei Euro für den Transport zur Plantage – hat er sich für elf Euro und zwanzig Cent ein Körperöl, einen Deo-Roller, Zahnbürste, Zahnpasta und für neun Euro einen Rasierer gekauft. »Das brauche ich für meinen Körper«, sagt er fast entschuldigend. Nach Gambia will er zurück, kann aber nicht. Nach Rosarno kann er zurück, will aber nicht. »Nur, was soll ich sonst machen? Ich brauche Geld!« Eigentlich will Saikou wieder Fischer sein wie in Afrika. Dort besitzt er zwei Boote, die seinen Vater, seine Frau und drei Kinder ernähren. Zuhause war er relativ wohlhabend, seine Flucht hat er sich mit Erspartem finanziert. Aber nach Europa will er sich kein Geld schicken lassen, war doch das Gegenteil geplant. »Meine Frau würde nicht verstehen, dass ich in Europa nichts verdiene«, sagt er. Deshalb ruft er sie nur selten an, erzählt ihr nichts von seinen Problemen. Deshalb kehrt er zurück nach Rosarno, zum Ort der Vertreibung. Rosarno: 16.000 Einwohner, zwischen Oktober und März über zweitausend Saisonarbeiter, viele von ihnen Afrikaner ohne legalen Aufenthalt, der Stadtrat wegen Verstrickungen mit der Mafiaorganisation ’Ndrangheta aufgelöst. Hauptwirtschaftszweige: marode Landwirtschaft und florierender Drogenhandel. Das Städtchen hängt wie erstarrte Lava auf einem Hügel, ergossen in die fruchtbare Ebene von Gioia Tauro. Dort wachsen die Orangen und Mandarinen auf Plantagen, die bis zum Horizont reichen. Bis Januar 2010 war Rosarno ein kalabresisches Kaff wie jedes andere. Nur im Inneren brodelte, wie Magma, ein Gemisch aus mafiösen Strukturen, Arbeitslosigkeit und Fremdenhass. Durch die Schüsse auf die Afrikaner barst die Hülle. Der Vulkan spie Feuer. Als Saikou am 7. Januar nach der Arbeit an dem alten Fabrikgebäude »La Rognetta« ankommt, blockieren Hunderte Afrikaner die Hauptstraße. Sie bauen eine Barrikade aus Mülltonnen
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Armselige Bleibe. Saikou in seinem Unterschlupf in Rosarno.
und einem Auto und zünden sie an. Es ist nicht das erste Mal, dass auf afrikanische Arbeiter geschossen wurde. Schon im Vorjahr demonstrierten sie gegen die Angriffe italienischer Jugendlicher. Aber unter den Demonstranten kursiert diesmal das Gerücht von vier »toten Brüdern«. Die Situation eskaliert. Die Männer ziehen wütend durch den Ort. Saikou stellt umgekippte Blumenkübel wieder auf, redet auf die anderen ein. Man müsse doch friedlich demonstrieren. Kaum einer hört ihm zu. Die Besitzerin eines Geschäfts für Kinderbekleidung erzählt es so: »Wir hatten furchtbare Angst. Sie haben Steine geschmissen, Autos angezündet, Frauen mit Knüppeln bedroht.« Manche Schwarze hätten zwar versucht, die anderen zu beruhigen, doch die Mehrheit habe in einem »barbarischen Akt« die Stadt zerstört. Die Polizei sei völlig überfordert gewesen. Genau wie am nächsten Tag. Die afrikanischen Demonstranten versammeln sich vor dem Rathaus und fordern ein Gespräch mit dem Bürgermeister. Die Bewohner von Rosarno wollen keine Diskussion. Wie am Vortag heizt Gerede die Stimmung auf:
rosarno im januar 2010 Am 7. Januar schießen in der süditalienischen Kleinstadt Jugendliche mit Luftgewehren auf zurückkehrende afrikanische Erntearbeiter. Zwei werden verletzt. Daraufhin demonstrieren Afrikaner gegen die Angriffe, es kommt zu Ausschreitungen. 46 Menschen, darunter 21 Migranten, 14 Italiener und elf Polizisten, werden dabei verletzt.
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Eine Schwangere habe bei den Ausschreitungen ihr Baby verloren. Wie das Gerücht, vier Afrikaner seien erschossen worden, entpuppt sich auch diese Behauptung als falsch. Doch die Jagd ist eröffnet. Jugendliche Italiener prügeln mit Knüppeln auf die Afrikaner ein. Schüsse hallen durch die Gassen. Die Rosarnesi fahren mit ihren Autos Demonstranten an. Sie fordern: »Alle Schwarzen raus aus Rosarno!« Eine Alte schreit von ihrem Balkon: »Tötet sie, tötet sie!« Am Abend haben die Italiener ihr Ziel erreicht. Polizisten und Soldaten leiten die »ethnische Säuberung« ein, wie der englische »Economist« schreibt. Die Bevölkerung applaudiert, als über tausend Afrikaner mit Bussen in Auffanglager transportiert werden. Der versprengte Rest flieht. Saikou irrt zwei Stunden über die Plantagen zum Bahnhof. Um zwölf Uhr nachts steigt er in den Zug nach Bari. Vierzehn Tage später ist er zurück. Mit einem Kumpel wohnt er bei dessen senegalesischen Freunden. Die haben am Stadtrand von Rosarno für sechshundert Euro eine »Ein-Raum-Wohnung« gemietet, eine ehemalige Garage. Zwölf Betten stehen dicht an dicht, mit Tüchern abgehängt. Die Küche: ein Waschbecken und ein größerer Campingkocher. Das Klo: kaputt. Das Wohnzimmer: drei Stühle und ein Fernseher, auf dessen milchigen Bildschirm die Jungs starren, wenn sie keine Arbeit finden. In sein ehemaliges »Zuhause« kann Saikou nicht zurück. Von der Fabrik »Rognetta«, in der er mit fünfhundert anderen hauste, zeugt nur noch ein Haufen Bauschutt. Nach der Deportation kamen Bagger und zerstörten alles. »Da war der Staat auf einmal zur Stelle«, sagt Giuseppe Pugliese. Mit einer Handvoll Freunden hat er die Hilfsorganisation »Africalabria« gegründet,
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um die Lebensbedingungen der Einwanderer zu verbessern. Im Hauptberuf organisiert er Film- und Musikfestivals, die Hilfe in Rosarno koordiniert er genauso: per Handy und Handanlegen. Der Mann mit der modisch engen Wollmütze telefoniert mit »Ärzte ohne Grenzen«, hält an Schulen und Universitäten Vorträge, stellt DixiKlos auf, bringt den afrikanischen Arbeitern Decken und Schuhe. So wurde er zum Freund der Schwarzen und zum Feind der Mafia. Silvester 2009 verbrachte Pugliese im Kreise seiner zweiten Familie. Ein geknüpftes Freundschaftsband am Handgelenk des Mittvierzigers erinnert daran. »Es war das schönste Neujahrsfest in meinem Leben«, sagt er. Mit Hunderten Migranten tanzte und sang er in »Little Africa«, direkt neben der Schnellstraße nach Gioia Tauro. Dort verrottet ein zweites Fabrikgebäude. Die Olivenölraffinerie wurde nie in Betrieb genommen. Die Halle wurde zur Heimat für neunhundert Saisonarbeiter, verteilt auf drei Stockwerke. In zwei kleineren Hütten gab es Restaurants, in einem Zelt aus Planen eine Kirche. Das war »Little Africa«. Nun ist nur noch ein Stillleben zu besichtigen, das New Orleans nach »Katrina« gleicht. Igluzelte stehen auf Euro-Paletten, in gigantischen Ölsilos liegen Matratzen. Ein totes Huhn verwest neben einem Autoreifen. Daneben Wasserkanister, Töpfe voll verschimmelter Nudeln, Regenjacken, Gummistiefel, Kopfschmerztabletten, ein Kuscheltierkamel mit der Auf-
schrift »Tunisia«. Modriger Gestank steigt aus feuchten Klamotten. Es ist das Chaos einer plötzlichen Flucht. Pugliese, verspiegelte Fliegerbrille und rosa Hemd, steht mittendrin. Mit der Rechten tippt er in sein Handy, mit der Linken hebt er prüfend Gasflaschen an. Die drei schwersten lädt er in seinen Audi und fährt damit zu einer Baracke, die sich zwischen den Orangenbäumen versteckt. Jede Woche schleppt Pugliese Gasflaschen über den schlammigen Pfad hoch zu dem abbruchreifen Steinhaus. »Pepé! Great man!«, ruft Fatty Hydara, ein 36-jähriger Gambier, und nimmt ihm eine Flasche ab. »Der einzige Italiener in Rosarno, der uns hilft«, sagt der hagere Fatty und tätschelt Pugliese den Oberarm. Die Hilfe wird nicht überall gern gesehen. Seit den Ereignissen vom Januar traut sich Pugliese nicht mehr zu Fuß durch die Straßen seiner Heimatstadt. Er glaubt nicht, die Mafia habe die Schüsse auf die Afrikaner veranlasst und so die Revolte provoziert, wie manche Medien vermuten. »Die Mafia will Ruhe.« Aber da er keine Ruhe gibt und den Afrikanern hilft, ist er zur Zielscheibe geworden. »Das Schlimme ist, dass die Drohungen in netten Mails von vermeintlichen Freunden versteckt werden«, sagt Pugliese, dessen Vater durch Kugeln der ’Ndrangheta starb. Die Mails beginnen mit »Lieber Pepé« und enden mit »Ein Kuss«. Dazwischen steht etwas von »vorsichtig sein«, »respektieren« und »besser so lassen, wie es ist«. Pugliese versucht, vorsichtig zu sein, trifft sich mit seinen Freunden wie ein Geheimagent auf Autobahnraststätten. Aber er macht weiter. Deshalb redet in Rosarno niemand mehr
Unterkunft verloren. »Little Africa« nach der Räumung, von der Polizei abgesperrt.
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»Ich kann keine Pasta mehr sehen.« Abendessen bei Kerzenschein.
mit ihm. »Poor Pepé! You are half African!«, lacht Fatty und zieht Pugliese aus dem Rauch des Feuers, auf dem er gerade einen Topf Wasser zum Duschen aufheizt. Nach der Freiluftdusche bei sechs Grad, die Sonne ist in den Orangenhainen versunken, trocknet sich Fatty im Qualm. Gewaschen und geräuchert neigt er sich auf einem Pappkarton in der Gebetskammer gen Osten, flüstert Koransuren. Nebenan im Wohn-, Schlaf- und Kochraum dampfen der Reistopf und das »Benachin«, das Rindfleisch in Erdnusssoße. Im flackernden Schein einer Kerze rührt Fatty in den Töpfen. »In Afrika habe ich nie«, sagt er und macht eine kurze Pause, »nie Kerzen abgebrannt. Da hatte ich immer Strom!« In Gambia lehrte Fatty Hydara Kindern das Schreiben, bis sein Bruder wegen des Schreibens ermordet wurde. Der Bruder Deyda Hydara, Herausgeber der Zeitung »The Point« und AFPKorrespondent, wurde 2004 mit drei Kopfschüssen getötet. Fatty fühlte sich nicht mehr sicher und floh. »Aber auch hier werde ich sterben«, flüstert er. »Aus Frust!« Nur wenn sie im Kreis um die große Schüssel hocken, sich eine Hand voll Reis mit Soße greifen, ein Bällchen kneten und es in ihre Münder rollen lassen, flackert neben der Kerze, auch Freude in ihren Gesichtern. »Ich kann keine Pasta mehr sehen«, sagt Fatty. In den Monaten im Auffanglager hatte er wegen der Nudeln ständig Bauchweh. Nach dem Hauptgang nascht Fatty eine Mandarine und raucht eine Selbstgedrehte. In voller Montur legt er sich auf das Bettenlager unter seine Wolldecke. Sein Freund neben ihm behält zum Schlafen sogar den Schlapphut auf dem Kopf. Immer wieder zieht sich einer den Rotz »In Afrika hatte ich immer Strom.« Erinnerung an bessere Zeiten. hoch, ein anderer schnarcht. Der Himmel ist noch schwarz, als Fatty Tee und Kaffee kocht und ein Orangenpflücker Arbeitsverträge haben. Die Verträge würden neuer Tag der Tagelöhner beginnt. Aus einem Joghurtbecher verbieten, bei Regen zu pflücken und gebieten, krankheitsbegießt Fatty den Tee in eine rosa Plastiktasse, zurück in den Jodingte Fehltage zu bezahlen. Vor allem aber müssten die Bauern ghurtbecher, zurück in die Plastiktasse, um den Zucker aufzulöSteuern zahlen. Aber Steuern kommen nicht vor in ihrer knapsen. Mit dem pappsüßen Schwarztee spült er ein Stück Weißbrot pen Kalkulation, nur der »Pizzo«, die Zwangsabgabe an die Marunter. Er setzt sich auf einen weißen Gartenstuhl mit faustgroßem Loch in der Sitzfläche, hält kurz seine feuchten Socken über fia. Vor dem 7. Januar standen noch Hunderte an den Straßen, die meisten bekamen Arbeit. Heute warten sie in kleinen die Glut, zieht sie an, stülpt sich Plastiktüten über die Füße und Grüppchen, den ganzen Vormittag – vergebens. schlüpft in seine brüchigen Gummistiefel. Mit einem Zehn-LiAuf dem Sammelplatz der Kooperative »Raffala« stochert ter-Kanister läuft er trotz schneller Schritte eine halbe Stunde Giuseppe Lamanna mit einem Bambusrohr in einem swimmingzur Straße, lässt auf dem Weg den Behälter an der Wasserstelle poolgroßen Betonbecken nach den Orangen, damit alle auf das stehen, stellt sich zu seinen wartenden Kollegen und hofft, dass Förderband purzeln. »Ich bin ruiniert«, sagt der 62-Jährige, der ein Bauer kommt, der ihn schuften lässt. wie viele der Bauern zehn Jahre älter aussieht, als er ist. 14.000 Aber die Bauern haben Angst. Arbeit hätten sie genug. Die Euro Strafe muss er für vier schwarz beschäftigte Pflücker beOrangen bedecken wie ein dicker Teppich den Boden unter den zahlen. »Völlig übertrieben«, wie er findet. Der Staat solle sich Bäumen. Doch seit Europas Medien über Rosarno berichten, lieber darum kümmern, dass die Preise für die Orangen wieder kontrollieren Polizisten in Zivil erstmals regelmäßig, ob die
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Ohne billige Pflücker keine Orangen. Der Bauer Giuseppe Lamanna bei der Verarbeitung der Ernte.
Zurück in Rosarno. Ein neuer Morgen der Tagelöhner beginnt.
steigen. 700 Euro für einen Laster voll mit 14 Tonnen Orangen. Hundert Euro kostet der Transport zum Großhandel. »So können wir gerade die Arbeiter bezahlen«, jammert Lamanna. Seine Orangen – zu Konzentrat gepresst – verkaufen sich als Grundlage für Limonade in ganz Europa. Nur den Gewinn machen andere. »Uns bleiben auch kaum mehr als fünfundzwanzig Euro am Tag! Da lassen wir sie doch lieber vergammeln.« Dass die Afrikaner gegen Rassismus protestieren und bessere Lebensbedingungen fordern, können die Bauern nicht verstehen. »Die wollen doch so leben! Hausen wie die Tiere!«, sagt Lamanna. »Zwanzig Jahre arbeiten und leben die hier. Und wegen zehn verletzten Negern sind wir jetzt alle Rassisten?«, sprudelt es aus ihm heraus. »Wir geben ihnen Arbeit und werden bestraft. Die randalieren und werden belohnt!« Die Belohnung, die der Bauer meint, nennt der italienische Staat einen »Akt der Humanität«. Zwar erklärte Innenminister
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Roberto Maroni von der Lega Nord die Eskalation in Rosarno mit der »grenzenlosen Toleranz gegenüber illegaler Einwanderung« und versprach, »hart durchzugreifen«. Aber in der Provinzhauptstadt Reggio Calabria verlieh ein Polizeioffizier in Maronis Auftrag medienwirksam Aufenthaltsgenehmigungen für jeweils drei Jahre an fünf der verletzten Afrikaner. »Das ist doch ein schönes Happy End!«, sagt der Polizist, zupft an seiner Uniform, schüttelt den gequält lächelnden Afrikanern die Hände und grinst in die Kamera. Saikou Foroyaa, der verhinderte Fischer, hat am dritten Tag nach seiner Rückkehr Arbeit gefunden. Von sieben Uhr morgens bis halb vier nachmittags pflückt er im Regen Mandarinen. Danach sagt der Bauer zu ihm: »Das war nur ein halber Tag! Keine neun Stunden.« Und die zwölf Euro fünfzig bekomme er erst nach vierzehn vollen Arbeitstagen. Seitdem hat der Bauer ihn nicht mehr beschäftigt. Aus der »Ein-Raum-Wohnung« in der Stadt ist Saikou deshalb ausgezogen und wohnt jetzt in einem Ein-Raum-Steinhaus auf einer Plantage. Die erste Nacht liegt er dort wach – bei drei Grad im kältesten kalabresischen Winter seit Jahren. An der Tür hängt nur eine dünne Decke. Während er am nächsten Morgen müde, und wieder vergeblich, an der Straße wartet, scheißen Katzen auf sein Nachtlager. Am Abend macht er ein Feuer in der zugigen Hütte. »Ich bräuchte nur ein bisschen Geld«, sagt er und reibt sich die brennenden Augen. »Damit könnte ich die Häfen abklappern und Arbeit als Fischer suchen.« Es wird nicht einfach werden. Täglich kommen mehr Migranten zurück in die Stadt, aus der sie erst vor wenigen Wochen verjagt wurden und hoffen auf Arbeit. Auch Saikou Foroyaa hofft. Saikou heißt nicht Foroyaa. Den Nachnamen hat er sich für diese Geschichte ausgesucht. Foroyaa heißt in seiner Landessprache Mandinka »freier Mann«. Der Autor ist freier Journalist und lebt in München.
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Das zweite Leben Mitten im gewaltsamen Konflikt im Ostkongo gelingt es der Organisation BVES, Kindersoldaten die Chance auf ein friedliches Leben zu bieten. Von Andrea Riethmüller
Foto: Falvo Alfredo / Contrasto / laif
Das neue Leben beim BVES, dem »Freiwilligenbüro für Kinder und Gesundheit«, beginnt für alle ehemaligen Kindersoldaten mit einer kleinen Zeremonie: sie ziehen ihre Uniformen aus und verbrennen sie – ein wichtiger erster Schritt in eine neue Identität. Der Organisation gelingt es mit ihrem Programm, jeden Monat etwa 40 Kinder aus den Milizen oder Armeeeinheiten herauszulösen. Im Ostkongo ist kein stabiler Friede in Sicht. Trotz verschiedener Friedensabkommen und Versuche, die bewaffneten Gruppen in die Armee zu integrieren, fordert der Konflikt pro Tag etwa 1.500 Menschenleben, entweder durch direkte Gewalteinwirkung oder durch die humanitäre Krise, die er verursacht. Amnesty International geht von aktuell 6.000 Kindersoldaten in Kampfeinheiten aus. Die meisten sind zwischen zehn und 16 Jahren alt, viele sind bei ihrer Rekrutierung sogar jünger. Der Einsatz von Kindersoldaten ist nach dem Römischen Statut des
Internationalen Strafgerichtshofs ein Kriegsverbrechen. Mit jeder Gruppe demobilisierter Kindersoldaten interveniert das BVES gegen diese fortdauernden Kriegsverbrechen. Für die Mädchen und Jungen im Kinderhilfszentrum des BVES in der ostkongolesischen Stadt Bukavu ist die Rückkehr in ein ziviles Leben nicht einfach: Sie haben Schreckliches erlebt und erlitten. Sie mussten kämpfen und töten. Viele haben unter Zwang und Drogen selbst Verbrechen an der Zivilbevölkerung begangen. Besonders schwierig sind die ersten Wochen. Meistens betreuen zwei Mitarbeiter in dieser Zeit eine Gruppe von acht bis zehn Kindern und Jugendlichen rund um die Uhr. Sie bieten ihnen Programme zur Aggressions- und Stressbewältigung. Aber auch wenn die ersten Wochen überstanden sind, ist der Weg in eine friedliche Zukunft noch lang, voller Angst und traumatisierender Erinnerungen. In die Schule zu gehen, sich in eine Klasse einzufügen, zu lernen, das alles fällt ehemaligen Kindersoldaten schwer. Nach dem Alltag im Feldlager mit brutalen nächtlichen Überfällen im Kampfverband müssen die Kinder und Jugendlichen erst lernen, in einer Wohngruppe des Zentrums Matratze an Matratze friedlich mit Gleichaltrigen zu leben, die zum Teil aus gegnerischen Kampfeinheiten demobilisiert sind oder verfeindeten Ethnien angehören. In seinen Zentren in der Umgebung von Bukavu bietet das BVES den Kindern nicht nur Alphabetisierungskurse und Grundschulunterricht. Daneben lernen die ehemaligen Kindersoldaten grundlegende Fertigkeiten im Schreinern, im Nähen, der Ziegenzucht oder dem Gemüseanbau, um ihnen eine Perspektive zu bieten. Oft muss der Rückkehr in Familie und Heimatgemeinde aber auch ein langwieriger Versöhnungsprozess vorangehen. Sehr jung rekrutierte Kinder erinnern sich nicht an ihre Familie, andere haben Eltern und Angehörige in den Kriegswirren verloren. Daher betreuen die Mitarbeiter der Organisation sie auch während ihrer Wiedereingliederung in die Familien und Heimatgemeinden. Das BVES arbeitet nicht nur mit den ehemaligen Kindersoldaten. In Workshops zur Menschenrechtsbildung und zu Rechten von Kindern in bewaffneten Konflikten leistet die Organisation Aufklärungsarbeit bei der Armee und den bewaffneten Gruppen der Region Süd-Kivu, die schwere Menschenrechtsverbrechen mit der Rekrutierung von Kindern begehen, leitet damit die Demobilisierung weiterer Kindersoldaten ein und wirkt der Re-Rekrutierung entgegen. Das BVES betreibt 27 Hilfszentren und hat 18 Jahre Erfahrung in der Entwaffnung, Demobilisierung und gemeindegestützten Reintegration von Kindersoldaten. In 70 Prozent der Fälle gelingt es der Organisation, die Kinder dauerhaft in ein ziviles Leben zu integrieren – angesichts der Verhältnisse im Ostkongo eine sehr hohe Erfolgsquote. Die Autorin ist die Länderkoordinatorin zur Demokratischen Republik Kongo der deutschen Amnesty-Sektion.
Ein Stück Kindheit zurückgewinnen. Ehemalige Kindersoldaten in einem Rehabilitationszentrum im Ostkongo.
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Die deutsche Amnesty-Sektion arbeitet seit 2006 mit dem BVES und fünf weiteren kongolesischen Nichtregierungsorganisationen zusammen und fördert diese auch finanziell.
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FREIHEIT IST DER WERT, DER BLEIBT
Foto: Kimimasa Mayama / Reuters
IHR TESTAMENT FÜR DIE MENSCHENRECHTE
GESTALTEN SIE DIE ZUKUNFT Gründe, warum Amnesty International bei Erbschaften bedacht wird, gibt es viele: Manchmal sind es die eigenen Erfahrungen, die man mit Unrechtsregimen gemacht hat. Oder es sind Beobachtungen auf Reisen, die eigene Überzeugung, etwas zurückgeben zu wollen. Wichtig ist der Wunsch, über das eigene Leben hinaus die Zukunft gestalten zu wollen. Eine Idee zu unterstützen, die einem am Herzen liegt: die Einhaltung der Menschenrechte. Seit 1961 setzt sich Amnesty International weltweit für Opfer von Menschenrechtsverletzungen ein. Und da Amnesty International aus Gründen der Unabhängigkeit jegliche staatlichen Mittel ablehnt, können besonders Erbschaften helfen, diese Arbeit auch in Zukunft sicher und langfristig planbar zu machen. Bedenken Sie Amnesty International in Ihrem Testament. Gestalten Sie eine Zukunft, in der jeder Mensch in Würde leben kann!
Bei weiteren Fragen steht Ihnen Dr. Manuela Schulz unter der Telefonnummer 030 - 42 02 48 354 gerne zur Verfügung. E-Mail: Manuela.Schulz@amnesty.de 첸 Bitte schicken Sie mir die Erbschaftsbroschüre »Freiheit ist der Wert, der bleibt« kostenlos zu. 첸 Bitte schicken Sie mir weitere Informationen über die Arbeit von Amnesty International kostenlos zu. Vorname, Name
Straße
PLZ, Ort
Telefon, E-Mail
Bitte senden Sie den Coupon an Amnesty International, 53108 Bonn oder faxen Sie: 0228 - 63 00 36 Weitere Informationen auf www.amnesty.de/spenden
Der Teufel aus Stahl
Zugbegleiter. Mitglied einer Gang springt von Waggon zu Waggon, um die auf dem Güterzug reisenden Migranten zu kontrollieren und andere bewaffnete Banden
Im mexikanischen Arriaga steigen jedes Jahr tausende Menschen aus Zentralamerika auf Güterzüge und versuchen so, in die USA zu kommen. Von Hauke Lorenz Rosa und ihr Vater kommen aus Nicaragua. Sie wollen in die USA. Ohne Probleme haben sie es bis nach Guatemala geschafft. Auch die Grenze von Guatemala nach Mexiko zu passieren, war kein Problem. Wie viele andere überquerten sie den Grenzfluss Suchiate auf einem Floß. Mit langen Stangen stoßen hier Dutzende Männer ihre aus Lkw-Schläuchen und Brettern zusammengebundenen Flöße von einem Ufer zum anderen. Darauf transportieren sie alles, was im anderen Land gerade günstiger ist – und Menschen auf den Weg in die USA, in der Hoffnung auf Ar-
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beit. Am offiziellen Grenzübergang auf der Brücke herrscht viel weniger Verkehr als auf dem Fluss. Nachdem sie den Fluss überquert haben, müssen Rosa und ihr Vater innerhalb Mexikos unentdeckt an den Kontrollen der Einwanderungsbehörde vorbei. An der Straße, die nach Norden führt, hat die Behörde allein im südlichen Bundesstaat Chiapas, der an Guatemala grenzt, fünf feste Kontrollposten errichtet. Jedes Auto, das Richtung Norden fährt, muss die Kontrolle passieren. In La Arrocera, etwa 70 Kilometer hinter der Grenze, steht die zweite solche Kontrollstation. Zusammen mit einer Gruppe anderer Migranten steigen Rosa und ihr Vater aus dem Minibus. Sie versuchen, die Polizisten der Einwanderungsbehörde in einem großen Bogen zu Fuß zu umgehen.
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reise durch mexiko Tijuana
Nogales
Ciudad Juárez USA
Nuevo Laredo Saltillo
Torreón
Reynosa
Mazatlán Tampico Guadalajara Veracruz
Die wichtigsten Reiserouten von Migranten auf dem Weg in die USA
Mexiko-Stadt
Tenosique Ciuadad Ixtepec
Arriaga
Tapachula
Guatemala
Foto: Jerome Sessini / laif
Jedes Jahr versuchen Zehntausende ohne Visum oder Aufenthaltserlaubnis durch Mexiko in die USA zu gelangen. Die meisten von ihnen kommen aus El Salvador, Guatemala, Honduras und Nicaragua, 20 Prozent sind Frauen oder Mädchen, jeder Zwölfte ist minderjährig. 2009 nahm die mexikanische Einwanderungsbehörde 64.061 Ausländer ohne legalen Aufenthaltsstatus fest, von denen 60.143 abgeschoben wurden. Überfälle und Entführungen durch kriminelle Banden, willkürliche Festnahmen und Erpressungen durch Polizisten sind alltäglich. Menschenrechtsorganisationen und Wissenschaftler schätzen, dass von zehn Frauen und Mädchen sechs während der Reise vergewaltigt werden.
fernzuhalten.
Ausgeraubt und abgeschoben Weit entfernt von der Straße wird die Gruppe von drei Männern angehalten und mit Waffen bedroht. »Sie haben uns ausgezogen«, erzählt Rosa später. »Ich war die einzige Frau. Einer ging mit mir hinter ein paar Büsche und hat meine Unterwäsche kontrolliert. Ich sagte zu ihm: ›Bitte tu mir nichts.‹ – Gott sei Dank wurde ich nicht vergewaltigt.« Rosa, ihrem Vater und den anderen wird bei diesem Überfall ihr ganzes Geld gestohlen und so können sie die Polizisten, die ein paar hundert Meter weiter schon auf sie warten, nicht bestechen. Die Polizisten übergeben sie der Einwanderungsbehörde. Schließlich landen sie in dem riesigen Abschiebegefängnis in Tapachula, von dem aus an manchen Tagen über tausend Men-
berichte
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mexiko
schen abgeschoben werden. Rosa und ihr Vater werden einen Tag nach ihrer Festnahme zurück nach Guatemala gebracht. Nur einen Tag später sind sie wieder in Mexiko. Gleich nach der Abschiebung bestiegen sie wieder ein Floß über den Suchiate. Jetzt sitzen Rosa und ihr Vater im Schatten eines Baumes vor einer Migrantenherberge in Tapachula und erzählen mir ihre Geschichte. Von hier aus sind es rund 60 Kilometer bis zur guatemaltekischen Grenze. Die katholische Kirche betreibt im ganzen Land Herbergen für die Menschen, die ohne Erlaubnis durch Mexiko reisen. Dort können sie sich drei Tage lang ausruhen, bevor sie weiterziehen. Es gibt Waschräume und zwei Mahlzeiten am Tag, Kranke können sich von einem Arzt untersuchen lassen. Die Herberge in Tapachula bietet auch zweimal in der Woche Aufklärungsveranstaltungen an, denn ungewollte Schwangerschaften oder Krankheiten wie Aids zählen zu den großen Problemen der Migrantinnen und Migranten. Nach zwei Nächten in der Herberge brechen auch Rosa und ihr Vater auf. Sie wollen ein zweites Mal versuchen, an den Kontrollen vorbeizukommen. Sie zu begleiten, traue ich mich nicht. Zu viele Migranten haben mir von Raubüberfällen und Vergewaltigungen, auch an Männern, berichtet. Ich nehme den Linienbus nach Arriaga. Dort wollen die beiden auf einen Güterzug steigen. Auf meinem Weg passiere ich vier Kontrollen. Beamte steigen in den Bus und kontrollieren die Pässe der Reisenden. Sie finden niemanden ohne gültige Papiere. Im Herbst 2005 zerstörte der Hurrikan Stan nahezu alle Brücken an der mexikanischen Pazifikküste. Bis heute ist der Bahnverkehr unterbrochen. Deshalb laufen die Migranten etwa zehn Tage die alten Schienen entlang, um 250 Kilometer weiter zum Zug zu gelangen, oder sie fahren in Kleinbussen auf der Straße
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Foto: Hauke Lorenz
Foto: Amnesty
Mehr Betrieb als auf der Brücke. Der Grenzfluss zwischen Mexiko und USA ist kein großes Hindernis.
Warten auf den Zug. Isael versucht schon zum fünften Mal durch Mexiko in die USA zu reisen.
und versuchen, wie Rosa und ihr Vater die Kontrollen zu Fuß zu umrunden.
en vergewaltigt und Menschen haben sich beschossen. Es war furchtbar.« Trotzdem will Isael es wieder versuchen. Auch Rosa kennt die Geschichten, trotzdem will sie hier auf den Zug Richtung USA klettern.
Warten auf einen Platz auf dem Dach Am Bahnhof von Arriaga treffe ich Isael aus El Salvador. In seiner Heimat habe sein Geld gerade zum Überleben gereicht. Hefte, Stifte und Bücher für seine Kinder konnte er sich nicht leisten. »Also habe ich darüber nachgedacht auszuwandern, auch wenn ich mich so vielen Gefahren aussetze«, erzählt er. »Die Wege sind schwierig, aber es ist nicht unmöglich. Ich habe mein Ziel vor Augen und möchte durchkommen, damit wir aus diesem Loch herauskommen. Diese Reise muss ein Erfolg werden und ich sage mir immer, dass sie ein Erfolg wird.« Isael sitzt im Schatten einiger Bäume, unmittelbar am Bahnhof neben den Gleisen. Überall sieht man Menschen, die auf den Zug warten. Viele von ihnen sind entlang der Schienen von der Grenze bis hierher zu Fuß gelaufen. Täglich reisen Hunderte auf Güterzügen in Richtung Norden. So können sie Kontrollen weitgehend ausweichen. Sie nennen den Zug den »Teufel aus Stahl« oder auch den »Zug des Todes«. Denn immer wieder kommt es vor, dass Menschen während der tagelangen Reise im Schlaf vom Zug fallen. Manchmal werden sie durch herabhängende Äste von den Dächern der Waggons gefegt oder von Gangs überfallen, die sie auf dem fahrenden Zug ausrauben. Isael ist nicht zum ersten Mal hier. Fünf Mal wurde er schon abgeschoben. Fünf Mal kam er zurück. »45 Tage saß ich insgesamt schon auf dem Zug«, erzählt Isael. »Dabei habe ich gesehen, wie der Zug die Menschen tötet. Auf dem Zug wurden Frau-
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Menschenrechte nur auf dem Papier Rosa hätte wegen des Überfalls bei La Arrocera Anzeige erstatten können. Nach einer 2007 erlassenen Bestimmung hätte sie dann ein befristetes Visum bekommen müssen, um als Zeugin gegen die Täter aussagen zu können. Sie hat keine Anzeige erstattet. Kaum einer der Durchreisenden ohne Papiere wagt es, in Mexiko Anzeige zu erstatten, wenn er von Banden überfallen oder entführt wird. Auch dann nicht, wenn die Migranten von Polizisten geschlagen oder vergewaltigt werden oder wenn die Polizisten mit den kriminellen Banden zusammenarbeiten. Die Migranten zeigen die Verbrechen nicht an, weil sie die Abschiebung fürchten. Und die Täter müssen keine Verfolgung fürchten, weil es keine Zeugen gibt, die vor Gericht aussagen würden. Dieses Problem ist auch der staatlichen Menschenrechtskommission bekannt. Deshalb richtete sie 1995 eine eigene Abteilung für die Rechte der Migranten ein. Ihre Mitarbeiter nehmen auch Beschwerden der Migranten in den Herbergen auf. Seither erreichten die Kommission über 500 Beschwerden allein gegen Beamte der Einwanderungsbehörde. Aber verurteilen oder entschädigen kann die Kommission niemanden. Sie kann nur Empfehlungen aussprechen. Für Isael sind die Menschenrechte nicht mehr als ein Stück Papier. Die Leute von der staatlichen Menschenrechtskommis-
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Foto: Ricardo Ramírez Arriola / Amnesty
unbürokratische hilfe und untätige bürokraten
Entlang der Schienen in den Norden. Migranten in San Manuel im Bundesstaat Tabasco.
sion redeten viel, hielten aber ihre Versprechen nicht. »Sie wissen, dass wir auf der Durchreise sind. Du bleibst nicht, um auf eine Antwort zu warten, denn sie werden nicht losgehen, um den zu suchen, der dich ausgeraubt hat.« Isael klingt enttäuscht. »Die Mexikaner wandern doch auch in die USA aus. Warum behandeln uns so viele schlecht? Wir sind auch Menschen und haben dieselbe Würde wie sie.« Nach mehreren Tagen des Wartens hören wir abends das Pfeifen der Lokomotive. Es ist schon fast dunkel, doch man kann erkennen, wie sich aus allen Richtungen Menschen dem Bahnhof nähern. Der Zug fährt langsam ein und noch bevor er zum Stehen kommt, klettern die ersten auf den Zug. Im Bahnhof versuchen dann Hunderte einen Platz auf den Güterwaggons zu finden. Wenig später ist es dunkel und die Lokomotive fährt langsam wieder an. Ich versuche, auf einem der Waggons Isael zu entdecken. Plötzlich steht er hinter mir. Dieser Zug sei ihm zu voll. Er warte lieber auf den nächsten. Von hier aus sind es schließlich immer noch über 2.000 Kilometer bis zur Grenze mit den USA. Rosa und ihr Vater sind noch nicht in Arriaga eingetroffen. Vielleicht sind sie inzwischen auch schon wieder abgeschoben worden. Was ihnen noch alles passiert sein könnte, mag ich mir nicht ausmalen. Der Autor ist Mitglied der Mexiko-Ländergruppe der deutschen Sektion von Amnesty International. Im Rahmen seines Ethnologiestudiums reiste er 2007 an die Südgrenze Mexikos und interviewte dort Migrantinnen und Migranten.
berichte
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Die vielen Männer, Frauen und Kinder, die ohne Visum durch Mexiko Richtung USA reisen, sind ein leichtes Opfer für Kriminelle, die sie ausrauben oder Lösegeld von ihren Verwandten erpressen wollen. Oft verdienen korrupte Beamte an diesen Verbrechen, die sie eigentlich bekämpfen sollen. Es gibt es aber auch viele Mexikaner, die den Migrantinnen und Migranten helfen. So schützten Bewohner des Städtchens Rafael Lara Grajales im Bundesstaat Puebla 60 Menschen aus El Salvador, Honduras und Nicaragua, die ihren Kidnappern entflohen waren. Einer der Entflohenen sagte später aus, er und eine Gruppe Mitreisender seien von bewaffneten Männern vom Zug geholt und zu einem Polizeiauto gebracht worden. Die Polizisten übergaben die Festgenommenen an eine bekannte kriminelle Gang, die »Zetas«. Die Bande nahm ihnen die Kleider ab und verlangte Telefonnummern von Verwandten, um Lösegeld zu erpressen. Die Kidnapper schlugen ihre Gefangenen und misshandelten sie mit Feuerzeugen. Einigen gelang es schließlich, sich zu befreien. Sie rannten nackt und blutend auf die Straßen von Rafael Lara Grajales. Bewohner der Stadt leisteten Erste Hilfe und versorgten die Geflohenen mit Kleidung, Nahrung und Unterkunft. Doch die lokale Polizei weigerte sich, die Kidnapper zu verfolgen. Stattdessen wollte die lokale Staatsanwaltschaft die Migrantinnen und Migranten festnehmen lassen. Bewohner von Rafael Lara Grajales verhinderten die Festnahme, weil sie befürchteten, die gerade befreiten Gefangenen würden wieder an die Kidnapper übergeben. Der Vorfall aus dem Jahr 2008 ist ein Beispiel aus dem Amnesty-Bericht »Unsichtbare Opfer« zur Transitmigration in Mexiko. Für den Bericht interviewte Amnesty Mitarbeiter von Notunterkünften, verschiedene Experten und über hundert Migrantinnen und Migranten, wertete Dokumente aus und forderte Behörden zur Stellungnahme auf. Mexiko setzt sich immer wieder für die Rechte von mexikanischen Migranten in den USA ein. Um den Schutz der Zentralamerikaner, die durch Mexiko in die USA reisen wollen, sorgt sich die mexikanische Regierung dagegen kaum. Zwar hat das Land in den vergangenen Jahren einige Schritte unternommen, um den Schutz von »Irregulären« zu verbessern, diese werden jedoch oft nicht konsequent umgesetzt. Amnesty International fordert Mexiko deshalb auf, Verbrechen an den ohne Genehmigung Durchreisenden zu verfolgen und schlägt eine Reihe von Maßnahmen vor, um sie besser zu schützen. Um auch in Deutschland für Aufmerksamkeit zu sorgen, hat die Mexiko-Ländergruppe der deutschen Sektion eine Fotoausstellung zusammengestellt, die in verschiedenen Städten in Deutschland gezeigt wird. Ausstellungstermine und Aktionsvorschläge sind auf unsichtbareopfer. wordpress.com zu finden, der vollständige Bericht auf www.amnesty.org.
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Das Erbe von Nürnberg Kurz nach Mitternacht war es vollbracht: Die Vertragsstaaten des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) verabschiedeten am 12. Juni 2010 eine Resolution, nach der in Zukunft auch die Verantwortlichen für Angriffskriege vor Gericht gestellt werden können. Bislang ist der IStGH für Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zuständig. Bei der Ausweitung handelt es sich um einen mühsam ausgehandelten Kompromiss, mit dem sich die 111 Vertragsstaaten des »Erbes von Nürnberg« annehmen. Das Nürnberger Kriegsverbrecher-Tribunal war bahnbrechend: 1946 wurden erstmals die Verantwortlichen für Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch ein internationales Gericht zur Rechenschaft gezogen. Bei der Konferenz von Rom, die 1998 die Grundlagen für den IStGH schuf, befassten sich die Staaten daher auch mit den »Verbrechen gegen den Frieden« beziehungsweise »Aggressionsverbrechen«, wie der Tatbestand inzwischen genannt wird. Man konnte sich jedoch nicht einigen und legte fest, diesen Punkt später erneut aufzugreifen. Dies geschah nun bei einer Konferenz im ugandischen Kampala, an der 85 Vertragsstaaten teilnahmen, sowie zahlreiche Nichtregierungsorganisationen und Beobachter aus Staaten, die den IStGH nicht anerkennen, wie die USA, China, Russland, Israel oder der Iran. Diplomaten und Wissenschaftler hatten die Konferenz jahrelang vorbereitet. Die von ihnen vorgeschlagene Definition des neuen Tatbestands, der unter anderem Invasionen, Blockaden oder Bombardements umfasst, wurde in Kampala ohne Diskussion angenommen. Äußerst strittig blieb dagegen bis zuletzt, welche Rolle der UNO-Sicherheitsrat spielen soll und wie Aggressionen von Staaten behandelt werden, die dem IStGH nicht beigetreten sind. Hierbei muss man nur an tatsächliche oder mögliche Konflikte zwischen Nord- und Süd-Korea, Russland und Georgien oder in Afghanistan denken oder sich an die umstrittenen Interventionen im Kosovo oder im Irak erinnern. Die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats – China, Frankreich, Großbritannien, Russland und die USA – drängten in Kampala darauf, dem Sicherheitsrat eine exklusive Rolle bei der Anklageerhebung zu sichern und dem Chefankläger des IStGH
Die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats stehen über dem Recht, das für andere Staaten gilt. 56
nicht die Befugnisse zu geben, die er bei Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen hat. Am Ende einigte sich die Konferenz darauf, dass der UNOSicherheitsrat den Gerichtshof ohne weiteres mit der Untersuchung eines Aggressionsverbrechens beauftragen kann, während der Chefankläger des IStGH und die von einem Angriff betroffenen Staaten erst hohe Hürden überwinden müssen, ehe sie ein Verfahren einleiten können. Zudem können die Vertragsstaaten erklären, dass der IStGH nicht für Aggressionen zuständig sein soll, die durch ihre Staatsangehörigen begangen wurden oder von ihrem Staatsgebiet ausgehen – Fachleute nennen dies kritisch »Jurisdiktion à la Carte«. Staaten, die nicht Mitglied des IStGH sind, können überhaupt nicht wegen eines Aggressionsverbrechens angeklagt werden. Inkrafttreten werden die neuen Regeln frühestens 2017. Das Ergebnis der Verhandlungen ist unbefriedigend. Zum einen wird dem Gerichtshof ein sehr politisches Verbrechen zur Behandlung zugewiesen. Dadurch droht eine Überlastung und Politisierung des noch fragilen Gerichts. In Kampala wiesen nur Amnesty und andere NGOs auf diese Gefahr hin – letztlich erfolglos. Außerdem wird die Ungleichheit vor dem Völkerrecht fortgeschrieben, denn die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats stehen nun auch bezüglich des Aggressionsverbrechens über dem Recht, das für andere Staaten gilt. Schon jetzt wird dem IStGH vorgeworfen, sich einseitig gegen Afrika zu richten, denn alle laufenden Verfahren haben mit Staaten auf diesem Kontinent zu tun. Jetzt besteht die Gefahr, dass die Glaubwürdigkeit und Akzeptanz des IStGH weiter unterspült werden. Aber offenbar wollten viele Staaten um fast jeden Preis das Erbe von Nürnberg einlösen. Für die Zukunft des Strafgerichtshofs erscheint der Preis jedoch zu hoch. Nils Geißler war Mitglied der Delegation von Amnesty International bei der Überprüfungskonferenz zum Internationalen Strafgerichtshof, die vom 31. Mai bis 12. Juni im ugandischen Kampala stattfand.
Foto: Stephen Wandera / AP
Künftig soll der Internationale Strafgerichtshof auch »Verbrechen gegen den Frieden« verfolgen können. Die Neuregelung könnte den Gerichtshof jedoch schwächen. Von Nils Geißler
Taktikspiel. Das Team »Gerechtigkeit« mit dem UNO-Generalsekretär (rechts) spielt vor der Konferenz zum IStGH gegen »Würde« mit dem ugandischem Präsidenten (Mitte). Mit von der Partie: Opfer von Kriegsverbrechen in Uganda, Kongo und Darfur, die der Gerichtshof untersucht.
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Foto: Keith Bedford / The New York Times / Redux / laif
Augen zu Eingesperrt. Nach ihrem Sieg über tamilische Rebellen internierte die srilankische Armee wie hier in der »Menik Fram« hundertausende Zivilisten.
In Sri Lanka weigert sich die Regierung, die Verbrechen des Bürgerkrieges untersuchen zu lassen. Der UNO-Sicherheitsrat könnte den Internationalen Strafgerichtshof einschalten, bleibt aber untätig. Von Martin Wolf »Unsere Truppen trugen in einer Hand eine Waffe und eine Ausgabe der Menschenrechts-Charta in der anderen«, erklärte Sri Lankas Präsident Mahinda Rajapakse, als er im Juni 2010 eine Militärparade abnahm. Gefeiert wurde der Sieg über die separatistischen tamilischen Rebellen Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) ein gutes Jahr zuvor. 25 Jahre lang tobte in dem Inselstaat vor der indischen Küste ein Bürgerkrieg. 2009 besiegte die Armee in einer großen Offensive die Rebellen. Dabei hätten seine Soldaten »nicht auf einen einzigen Zivilisten gefeuert«, sagte der Präsident. Überprüfen kann seine Behauptung niemand, da sich Sri Lanka einer unabhängigen Untersuchung verweigert. Selbst drei Beauftragten des UNO-Generalsekretärs, die möglichen Kriegsverbrechen nachgehen sollten, wurde die Einreise verweigert. Aussagen von Augenzeugen, Fotos und Videoaufnahmen, die Amnesty und andere Organisationen gesammelt haben, enthalten jedoch zahlreiche Hinweise darauf, dass beide Seiten Kriegsverbrechen begangen haben. So benutzte die LTTE Zivilisten als menschliche Schutzschilde, positionierte Artillerie in der Nähe dicht besiedelter Gebiete, rekrutierte gewaltsam Kindersoldaten und schoss auf Zivilisten, die flüchten wollten. Die Armee beschoss dicht besiedelte Gebiete mit Artillerie, darunter auch Gebiete, die sie selbst zu Sicherheitszonen für Zivilisten erklärt hatte. Details über die Schlussoffensive der Armee, die im Herbst 2008 begann, werden erst nach und nach bekannt, da die Regierung versuchte, jede unabhängige Berichterstattung zu unterbinden. Sie verweigerte aber nicht nur Journalisten und Menschenrechtsorganisationen den
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Zugang zu den Konfliktgebieten, sondern auch humanitären Hilfsorganisationen und UNO-Mitarbeitern und verhinderte damit die dringend notwendige humanitäre Hilfe für die Zivilisten. Die Erklärung der Regierung, dass etwa 3.000 bis 5.000 Zivilisten in der letzten Phase des bewaffneten Konflikts getötet wurden, scheint weit untertrieben. UNO-Mitarbeiter, die während der letzten Phase des Konflikts in Sri Lanka waren, gehen von deutlich über 20.000 zivilen Toten aus. Um die Vorwürfe zu entkräften, setzte der Präsident eine »Versöhnungskommission« ein. Ihr Leiter ist ein dem Präsidenten nahe stehender ehemaliger Staatsanwalt, die Untersuchung von Kriegsverbrechen ist nicht vorgesehen. Voraussetzung für eine echte Versöhnung wäre aber die Untersuchung der Verbrechen beider Seiten und eine Bestrafung der Verantwortlichen. In Sri Lanka selbst ist das derzeit jedoch nicht zu erwarten. Aber auch der Internationale Strafgerichtshof kann von sich aus keine Ermittlungen einleiten, da Sri Lanka dem entsprechenden Abkommen nicht beigetreten ist. Deshalb könnte nur der UNO-Sicherheitsrat den Gerichtshof mit der Untersuchung beauftragen. Doch der Sicherheitsrat hat sich noch nicht einmal mit der Frage befasst. Diese Untätigkeit nimmt nicht nur den Angehörigen der Opfer die Hoffnung auf Gerechtigkeit, sie sendet auch an andere Staaten das Signal, dass sie ungestraft Völkerrecht und Menschenrechte ignorieren können. Der Autor ist Sprecher der Sri-Lanka-Ländergruppe der deutschen Sektion von Amnesty International. Amnesty International fordert die UNO auf, eine unabhängige internationale Untersuchung der Verletzungen der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts in Sri Lanka einzuleiten. Mehr Informationen und Aktionsvorschläge auf www.amnesty-sri-lanka.de
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Der Hass gegen die Liebe In Malawi hat der Präsident im Mai ein schwules Paar begnadigt, das zu 14 Jahren Gefängnis mit Arbeitslager verurteilt worden war. Von Pamo Roth »Ich verhänge gegen Sie ein abschreckendes Strafmaß, damit die Öffentlichkeit vor Menschen wie Ihnen geschützt wird und wir nicht in Versuchung kommen, dieses abscheuliche Beispiel nachzuahmen«, sagte der malawische Richter Nyakwawa UsiwaUsiwa zur Begründung der Höchststrafe zu den Verurteilten. Sie hätten gegen die »natürliche Ordnung« verstoßen. Steven Monjeza, 26, und Tiwonge Chimbalanga, 20, wurden am 27. Dezember 2009 verhaftet, einen Tag, nachdem sie öffentlich ihre Verlobung gefeiert hatten – die erste zwischen Schwulen in Malawi. Die Vorwürfe lauteten »Erregung öffentlichen Ärgernisses« und »unnatürliche Akte«. Am 20. Mai 2010 wurde Monjeza wegen Analverkehr verurteilt, Chimbalanga, weil er ihn zugelassen habe.
Obwohl vor allem der Präsident von Malawi, Bingu wa Mutharika, nicht müde wird zu betonen, dass Homosexualität ein nichtmalawisches, sondern ein ausländisches Phänomen sei, teuflisch und von den Kolonialmächten eingeführt – ist gleichgeschlechtliche Liebe in der afrikanischen Geschichte gut dokumentiert. Kolonialistisch ist hingegen Homophobie. In 38 von 53 afrikanischen Staaten steht Homosexualität unter Strafe, teilweise droht sogar die Todesstrafe – nur in Südafrika sind gleichgeschlechtliche Zivilehen erlaubt. Das Gesetz, das diese brutale Rechtsprechung in Malawi möglich macht, stammt aus der Zeit der Kolonisation durch die Briten. Seit der Missionierung, angestoßen durch den bis heute verehrten David Livingstone 1859 und der Gründung der englischen Kolonie Njassaland 1907, ist Malawi ein extrem christliches und konservatives Land. Den Prozess gegen Chimbalanga und Monjeza verfolgten Tausende aufgebrachte Malawier, die noch härtere Strafen forderten. Auch die Medien beteiligten sich an der Schwulenhetze. Die konservativen Zeitungen in Malawi titelten am Tag nach dem Urteil: »Schuldig im Sinne der Anklage« (»The Nation«) und »Schwule schuldig« (»Daily Times«). Auch die Kirche ist ein wichtiger Katalysator homophober Bestrebungen, wie die Ausführungen von Pastor Mario Manyozo von der Word of Life Tabernacle Church in Malawi offenbaren: »Homosexualität ist gegen Gottes Schöpfung und ein teuflischer Akt, weil Schwule von Dämonen besessen sind.«
In Freiheit in Gefahr Menschenrechtler auf der ganzen Welt kritisierten das Urteil. Amnesty International nannte es eine »Schande«, erklärte die beiden Verurteilten zu gewaltlosen politischen Gefangenen und setzte sich für ihre Freilassung ein. Ein weiteres Druckmittel kam hinzu: Malawi ist eines der ärmsten Länder der Welt: 40 Prozent seines Staatshaushalts bestehen aus Entwicklungshilfe. Bingu wa Mutharika – derselbe Präsident übrigens, der 2005 aus Angst vor Geistern aus seinem Präsidentenpalast floh – beugte sich dem internationalen Druck. Als UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon nach Malawi reiste und dessen Agrarpolitik
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Foto: Alex Ntonya / AP
Homophobie ist kolonialistisch
Verlobt, verurteilt. Steven Monjeza (links) und Tiwonge Chimbalanga (rechts) nach dem Urteil gegen sie.
lobte, begnadigte Mutharika die beiden Verurteilten am 29. Mai »aus humanitären Gründen« – nicht ohne zu betonen, dass sich dadurch an der juristischen und gesellschaftlichen Situation nichts ändere: Chimbalanga und Monjeza hätten »ein Verbrechen gegen unsere Kultur, gegen unsere Religion und gegen unsere Gesetze« begangen. Die beiden wurden in der darauf folgenden Nacht freigelassen und von Gefängniswärtern getrennt in ihre Heimatdörfer gebracht. Weil ihre ursprüngliche Festnahme durch die Hetzjagd eines aufgebrachten Mobs verursacht war, ist die Situation heikel. Aktivisten sorgen sich nun um die Sicherheit der beiden Freigelassenen. Grünen-Politiker Volker Beck forderte die Bundesregierung auf, Monjeza und Chimbalanga Asyl anzubieten. Der Malawi-Länderexperte der deutschen Amnesty-Sektion, Stefan Berger, erklärte: »Amnesty fordert Malawis Regierung auf, das Paar vor Diskriminierung und Gewalt zu schützen.« Sicher sind Chimbalanga und Monjeza noch lange nicht. Ihre Liebe bringt sie weiter in Gefahr, auch in Freiheit. Dem öffentlichen Druck hielt ihre Liebe nicht stand: Sie trennten sich. Laut Chimbalanga ist Monjeza von Verwandten gezwungen worden, ihn zu verlassen und mit einer Frau zusammen zu sein. Die Autorin ist freie Journalistin und arbeitete unter anderem für einen Radiosender in Malawi. Sie lebt in Berlin.
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WISSEN IST MACHT ZUR VERÄNDERUNG AMNESTY INTERNATIONAL REPORT 2010 ZUR WELTWEITEN LAGE DER MENSCHENRECHTE Wir präsentieren Ihnen den Amnesty International Report 2010. Wie immer mit aktuellen Zahlen, Daten und Fakten zur Menschenrechtsrechtssituation in 159 Ländern der Welt. Sie erfahren mehr über positive Veränderungen wie die strafrechtliche Verfolgung von Menschenrechtsverletzern und die Abschaffung der Todesstrafe in einigen Staaten. Aber auch über die Länder, in denen nach wie vor Menschenrechtsverletzungen auf der Tagesordnung stehen. Der Bericht ist ein Appell, nicht die Augen vor Unrecht und Verletzungen der Menschenrechte zu verschließen. Denn Ihr Wissen und Ihr Engagement können für die Menschen weltweit viel bewegen! Ab 27. Mai unter: www.amnesty.de Broschur mit Länderkarten, 544 Seiten S. Fischer Verlag 2010 ISBN 978-23-10-000834-3 14,95 Euro
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DIE UNERHÖRTE WAHRHEIT ARMUT UND MENSCHENRECHTE MIT EINEM VORWORT VON KOFI ANNAN
Gebunden, 320 Seiten S. Fischer Verlag ISBN 978-3-10-041514-1 22,95 Euro
DIE UNERHÖRTE WAHRHEIT – ARMUT UND MENSCHENRECHTE Warum stehen Armut und Menschenrechtsverletzungen in einem direkten Zusammenhang? Wer hat Interesse, breite Bevölkerungsgruppen in bitterster Armut zu halten? Irene Khan, die ehemalige Generalsekretärin von Amnesty International, deckt die Zusammenhänge und Mechanismen von Armut und Menschenrechtsverletzungen auf und stellt Lösungsansätze vor. Mit einem Vorwort von Kofi Annan.
Zittern wie vor Stalin Den Terror nicht mit Terror beantworten. Straße in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny nach einem Selbstmordanschlag auf das Innenministerium.
Swetlana Gannuschkina ist Mitglied des beim russischen Präsidenten angesiedelten Menschenrechtsrats. Nach drei Treffen des Gremiums mit Präsident Dmitri Medwedew zieht sie eine vorsichtig optimistische Bilanz. Ende 2008 war ich, wie viele andere, vom ersten Jahr des neuen Präsidenten Medwedew enttäuscht. Er war zwar im März 2008 auf Vorschlag seines Vorgängers Wladimir Putin Präsident geworden. Er kam jedoch aus der Wissenschaft und nicht aus dem KGB. Wir hatten daher die Hoffnung, er werde seine Leute um sich scharen und allmählich Entscheidungen treffen, die humanistischer sein würden als die seines Vorgängers. Erst gut ein Jahr nach seinem Amtsantritt traf sich Präsident Medwedew erstmals mit seinem »Rat zur Förderung der Institute der Zivilgesellschaft und Menschenrechte«. Im Anschluss daran gab es tatsächlich einige positive Änderungen. In den beiden ersten Begegnungen wurden aktuelle Fragen erörtert und wichtige Entscheidungen getroffen, so wurde zum Beispiel eine Regierungskommission zur Migrationspolitik gegründet. Am 19. Mai 2010 fand dann das dritte Treffen des Präsidenten mit Vertretern der Zivilgesellschaft statt. Dabei ging es um die Situation im Nordkaukasus. Beteiligt an diesem Treffen waren Vertreter von Nichtregierungsorganisationen, die in der Region tätig sind. Mein Redebeitrag war einer der ersten. Ich wies darauf hin, dass es eine der wichtigsten Aufgaben des Staates sei, die Sicher-
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heit der Bevölkerung zu gewährleisten. Der Staat muss im Kampf gegen den Terrorismus hart sein und muss – im Rahmen des Gesetzes – harte Methoden anwenden. Doch in diesem Kampf stehen sich auch verschiedene Ideologien gegenüber. Die Ideologie des Terrorismus ist einfach: Es geht um kollektive Schuld, kollektive Verantwortung und kollektive Bestrafung. Einer solchen Ideologie muss der Staat individuelle Rechte, die Einhaltung der Gesetze und die Achtung der Menschenrechte entgegenstellen. Denn sonst stellt er sich auf eine ideologische Stufe mit dem Terrorismus – er beantwortet Terror mit Terror. Genau das geschieht seit 2007 in der russischen Teilrepublik Tschetschenien. Zum Beispiel werden dort Verwandte mutmaßlicher Aufständischer verfolgt und aus ihren Häusern vertrieben. In den vergangenen Jahren wurden zwei Dutzend Häuser von Angehörigen in Brand gesteckt. Andere mussten vor laufender Kamera Reue bekunden, ihre Angehörigen zur Rückkehr auffordern oder diese sogar bei Trauerfeierlichkeiten verfluchen. Wer als Verwandter eines mutmaßlichen Aufständischen gilt, findet keine Wohnung, erhält keine sozialen Leistungen und wird gesellschaftlich gemieden. Am 7. April 2010 berichtete der Fernsehkanal »Weinach« über ein Treffen führender Persönlichkeiten der Tschetschenischen Republik mit Angehörigen mutmaßlicher Aufständischer. In der Sendung kündigte der Bürgermeister von Grosny, Muslim Chutschijew an, er werde mit den Eltern von mutmaßlichen
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Aufständischen das tun, »was deren Kinder mit der Zivilbevölkerung machen«. Ähnlich äußerte sich der Bezirksvorsteher des Stadtteils Staropromyslow von Grosny: »Wenn ihr denkt, dass ihr nach unserem Gespräch einfach nach Hause gehen könnt und dort dann in Ruhe sitzen werdet, habt ihr euch schwer getäuscht.« Im Mai vergangenen Jahres hatte der Präsident Tschetscheniens, Ramsan Kadyrow, in der Fernsehsendung »Itogi« gesagt: »Wahhabiten und alle, die nur einen auch noch so geringen Geruch von Wahhabiten an sich haben, werden in Tschetschenien vernichtet werden. Ich schwöre bei Allah, dass ich nur am Leben lasse, wer seine Kinder nach Hause holt. Ja, sie müssen ihre Kinder, diese Bastarde, zurückholen, damit man sie einsperren oder töten kann. Nein, wir werden sie nicht festnehmen oder inhaftieren, wir werden sie an Ort und Stelle töten. Und danach wird niemand auch nur ihre Namen aussprechen dürfen.« Außergerichtliche Hinrichtungen sind unter keinen Umständen zu rechtfertigen – zur Bestrafung von Verbrechern gibt es Gesetze. Kadyrow spricht jedoch direkt von der physischen Vernichtung von Menschen, die man verdächtigt, einer »falschen« Ausrichtung des Islam anzugehören. Durch solche Äußerungen erreicht man nur, dass sich eine Form des Islams radikalisiert, auf diese Weise macht man aus ihr eine Ideologie des Protests. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass die Bevölkerung der Tschetschenischen Republik heute in Angst und Schrecken lebt, sie zittert wie früher vor dem Terror Stalins oder vor den Schrecken des Krieges. Bei einer von Ramsan Kadyrow persönlich geleiteten Sonderoperation wurde am 31. Oktober 2009 Sarema Gaisanowa entführt, Mitarbeiterin einer dänischen Flüchtlingsorganisation. Die Ermittlungen in diesem Fall verlaufen schleppend. Sie werden von den tschetschenischen Behörden ebenso behindert wie die Ermittlungen der Morde an Natalja Estemirowa von der Menschenrechtsorganisation Memorial im Juli 2009 und an Sarema Sadulajewa von der Organisation »Retten wir die Generation« im August 2009. In beiden Fällen konnten die Ermittler Zeugen nicht befragen. Und diejenigen, die ausgesagt haben, müssen um ihr Leben fürchten und wurden deshalb von ihren Verwandten aus Tschetschenien weggebracht.
berichte
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russland
Dass die Zusammenarbeit von Zivilgesellschaft und Machthabern durchaus auch fruchtbar sein kann, zeigt das Beispiel Inguschetien. In dieser russischen Teilrepublik trifft sich Präsident Junus-Bek Jewkurow mit den Angehörigen von Mitgliedern illegaler bewaffneter Einheiten. Bei diesen Treffen werden jedoch keine Drohungen ausgestoßen, sondern es wird darüber diskutiert, wie man die jungen Leute wieder in ein ziviles Leben zurückholen kann. Ich hoffe, dass unsere Argumente beim russischen Präsidenten nicht auf taube Ohren gestoßen sind. Was mich jedoch beunruhigt, ist Medwedews Reaktion auf unsere Kritik am Rechtssystem. »Welchen Ausweg gibt es denn?«, fragte Medwedew ironisch nach. »Sollen wir denn einfach die Gerichte auflösen und neue einrichten? Das hatten wir schon 1917.« Natürlich nicht. Doch ein Rechtssystem, das unabhängige und selbstständig denkende Richter ausschließt, mit Urteilsbegründungen arbeitet, die sich kaum von der Anklage unterscheiden, in dem die Richter Geiseln sind von unqualifizierter und mitunter von oben angeordneter operativer Arbeit und träge arbeitenden Ermittlungsbehörden, die die Beweismittel fälschen – ein solches Rechtsystem kann keine unabhängige Gewalt im Staat sein. Ich hoffe, dass die Reform des Justizsystems und die strenge Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien bei unserem nächsten Treffen mit dem Präsidenten Thema sein werden. Übersetzung: Bernhard Clasen
swetlana gannuschkina
Foto: Amnesty
Foto: Musa Sadulayev / AP
Die Zusammenarbeit von Zivilgesellschaft und Machthabern kann fruchtbar sein, das zeigt das Beispiel Inguschetien.
Die Autorin erhielt 2003 den Menschenrechtspreis der deutschen Sektion von Amnesty International. Sie leitet innerhalb der Menschenrechtsorganisation »Memorial« ein russlandweites Netzwerk zur Rechtsberatung von Flüchtlingen. Für die Arbeit dieses Netzwerks erhielt Memorial 2004 den Nansen-Preis des UNHCR.
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64 Politisches Theater: Hans-Werner Kroesinger im Gespräch 68 Porträt: Der Komponist John Harbison 70 Analyse: Terrorismus und Medien 72 Politischer Rock: Mexikos populäre Band Panteón Rococó 74 Bücher: Von »Wasserpolitik« bis »Gnade« 76 Film & Musik: Von »Ghostwriter« bis »Nkolo«
Dokumentar des Theaters. Regisseur Hans-Werner Kroesinger. Interview Seite 64. Foto: Michael Danner
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Ruanda, Kindersoldaten, Holocaust. Hans-Werner Kroesinger fordert sein Publikum.
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»Der Hunger des Theaters nach Realität« Die Geschichte ist bekannt, denkt man, bis sie von Hans-Werner Kroesinger auf die Bühne gebracht wird. Seit Ende der neunziger Jahre arbeitet der Berliner Theaterautor und Regisseur mit dokumentarischen Quellen. Oft beschäftigt er sich dabei mit Kriegsschauplätzen der Gegenwart und der jüngsten Geschichte. Damit steht Kroesinger für ein politisches Theater wie derzeit kaum ein anderer Regisseur in Deutschland.
In Ihren Theaterstücken »Ruanda Revisited« oder »Kindersoldaten« geht es um Krieg und Völkermord in Afrika. Weiß man in Deutschland zu wenig über diese Menschenrechtsverletzungen? Man kann sehr viel darüber wissen, wenn man möchte. Man liest meist jedoch nur einen kurzen Artikel in der Zeitung oder hört Nachrichten.
Foto: Michael Danner
Was hat denn das Theater dem Zeitungslesen voraus? Theater schafft eine andere Konzentration, wir nennen das unseren »point of departure«. Man lässt sich anders darauf ein, zieht andere Materialien hinzu. Dabei treffen Menschen, die sich schon lange mit dem Thema beschäftigen, auf andere, denen das neu ist und die mehr wissen wollen. So wird die Aufführung zu einem Motor für die weitere Beschäftigung mit dem Gegenstand. In »Kindersoldaten« wird aus der Krisenforschung, aus UNOResolutionen, aus Richtlinien des Internationalen Strafgerichtshofs, aus Asylbestimmungen oder Vorschriften der Bundeswehr zitiert. Diese amtliche Diktion ist schwer zugänglich. Warum ist Ihnen das dennoch wichtig? Die Sprache dieser Schriftstücke und Dokumente verschweigt mehr als sie offen legt. Und das Theater ist ein Ort, an dem man sich mit Sprache beschäftigt. Weil diese Texte nicht für die Bühne gedacht sind, schafft es einen anderen Brennwert, wenn Sie diese Sprache in der Reibung mit einem Schauspieler sehen und
interview
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hans-werner kroesinger
hören. Etwas von dem Wahnsinn, der hinter dieser Sprache steckt, wird sichtbar. Trägt die Sprache der Institutionen, die für den Schutz der Menschenrechte zuständig sind, den Subjekten zu wenig Rechnung? In dem Moment, in dem Sie sich berufshalber mit einem solchen Thema beschäftigen, besteht immer die Gefahr, dass die Subjekte verschwinden. Denn es geht nicht mehr um Einzelfälle, sondern um deren Quersumme, die kategorisiert und überschaubar gemacht werden muss. Dabei werden die Einzelnen unscharf und zu Schemen. Unser Versuch im Theater besteht darin, die Schemen wieder heranzuholen und den Zuschauer zu motivieren, sie zu füllen. »Kindersoldaten« haben Sie für ein junges Publikum im Berliner Theater an der Parkaue herausgebracht. War das ein Risiko? In »Kindersoldaten« zeigen wir im Grunde genommen eine Behörde mit vier Beamten, die Fälle von Kindersoldaten bearbeiten. Die Fälle ergreifen mehr und mehr Besitz von ihnen. Stellvertretend für die Kindersoldaten aus verschiedenen Kriegen und verschiedenen historischen Epochen haben wir Pappfiguren auf die Bühne gestellt, die waren auf der einen Seite blank, auf der anderen Seite sah man ein Porträt. Die jugendlichen Zuschauer sind entscheidungsstark, sie haben oft, wie wir aus den Gesprächen danach erfahren haben, sehr konkret einen Fall verfolgt und sich eine Geschichte herausgegriffen.
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Rezitieren von Dokumenten. Szene aus »Ruanda Revisited«.
Geht Ihre Theaterarbeit über die Aufführung hinaus? Ja, es gehören Gespräche nach der Aufführung dazu. Zu jedem Stück gibt es umfangreiche Materialsammlungen. In das Theater an der Parkaue kommen manche Schüler ein zweites Mal, weil sie beim ersten Mal von der Informationsdichte überfordert waren, aber dann neugierig wurden auf das, was sie beim ersten Mal nicht mitbekommen haben. In »Ruanda Revisited« geht es um einen UNO-Militäreinsatz. Man erfährt dabei auch einiges über die egoistischen Interessen der Teilnehmerstaaten. Die Militärs erscheinen immer mehr als Menschen, die in ihrer Rolle eingeengt werden – wollten Sie die UNO als eine scheinheilige Fassade beschreiben? Nein, das nicht. Zehn Jahre nach den Ereignissen sah ich im Fernsehen ein Interview mit Romeo Dallaire, dem kanadischen General, der die UNO-Mission leitete. Das Faszinierende an ihm war: Er war durch und durch Soldat und beschädigt von dem, was er erlebt hatte. Sein ganzes Leben lang hatte er darauf hingearbeitet, so einen UNO-Einsatz zu leiten, und als es endlich geschah, ging alles schief. Er sagte in dem Interview: »Das hat Europa nicht interessiert, Europa war mit sich selbst beschäftigt, mit Jugoslawien.« Das traf mich. Da hatte er Recht. Dann habe ich angefangen, zu recherchieren, und die erste Überraschung war, dass Ruanda eine deutsche koloniale Vorgeschichte hat. Die ist aber kaum bekannt. Die Deutschen waren es, die angefangen haben, aus Identitäten, die im Prinzip variabel waren, Ethnien zu konstruieren. Bis dahin waren Hutu, Tutsi und Twa keine festen ethnischen Begriffe. Das war mir vorher nicht klar, und das spielte auch in den Medienberichten keine Rolle: Da galt der Völkermord als etwas, das halt hin und wieder in Afrika passiert. Das ist totaler Unsinn.
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Die Deutschen führten mit der Ethnifizierung ein System ein, das von den Belgiern perfektioniert wurde und das dann fast zwangsläufig auf diesen Konflikt zulief. Ihr Stück erzählt detailliert, wie es dazu kam, dass 800.000 Menschen starben. Ein Grund dafür ist, dass es in Ruanda nichts anderes gab als Menschen, keine Rohstoffe. Deshalb blieb die Hilfe aus. Von verschiedenen Politikern wurde das klar formuliert; man engagiert sich nicht, weil wirtschaftlich nichts zu holen ist. Wie beurteilen Sie die Situation in Ruanda heute? Heute, nachdem das Ganze schief gegangen ist, werden Millionen reingeschoben, und in Ruanda treten sich die Entwicklungshelfer gegenseitig auf die Füße. Alle senden Geld, aus Schuldbewusstsein. Die Fakten, die Sie vermitteln, sind oft sehr deprimierend, zum Beispiel auch in Ihrem Stück »Herero 100« über den Völkermord an den Herero in Namibia im Jahr 1904. Man sitzt da, ist bedrückt und bekommt ein schlechtes Gewissen. Das ist schade, denn mit einem schlechten Gewissen geht man zur Beichte und tut sonst nichts. Betroffenheit ist nicht das Ziel und auch nicht eine Spende von zehn Euro für die Welthungerhilfe. Im Idealfall funktionieren die Stücke anders, man kommt mit anderen darüber ins Gespräch. Wir genießen bestimmte Privilegien der Demokratie, die sind nicht selbstverständlich und daraus resultiert eine Verantwortung. Geschichte entsteht immer aus einer Verkettung von Ereignissen, und um die geht es mir. Je mehr man mit ihr vertraut ist, desto einfacher wird es, zu reagieren, bevor die nächste Sache an die Wand gefahren wird.
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Fotos: Barbara Braun / Drama-Berlin
Die Figuren hinter der Pappe. Szene aus »Kindersoldaten«.
Viele Ihrer Stücke handeln von der Kolonialzeit. Denken Sie, dass wir uns in Deutschland zu wenig damit beschäftigen, wie heutige Konflikte mit der Geschichte zusammenhängen? Ich glaube, dass man als Deutscher eine andere Verantwortung im Umgang mit Geschichte hat. Das erste dokumentarische Stück, das ich 1996 gemacht habe, handelte von Adolf Eichmann. Von Harry Mulisch hatte ich die Gerichtsreportagen gelesen, »Strafsache 40/61«, und stieß auf das Vernehmungsprotokoll. Es gibt in dem Verhör einen Moment, in dem der israelische Polizeihauptmann Avner Less, dessen Familie umgebracht wurde und der das Verhör erst nicht führen wollte, realisiert, dass er sich auf die Sprache von Eichmann einlassen muss, wenn er Informationen von ihm will. Less macht es krank, dass er sich so oft mit Eichmann treffen muss und dass sie wie zwei Fachleute über die Organisation der Vernichtungstransporte reden. Die Sprache, die Eichmann benutzt, um die Transporte zu beschreiben, verschweigt das Eigentliche, nämlich dass sie Menschen transportierten. Das fand ich einen interessanten Gegenstand für das Theater. Ihre Stücke haben viel mit Sprachregelungen der Politik zu tun. Wie bewerten Sie die Formulierung von Bundesverteidigungsminister zu Guttenberg, der in Bezug auf Afghanistan »umgangssprachlich von Krieg« redet? Zum Berufsbild des Soldaten gehört es, eine Waffe in der Hand zu haben und eventuell zu töten und getötet zu werden – das ist Berufsrisiko. Dass die Bundesregierung zu diesem »man könnte es umgangssprachlich Krieg nennen« greift, ist eine Verballhornung der Situation. Man traut der Öffentlichkeit nicht zu, sich mit der Situation auseinanderzusetzen. Die Texte Ihrer Stücke sind für Schauspieler ein ungewöhnliches Material. Was bedeutet Ihnen die Arbeit am Text?
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hans-werner kroesinger
Die Arbeit am Text ist alles. Auch wenn sie für Schauspieler ein Alptraum sein kann. Die Texte dürfen nicht eingefärbt oder durch Haltung kommentiert werden, den Inhalt zu vermitteln, das ist genug. Man will das natürlich emotional sehen, und wenn das dem Publikum vorenthalten wird, dann steigt die Bereitschaft, selbst einzusteigen. Sonst ist es wie beim Fernsehfilm, der die Gefühle um 20.15 Uhr ein- und um 21.45 Uhr wieder abschaltet. Der Krieg ist ein Dauerthema Ihrer Arbeit. Haben Sie keine Angst, damit als Künstler in eine Schublade zu geraten? Da bin ich zweifelsohne drin, aber Angst habe ich nicht: Eine Schublade kann sehr geräumig sein. Seit dem Angriff der Flugzeuge auf die Twin Towers in New York 2001 ist der Hunger des Theaters nach Realität sehr groß. Das kommt uns zugute. Fragen: Katrin Bettina Müller
interview hans-werner kroesinger 1962 geboren, studierte Angewandte Theaterwissenschaften in Gießen. Er arbeitete als Assistent von Robert Wilson und Heiner Müller, bevor er Anfang der neunziger Jahre mit eigenen Projekten begann. Sein dokumentarisches Theater entwickelte er hauptsächlich in Berlin, im Theater Hebbel am Ufer, den Sophiensälen und im Theater an der Parkaue; seit 2006 auch am Theater Aachen und am Staatstheater Stuttgart. Er hat über 20 Stücke mit politischem Inhalt geschrieben.
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Foto: Thomas Lehmann / SZ / dpa
Musikalischer Anatom
Freude an der Kontroverse. Der Komponist John Harbison.
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John Harbison ist einer der wichtigsten klassischen Komponisten der USA – und einer der wenigen Vertreter der E-Musik, der aktuelle politische Themen kritisch verarbeitet. Zum Beispiel die Menschenrechtsverletzungen der US-Armee in Abu Ghraib. Von Eva C. Schweitzer
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enn er spricht, ist er sanft, ruhig, zurückhaltend, fast ein wenig abwesend. Aber wenn er dirigiert, wirkt er nachdrücklich, energisch, scharf und sehr präzise. John Harbison, einer der wichtigsten Komponisten der USA, steht an diesem Sonntag in der Musikhalle der Emmanuel Church in Boston, einer gewaltigen protestantischen Kirche mit einem hohen, von Säulen getragenen Gewölbe und bunten Glasfenstern. Die Emmanuel Church, deren künstlerischer Leiter Harbison ist, ist eine liberale Gemeinde, die mit dem »Boston Jewish Spirit« gemeinsame Gottesdienste feiert. Und Harbison dirigiert hier Arnold Schönberg, den atonalen Komponisten, der in Boston lebte, nachdem er vor den Nazis aus Wien fliehen musste. Hat er Schönberg persönlich kennen gelernt? »Nein, leider nicht«, sagt Harbison. »Als ich zwölf Jahre alt war, hätte ich die Gelegenheit gehabt, weil mein Vater ihn kannte, aber damals konnte ich mit seiner Musik noch nichts anfangen. Zwei, drei Jahre später hatte sich das geändert, da interessierte mich seine Musik, aber da war er leider bereits gestorben.« John Harbison, Musikprofessor am Massachusetts Institute of Technology, Pulitzerpreisträger, Festivalveranstalter und Komponist von Sinfonien, Kantaten und Opern, hatte eine ungewöhnliche Kindheit: Mit fünf lernte der Junge aus Orange, New Jersey, Klavierspielen, und manchmal versammelte sich die ganze Familie um das Piano, um Protestlieder zu singen. Mit zwölf gründete er eine Jazzband. In der Flower-Power-Zeit studierte er klassische Musik. Derweil pilgerten seine Altersgenossen nach Woodstock und hörten Janis Joplin und Jimi Hendrix. Er lächelt ein bisschen. »Ich war nie Mainstream«, sagt er. »Mich hat Rock nie interessiert, allenfalls Jazz, und das war damals schon sehr esoterisch. Damals wurden gerade alle Jazzclubs in Rockclubs verwandelt.« Aber auch er engagierte sich politisch: Er fuhr mit anderen Studenten nach Mississippi, um gegen die Rassentrennung zu demonstrieren, und um schwarzen Amerikanern zu helfen, sich als Wähler zu registrieren. Auch heute beschäftigt ihn die Politik: Er komponierte ein Stück über Abu Ghraib, das berüchtigte irakische Gefängnis, in dem US-Soldaten Gefangene folterten. Beauftragt hatte die Komposition David Deveau, der Direktor des Rockport-Festivals in Neuengland, wo es im Sommer 2006 uraufgeführt wurde. Das Stück besteht aus zwei Gebeten. »Im ersten Teil geht es darum, was passiert ist, im zweiten um die Trauer darüber«, erklärt Harbison. Er hat es mit Piano und Cello besetzt, denn »das Cello entspricht am ehesten der menschlichen Stimme«. Warum Abu Ghraib? »Das war eine entscheidende Veränderung in der US-Politik«, sagt er. »Die Regierung hat zwar versucht, es als Fehler weniger Soldaten darzustellen, aber das kam erstmals von ganz oben«, glaubt Harbison. In der Tat dokumentierte selbst ein Untersuchungsbericht des US-Senats, wie sich die zeitweise für Guantánamo genehmigten Misshandlungsmethoden und die für die Geheimgefangenen der CIA ausgearbei-
porträt
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john harbison
teten Torturen innerhalb der Armee ausbreiteten. Sie inspirierten auch die Wachsoldaten von Abu Ghraib, die Gefangenen zu foltern und ihre Taten stolz auf Fotos festzuhalten. Harbisons eigentlicher Impuls, das Stück zu schreiben, resultierte aber aus dem Kontrast zwischen der Bedeutung des Vorgangs und dem Mangel an Aufmerksamkeit in den USA. »Es hat Jahre gedauert, bis die Presse Abu Ghraib aufgegriffen hat.« Offenbar kam der Gesang aus dem Foltergefängnis auch für viele Amerikaner zu früh. »Die Uraufführung war bei einem Sommerfestival, wo Besucher in Sportkleidung saßen, die gerade vom Boot geklettert waren. Für die war das sehr irritierend«, erinnert er sich. »Die Leute sind in Scharen gegangen.« Keine neue Erfahrung für Harbison. Zum 200-jährigen Jubiläum der USA, 1976, hatte ihn die Anwaltskammer mit einer Komposition beauftragt, dabei verwendete er Gedichte über die Besiedelung des Westens und über die Eisenbahn, durch die die Indianer vertrieben und ausgerottet wurden. »Bei der Premiere hat die Hälfte des Publikums empört den Saal verlassen«, sagt er trocken. Ähnlich kontrovers war ein Stück zum fünfzigsten Jubiläum des Staates Israel, ein Auftrag von einem Komitee in Chicago. Dazu reiste Harbison eigens nach Israel, um mit den Leuten dort zu reden. Eine deprimierende Erfahrung: »Viele Palästinenser hatten das Gefühl, die Israelis bulldozern sie weg, und viele Israelis sind sehr anti-arabisch.« Das Komitee bekam kalte Füße, aber die israelische Konsulin in Chicago hielt an dem Stück fest. »Meine Hauptangst war damals, dass die Komposition unaktuell, eingefroren in der Zeit werden würde«, sagt er. »Aber das war nicht der Fall.« Harbison ist Kosmopolit. Er probte mit Chören in Krakau, Ankara, Rom und London, er tourte mit einer Jazzband durch die Schweiz, und er lebte lange in Los Angeles, wo er den Komponisten Igor Stravinsky chauffierte. »Stravinsky war ein sehr meinungsstarker, nicht sonderlich freundlicher älterer Herr«, erinnert er sich. »Ich wäre nicht gerne ein Kollege gewesen, über den er redete.« Allerdings war Stravinsky sehr unterhaltsam, und er sprach fließend Russisch, Deutsch, Französisch und Italienisch. Politisch war der Komponist ein Außenseiter, ein Zarist, der vor den Bolschewisten geflohen war. »Alle anderen um ihn herum waren Flüchtlinge vor den Nazis.« Bald wurde Harbison die Autofahrerei zu viel. Er wandte sich an seinen Psychiater. Dieser warf I-Ging-Stöcke, chinesische Wahrsageinstrumente, und die rieten ihm: »Verlasse sofort die Stadt.« So kam Harbison nach Boston. Aber auch in Deutschland war er mehrmals, das erste Mal 1960, noch als Student. Schon an Bord des Schiffes lernte er Deutsch, um Bach verstehen zu können, später übersetzte er Kantaten des Kirchenmusikers Heinrich Schütz. »Schütz hat eine magische Qualität, die sich fast nur im deutschen Original erschließt.« Deutschland, findet Harbison, war immer schon politischer als die USA, auch, was die Musikszene betrifft. »Selbst die Oper war früher politisch, etwa Mozarts ›Hochzeit des Figaro‹, wo es um Klassenunterschiede geht.« Ein Musical wie zum Beispiel »Linie Eins« über die sozialen Milieus Berlins gebe es am Broadway nicht. Harbison ist heute 71 Jahre alt. Von der Oper hat er sich trotz seiner Begeisterung für das Genre verabschiedet. »Eine Oper zu schreiben und zu inszenieren, das dauert drei, vier Jahre, in der Zeit könnte ich so viel anderes machen«, sagt er. »Deshalb zwinge ich mich, mich davon fernzuhalten.« Die Autorin arbeitet als Korrespondentin in New York.
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Sauerstoff brennt Egal ob Taliban, al-Qaida oder Hamas: Islamisten führen ihren antimodernen Kampf mit modernen Mitteln. Zu ihren wichtigsten Waffen zählen die Medien. Von Daniel Kreuz
ihren Kampf mediengerecht in Szene zu setzen. Mit ihren Kalaschnikows und Panzerfäusten bekämpfen sie die ISAF-Soldaten vor Ort, doch mit den TV-Bildern von zerstörten Armeefahrzeugen und getöteten oder verletzten Soldaten zielen sie auf die Öffentlichkeit in den westlichen Staaten, wo die Zustimmung zu dem Einsatz der internationalen Truppen immer geringer wird.
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Der islamistische Terrorismus hat höhere Einschaltquoten als die Fußballweltmeisterschaft
s ist früh am Morgen und kalt. Dichter Nebel liegt auf der Hauptstraße zwischen Kundus und Kabul im Norden Afghanistans. In der vorherigen Nacht haben rund ein Dutzend Verbündete der Taliban an der Straße Sprengsätze versteckt. Nun warten sie auf Fahrzeuge der ISAFSchutztruppe. Zwei der Mudschaheddin lauern mit Tüchern maskiert nicht weit entfernt in einem Baumwollfeld. Als ein Konvoi mit afghanischen Polizisten und US-Soldaten vorbeifährt, wollen sie die Bomben per Handy zünden. Aber nichts passiert. »Du musst fünf Mal D drücken!« »D? Welches D?« Also schießt einer der Aufständischen mit einer Panzerfaust, doch er verfehlt sein Ziel. Die Angegriffenen erwidern das Feuer, die Islamisten müssen sich zurückziehen und machen sich gegenseitig Vorwürfe: »Wenn jemand sagt, dass du eine Bombe bauen kannst, dann ist er ein Idiot!« Der Bombenbauer widerspricht heftig und hantiert mit dem Fernzünder. Plötzlich detoniert im Hintergrund einer der Sprengsätze, die Männer zucken zusammen, schwarzer Rauch steigt auf. »Bloß weg hier.« Militärisch ist der Angriff ein Fehlschlag, und aus Sicht der Aufständischen fast noch schlimmer: ein PR-Gau. Denn die ganze Aktion wurde von dem in London lebenden afghanischen Journalisten Najibullah Quraishi gefilmt. Die Aufständischen hatten ihn im Herbst 2009 eingeladen, sie mehrere Tage zu begleiten. Sie wollten ihre Gefährlichkeit demonstrieren. Doch was Quraishi an diesem Tag filmte, ist mehr Slapstick als Guerillakampf. Blamierte Islamisten – das kommt nicht oft vor. Denn die afghanischen Aufständischen, allen voran die Taliban, wissen
»Denn zuletzt bezweckt der Terror nicht den Tod eines einzelnen, sondern die kollektive Angst, die dem Täter seine Wirkungsmacht beweist.« 70
Während der Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 waren in Afghanistan Fernsehen und Internet verboten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die islamistischen Fundamentalisten die Gesetze der Mediengesellschaft nicht bestens beherrschen. Immer wenn in Deutschland Wahlen oder Abstimmungen über die ISAF-Mission bevorstehen, greifen die Taliban verstärkt Bundeswehrsoldaten an und veröffentlichen ihre Drohbotschaften auf Video. Als die afghanische Regierung im März 2010 ankündigte, die Live-Übertragung von Taliban-Anschlägen verbieten zu wollen, kritisierten diese den Plan als »Einschränkung der Pressefreiheit«. Dabei sind die Taliban nicht gerade als Verfechter der Pressefreiheit bekannt. Journalisten, die ihnen unbequem sind, werden eingeschüchtert oder ermordet. In den von ihnen kontrollierten Gebieten gehen sie so massiv gegen afghanische Journalisten vor, dass eine unabhängige Berichterstattung kaum möglich ist, wie Amnesty International im Jahresreport 2010 kritisiert. Die Organisation »Reporter ohne Grenzen« führt neben Staatsoberhäuptern auch die Taliban auf ihrer Liste der 40 »Feinde der Pressefreiheit«, ebenso wie islamistische Milizen aus Somalia und die palästinensische Hamas. Die islamistische Bewegung ist nicht homogen. Organisationen wie Taliban, al-Qaida oder Hamas unterscheiden sich in ihren Zielen und in ihrer Zusammensetzung. Was die meisten Gruppierungen neben einer fundamentalistischen Auslegung des Islam jedoch gemeinsam haben, ist der professionelle Gebrauch der Medien. Obwohl sie gedanklich im siebten Jahrhundert verwurzelt sind, zögern sie nicht, ihren Kampf gegen die Moderne mit modernen Kommunikationsmitteln zu führen, wie der Publizist Hans Magnus Enzensberger schreibt. »So sehr sich die Islamisten als Hüter der Tradition aufspielen, so sehr sind sie ganz Geschöpfe der globalisierten Welt. Geschult durch Fernsehen, Computertechnik, Internet und Reklame, erreicht der islamistische Terror höhere Einschaltquoten als jede Fußballweltmeisterschaft.« Ein Terroranschlag, über den nicht öffentlich berichtet wird, bleibt ohne Wirkung. »Denn zuletzt bezweckt der Terror nicht den Tod eines einzelnen, sondern die kollektive Angst, die dem Täter seine Wirkungsmacht beweist«, erklärt der Soziologe Wolfgang Sofsky. Die Beziehung zwischen Medien und Terrorismus ist dabei durchaus symbiotisch. Einerseits benötigen Medien Ereignisse, über die sie berichten können, andererseits bedienen sich die Terroristen der Medien, um ihre Anliegen zu verbreiten. Die ehemalige britische Premierministerin Margaret Thatcher folgerte: »Publizität ist der Sauerstoff für den Terrorismus.«
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Foto: Patrick Aventurier / Gamma / laif
Pressekonferenz der Taliban. Kandahar, Afghanistan.
So gesehen liefen die Planer der Anschläge vom 11. September 2001 Gefahr, zu hyperventilieren. Denn mehr Publizität ist kaum möglich. Die Anschläge auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington sind das meistgesehene TV-Ereignis der Geschichte, das Hunderte Millionen Menschen weltweit live miterlebten. Genau so, wie es al-Qaida beabsichtigt hatte. Das World Trade Center wählte das Terrornetzwerk nicht nur wegen der zu erwartenden hohen Opferzahlen aus, sondern auch wegen dessen Symbolik. Für Osama Bin Laden waren die Twin Towers »Ehrfurcht gebietende materialistische Türme, die von Freiheit, Menschenrechten und Gleichheit« kündeten, wie er im Oktober 2001 in einem Interview mit dem Fernsehsender al-Dschasira sagte.
Propaganda zum Download Was die heutige islamistische Internationale von ihren Vorgängern unterscheidet, ist die Unabhängigkeit von den traditionellen Medien. Nach dem Verlust der Ausbildungslager in Afghanistan 2001 machte al-Qaida das Internet zur neuen Basis. Seitdem ähnelt das Terrornetzwerk dem weltweiten Netz: Es ist dezentral und omnipräsent. So sind die Islamisten nicht nur in der Lage, neue Rekruten zu werben, sondern auch ihre eigene Öffentlichkeit herzustellen. Im Netz gibt es Tausende Seiten, auf
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islamismus
denen Enthauptungsvideos aus dem Irak, Kampfszenen aus Tschetschenien oder Collagen zu sehen sind, in denen Selbstmordattentäter als Märtyrer verehrt werden. Videokamera und Internet ermöglichen es den Terroristen, zu Berichterstattern ihrer eigenen Taten zu werden. Auf die Massenmedien allein sind sie nicht mehr angewiesen. Stell dir vor, es herrscht Terror und keiner schaut hin – dieser Satz bleibt da Utopie. Unabhängige Berichterstattung ist daher umso nötiger, auch wenn sie nicht leichter geworden ist. Der Journalist Najibullah Quraishi hätte seinen Einsatz beinahe mit dem Leben bezahlt. Wenige Tage nach dem missglückten Anschlag stießen al-QaidaKämpfer zu den Verbündeten der Taliban. Für sie war der Journalist aus dem Westen ein Spion, der geköpft werden musste. Zu Quraishis Glück konnten sie sich mit ihrer Meinung nicht durchsetzen. Er musste seine Recherche zwar sofort abbrechen, aber die Mudschaheddin ließen ihn unversehrt ziehen. Doch sie gaben ihm eine Warnung mit auf dem Weg: Er solle bloß nicht wiederkommen. Zu seiner eigenen Sicherheit. Der Autor studierte Kultur- und Medienwissenschaften und ist Volontär beim Amnesty Journal. Seine Abschlussarbeit verfasste er zur Relevanz der Massenmedien für den internationalen islamistischen Terrorismus.
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Ska-Rock wirkt belebend. Panteón Rococó.
Ein Weckruf mit Musik »Friede, Tanz und Widerstand« lautet die Parole von Panteón Rococó. Mexikos populäre Ska-Rock Combo ist nicht nur musikalisch erfolgreich, sie tritt auch für die Rechte der Bevölkerung ein. Von Knut Henkel
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ir brauchen in Mexiko Sauerstoff für eine neue politische Bewegung, und wir als Band versuchen, unseren Beitrag dazu zu leisten«, sagt Luis Román Ibarra alias Dr. Shenka. Das »Festival des Widerstands« ist so ein Beitrag, und Dr. Shenkas Band Panteón Rococó war an der Vorbereitung und Organisation beteiligt. Ein knappes Dutzend
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der kreativsten Bands Mexikos sowie internationale Gäste gaben sich Anfang März auf der Bühne des Sportzentrums der Gewerkschaft der Elektrizitätsarbeiter in Mexiko-Stadt ein Stelldichein. »Das Festival war allerdings weit mehr als ein Musikfestival. Auch Gewerkschaften, soziale und politische Organisationen aus allen Landesteilen, wie etwa zapatistische Gemeinden aus Chiapas, waren beteiligt, um ihre Projekte und Initiativen vorzustellen«, erklärt Percussionist Tanis. Das Studio von Panteón Rococó befindet sich in einem Wohnhaus im Zentrum der mexikanischen Hauptstadt. Hier ist die Euphorie zu spüren, die das Festival ausgelöst hat: »Unser Ziel, den alternativen politischen und sozialen Bewegungen in Mexiko eine Bühne zu bieten, ist voll aufgegangen. Es war ein
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Foto: Eric Catarina / Gamma / laif
Festival der Vielfalt und der Einigung, denn in der derzeitigen Situation ist es wichtig, Alternativen aufzuzeigen und die nachwachsende Generation zu informieren«, sagt Dr. Shenka. Angesichts des verheerenden Drogenkriegs, der vor allem den Norden Mexikos prägt, werden die sozialen Konflikte im Süden des Landes weniger stark wahrgenommen. Das Augenmerk auf diese Probleme zu legen, war eines der erklärten Ziele der Organisatoren. Panteón Rococó hat mit »Ejercito de Paz«, zu Deutsch »Friedensarmee«, zu Jahresbeginn ein neues Album vorgelegt. Der Titel der CD zum 15. Bandjubiläum ist Programm, denn Panteón Rococó sind erklärte Pazifisten, die der zapatistischen Bewegung nahe stehen. »Wir sind quasi im Sog der zapatistischen Erhe-
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panteón rococó
bung von 1994 entstanden. Für mich – und da spreche ich, glaube ich, für die gesamte Band – war das wie ein Weckruf«, sagt Sänger Dr. Shenka. Der Weckruf erwies sich als ausgesprochen nachhaltig, denn die Band setzt sich seit nunmehr 15 Jahren für ein anderes Mexiko ein. Ein Land, in dem die Rechte der indigenen Minderheit respektiert werden und in dem sich die Mitbestimmung der Bevölkerung nicht im regelmäßigen Urnengang erschöpft. In ihren Songs behandelt die Band die gesellschaftliche Realität in dem von Korruption und Klientelismus geprägten Land, so zum Beispiel in dem Stück »Democracia fecal«, einer tanzbaren Hymne gegen das verkommene demokratische System, oder in »Marco’s Hall«, einem Bekenntnis zu kollektiven Strukturen. Doch Dr. Shenka und seine Mitstreiter lassen es nicht dabei bewenden. Konzerte, deren Einnahmen komplett sozialen Bewegungen gespendet werden und bei denen die Besucher zu Nahrungsmittelspenden aufgefordert werden, sind typisch für die Band. »40 Tonnen Lebensmittel haben die gut 11.000 Besucher beim Festival des Widerstands gespendet«, erklärt Tanis. Der Mann an den Congas von Panteón engagiert sich seit etlichen Jahren in einem unabhängigen Kulturzentrum im Süden von Mexiko-Stadt, gibt Musikunterricht, koordiniert und organisiert. »Wir wünschen uns ein Netz von autonomen Jugend- und Kulturzentren wie in Deutschland«, erklärt der Musiker. Das Studio der Band ist ein Beispiel für diese alternativen Strukturen. »Im Cocodrilo Solitario bieten wir jungen Bands die Chance aufzunehmen. Die befinden sich schließlich in der gleichen Situation wie wir einst«, erklärt Dr. Shenka. Die erste CD von Panteón Rococó entstand im Selbstverlag, und obwohl es nicht einfach war, den Vertrieb zu organisieren, wurde das Debüt mit einer goldenen Schallplatte ausgezeichnet. Ein unglaublicher Erfolg, der dafür sorgte, dass die Band Angebote von großen Labels erhielt. Panteón nahm schließlich das Angebot von BMG an, zumal ein Mitglied mit der Bandkasse durchgebrannt war und damit Geld zur Produktion eines neuen Albums fehlte. Heute ist die Band komplett unabhängig, und Dr. Shenka ist zufrieden, dass er im eigenen Studio Nachwuchsbands produzieren kann. Inspirierend ist das auch für die Arbeit mit Panteón Rococó. Die Band mischt unterschiedliche Stilrichtungen: Neben Ska und Rock als Grundlage sind Cumbia, Mariachi und Ranchera genauso präsent wie Reggae, Dub und kubanische Klänge. Ende Mai traten die Musiker beim 100. Vereinsjubiläum des FC St. Pauli in Hamburg auf. »Uns gefällt das ganze Drumherum bei diesem Fußballclub. Da wird Solidarität noch ernst genommen«, erklärt Dr. Shenka und verweist auf das »Viva con Agua«-Trinkwasserprojekt, das von dem gerade in die erste Liga aufgestiegenen Verein unterstützt wird. Die Bandmitglieder sind national und international bestens vernetzt, wie das »Festival des Widerstands« zeigt. Das belegen Solidaritätsadressen aus anderen Ländern der Region und der Gastauftritt der kolumbianischen Rockgruppe Aterciopelados aus Kolumbien. Die Band will die Kontakte zur regionalen Musikszene weiterhin pflegen; künftig soll das Festival jedes Jahr stattfinden. Befreundete Bands wie »Los de Abajo« oder »Maldita Vecindad« werden dabei sein, aber auch noch weitgehend unbekannte wie »Los Guanábana« oder die Straßenmusiker von »Polka Madre«. »Es wird ein klingendes Forum der Auseinandersetzung sein«, sagt Tanis. Der Autor ist freier Journalist und berichtet regelmäßig aus Lateinamerika.
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Foto: Peter Parks / AFP / Getty Images
Sieht doch gut aus. Kulisse der staatlichen Filmstudios am Rande von Pjöngjang.
Die Liebe zur Dunkelheit »Die Kinogänger von Chongjin« ist eine ungewöhnliche Liebesgeschichte. Basierend auf den Berichten von Flüchtlingen aus Nordkorea vermittelt sie authentische Eindrücke aus einem hermetisch abgeriegelten Land. Von Ines Kappert
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ordkorea – wer von uns Nicht-Koreanern kann sich vorstellen, wie der Alltag dort aussieht? Wir wissen vielleicht um die UNO-Berichte, die von einer »chronischen Unterernährung« der Bevölkerung sprechen, und natürlich wissen wir um den unberechenbaren Diktator Kim Jong Il und sein Atomprogramm. Und von den Chinesen, die dieses Regime stützen, um kein amerikanisches Militär vor der Nase zu haben. Aber Innenansichten aus Nordkorea? Die langjährige Asien-Korrespondentin der »Los Angeles Times« gibt mit ihrer literarischen Reportage »Die Kinogänger von Chongjin« Einblicke in dieses uns so entrückt scheinende Land. Barbara Demick interviewte über sieben Jahre Flüchtlinge aus Nordkorea – die sie alle nach Chongjin befragte. Mit 500.000 Einwohnern ist dies die drittgrößte Stadt, und sie ist für Ausländer gesperrt. Die Nordkoreaner selbst mögen die ehemalige Industriestadt im Norden des Landes nicht besonders. Reis ist hier noch knapper als anderswo. Im Mittelpunkt von Demicks Reportage stehen die Geschichte dieser verbotenen Stadt und ein junges Liebespaar, das sich in Chongjin zum ersten Mal im Kino begegnet und anschließend über Jahre heimlich jeden Abend miteinander spazieren geht – »nur« spazieren geht. Sexualität – ohne Fortpflanzungsidee – ist als Akt der individuellen Selbstbestimmung tabu. Erst nach ihrer Flucht wird die dann 25-jährige Mi-ran erfahren, wie Kinder
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gezeugt werden. Und so teilen Mi-ran und Jung-san eine andere Liebe, nämlich die zur Dunkelheit und die zum Kino. In Nordkorea ist Strom Mangelware, entsprechend lichtlos sind die Abende und Nächte. »Die Dunkelheit schenkt den Menschen ein Maß an Privatheit und Freiheit, das sonst in Nordkorea so schwer zu bekommen ist wie Strom«, schreibt Demick. Und auch die 13-jährige Mi-ran und der drei Jahre ältere Jungsan erleben die Nacht als Glück, ebenso wie sie die Propagandafilme lieben. Propaganda hin oder her, Kino ist die einzig zugängliche Popkultur in Nordkorea. Unter Kim Jong Il wurden die Spielfilmstudios an der Peripherie von Pjöngjang um rund eine Million Quadratmeter vergrößert. Eine Kinokarte ist dabei so billig, dass sie sich selbst Menschen leisten können, die in der gesellschaftlichen Hackordnung ganz unten stehen. Demick berichtet voller Empathie von jener großen Liebe, die ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten gehorcht, und sie beschreibt zugleich die Geschichte des Landes und seiner Ökonomie, ebenso wie sie den Aufstieg von Kim Il-sung und seine Herrschaftstechniken analysiert. Die Autorin erzählt von der Hungersnot in den neunziger Jahren, die ihre beiden Helden vergleichsweise gut überstehen – nicht zuletzt, weil sie gelernt haben, dass man Essen niemals teilt, selbst wenn Nachbarn oder Kinder unter den eigenen Augen verhungern. Das Buch gibt Einblick in ein Land, das mithilfe eines ausgeklügelten Systems aus Propaganda, Hunger und Überwachung seiner Bevölkerung erfolgreich beibringt, nicht mal mehr auf die Idee zu kommen, auf einen erträglichen Lebensstandard und ein bisschen persönliches Glück zu hoffen. Barbara Demick: Die Kinogänger von Chongjin. Eine nordkoreanische Liebesgeschichte. Aus dem Amerikanischen von Gabriele Gockel und Maria Zybak. Droemer/Knaur, München 2010, 430 Seiten, 19,95 Euro.
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Wasser ohne Staat
Antidemokratische Elite
Das Menschenrecht auf sauberes Wasser wird vielen Menschen vorenthalten. Knapp eine Milliarde haben keinen Zugang zu Trinkwasser. Und es werden immer mehr, denn der Klimawandel und die zunehmende Privatisierung dieses Grundnahrungsmittels verstärken den Trend zur Verknappung. Bis vor kurzem war der souveräne Staat die Instanz, die das Wasser als öffentliches Gut schützen sollte. Doch wer heute eine sinnvolle, ökologische Wasserpolitik betreiben möchte, muss eine globale, beziehungsweise transnationale Perspektive einnehmen. Es stellt sich daher die Frage, welche Rolle der Nationalstaat dabei spielt. Petra Dobner beschreibt in ihrer gut lesbaren und sehr gründlichen Studie, wie Wasserpolitik heute weltweit funktioniert. Nach Ansicht der Politologin ist der Nationalstaat als demokratisch legitimierte Umverteilungsinstanz unverzichtbar, dennoch müssten neue »effektive Steuerungsformen jenseits des Staates« gefunden werden. Wer eine Patentlösung erwartet, der wird von Dobner enttäuscht sein. Auch sie hat keine letzte Antwort darauf, wie Ressourcen weltweit genutzt und ein gerechter Zugang zu ihnen ohne Nationalstaat gesichert werden können. Aber sie wagt sich an eine Frage heran, die gerne umgangen wird, weil sie so existentiell ist, dass sie Angst macht.
Die Finanzkrise hat die Zahl der Armen weltweit vergrößert und trägt dazu bei, den Graben zwischen Reich und Arm weiter zu vertiefen. Die Soziologen Claudia Honegger, Sighard Neckel und Chantal Magnim nehmen die Krise zum Anlass, große und kleine »Finanzsoldaten« nach ihrem Weltbild, ihrer Moral und ihrer Verantwortung für die Krise zu befragen. Sie interviewten gut ein Dutzend Banker, und ihre soziologischen Porträts sind so unterhaltsam wie ernüchternd zu lesen: Mit großer Entschiedenheit lehnen gerade diejenigen Banker, die über Entscheidungsmacht verfügen, jede Verantwortung für den Zusammenbruch des Bankwesens ab. Der Band »Strukturierte Verantwortungslosigkeit« zeigt, dass die »bisweilen gigantomanische Selbsteinschätzung« keineswegs erschüttert ist und dass wir es bei der Finanzaristokratie mit einer Elite zu tun haben, die strukturell antidemokratisch denkt. Das Menschenbild, das dabei zutage tritt, besagt: Ich darf gierig sein, denn jeder Mensch ist gierig und egoistisch. Folglich habe ich jedes moralische Recht, Profite zulasten der Mehrheit zu machen. Die Idee, dass Demokratie Gerechtigkeit herzustellen hat, ist diesen Akteuren offensichtlich fremd. Dennoch nimmt die Studie jeden der Interviewpartner ernst, niemand wird vorverurteilt. Claudia Honegger, Sighard Neckel und Chantal Magnim:
Petra Dobner: Wasserpolitik. Zur politischen Theorie,
Strukturierte Verantwortungslosigkeit. Berichte aus der
Praxis und Kritik globaler Governance. Suhrkamp Verlag,
Bankenwelt. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010, 350 Seiten,
Berlin 2010, 400 Seiten, 14 Euro
16 Euro
Unfreiheit des Herzens
Mensch, du hast Rechte!
In ihrem Roman »Gnade« erzählt Toni Morrison eine weitere Episode aus der nicht-dokumentierten Geschichte der Sklaven in Amerika. Ein Farmer kauft sich Ende des 17. Jahrhunderts eine Familie zusammen, stirbt dann überraschend an den Pocken und macht damit den Weg frei zur Emanzipation seiner Sklaven. Doch der Weg in die Freiheit ist keineswegs gerade. Morrison erzählt auch in ihrem jüngsten Roman von der Unfreiheit, die in die Gründungsgeschichte der USA eingeschrieben ist und bis heute fortdauert. »Die Präsenz des Unfreien im Herzen des demokratischen Experiments«, so hat sie diesen Grundwiderspruch formuliert. Gleich der erste Satz von »Gnade« nimmt das Motiv von Schwarz und Weiß, von verdrängter und präsenter Geschichte auf. Wie immer bei Morrison geht es um Aufklärung, es geht um Versöhnung durch die Erinnerung an die erfahrene Gewalt und erlebte Wut: »Hab keine Angst. Was ich erzähle, kann dir nicht wehtun, trotz meiner Tat, und ich verspreche, ganz ruhig im Dunkeln zu liegen – vielleicht zu weinen oder dann und wann das Blut wieder vor Augen zu haben – aber niemals wieder werde ich meine Glieder recken und mich erheben und die Zähne zeigen. Ich will erklären.« Diese Worte spricht Flores, die junge Sklavin und Hauptfigur des Romans. Sie besteht darauf, Schuhe zu tragen und zieht sich damit den Zorn ihrer Mutter zu. Denn, so die mütterliche Sorge, ihre Füße werden nun nie ledrig genug werden, um sie durch das Leben einer Schwarzen zu tragen.
Wo beginnen die Menschenrechte? Was haben sie mit Demokratie zu tun? Fragen wie diesen ist die Journalistin und Autorin Christine Schulz-Reiss in ihrem – auch im Unterricht bewährten – Sachbuch »Nachgefragt: Menschenrechte und Demokratie« für Jugendliche ab zwölf Jahren auf den Grund gegangen. In acht Kapiteln erklärt sie, was Menschenrechte sind und zeichnet den langen Weg nach, der zur Erklärung der Menschenrechte führte. Außerdem stellt sie Institutionen und Organisationen vor, die sich für die Einhaltung der Menschenrechte einsetzen. Es gelingt Schulz-Reiss, die Leser bei ihrer Neugier zu packen und kurzweilig, aber präzise grundlegendes Wissen zu vermitteln. Das Layout ist gut konsumierbar: Der Fließtext wird von blauen kleinen Textfeldern und klugen, witzigen Illustrationen von Verena Ballhaus unterbrochen. Die Autorin wurde 2004 für ihr Buch »Nachgefragt: Politik«, das in der gleichen Reihe erschien, mit dem GustavHeinemann-Friedenspreis ausgezeichnet. Sie spricht junge Leser direkt an und erklärt komplexe Sachverhalte so, dass auch Erwachsene so manchen Aha-Effekt erleben. »Für Kinder zu schreiben heißt für mich, Dingen auf den Grund zu gehen, bis ich alle Fragen dazu beantworten kann«, sagt die Autorin. Der Leser wird mit erschütternden Informationen nicht alleingelassen, sondern ermutigt, Fragen zu stellen, bewusst im Alltag zu handeln – etwa beim Einkauf – und Zivilcourage zu entwickeln. Christine Schulz-Reiss: Nachgefragt: Menschenrechte und
Toni Morrison: Gnade. Übersetzt von Thomas Piltz.
Demokratie. Mit Illustrationen von Verena Ballhaus. Loewe
Rowohlt Verlag, Reinbek 2010, 224 Seiten, 18,95 Euro
Verlag, Bindlach 2008, 141 Seiten, 12,95 Euro. Ab 12 Jahren
Bücher: Ines Kappert, Sarah Wildeisen kultur
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bücher
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Virus per Internet
Slowenische Krawallschachtel
Social Networking heißt das Zauberwort in dem Film »8. Wonderland« von Nicolas Alberny und Jean Mach: Eine weltweit operierende Gruppe Aktivisten findet in einer geschlossenen Internetplattform zusammen, verabredet politisch korrekte und schöne Aktionen und hat sich ganz allgemein dem zivilen Ungehorsam verschrieben. Auf diese Weise wird der Vatikan mit Kondom-Automaten dekoriert, eine DarwinBibel in Massenauflage gedruckt, ein Atomdeal zwischen Russland und Iran durch bewusste Fehl-Übersetzung verhindert und millionenschwere Fußballprofis in eine chinesische Arbeitssklaven-Manufaktur zur Massenschuh-Produktion verfrachtet. Und nebenbei gelingt es ihnen, auf äußerst drastische, aber höchst wirkungsvolle Weise das Aids-Problem zu lösen: Man infiziert die Kinder der G8-Staatschefs mit dem Virus. Forschungsprogramme für Medikamente haben ab diesem Zeitpunkt mit wenig bürokratischen Hürden zu kämpfen. Die Mitgliederzahl des »Wonderland« geht in die Millionen; die globalisierungskritischen Widerständler langweilen sich in öden Jobs, deren Infrastruktur sie effektiv für ihre politischen Ziele benutzen. Aber die Web-Revoluzzer verlieren alsbald den Überblick zwischen Nachrichten und Verschwörungstheorien, Trittbrettfahrer erledigen das Übrige. Schnell gehören sie selber zu den Gejagten. »8. Wonderland« ist eine geschickte, ironische, wenn auch manchmal etwas durchsichtige Reflexion über die Kanäle moderner Protestkommunikation.
Magnifico ist so etwas wie der slowenische Borat – nur dass er schon viel länger im Geschäft ist als der kasachische Bauerntölpel, den sich der britische Komiker Sascha Baron Cohen ausgedacht hat. Hinter dem Pseudonym verbirgt sich der Rockmusiker Robert Pesut, der mit grellen Balkanklischees jongliert, um seine Landsleute auf den Arm zu nehmen. Die lieben ihn dafür, dass er augenzwinkernd verbreitete Vorurteile bloßstellt und mit viel Witz und Chuzpe den Machismo, den Chauvinismus und die Homophobie seiner Region angeht. Mit Alben wie »Stereotip«, »Sexy Boy« oder »Export import« begründete Magnifico seinen Ruf als notorische Krawallschachtel: Mal posierte er halbnackt in Leopardenunterwäsche, dann wieder bewarb er sich darum, sein Land beim Eurovision Song Contest mit einer Ode an einen bekannten Pornostar zu vertreten. In seiner Heimat genießt Magnificio längst Kultstatus. Seine mit dick aufgetragenem südländischem Akzent intonierte Hymne »Hir aj kam, hir aj go«, ein unwiderstehlicher Bastard aus Surfgitarren und Elektrobeats, machte auch im Ausland Furore. Mit »Magnification«, einer Art »Best of«-Album, empfiehlt sich der Schwerenöter nun dem Rest der Welt. Im weißen Anzug, mit Cowboyhut und mit einem Blumenstrauß in der Hand, blickt er vom Cover der CD. Allerdings liegt das Foto quer und so ist der Kopf nur auf der Rückseite zu sehen. Ebenso quer liegt sein wahnwitziger Mix aus Mariachibläsern, Turbofolk und Balkanfunk zum vermeintlich guten Geschmack. Selten macht es so viel Spaß, seine Vorurteile über den Haufen zu tanzen.
»8. Wonderland«. F 2008, Regie: Nicolas Alberny, Jean Mach. Darsteller: Matthew Géczy, Eloissa Florez u.a. Kino-Start: 12. August
Magnifico: »Magnification« (Piranha)
Intelligentes Machtspiel
Musikalischer Weltbürger
Die Parallelen zum Fall eines einstigen britischen Premierministers sind eklatant: Der Ex-Regierungschef Adam Lang (Pierce Brosnan) in Roman Polanskis diesjährigem BerlinaleBeitrag »Der Ghostwriter« soll einen Krieg unter fadenscheinigen Begründungen vom Zaun gebrochen haben, vermeintliche Terroristen wurden gefoltert. Vor allem sein ehemaliger Außenminister und jetziger UNO-Mitarbeiter Richard Rycart (Robert Pugh) will ihn vor den Internationalen Strafgerichtshof zerren. Eine Biografie soll Langs Ruf retten. Und so verpflichtet er einen neuen Ghostwriter, den legendären Bestseller-Autor »Ghost« (Ewan McGregor). Der Job ist nicht ohne – ist doch sein Vorgänger unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen. Und auch der »Ghost« hat bald unliebsame Gestalten am Hals. Lang und seine Entourage haben sich auf eine US-amerikanische Insel zurückgezogen. Der große Bruder USA, so hofft er, wird schon die Hand über ihn halten. Von wegen… Polanskis Film ist eine erstaunliche Auseinandersetzung mit der Frage von Verantwortung im Krieg: Voller überraschender Wendungen, ein intelligentes Spiel rund um die Macht. Und ein Plädoyer ans Publikum, gerade bei allzu augenfälliger Argumentation genau hinzuschauen.
Aus Süd-Kivu, einer von 1996 bis 2003 stark umkämpften Provinz im Kongo, stammt Lokua Kanza. Besonders populär ist der Songwriter mit der sanften Stimme in Frankreich, wo er seit 1984 lebt. Auf seinem neuen Album »Nkolo« hat sich Lokua Kanza weitgehend vom Französischen verabschiedet und seiner Muttersprache Lingala zugewandt. Zwischen Gospel und Gebet schwanken viele der intimen Songminiaturen: Zart von Daumenklavier, Flöte und subtiler Percussion umrankt, klingen sie so entrückt wie Botschaften aus einer anderen Welt. Ganz in Weiß, mit nackten Beinen, sieht man Lokua Kanza auf dem Cover des Albums am Flussufer stehen. Kongo oder Amazonas? Brasilien ist dem Musiker zur zweiten Wahlheimat geworden, und wie eine leichte Brise weht nun ein sachtes Brasil-Feeling durch manche Songs. Seine Texte geben Gefühle und Sehnsüchte wieder: In »Famille« appelliert Lokua Kanza, von einem 50-köpfigen Kinderchor aus Kinshasa begleitet, an den familiären Zusammenhalt, beschwingt kommt die Migrations-Ballade »Nakozonga« angeschlendert, sorgenvoll blickt er im Antikriegs-Chanson »Mapenda« auf die Bürgerkriege dieser Welt. Lokua Kanza mag ein musikalischer Weltbürger geworden sein, aber seine Gedanken drehen sich immer noch viel um Afrika.
»Der Ghostwriter«. D/F/GB 2010. Regie: Roman Polanski. Darsteller: Ewan McGregor, Pierce Brosnan u.a.
Lokua Kanza: »Nkolo« (World Village /
DVD-Start: 16. September
Harmonia Mundi)
Film: Jürgen Kiontke | Musik: Daniel Bax 76
amnesty journal | 08-09/2010
Foto: banker white
Bittersüße Fröhlichkeit Musik gegen Trauma. Sierra Leone’s Refugee All Stars.
Die Sierra Leone’s Refugee All Stars haben sich in einem Flüchtlingslager in Guinea gegründet. Heute treten die Musiker weltweit auf. Von Daniel Bax
I
n einem Flüchtlingslager in Guinea trafen die Musiker, die sich heute stolz zu den Sierra Leone’s Refugee All Stars gruppieren, erstmals aufeinander. Dorthin waren sie vor den Schrecken des Bürgerkrieges geflohen, der von 1991 bis 2000 in ihrem Land tobte. Der Songwriter Reuben N. Koroma machte sich im Flüchtlingslager Sembakouyna auf die Suche nach Freunden, die er noch aus der quirligen Musikszene von Sierra Leones Hauptstadt Freetown kannte, bevor dort Ende der neunziger Jahre Rebellenmilizen die Macht übernahmen und viele Bewohner vertrieben. Mit seiner Frau Grace und seinem Freund, dem Gitarristen Francis Longba, alias Franco, bildete er eine Band, die durch eine Vielzahl neuer Bekanntschaften rasch zu einer vielköpfigen Kapelle anwuchs. Die meisten Bandmitglieder hatten im Krieg Verwandte und Bekannte verloren oder waren, wie der Sänger Abdul Rahim »Arahim« Kamara, schwer verletzt worden. Die Musik half, die Traumata zu überwinden. Dass aus der Notgemeinschaft eine professionelle Band wuchs, ist ein kleines Wunder. Mit Hilfe einer kanadischen Hilfsorganisation beschaffte man erste Instrumente: So entstand das Albumdebüt »Living like a refugee«, das in Westafrika auf Kassetten die Runde machte. Darauf warben die Musiker für die Rückkehr nach Sierra Leone, wo britisch angeführte UNOTruppen inzwischen die Rebellen entmachtet und wieder eine zivile Ordnung hergestellt hatten. Gut dokumentiert wurde diese Geschichte durch die kalifornischen Regisseure Zach Niles
kultur
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film & musik
und Banker Whites. Der preisgekrönte Film half, den Ruhm des Ensembles zu mehren, und so folgten auf eine Tour durch die Flüchtlingslager von Guinea und Sierra Leone rasch erste Auftritte im Ausland, vor allem in den USA. Für das zweite Album kontaktierte Reuben N. Koroma, aus dessen Feder die meisten der 13 Stücke auf »Rise & Shine« stammen, den Produzenten Steve Berlin in New Orleans, der etwa Los Lobos, Angelique Kidjo und Rickie Lee Jones betreut. Das Ergebnis ist eine spannende Synthese aus westafrikanischen Roots und frühem Reggae, aus karibischem Rocksteady und traditioneller Palmwine-Music aus Sierra Leone, Maringa genannt. Diese wurde einst aus der Begegnung von europäischen Gitarren, lokalen Rhythmen und dem Calypso aus Trinidad geboren. Seinen Namen verdankt das in den Fünfzigern und Sechzigern in ganz Westafrika sehr populäre Genre dem Palmwein, der damals bei musikalischen Zusammenkünften in rauen Mengen geflossen sein muss! Den Sierra Leone’s Refugee All Stars gelingt es, dieses Genre mit Rap-Einlagen, flirrenden Soukous-Gitarrenklängen aus dem Kongo und sozialkritischen Texten neu zu erfinden. In ihren Liedern geht es um die Gefahren des Klimawandels (»Global Threat«, »Tamagbondorsu«), um die Kluft zwischen Arm und Reich (»Goat Smoke Pipe«) und immer auch um die Schrecken des Krieges. Die Atmosphäre ist dennoch durchweg von einer bittersüßen Fröhlichkeit geprägt: Mal klingen die Aufnahmen, als wären sie an einem palmweinseligen Abend in einer Strandbar entstanden, mal, als würde die Band auf einem Schaufelraddampfer den Mississippi hinunterschippern. Ein Dokument des Überlebenswillens, des Muts zum Neuanfang und der ungebrochenen Lebensfreude. Sierra Leone’s Refugee All Stars: Rise & Shine (Cumbancha / Exil)
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Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt oder man lässt sie »verschwinden«. amnesty international veröffentlicht regelmäßig an dieser Stelle drei Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden. Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie bitte eine Kopie an amnesty international.
amnesty international Postfach, 53108 Bonn Tel.: 0228 - 98 37 30, Fax: 0228 - 63 00 36 E-Mail: info@amnesty.de, www.amnesty.de Spendenkonto Bank für Sozialwirtschaft (BfS), Köln Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00 oder Postbank Köln Konto: 22 40 46 - 502, BLZ: 370 100 50
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Foto: A. Broomberg, O. Chanarin
briefe gegen das vergessen
israel und besetzte palästinensische gebiete mordechai vanunu Der Atomkraftgegner und Informant Mordechai Vanunu wurde am 23. Mai zu weiteren drei Monaten Gefängnis verurteilt. Er war zuvor 18 Jahre in Haft, weil er Informationen über das geheime israelische Atomprogramm veröffentlicht hatte. Er arbeitete als Techniker in einem israelischen Atomkraftwerk in der Nähe von Dimona, als er 1986 in Rom von Angehörigen des Geheimdienstes Mossad entführt wurde. Vanunu hatte Details über das Nuklearprogramm der israelischen Regierung an die britische Zeitung »The Sunday Times« weitergegeben. Nach seiner Entführung wurde er vor Gericht gestellt und zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt, von denen er elf Jahre in Einzelhaft verbringen musste. Als er 2004 freigelassen wurde, schränkten die Behörden seine Rechte auf freie Meinungsäußerung, Bewegungs- und Vereinigungsfreiheit ein. Es ist ihm untersagt, mit Ausländern zu kommunizieren. Zudem darf er das Land nicht verlassen, sich nicht in der Nähe von Botschaften, Grenzposten oder Häfen aufhalten und muss die Polizei informieren, wenn er seinen Wohnort wechselt. Die jüngste Haftstrafe wurde verhängt, weil er mit ausländischen Staatsangehörigen gesprochen haben soll. Amnesty International betrachtet ihn als gewaltlosen politischen Gefangenen, der lediglich sein Recht auf freie Meinungsäußerung und Vereinigungsfreiheit wahrgenommen hat. Die Behörden machen geltend, die Einschränkungen seien notwendig, um zu verhindern, dass Vanunu weitere geheime Informationen über das israelische Nuklearprogramm verbreitet. Vanunu hat jedoch wiederholt erklärt, er habe alle seine Kenntnisse über das Atomwaffenarsenal 1986 offen gelegt und verfüge über keine weiteren Informationen. Er arbeitet seit 25 Jahren nicht mehr in Einrichtungen des Nuklearprogramms. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Ministerpräsidenten von Israel und fordern Sie ihn auf, Mordechai Vanunu sofort und bedingungslos freizulassen und die gegen ihn verfügten Einschränkungen aufzuheben Schreiben Sie in gutem Hebräisch, Englisch oder auf Deutsch an: Benjamin Netanyahu Prime Minister Office of the Prime Minister 3 Kaplan St., Hakirya Jerusalem 91950 ISRAEL (korrekte Anrede: Dear Prime Minister) Fax: 009 72 - 2 - 566 48 38, 009 72 - 2 - 649 66 59 E-Mail: bnetanyahu@knesset.gov.il Standardbrief Luftpost bis 20 g: € 1,70 Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft des Staates Israel S.E. Herrn Yoram Ben Zeev Auguste-Viktoria-Straße 74–76 14193 Berlin Fax: 030 - 89 04 55 55 E-Mail: berlin@israel.de oder admsec@berlin.mfa.gov.il
amnesty journal | 08-09/2010
Foto: privat
guatemala claudina velásquez Die 19-jährige Studentin Claudina Velásquez studierte Jura, um Anwältin zu werden, als sie 2005 erschossen wurde. Amnesty International ist in großer Sorge, dass die Täter nicht zur Verantwortung gezogen werden, da von erheblichen Mängeln bei der Morduntersuchung berichtet wurde. Die Hauptverdächtigen wurden nicht auf Schmauchspuren untersucht, um festzustellen, ob sie eine Schusswaffe abgefeuert hatten. Wahrscheinlich sind dadurch entscheidende forensische Beweise verloren gegangen. Auch mögliche Zeugen wurden bislang nicht befragt. Eine große Zahl ähnlicher Fälle sind in Guatemala aufgrund mangelnden Beweismaterials infolge nur oberflächlicher Ermittlungen zu den Akten gelegt worden. Familien, die bei den Behörden Unterstützung suchen, sehen sich oft Gleichgültigkeit und Diskriminierung gegenüber. Währenddessen steigt die Zahl der in Guatemala getöteten Frauen: Laut Zahlen der Regierung kamen 2009 insgesamt 717 Frauen gewaltsam zu Tode – mehr als im Vorjahr. 2009 bedankte sich Jorge Velásquez, der Vater von Claudina, bei den Mitgliedern von Amnesty International für ihre Unterstützung: »Danke, vielen Dank für Ihre Großherzigkeit… und für Ihre anhaltende und uneingeschränkte Unterstützung unserer Forderung nach Gerechtigkeit für Claudina, für uns und für Guatemala… Bitte lassen Sie nicht nach und vergessen Sie uns nicht. Behalten Sie uns immer in Ihren Herzen, Köpfen und Stiften, denn ohne Sie, ohne Ihre Hilfe, könnten wir den endlos scheinenden Kampf nicht führen.« Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Präsidenten von Guatemala, Álvaro Colom Caballeros, in denen Sie fragen, welche Schritte unternommen wurden, um sicherzustellen, dass die Morduntersuchung im Fall Claudina Velásquez in koordinierter, gründlicher und zielgerichteter Weise durchgeführt wird, so dass die Verantwortlichen ohne weitere Verzögerungen zur Rechenschaft gezogen werden können. Fragen Sie zudem, welche Maßnahmen eingeleitet wurden, um weitere Ermittlungsstränge zu verfolgen und mögliche Zeugen zu befragen. Schreiben Sie in gutem Spanisch, Englisch oder auf Deutsch an: President Álvaro Colom Caballeros Presidente de la República de Guatemala Casa Presidencial, 6a. Avenida, 4–18 Zona 1. Ciudad de Guatemala GUATEMALA (korrekte Anrede: Estimado Sr. Presidente / Dear President) Fax: 005 02 - 238 - 383 90 Standardbrief Luftpost bis 20 g: € 1,70 Bitte senden Sie eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Guatemala S.E. Herrn Gabriel Edgardo Aguilera Peralta Joachim-Karnatz-Allee 45–47, 2. OG. 10557 Berlin Fax: 030 - 20 64 36 59 E-Mail: embaguate.alemania@t-online.de
briefe gegen das vergessen
republik kongo germain ndabamenya etikilome, médard mabwaka egbonde und bosch ndala umba Drei ehemalige Angehörige der Sicherheitsdienste der Demokratischen Republik Kongo (DR Kongo) werden ohne Anklage oder Gerichtsverfahren in der benachbarten Republik Kongo festgehalten. Germain Ndabamenya Etikilime, Medard Mabwaka Egbonde und Bosch Ndala Umba werden seit März 2004 vom militärischen Sicherheitsdienst (Direction Centrale des Renseignements Militaires, DCRM) in der Hauptstadt Brazzaville in Haft gehalten. Die drei Männer geben an, dass sie aus der DR Kongo geflüchtet sind, um nicht von den Behörden festgenommen zu werden. Ihren Aussagen zufolge sollen sie dort zu Unrecht angeklagt gewesen sein, die Regierung stürzen zu wollen. Sie beantragten Asyl in Brazzaville. Bosch Ndala Umba erhielt den Flüchtlingsstatus, die beiden anderen Männer warten noch auf eine Entscheidung über ihren Asylantrag. Die Inhaftierung stellt einen Verstoß gegen die kongolesischen Verpflichtungen gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 dar. Außerdem verletzt die Inhaftierung die Strafprozessordnung des Landes. Darin steht, dass Verdächtige innerhalb von 48 Stunden nach ihrer Festnahme einem Justizbeamten vorgeführt und entweder einer Straftat angeklagt oder freigelassen werden müssen. Die Strafprozessordnung führt weiter aus, dass innerhalb von sechs Monaten nach der Festnahme das Gerichtsverfahren beginnen muss. Die nicht begründete und fortgesetzte Haft der drei Männer stellt einen gesetzeswidrigen Freiheitsentzug dar. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Staatspräsidenten Denis Sassou Nguesso und fordern Sie die umgehende Freilassung von Germain Ndabamenya Etikilome, Médard Mabwaka Egbonde und Bosch Ndala Umba. Schreiben Sie auf Lingala, Kituba, Französisch, Englisch oder auf Deutsch an: Son Excellence M. Denis Sassou Nguesso Président de la République Chef du Gouvernement Présidence de la République B.P. 2006, Brazzaville REPUBLIK KONGO (korrekte Anrede: Dear President) Fax: 002 42 - 2 - 81 32 55 Standardbrief Luftpost bis 20 g: € 1,70 Bitte senden Sie eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Kongo Herrn Henri Dimi Botschaftsrat (Geschäftsträger a.i.) Grabbeallee 47 13156 Berlin Fax: 030 - 48 47 98 97 E-Mail: botschaftkongobzv@hotmail.de
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Foto: Amnesty
AMNESTY AKTUELL
»Alles andere wäre seltsam gewesen.« Salil Shetty ist mit dem Kampf für Bürgerrechte aufgewachsen.
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amnesty journal | 08-09/2010
ein anderer blickwinkel Salil Shetty ist seit Juli internationaler Generalsekretär von Amnesty International. Der 49-Jährige wuchs im indischen Mumbai auf und studierte in Ahmedabad und London Management und Sozialpolitik. In den vergangenen sechs Jahren leitete er die UNO-Millenniumskampagne zur Armutsbekämpfung. Davor setzte er sich als Vorsitzender der internationalen Nichtregierungsorganisation ActionAid für die Rechte von Armen ein. Gab es einen Schlüsselmoment in Ihrem Leben, der Sie dazu bewogen hat, sich in Nichtregierungsorganisationen zu engagieren? Angesichts meines familiären Hintergrunds wäre alles andere seltsam gewesen. Meine Mutter war Anwältin und engagierte sich in der Frauenbewegung. Mein Vater ist Journalist und sehr aktiv in der Dalit-Bewegung. Unsere Telefongespräche wurden ständig abgehört, Polizisten überwachten unser Haus, und mein Vater wurde mehrmals festgenommen. Ich wuchs in einer sehr turbulenten Zeit in Indien auf. 1976 wurde der Ausnahmezustand ausgerufen, das einzige Mal in Friedenszeiten seit der Unabhängigkeit. Später war ich Präsident der Studentenvereinigung an der Universität, auch dies war eine Zeit voller Proteste und Widerstand gegen Ungerechtigkeit. Wer meinen Hintergrund nicht kennt, könnte annehmen, mein Engagement würde sich nur auf wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte beziehen, da ich mich in meinem Berufsleben bislang mit Armut befasst habe, das kam aber erst viel später. Mein Einstieg in diese Art von Arbeit betraf bürgerliche und politische Rechte. Sie waren Vorsitzender von ActionAid. Können Sie uns etwas über Ihre Arbeit dort erzählen? Ich arbeitete zunächst in Asien und Afrika. Während dieser Zeit erfuhr ich hautnah, wie Menschen in sehr armen, abgelegenen und ausgeschlossenen Gemeinschaften leben. Ich verbrachte viel Zeit in Dörfern und Armenvierteln. Anschließend zog ich nach Großbritannien und arbeitete viel in Europa. Es waren meine ersten Erfahrungen auf internationaler Ebene. Es war außerdem das erste Mal, dass ich eine große Organisation mit etwa 2.000 Mitarbeitern und Partnern in 40 Ländern leitete. 2003 wurden Sie zum Direktor der Millenniumskampagne der UNO ernannt, deren Ziel es ist, weltweit Menschen und Institutionen dazu anzuregen, sich für die Millenniums-Entwicklungsziele einzusetzen. War diese Arbeit erfolgreich? Es gab einige konkrete Erfolge, wie zum Beispiel die Erhöhung der Entwicklungshilfe der reichen Länder zwischen 2003 und 2008 sowie einen Schuldenerlass für etwa 35 Länder. Dies lässt sich zwar nicht allein auf die Kampagne zurückführen. Sie hat jedoch ihren Beitrag dazu geleistet. Wir haben von Anfang an gesagt, dass Veränderungen auf nationaler Ebene, und erst recht auf lokaler Ebene stattfinden müssen. Politiker handeln erst, wenn sie den Druck ihrer Wähler spüren. Deshalb ist unsere Vorgehensweise auch von unten nach oben gerichtet. So nahmen zum Beispiel an unserer Aktion »Stand Up and Take Action« im vergangenen Jahr 173 Millionen Menschen teil und forderten die Umsetzung der Millenniums-Entwicklungsziele. Dem Guinnessbuch zufolge war dies die größte Bewegung zur Bekämpfung der Armut. Am interessantesten sind jedoch die Bündnisse, die auf nationaler und internationaler Ebene entstanden sind. Unter dem Dach der Kampagne kamen Nichtre-
amnesty aktuell
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salil shetty
gierungsorganisationen, religiöse Organisationen und Gewerkschaften sowie einige eher ungewöhnliche Partner wie Medien, Lokalregierungen und -parlamente zusammen. Dies war eine einzigartige Erfahrung. Allerdings ist es für die UNO, die sich aus Mitgliedsstaaten zusammensetzt, nicht einfach, Regierungen zur Verantwortung zu ziehen. Deshalb mussten wir ein Gleichgewicht finden zwischen der Tatsache, ein Teil der UNO zu sein und bisweilen politisch brisante Projekte voranzutreiben. Was sind Ihrer Ansicht nach die wichtigsten Unterschiede zwischen Ihrer bisherigen Arbeit und der bei Amnesty International? Auch wenn meine gesamte bisherige Arbeit einen Menschenrechtsansatz hatte, unterscheidet sich Amnesty International doch durch die konsequente Konzentration auf Menschenrechte. Die Themen sind dieselben, der Blickwinkel ist ein anderer. An dieser Stelle habe ich viel zu lernen. Ein weiterer großer Unterschied liegt in der Kultur und Geschichte der Organisation. Amnesty International ist im Gegensatz zu ActionAid eine demokratische Mitgliederorganisation. Was kann Amnesty zur Armutsbekämpfung beitragen? Alle Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit haben angefangen, von »menschenrechtsbasierter« Entwicklung zu sprechen, oft ist das aber noch sehr vage und sie müssen konkretisieren, was das bedeutet. Amnesty International steht vor der entgegengesetzten Herausforderung, nämlich zu verstehen, wie Rechte auf Entwicklung angewendet werden können. In der Praxis ist es nicht besonders sinnvoll, zwischen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten auf der einen Seite sowie politischen und bürgerlichen Rechten auf der anderen Seite zu trennen. Denn es sind dieselben Personen, deren verschiedenen Rechte verletzt werden. Wir müssen in unserer Arbeit aber von den Bereichen ausgehen, in denen Amnesty International stark ist, wie etwa das Informationsrecht oder die Einklagbarkeit von Rechten. Welche Rolle sollten Ihrer Meinung nach die Mitglieder und Unterstützer übernehmen? Die 2,8 Millionen Mitglieder mit ihrem enormen Potenzial, Druck von unten zu erzeugen, waren für mich ein ausschlaggebender Grund, zu Amnesty International zu kommen. Sie verleihen Amnesty Gewicht, und dies muss so bleiben. Mir ist bewusst, dass nicht alle Mitglieder und Unterstützer unserer Organisation Aktivisten im engeren Sinne werden möchten, doch haben die Sektionen vielfältige und kreative Wege entwickelt, um allen die Möglichkeit zu geben, aktiv zu werden. Welches sind Ihrer Einschätzung nach derzeit die zentralen Herausforderungen an den Menschenrechtsschutz? Seitdem ich begann, mich mit meiner möglichen Mitarbeit bei Amnesty International zu befassen, ist mir mehr und mehr bewusst geworden, dass die Missachtung der bürgerlichen und politischen Rechte nach wie vor ein massives Problem darstellt. Ähnlich wie im Bereich Armut gibt es auch auf diesem Gebiet noch immensen Handlungsbedarf. Deshalb wird Amnesty International auch in den kommenden Jahrzehnten nötiger denn je gebraucht werden.
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Foto: Amnesty
AKTIV FÜR AMNESTY
Gemeinsam für die Menschenrechte. Amnesty-Mitglieder mit Monika Lüke, der Generalsekretärin der deutschen Sektion (2. v. r.).
amnesty-jahresversammlung in magdeburg Über 350 Amnesty-Mitglieder aus ganz Deutschland trafen sich über Pfingsten in Magdeburg zur Jahresversammlung der deutschen Sektion. Zum Auftakt fand in der Magdeburger Innenstadt eine Demonstration statt zur aktuellen AmnestyKampagne »Wohnen. In Würde«, die sich für die Einhaltung der Menschenrechte von Slumbewohnern einsetzt. Ein weiteres Thema des Treffens war die Rolle der Menschenrechte in der
magdeburg
flashmob gegen folter
Über hundert Menschen beteiligten sich am 26. Juni, dem Internationalen Tag zur Unterstützung von Folteropfern, in Ulm an einem so genannten Flashmob von Amnesty International. Die Aktion richtete sich gegen Folter und sollte zugleich das Ulmer
ulm
deutschen Innenpolitik. In diesem Zusammenhang forderte die Jahresversammlung die Wahrung des absoluten Folterverbots, mehr Verantwortlichkeit bei der Polizei und mehr Schutz für Asylsuchende und Flüchtlinge in Deutschland. Die Jahresversammlung der deutschen Sektion von Amnesty International tagt jedes Jahr an Pfingsten in wechselnden Städten. In diesem Jahr fanden turnusgemäß keine Vorstandswahlen statt.
Behandlungszentrum für Folteropfer unterstützen. Symbolisch für die vielen Folteropfer weltweit setzten sich die Teilnehmer weiße Stofftaschen auf ihre Köpfe und verharrten so zwei Minuten lang regungslos. Zurück ließen sie überraschte Passanten, denen mit der Aktion gezeigt wurde, dass Folter auch heute noch ein aktuelles Thema ist. In über 100 Ländern weltweit wird gefoltert. 25 Prozent der Asylsuchenden in Deutschland wurden in ihren Heimatländern Opfer von Folter. Um diese Menschen zu therapieren, gibt es 25 deutsche Behandlungszentren für Folteropfer, eines davon befindet sich in Ulm.
AKTIV FÜR AMNESTY Foto: Dominik Klump
Amnesty-Mitglieder geben den Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme und tragen somit einen unentbehrlichen Teil zur Arbeit von Amnesty International bei. Mehr über Aktionen, Veranstaltungen und Seminare auf www.amnesty.de/aktiv-vor-ort und www.amnesty.de/kalender Folteropfer unterstützen. Amnesty-Aktion in Ulm am 26. Juni 2010.
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Die Zeitungsanzeige zeigte ein Champagnerglas mit einer schmutzigen Flüssigkeit. »Während Shell auf 9,8 Milliarden Dollar Gewinn anstößt, trinken 23 Millionen Menschen im Niger-Delta vergiftetes Wasser«, heißt es im Begleittext. Soviel Kritik an einem der größten Ölkonzerne der Welt ging den Verantwortlichen der »Financial Times« offenbar zu weit. Kurz vor Redaktionsschluss wurde die Anzeige wieder aus der Wirtschaftszeitung entfernt. Amnesty hatte zwar zugesichert, die volle Verantwortung für die Anzeige zu übernehmen. Das reichte der Zeitung aber nicht. Sie fürchtete offenbar einen Konflikt mit Shell. Die geplante Anzeige sollte ursprünglich gleichzeitig mit Shells Jahrestagung am 18. Mai in London veröffentlicht werden. Wegen Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit der Ölförderung in Nigeria steht der Konzern seit Jahren in der Kritik. Amnesty konnte die Anzeige trotz des Rückzugs der »Financial Times« direkt bei den Shell-Aktionären platzieren: Die Aktivisten fuhren mit einem großen Lieferwagen an den Versammlungsort – an der Außenwand des Wagens war die umstrittene Anzeige zu sehen.
grossbritannien
countdown im netz
berlin Mit Straßenaktionen in Berlin und einem Count-
down im Netz bereitete Amnesty International die aktuelle Kampagne gegen rechtswidrige Polizeigewalt in Deutschland vor, die am 8. Juli startete. An mehreren Orten in Berlin installierten Amnesty-Aktivisten wenige Tage vorher Absperrbänder an ausgewählten »Tatorten«, an denen Polizeiübergriffe stattgefunden hatten, und zogen damit die Aufmerksamkeit der Passanten auf sich. Gleichzeitig startete im Netz der Countdown für den Beginn der Kampagne. Die Pressekonferenz konnte live im Internet verfolgt werden. Weitere Informationen auf www.amnesty.de/polizei
MONIKA LÜKE ÜBER DIE
WIRTSCHAFTSKRISE
Zeichnung: Oliver Grajewski
»financial times« will amnesty-anzeige nicht drucken
In der ersten Hälfte dieses Jahres war die Wirtschaftskrise das Topthema. Europa stand im Fokus: Wie retten wir den Euro? Wer muss den Gürtel enger schnallen? Ganz bestimmt die 53 Millionen Menschen, die nach Schätzungen der Weltbank 2009 wegen der Krise in die absolute Armut abgeglitten sind. Wobei »abgleiten« dabei das falsche Wort ist. Viele werden in Armut gestoßen, ihr Elend ist die Folge von Menschenrechtsverletzungen. Beispiel Kambodscha, das Land, in dem ich bis vor einem Jahr selbst lebte: Im Jahr 2009 wurden dort über 27.000 Menschen rechtswidrig aus ihren Hütten vertrieben, häufig um Raum für ein Projekt koreanischer oder chinesischer Investoren zu schaffen, das jetzt als Folge der Wirtschaftskrise nicht verwirklicht wird. Die Bulldozer kommen über Nacht und nehmen den Menschen nicht nur ihr Zuhause, sondern auch die Näherei oder die Garküche und damit die Lebensgrundlage. Vorher waren sie arm, die Bulldozer stießen sie ins Elend. Statt über Kambodscha könnte ich auch über São Paolo in Brasilien schreiben oder über Kenia, wo entlang der Bahngleise in Nairobi derzeit 50.000 Menschen die Vertreibung aus ihren Hütten droht. Weltweit sind über 800 Millionen Menschen in der Gefahr, durch rechtswidrige staatliche Gewalt ihr Zuhause zu verlieren – oftmals im Zusammenhang mit Investitionsprojekten. Die Wirtschaftskrise bei uns, sie verschärft für Unzählige, vor allem in den Entwicklungsländern, die lebensbedrohliche Menschenrechtskrise. Monika Lüke ist Generalsekretärin der deutschen Amnesty-Sektion.
impressum Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., 53108 Bonn, Tel.: 0228 - 98 37 30, E-Mail: Info@amnesty.de, Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion Amnesty Journal, Postfach 58 01 61, 10411 Berlin, E-Mail: journal@amnesty.de (für Nachrichten an die Redaktion) Redaktion: Bernd Ackehurst, Markus N. Beeko, Daniel Kreuz, Anton Landgraf (V.i.S.d.P.), Ferdinand Muggenthaler, Larissa Probst Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit Albrecht, Corinna Arndt, Daniel Bax, Alexander Bosch, Bernhard Clasen, Olaf Diedrich, Swetlana Gannuschkina, Nils Geißler, Knut Henkel, Ines Kappert, Jürgen Kiontke, Michaela Klement, Johan Kornder, Hauke Lorenz, Monika Lüke, Katrin Bettina Müller, Klaus Naßhan, Ralf Rebmann, Wera Reusch, Andrea Riethmüller, Pamo Roth, Isa Schmälter, Uta von Schrenk, Eva C. Schweitzer, Katharina Spieß, Malena Theele, Sarah Wildeisen, Martin Wolf
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greifen sie ein. mit ihrer unterschrift. In vielen Teilen Afrikas gilt das Gesetz des Stärkeren. Gewalt wird willkürlich eingesetzt – von bewaffneten Gruppen wie von staatlichen Sicherheitskräften. Häufig wird niemand dafür zur Rechenschaft gezogen. Gegen solche Menschenrechtsverletzungen setzt sich Amnesty International ein. Mit gezielten Aktionen weltweit. Täter dürfen nicht straffrei ausgehen. Die Kette der Gewalt muss unterbrochen werden. Ihre Stimme hilft uns, öffentlichen Druck aufzubauen und Unrecht an den Pranger zu stellen. Unterstützen Sie uns. Mit Ihrer Unterschrift können Sie etwas verändern. www.amnesty.de/aktionen
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