Amnesty Journal Ausgabe August/September 2018

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DAS MAGAZIN FÜR DIE MENSCHENRECHTE

AMNESTY JOURNAL

DIGITALE ERMITTLER NEUE METHODEN ZUR AUFKLÄRUNG VON MENSCHENRECHTSVERLETZUNGEN

APARTHEID ALS GESCHÄFT Eine Reportage aus Rakhine in Myanmar

LAUTER LEERSTELLEN Das Urteil im NSU-Prozess missachtet die Angehörigen

SIEG DER WORTE Die saudische Dichterin Hissa Hilal im Interview

08/09

2018 AUGUST/ SEPTEMBER


INHALT

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TITEL: DIGITALE ERMITTLER An der digitalen Front: Das Digitale Verifizierungskorps

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Die Verifizierung der Welt: Amnesty setzt auf kritische Faktenchecks und verifizierbare Recherchen

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Verstörende Bilder: Psychische Belastungen bei der digitalen Recherche

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Hochauflösend ohne Wolken, bitte! Neue Methoden zur Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen

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»Google hat alles möglich gemacht«: Der britische Blogger Eliot Higgins über digitale Recherche

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Kein Zurück nach Myanmar: Die Vertreibung der Rohingya

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POLITIK & GESELLSCHAFT Myanmar: Apartheid im Bundesstaat Rakhine

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Indien I: Ausbeutung von Haushaltshilfen

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Indien II: Die Regierungskritikerin Irom Sharmila

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Iran: 30 Jahre nach dem Massaker im Evin-Gefängnis

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Ostafrika: Verfolgung von Menschen mit Albinismus

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Guatemala: Keine Aufklärung von Brand in Kinderheim

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Deutschland: Das Urteil im NSU-Prozess

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KULTUR Saudi-Arabien: Die Dichterin Hissa Hilal im Gespräch

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Roma-Archiv: Von wegen ungebildete Mütter

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Verfolgte Journalistin: Humayra Bakhtiyar

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Ägypten: Dystopische Romane

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»Mythos Cyberwar«: Der erfundene Krieg

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Kamasi Washington: Die Repolitisierung des Jazz

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RUBRIKEN Panorama 04 Einsatz mit Erfolg 06 Markus N. Beeko über den Wert der Bilder 07 Spotlight: US-Einwanderungspolitik 08 Interview: Ryan Mace 09 Porträt: Yayi Bayam Diouf 48 Dranbleiben: Südkorea, Ägypten, Belarus 49 Rezensionen: Bücher 61 Rezensionen: Film & Musik 62 Briefe gegen das Vergessen 64 Aktiv für Amnesty 66 Impressum 67

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An der digitalen Front. Kaum ein Amnesty-Bericht kommt mehr ohne sie aus: Die Mitglieder des Digitalen Verifizierungskorps überprüfen Fotos und Videos mutmaßlicher Menschenrechtsverletzungen auf ihren Wahrheitsgewalt hin. Auf vier Kontinenten, in zig Sprachen.

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Fremd im eigenen Land. In Tansania und Malawi ist das Leben von Menschen mit Albinismus bedroht, weil ihren Körperteilen magische Kräfte zugeschrieben werden.

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Soundtrack zum Widerstand. Mit seinem neuen Album »Heaven & Earth« gelingt dem gefeierten Tenorsaxofonisten Kamasi Washington die Repolitisierung des Jazz.

Wischen und waschen für die Reichen. Ohne sie wäre das Leben der Wohlhabenden Indiens und Pakistans undenkbar: Millionen Haushaltshilfen sorgen für saubere Wohnungen – unter miserablen Bedingungen.

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Die Unbequeme. Die regierungskritische Journalistin Humayra Bakhtiyar aus Tadschikistan versucht, in Deutschland beruflich Fuß zu fassen. Doch auch hier gerät sie unter Druck.

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DIE DIGITALE AVANTGARDE …

Kein Zurück nach Myanmar. Mit einer Politik der verbrannten Erde zwang das Militär Myanmars im August 2017 Hunderttausende Rohingya zur Flucht nach Bangladesch. Nun baut die Armee eine eigene Infrastruktur auf – ohne die muslimische Minderheit.

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Die Toten vergessen nicht. Dreißig Jahre nach dem Massaker im Teheraner EvinGefängnis wollen zwei Schwestern weiter wissen, was mit ihrem Vater 1988 wirklich geschah.

»Wer hasst, kommt nicht zur Ruhe.« Die saudische Dichterin Hissa Hilal wurde durch ihre mutige Kritik am patriarchalen System ihres Landes bekannt. Seither bewegt sie sich aus Sicherheitsgründen nur noch verschleiert in der Öffentlichkeit. Ein Gespräch über die Macht der Sprache und männliche Dichtkunst.

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Unser Titelbild wurde gezeichnet von Anna Gusella Fotos oben: Horst Friedrichs  |  Oliver Grajewski |  Judith Döker  |  Sarah Eick Sarah Waiswa  |  Brockhaus / Wolff Films |  Mauricio Bustamante  |  Promo Foto Editorial: Sarah Eick / Amnesty

INHALT

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EDITORIAL

… von Amnesty International ist in alle Welt verstreut. London, Genf, Berlin, Seattle – dank moderner Kommunikationsmittel können sich die Mitglieder unseres Krisenreaktionsteams schnell darüber verständigen, an welchen Konfliktherden Hilfe gerade am meisten nottut. Denn Kriegsverbrechen aufdecken und Täter zur Rechenschaft ziehen kann man heute kaum noch ohne digitale Recherchen: Satellitenbilder und Videos aus sozialen Netzwerken haben viele aktuelle Amnesty-Berichte überhaupt erst möglich gemacht. Zuletzt den zu Myanmar. Über Monate sammelten Amnesty-Ermittler Aussagen von Vertriebenen, um deren Angaben mit Luftaufnahmen zerstörter Dörfer abzugleichen. Der Aufwand hat sich gelohnt: Akribisch genau dokumentiert der Bericht mit dem Titel »Wir werden alles zerstören«, wie Generäle bis hoch zu Armeechef Min Aung Hlaing in die ethnischen Säuberungen im Bundesstaat Rakhine verwickelt waren. Weshalb es so wichtig ist, dabei jedes Detail zu verifizieren, um nicht manipulierten Videos oder gefälschten Fotos auf den Leim zu gehen, beschreibt die Leiterin des AmnestyKrisenreaktionsteams Tirana Hassan (Seite 16). Unsere Reporterin Verena Hölzl hat sich ein Jahr nach der Massenflucht Hunderttausender Rohingya einen eigenen Eindruck von der Lage vor Ort verschafft (Seite 28). Sie bestätigt, was auch Amnesty-Analysen ergaben: Myanmars Militär hat in Rakhine ein Apartheidsystem mit streng bewachten Sicherheitszentren aufgebaut. Wie die Armeeführung diese nach der Vertreibung der muslimischen Minderheit hochzog, zeigt die beeindruckende Bildgeschichte unseres Zeichners Oliver Grajewski (Seite 24). Wer mehr darüber wissen will, wie moderne Methoden Menschenrechtsrecherchen revolutionieren, der wage einen Blick ins Netz. Zum Beispiel auf die Seite von www.forensic-architecture.org, einer Gruppe von Wissenschaftlern, mit denen Amnesty in Kamerun, Syrien und im Gazastreifen bei der digitalen Rekonstruktion von Kriegsverbrechen zusammengearbeitet hat. Natürlich mit dem gleichen Ziel wie zu analogen Zeiten: die Schuldigen aufgrund handfester Beweise zur Rechenschaft zu ziehen. Markus Bickel ist Verantwortlicher Redakteur  des  Amnesty Journals.

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PANORAMA

Foto: Kenny Karpov / SOS Mediterranee / Handout via Reuters

FLUCHT ÜBERS MITTELMEER: SPANIEN NEUES HAUPTZIEL

An Spaniens Küsten kommen derzeit am meisten Geflüchtete aus afrikanischen Staaten an. Von Anfang Januar bis Mitte Juli seien 18.000 Männer, Frauen und Kinder eingetroffen, so die Internationale Organisation für Migration (IOM) – wie hier im Juni in Valencia. Damit habe sich die Zahl der Geflüchteten gegenüber 2017 fast verdreifacht und übertreffe nun die Ankünfte in Griechenland und Italien. 1.443 Menschen kamen nach IOM-Angaben bis Mitte Juli auf dem Mittelmeer ums Leben. Amnesty International fordert die Rettung von Menschen in Seenot, Zugang zu einem fairen Asylverfahren und verstärkte Hilfe in den Herkunftsländern der Geflüchteten.

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NICARAGUA: VEREINTE NATIONEN MACHEN ORTEGA FÜR GEWALT VERANTWORTLICH

Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Zeid Ra’ad Al Hussein, gibt Polizei und regierungsnahen Schlägertrupps in Nicaragua die Hauptschuld an der Gewalteskalation in dem mittelamerikanischen Land. In dem seit April andauernden Konflikt sind nach Angaben von Menschenrechtlern mehr als 300 Menschen getötet worden. Die Proteste gegen Präsident Daniel Ortega hatten sich an einer geplanten und später gekippten Sozialreform entzündet. Inzwischen fordern die Demonstranten den Rücktritt des autoritären Staatschefs, der 1979 gemeinsam mit seiner linken Frente Sandinista de Liberación Nacional die damalige Diktatur gestürzt hatte. Foto: Oswaldo Rivas / Reuters

PANORAMA

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EINSATZ MIT ERFOLG

TĂœRKEI Ein Istanbuler Gericht hat am 19. Juni die Freilassung des Rappers Ezhel angeordnet. Er war seit Mai im Gefängnis von Maltepe bei Istanbul in Untersuchungshaft. Ihm wurde vorgeworfen, Üffentlich die Einnahme von Drogen beworben zu haben. Nach Ansicht des Gerichts gab es jedoch keine ausreichenden Beweise fĂźr ein vorsätzlich rechtswidriges Verhalten Ezhels. Nach seiner Festnahme  hatten Amnesty International und Tausende UnterstĂźtzer in den sozialen Medien seine Freilassung gefordert. í˘ą

USBEKISTAN Der Journalist Bobomurod Abdullayev wurde Anfang Mai aus der Haft entlassen. Er muss jedoch anderthalb Jahre lang  einen Sozialdienst ableisten und 20 Prozent seines Einkommens an den Staat abtreten. Der unabhängige Journalist und Sportkommentator war im September 2017 festgenommen worden. Ihm wurde vorgeworfen, unter einem Pseudonym Artikel verĂśffentlicht zu  haben, die zum gewaltsamen Sturz der Regierung aufriefen. Abdullayev gab an, während seiner Haft gefoltert worden zu sein.  í˘˛

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KUBA Die BehĂśrden haben den Umweltaktivisten Ariel Ruiz Urquiola am 3. Juli nach einem langen Hungerstreik unter Auflagen aus dem Gefängnis entlassen. Er kann jedoch jederzeit wieder festgenommen werden, um den Rest seiner einjährigen Haftstrafe wegen Verleumdung zu verbĂźĂ&#x;en. Der Biologe war im Mai 2018 auf seinem GrundstĂźck im ViĂąalesNationalpark im Westen Kubas festgenommen worden, wo er ein Umweltprojekt fĂźr den Erhalt einheimischer Pflanzenarten leitet. Ihm wurde vorgeworfen, zwei Forstbeamte respektlos angesprochen zu haben.

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SUDAN Ein Gericht hat das Todesurteil von Noura Hussein im Juni in eine fĂźnfjährige Haftstrafe umgewandelt. Sie war im Mai  verurteilt worden, weil sie ihren Ehemann in Notwehr getĂśtet hatte, nachdem dieser zum wiederholten Male versucht hatte, sie zu vergewaltigen. Amnesty begrĂźĂ&#x;te die Umwandlung des Todesurteils. DafĂźr, dass sie in Notwehr gehandelt habe, seien fĂźnf Jahre Haft  jedoch eine unangemessen hohe Bestrafung. Amnesty forderte die BehĂśrden auf, die Ge setze zu FrĂźhverheiratung, Zwangsehe und Vergewaltigung in der Ehe zu reformieren.

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MOSAMBIK Die Regierung hat die Aktivitäten des chinesischen Bergbauunternehmens  Haiyu an der mosambikanischen KĂźste ausgesetzt. Ende März hatte Amnesty einen Bericht Ăźber die damit verbundenen Gefahren fĂźr die Bewohner des KĂźstendorfs Nagonha verĂśffentlicht. Darin wurde aufgedeckt, dass die  Aktivitäten von Haiyu im Jahr 2015 zu einer Sturzflut beitrugen, bei der 48 Häuser zerstĂśrt und 290 Menschen obdachlos wurden.  Amnesty kritisierte unter anderem, dass das Unternehmen keine UmweltverträglichkeitsprĂźfung vorgenommen hat.

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Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen an den ÂťUrgent ActionsÂŤ, den ÂťBriefen gegen das VergessenÂŤ und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz Folter verhindert, die Freilassung Gefangener bewirkt und Menschen vor unfairen Prozessen schĂźtzt, zeigt unsere Weltkarte. Siehe auch: www.amnesty.de/erfolge

EINSATZ MIT ERFOLG

MARKUS N. BEEKO ĂœBER

Foto: Bernd Hartung / Amnesty

CHINA Nach fast acht Jahren rechtswidrigen Hausarrests durfte Liu Xia, die Witwe des Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo, das Land verlassen. Am 10. Juli landete sie in Berlin. Die Freilassung erfolgte drei Tage vor dem ersten Todestag ihres Ehemannes, der sich fĂźr die Verbesserung der menschenrechtlichen Lage in China eingesetzt hatte. Obwohl die Dichterin selbst nicht politisch aktiv war, stand sie ihm immer zur Seite. Liu Xia war seit dem Tod ihres Mannes depressiv, ihr Gesundheitszustand hatte sich zunehmend verschlechtert.     í˘ł

DEN WERT DER BILDER Robert Capa, Don McCullin oder Nick Ăšt gehĂśren zu den bekanntesten Kriegsfotografen des 20. Jahrhunderts. Ihre Bilder aus dem Spanischen BĂźrgerkrieg, dem Libanon oder Vietnam haben unsere Wahrnehmung von Gewalt und Vertreibung geprägt, uns das Grauen des Krieges vor Augen gefĂźhrt. FĂźr Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International sind Fotos aus Kriegs- und Krisensituationen nicht allein historische Zeugnisse. Sie kĂśnnen auch Hinweise auf mĂśgliche Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen enthalten und als Beweismittel in Gerichtsverfahren dienen, um die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen. Mutige Fotografinnen und Fotografen wagen sich auch heute unter Lebensgefahr in Krisengebiete. Die Digitalisierung und globale Vernetzung haben ergänzende Technologien hervorgebracht, die ebenfalls Bildmaterial aus Krisengebieten liefern – auch wenn sie nicht in erster Linie dafĂźr entwickelt wurden. So befähigen Smartphones Menschen allerorts dazu, ihre nächste Umgebung mit einem Fingertipp zu fotografieren und ihre Bilder, die Hinweise auf Gewaltverbrechen geben kĂśnnen, Ăźber soziale Medien mit aller Welt zu teilen. Und Satelliten mit Namen wie ÂťGeoEye-1ÂŤ oder ÂťWorldview-4ÂŤ kreisen im Orbit und produzieren Bildmaterial, das gekauft und analysiert werden kann. FĂźr die Menschenrechtsarbeit von Amnesty International sind diese Bilder zu einer wichtigen Informationsquelle geworden. Denn in Zeiten, in denen sich manipuliertes Material oft kaum noch von authentischem unterscheiden lässt, mĂźssen wir eine grĂśĂ&#x;ere Zahl von Quellen zur ĂœberprĂźfung heranziehen. So nutzen die Verifizierungsexperten von Amnesty die neuen Technologien zum Beispiel, um Menschenrechtsverletzungen in Myanmar aufzuklären: Satellitenaufnahmen vor und nach den Massenvertreibungen der Rohingya aus ihren DĂśrfern belegen die Politik der verbrannten Erde von Armeechef Min Aung Hlaing. Amnesty International fordert, ihn vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag anzuklagen. In den vergangenen Jahren waren Satellitenfotos fĂźr uns bereits hilfreich, um Angriffe von Boko Haram im Nordosten Nigerias, Arbeitslager in Nordkorea oder gewaltsame Vertreibungen von Menschen in der Demokratischen Republik Kongo oder im Sudan zu erkennen und zu dokumentieren. Smartphones und Satelliten ersetzen nicht unsere bewährten Methoden zur Aufklärung – an erster Stelle Interviews mit Betroffenen und die unmittelbare Recherche vor Ort –, aber sie ergänzen sie entscheidend. Zu den Aufgaben von Amnesty International gehĂśrt es, Menschenrechtsverletzungen ans Licht zu bringen, sie zu belegen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Neue Technologien leisten einen wichtigen Beitrag dazu, diese Aufgabe zu erfĂźllen. Markus N. Beeko ist Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion.

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SPOTLIGHT

Foto: Jim Young / AFP / Getty Images

US-EINWANDERUNGSPOLITIK: KEINER SOLL MEHR KOMMEN Stehen aufrecht gegen Trump. Demonstration in Chicago, Juni 2018.

Im Streit um das Einreiseverbot für Menschen aus mehreren mehrheitlich muslimischen Ländern hat der Oberste Gerichtshof der USA die Politik von Präsident Donald Trump für rechtmäßig befunden. Im Juni verkündete der Supreme Court, dass das entsprechende Dekret nicht gegen die Verfassung verstößt. Betroffen sind Menschen aus dem Tschad, dem Iran, dem Iran, Libyen, Somalia, Syrien und dem Jemen. Die Richter entschieden den Streit mit fünf zu vier Stimmen. Dem Urteil zufolge stellt die jüngste Version des Verbots keine Diskriminierung von Muslimen dar; zudem habe der Präsident seine Befugnisse mit dem Erlass der Visasperren nicht überschritten. »Der Präsident der

»Die Vorstellung, dass ein Staat Kinder misshandelt, um deren Eltern abzuschrecken, ist ungeheuerlich.« UN-MENSCHENRECHTSKOMMISSAR ZEID RA’AD AL HUSSEIN

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Vereinigten Staaten hat die außerordentliche Macht, zu seinen Bürgern und für sie zu sprechen«, schrieb der Vorsitzende Richter John Roberts in der Urteilsbegründung. Im Wahlkampf hatte Trump eine »totale und vollständige Abschaltung« der muslimischen Einwanderung in die USA gefordert und nur eine Woche nach seinem Amtsantritt im Januar 2017 das erste Einreiseverbot gegen Menschen aus mehreren überwiegend muslimisch geprägten Ländern verhängt. Nach mehreren Änderungen segneten die obersten Richter dieses nun ab. Per Dekret beendete Trump im Juni hingegen die umstrittene Trennung irregulär eingereister Eltern von ihren Kin-

dern an der Grenze zu Mexiko. »Wir müssen die Familien zusammenhalten«, begründete er das Ende der Familientrennung, wenn die Eltern wegen unerlaubten Grenzübertritts in Haft müssen. Zugleich sagte er, die »Nulltoleranzpolitik« gegen Menschen, die ohne Erlaubnis eingewandert sind, werde fortgeführt. Im Frühjahr hatten US-Grenzbeamte an der Grenze zu Mexiko die Familien von Flüchtlingen aus Süd- und Mittelamerika getrennt. Nach offiziellen Angaben mussten etwa 2.300 Kinder in Betreuungseinrichtungen, ihre Eltern in Haft. Bis Mitte Juli waren erst 500 Kinder wieder mit ihren Eltern vereint. Das Weiße Haus treibt derweil Pläne voran, auf Armeebasen 20.000 Flüchtlinge einzuquartieren.

2.300 11MILLIONEN KINDER WURDEN IM MAI UND JUNI AN DER GRENZE ZWISCHEN MEXIKO UND DEN USA VON IHREN ELTERN GETRENNT.

MIGRANTEN LEBEN OHNE AUFENTHALTSERLAUBNIS IN DEN USA, RUND DIE HÄLFTE DAVON MEXIKANER.

Quelle: US-Einwanderungsbehörde

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RYAN MACE

»DIE USA SCHLAGEN DER WELT DIE TÜR ZU« Foto: Lauren Murphy

US-Präsident Donald Trump setzt seit seinem Amtsantritt auf eine Abkehr von der einst liberalen Flüchtlings- und Asylpolitik der Vereinigten Staaten. Die amerikanischen Einwanderungsgesetze, die er als »dümmste der Welt« bezeichnet, will er nach den Kongresswahlen im November ändern. Ryan Mace ist Flüchtlingsexperte von Amnesty International in den USA. Interview: Markus Bickel

Welche Folgen hat das Urteil des Obersten Gerichts, den Einreisestopp für Menschen aus Kriegsgebieten wie dem Jemen, Libyen oder Syrien aufrechtzuerhalten? Damit wird eine Politik zementiert, die verhindert, dass die am meisten gefährdeten Menschen der Welt in den Vereinigten Staaten Sicherheit finden können. Menschen auf der Flucht vor Krieg, Gewalt und Folter die Tür zuzuschlagen, ist schlicht gewissenlos. Erst vor Kurzem hat Jordanien seine Grenzen zu Syrien geschlossen. Mit dem Einreisestopp wird den vor Verfolgung und Gewalt Fliehenden eine weitere Alternative genommen. Eigentlich sollte Amerika führen, aber leider fahren wir unser Engagement für humanitären Schutz weiter zurück. Wie sind Muslime in den USA durch die Entscheidung berührt? Sowohl direkt als auch indirekt. Entscheidend ist, dass Menschen mit Verwandten in den betroffenen Ländern unabhängig von ihrem Glauben betroffen sind – das hat bereits im vergangenen Jahr zu Chaos an den Grenzen und zur dauerhaften Trennung von Studierenden aus diesen Ländern von ihren Familien geführt. Stellen Sie sich vor, dass Ihre Tochter oder Ihr Sohn sein Examen feiern will oder heiratet und Sie nicht dabei sein dürfen. Darüber hinaus führt diese Politik zur Stigmatisierung ganzer Bevölkerungsgruppen, denen von oben deutlich gemacht wird, dass sie in den USA nicht willkommen sind. Welche Gründe vermuten Sie hinter der ausgrenzenden Einwanderungs- und Asylpolitik Trumps? Darüber kann man nur spekulieren. Wir wissen jedoch, dass sie zur absolut schlimmsten Zeit kommt, angesichts von mehr als 68 Millionen Vertriebenen weltweit, davon 25 Millionen Flüchtlingen. Dennoch hat die Regierung die Zahl derer, die über Resettlement-Programme ins Land kommen dürfen, auf

SPOTLIGHT

45.000 begrenzt – so wenig wie nie zuvor in der Geschichte. Und nicht einmal die Hälfte ist erreicht. Das heißt, wir haben nicht nur unsere Ziele herabgesetzt, sondern versuchen noch nicht einmal, sie zu erreichen. Welche unmittelbaren Folgen hat das? Das führt dazu, dass besonders schutzbedürftige Menschen auf Dauer vertrieben bleiben, ohne Zugang zu medizinischer Versorgung, darunter viele Kinder, denen ihr Recht auf Bildung in entscheidenden Entwicklungsjahren genommen wird. Hunderttausende haben zuletzt erfolgreich gegen Trumps Entscheidung demonstriert, Kinder irregulär Eingewanderter an den Grenzen von ihren Eltern zu trennen. Ein Hoffnungsschimmer? Das zeigt, wie wichtig es ist, sich gegen Unrecht und falsche Politik auszusprechen. Das kann die Teilnahme an einer Demonstration sein, ein Brief oder ein Anruf. Wichtig ist, nicht still zu bleiben. Um unsere Vision einer besseren Welt zu verwirklichen, müssen wir handeln – nur so können wir die Dinge zum Positiven ändern. Wie groß ist die Gefahr, dass die Angehörigen irregulär in die USA eingereister Familien künftig gemeinsam inhaftiert werden, obwohl das gesetzlich nicht erlaubt ist? Das passiert bereits – und die Regierung ist offenbar gewillt, diese Praxis auszuweiten, obwohl sie falsch ist: Weder Familien zu trennen noch sie gemeinsam einzusperren, ist die Lösung. Es gibt viele humane Alternativen dazu, etwa indem die betroffenen Menschen an den Grenzen Asyl beantragen. Zu diesem Weg drängen wir die Regierung, um eine Abkehr von dem sehr schädlichen Vorgehen zu erreichen, Kinder zusammen mit ihren Eltern festzusetzen.

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TITEL

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Digitale Ermittler

Moderne Technologien revolutionieren die Welt – auch die von Menschenrechtlern. Weil Satelliten inzwischen alles aufzeichnen und Computer präzise Echtzeitmodelle entwickeln können, lassen sich Kriegsverbrechen immer genauer rekonstruieren. Auch dank der Arbeit von Amnestys digitalen Ermittlern.

Unendliche Weiten. Computerbildschirm, Juni 2018. Foto: Horst Friedrichs

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An der digitalen Front

Tradition trifft Moderne. Die Mitglieder des Digitalen Verifizierungskorps im Juni 2018 in Cambridge.

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Kaum ein Amnesty-Bericht kommt mehr ohne sie aus: Die Mitglieder des Digitalen Verifizierungskorps überprüfen Fotos und Videos mutmaßlicher Menschenrechtsverletzungen auf ihren Wahrheitsgehalt hin. Auf vier Kontinenten, in zig Sprachen. Von Peter Stäuber und Horst Friedrichs (Fotos), Cambridge

DIGITALE ERMITTLER

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Analog und digital. Cambridge im Juni 2018.

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as Pembroke College im Zentrum der britischen Universitätsstadt Cambridge präsentiert sich an diesem sonnigen Junitag so, wie man sich eine englische Universität vorstellt: Der Rasen ist penibel kurz geschnitten, der Efeu kriecht die rote Backsteinfront des Gebäudes hoch, und auf den Steinpfaden stolzieren frisch promovierte Studienabsolventen in langen schwarzen Umhängen. Im ersten Stock dieser jahrhundertealten Institution dreht sich heute alles um die neuen Techniken des digitalen Zeitalters – und um die Frage, wie diese Mittel eingesetzt werden können, um Menschenrechtsverletzungen zu ahnden. Die rund 40 Studierenden, die sich in den kleinen Raum zwängen, sind in den vergangenen zwei Jahren zu unerlässlichen Mitarbeitern von Amnesty International geworden. Sie kommen von vier Kontinenten und sechs Universitäten. Es ist eine bunte, lebhafte Gruppe, die sich vor Beginn der Veranstaltung lautstark austauscht; indische, afrikanische und amerikanische Akzente sind zu hören. Zusammen bilden diese jungen Leute den Kern des Digital Verification Corps (DVC) von Amnesty, das sich heute zur Jahreskonferenz in Cambridge zusammengefunden hat. Die Mitglieder des Digitalen Verifizierungskorps erfüllen eine schwierige, zuweilen belastende, aber entscheidende Aufgabe: Sie überprüfen Videos und Fotos von Kriegsverbrechen und anderen Gewalttaten auf Exaktheit und Wahrheitsgehalt hin. Aufgrund der großen Anzahl von Fotos und Videos, die heut-

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zutage mit Smartphones gemacht werden, muss sich Amnesty auf die Hilfe solcher Experten verlassen, sagt DVC-Manager Sam Dubberley, ein großgewachsener Nordengländer, der die Jahreskonferenz organisiert hat. »Für uns stellt sich die Frage: Wie können wir die riesige Menge an Information, die in den sozialen Medien kursiert, für unsere Recherchen nutzen?« Diese Herausforderung treibt ihn seit der sogenannten grünen Revolution im Iran 2009 um und verstärkt seit den arabischen Aufständen zwei Jahre später. Wie können die Autoren von Amnesty-Berichten erkennen, ob es sich um echtes, relevantes Bildmaterial handelt? Denn für die Organisation steht viel auf dem Spiel. »Das wichtigste Kapital, das Amnesty hat, ist ihr Ruf«, sagt Dubberley. »Wenn wir gefälschte oder falsch zugeordnete Videos verbreiten, dann wird dieser Ruf sehr schnell beschädigt.« Gemäß den Grundsätzen von Amnesty sollten die Mitglieder und Unterstützer in diese Arbeit miteinbezogen werden. »Wir sind eine Organisation, die von freiwilligem Engagement getragen wird«, sagt Dubberley. »Früher schrieben die Mitglieder Briefe und beteiligten sich an großen Kampagnen. Wir überlegten uns, wie wir dieses Engagement im 21. Jahrhundert weiterführen können, und zwar so, dass es für die Recherchen von Amnesty wichtig ist und tatsächlich etwas bewirken kann.« So ergab sich die Zusammenarbeit mit mehreren Universitäten auf der ganzen Welt. Im September 2016 organisierte Dubberley das erste Training mit Studenten der Universität Berkeley in Kalifornien, kurz darauf stieß die Universität Essex in England hin-

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Erkundungen im Netz. Michael Nyarko.

Genauer Blick. Sam Dubberley.

zu, später schlossen sich Teams in Pretoria, Hongkong, Toronto und Cambridge an. Jedes Team umfasst zehn bis zwanzig Mitglieder, die zusammen mehr als ein Dutzend Sprachen beherrschen. Die meisten Studenten sehen sich bei der Konferenz im Juni zum ersten Mal. Dubberley teilt sie zu Beginn in sechs Gruppen ein, in denen sie sich über ihre Erfahrungen als DVC-Überprüfer austauschen können. Wie funktioniert die Kommunikation mit Amnesty? Gibt es Möglichkeiten, die Arbeitsabläufe zu verbessern? Was sind die ethischen Implikationen der DVC-Arbeit? In der Kantine des Colleges fangen bald angeregte Diskussionen an. Eine Gruppe spricht über die psychologischen Folgen der Videoanalyse. »Die Arbeit zu Ost-Ghouta war hart«, sagt eine Studentin aus Essex über ihre Recherchen zu der einstigen Oppositionsgegend nahe Damaskus. »Wir mussten uns Videos von Patienten in einer Klinik anschauen, und einer aus unserem Team hatte Familienmitglieder in Syrien.« Eine andere Gruppe unterhält sich über die Schwierigkeit, die Anonymität von Informanten sicherzustellen, falls ihre Videos und Bilder in Amnesty-Berichte einfließen.

go. »Im Fall von Kamerun kursierten in den sozialen Medien Berichte über Gewaltverbrechen, und wir mussten herausfinden, ob es dazu Bild- oder Videomaterial gibt, das die Berichte bestätigen kann«, sagt Nyarko. »Making discovery«, nennt sich das im Jargon der digitalen Ermittler, also das Suchen von Material im Internet, das Licht auf einen Vorfall werfen kann. In anderen Fällen ist Amnesty bereits im Besitz von Filmen oder Fotos, und das DVC muss prüfen, ob sie echt sind und am genannten Ort aufgenommen wurden. Nyarko und seine Teamkollegen erhielten zum Beispiel ein Video aus dem Kongo, auf dem zu sehen ist, wie die Polizei in eine Kirche eindringt, in der sich Protestierende aufhalten, und zu schießen beginnt. »Wir mussten den Ort des Vorfalls und die Identität der Opfer überprüfen«, sagt Nyarko. Zunächst stellt das DVC fest, ob das Video bereits irgendwo erschienen ist – dazu gibt es Online-Tools wie

Auf Entdeckungstour Michael Nyarko, ein 31-jähriger Nigerianer, der in Pretoria Jura studiert, ist seit Anfang 2017 dabei. Seither untersuchte er Gewalt während der Wahlen in Kenia und Menschenrechtsverletzungen in Kamerun und in der Demokratischen Republik Kon-

DIGITALE ERMITTLER

Die meisten der digitalen Ermittler sehen sich in England zum ersten Mal. 15


Gemeinsam verifizieren. Amnesty-Freiwillige im Pembroke College.

Die Verifizierung der Welt Immer mehr Machthaber bezeichnen unliebsame Informationen als »Fake News«. Andere verbreiten bewusst Fehlinformationen. Dagegen setzt Amnesty International auf kritische Faktenchecks und verifizierbare Recherchen. Von Tirana Hassan, Leiterin des Amnesty-Krisenreaktionsteams

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ie rasante Entwicklung des Internets macht vor Menschenrechtlern nicht Halt. Fotos und Videos aus sozialen Netzwerken und Chat-Apps haben viele Amnesty-Berichte der vergangenen Jahre überhaupt erst möglich gemacht. Sei es über die verbrannten Dörfer der Rohingya in Myanmar, über die völkerrechtswidrige Belagerung ganzer Städte in Syrien oder über die Drangsalierung von Geflüchteten auf der zu PapuaNeuguinea gehörenden Insel Manus. Weil billige Handys mit hochauflösenden Kameras überall erhältlich sind, können Menschenrechtsverletzungen fast überall dokumentiert werden – von fast jedem. Amnesty kann Betroffenen aber nur dann wirklich Gehör verschaffen, wenn die gesammelten Informationen stimmen. Deshalb verwenden unsere Mitarbeiter viel Zeit darauf, sie zu verifizieren. Denn nur selten sind die Mitglieder unseres Krisenteams genau dann vor Ort, wenn Menschenrechte verletzt werden. Meist lässt sich erst im Nachhinein überprüfen, ob be-

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stimmte Vorgänge sich tatsächlich so abgespielt haben, wie zum Beispiel von Journalisten berichtet. Um das sicherzustellen, sind unsere Mitarbeiter in den Techniken des Verifizierens geschult. Das ist auch deshalb so wichtig, weil immer mehr Machthaber Informationen als »Fake News« abtun, nur weil sie mit der Verbreitung bestimmter Fakten nicht einverstanden sind. Syriens Präsident Baschar al-Assad etwa bezeichnete den Amnesty-Bericht über Tausende Exekutionen im Sadnaya-Gefängnis 2017 als »Fake News«. Wir sollten nicht in die Falle tappen, diesen Begriff ebenfalls zu verwenden, denn er unterstellt, dass Menschen lügen, um andere absichtlich in die Irre zu führen. Gerade weil der Begriff »Fake News« so einprägsam ist, übernimmt man ihn schnell. Doch indem wir ihn benutzen, spielen wir denen in die Hände, die Fakten verfälschen wollen. Anders sieht es bei Desinformation aus – dabei handelt es sich um Falschnachrichten, die bewusst verbreitet werden.

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Keep oder die Video-Datenbank von Amnesty. Die genaue Bestimmung des Ortes ist oft ein mühsamer Prozess, bei dem die DVC-Analysten sich auf Google Earth oder Google Street View Bilder der betreffenden Straße anschauen und einzelne Gebäude vergleichen. Kompliziert wird es, wenn es keine Street-ViewBilder gibt, was in vielen Ländern des globalen Südens der Fall ist. Dann müssen einzelne Orientierungspunkte auf den Fotos verglichen werden. Für die Amnesty-Ermittler vor Ort ist die Arbeit des DVC von zentraler Bedeutung, erklärt Sam Dubberley: »Kürzlich war eine Mitarbeiterin von uns im Jemen und interviewte Flüchtlinge aus der Provinz al-Hudaida, also jenem Gebiet, in dem saudische Streitkräfte gegen Huthi-Rebellen kämpfen. Die Flüchtlinge erzählten ihr, dass Familienmitglieder bei Luftangriffen getötet worden seien. Sie konnte diese Aussagen aber nicht überprüfen, weil eine Reise in das Kriegsgebiet zu gefährlich gewesen wäre.« Also schaltete sie das DVC ein. Während sie ihre Recherchen weiterführte, versuchten die Studenten herauszufinden, ob die Luftangriffe stattgefunden hatten, und zwar an dem Tag und an dem Ort, den die Flüchtlinge genannt hatten. »Über öffentlich zugängliche Informationen im Internet konnten wir bestätigen, dass der betreffende Ort angegriffen wurde. Wir identifizierten die Tankstelle, die bombardiert worden war, und sahen einige zivile Opfer.« Diese Information wurde sofort an die AmnestyErmittlerin weitergeleitet, die damit Beweismaterial hatte, das ihren Bericht untermauerte. Es sei erstaunlich, wie viele Informationen man im Internet finde, sagt Michael Nyarko. »Wir erhielten einmal ein Video, das angeblich in der Demokratischen Republik Kongo im Juni aufge-

Die Versuchung ist groß, ein Übermaß an Informationen mit Authentizität gleichzusetzen. nommen worden war. Wir wissen, dass das die Regenzeit ist – und es gibt Tools, mit denen man herausfinden kann, wie das Wetter an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit war. Wir stellten fest, dass es im Video viel zu sonnig war, als dass es im Juni hätte aufgenommen werden können.« Die Schwierigkeit bestehe oft darin, den genauen Zeitpunkt eines Ereignisses zu bestimmen; oft stammt Bildmaterial zwar vom betreffenden Ort, wurde aber schon viel früher aufgenommen als angegeben. Auch ist die Versuchung groß, ein Übermaß an Informationen mit Authentizität gleichzusetzen: »Wenn man die gleichen Berichte in verschiedenen Zeitungen und Websites liest, besonders auf renommierten, hat man schnell das Gefühl, es sei relevant und echt«, sagt Nyarko. »Aber wenn man sich die Sache dann genauer anschaut, stellt sich heraus, dass sich alle Medien

Forscher der Harvard-Universität sprechen deshalb auch von Fehlinformationen statt von »Fake News«. Begriffe bewusst zu setzen, hilft, um denen entgegenzutreten, die die Arbeit von zivilgesellschaftlichen Organisationen diskreditieren wollen. Oft ist den Nutzern von Facebook, Twitter oder anderen sozialen Medien gar nicht bewusst, dass sie »Fake News« teilen. Umso wichtiger ist die Differenzierung. Zumal die Entwickung im digitalen Raum weiter rasant fortschreitet. So ist es zum Beispiel längst möglich, in Videos Gesichter von Personen einzufügen, die überhaupt nicht vor Ort waren. Die Qualität nachträglich bearbeiteter Videos – auch als »Deep Fake« bekannt – wird immer besser. Mit einem Mausklick lässt sich eine Aufnahme von Winter- auf Sommerwetter umstellen. Was bedeutet das für die Welt, wenn solche Videos alltäglich werden? Wozu könnten sie genutzt werden? Zur Panikmache vielleicht? In einer Welt im Umbruch, in der es viele potenzielle Wohlstandsverlierer gibt, eignen sich manipulierte Videos sehr gut dazu, deren Ängste zu instrumentalisieren. Autoritäre Politiker und Bewegungen lieben »Fake News«. Dagegen setzen Menschenrechtler die digitalen Entwicklungen bewusst ein, um eine zunehmend vergiftete Atmosphäre sichtbar zu machen. Wir kämpfen weiterhin mit aller Kraft für eine Welt, in der sich jeder auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte berufen kann, ohne Gefahr für Leib und Leben befürchten zu müssen. Dabei können leider auch Fehler passieren – deshalb ist es für unsere Arbeit so wichtig, alles zu verifizieren. 쮿 Digitale Welten. Cambridge im Juni 2018.

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auf ein und dasselbe Video beziehen – und wenn das nicht authentisch ist, sind alle Berichte falsch. Nur weil BBC oder CNN einen Bericht veröffentlichen, heißt das nicht, dass es sich um eine verlässliche Quelle handelt.« Auf der anderen Seite ist eine anonyme Quelle nicht automatisch weniger zuverlässig – die betreffende Person will vielleicht einfach anonym bleiben, weil es sich um heikle Informationen handelt.

Akademiker und Aktivisten Kurz vor der Mittagspause im Pembroke College schaltet sich Tirana Hassan, die Leiterin des Krisenteams von Amnesty International, per Skype von Washington zu. »Das DVC ändert die Art und Weise, wie Amnesty Menschenrechtsverletzungen dokumentiert«, sagt sie. »Dank eurer Arbeit haben wir immer mehr eindeutige Beweise, die es schwerer machen, ein Verbrechen pauschal abzustreiten.« Die digitalen Überprüfer spielen mittlerweile bei fast allen Amnesty-Berichten eine Rolle. Ausnahmen waren zum Beispiel Berichte über die syrische Stadt Rakka. Dort gab es kaum Fotos oder Videos, weil die IS-Miliz jeden tötete, den sie mit einer Kamera oder einem Smartphone erwischte. »Dagegen stützen sich neue Berichte zum Beispiel über Myanmar oder Nicaragua in hohem Maße auf die Arbeit der DVC-Teams«, sagt Sam Dubberley. »Besonders in Fällen, die mutmaßliche Verstöße gegen das Völkerrecht betreffen, gibt es eine riesige Fülle von Material in den sozialen Medien.« Dabei ist hilfreich, dass sich die Studenten vom DVC mit der Materie auskennen: Viele von ihnen haben Jura studiert und sich auf Völkerrecht spezialisiert. Sie sind sowohl Akademiker als auch Aktivisten – und zuweilen ist es schwierig, dies auseinanderzuhalten: »Wenn man sich leidenschaftlich für eine Sache einsetzt und auf vermeintliche Beweise stößt, die die eigene

Sichtweise bestätigen, ist man versucht, die Information für authentisch zu halten«, sagt Michael Nyarko. Deshalb ist in solchen Fällen doppelte Vorsicht geboten.

Distanz und Nähe Vielen Studenten bereitet es zudem Probleme, mit Videos umzugehen, auf denen grausame Verbrechen zu sehen sind. Eine Studentin aus Essex erklärt das Dilemma, vor dem sie oft steht: »Auf der einen Seite will ich die Bilder nicht sehen, aber auf der anderen Seite weiß ich, dass es sehr wichtig ist, sie anzuschauen.« Eine Kollegin aus Südafrika erzählt, dass sie sich bei der Analyse gewaltsamer Auseinandersetzungen in Kamerun mit einem einfachen Mittel behalfen: »Wir hatten ein Video, auf dem zu sehen war, wie ein Mann angeschossen wurde, aber noch immer lebte. Weil wir uns das Video immer wieder ansehen mussten, um den Ort des Verbrechens zu bestimmen, klebten wir einfach ein Pflaster auf den Bildschirm, um die Verletzung zu überdecken.« Die DVC-Teams lernen jedoch auch, wie sie mit traumatischen Erfahrungen umgehen können. So berichtet Sonia Hamilton von der Universität Berkeley: »Vergangene Woche kam es erstmals vor, dass mich grausames Bildmaterial, das ich aufgespürt hatte, emotional zu sehr mitnahm«, erzählt sie. »Zum Glück hatte ich gelernt, welche Methoden ich anwenden muss, um mich davon zu distanzieren – ich stellte den Computer ab, nahm mir den Rest des Tages frei und schaute mir lustige Videos an, um mich abzulenken.« Wichtig sei es, eine klare Distanz zu wahren zwischen dem eigenen Alltag und den Bildern, die man analysiert. 쮿 Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen:  www.amnesty.de/app

Verstörende Bilder Der Leiter des Digitalen Verifizierungskorps von Amnesty International, Sam Dubberley, über die Gefahren digitaler Recherche – und Maßnahmen, um psychischen Belastungen vorzubeugen.

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ie Welt wird immer digitaler, und wir werden in Zukunft noch mehr mit Videos und Fotos arbeiten. Zu unserer Recherchearbeit gehört auch, dass wir uns die grauenvollsten Dinge ansehen müssen, die Menschen einander antun können. Amnesty-Mitarbeiter haben oft nur begrenzten Zugang zu Kriegs- und Krisengebieten, doch können sie sich nahezu in Echtzeit über Konflikte informieren, indem sie Fotos und Videos von Augenzeugen nutzen, die in Aufmerksame Beobachterinnen. Sonia Hamilton (links).

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Kein Ende in Sicht. Schreckensnachrichten aus Syrien.

den sozialen Medien zirkulieren. Für diejenigen, die diese verstörenden Bilder akribisch verifizieren, besteht die Gefahr einer sekundären Traumatisierung, auch Burnout, Depression und Drogenmissbrauch können drohen. Wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass die intensive Beschäftigung mit gewaltsamen Bildern sogar posttraumatische Belastungsstörungen verursachen kann. Menschenrechtsorganisationen, die mit diesem Material arbeiten, müssen diese Risiken sehr ernst nehmen. Denn nur, wenn wir auf unsere eigene Gesundheit achten, können wir dazu beitragen, dass diese Videos und Fotos schließlich dazu genutzt werden, um die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Das Bewusstsein für diese Problematik ist auch bei Amnesty International stark gewachsen. Die ehrenamtlichen Mitarbeiter des Digitalen Verifizierungskorps erhalten sogenannte Resilienz-Schulungen von professionellen Trainern, um eine Traumatisierung zu verhindern. Früher wurden psychische Probleme allzu oft wie körperliche Verletzungen behandelt, bei denen es nur zwei Möglichkeiten gibt: Entweder ist das Bein gebrochen oder es ist heil. Bei psychischen Problemen ist das Spektrum möglicher Verletzungen jedoch viel größer. Die Resilienz-Schulung soll gewissermaßen dafür sorgen, dass es gar nicht erst zum Beinbruch kommt. Auch die Universitäten der DVC-Mitglieder haben das Wohlbefinden der Ehrenamtlichen im Auge. So haben diese stets die Möglichkeit, bestimmte Projekte abzuleh-

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nen und das Gespräch mit vertrauenswürdigen Seelsorgern zu suchen. Im Umgang mit belastenden Inhalten in Videos und Fotos gilt es, drei einfache Regeln zu beachten. 1. Belastung durch Ton gering halten. Forschungen zeigen, dass Personen grausame Videos viel belastender empfinden, wenn darin Menschen aufgrund von Qualen oder Todesangst schreien oder andere Geräusche, die auf Gewalteinwirkung hindeuten, zu hören sind. Man sollte sich daher vor dem Betrachten von potenziell traumatisierendem oder belastendem Augenzeugenmaterial überlegen, ob der Ton wirklich notwendig ist oder abgeschaltet werden kann. 2. Grauenvolle Bilder wirken traumatisierender, wenn sie den Betrachter überraschen. Menschenrechtsaktivisten berichten, dass es für sie schlimmer war, traumatisierende Inhalte zu sehen, wenn sie nicht darauf vorbereitet waren. Wer verstörende Inhalte an andere weitergibt, sollte diese deshalb immer vorab als solche kennzeichnen. 3. Für Mitarbeiter, die mit belastenden Videos arbeiten, ist das Arbeitsklima besonders wichtig. Studien zeigen, dass Mitarbeiter es schätzen, wenn sie in einem Umfeld arbeiten, in dem es möglich ist, offen über die Auswirkungen traumatisierender Bilder und Inhalte zu sprechen. Vorgesetzte sollten deshalb darauf achten, ein entsprechendes Arbeitsklima zu schaffen. 쮿

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Hochauflösend ohne Wolken, bitte! Digital aufbereitete Satellitenbilder und 3D-Rekonstruktionen von Kriegsschauplätzen haben die Methoden zur Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen revolutioniert. Von Hannah El-Hitami

Nach den ethnischen Säuberungen. Inn Din in Myanmar im September 2017.

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ünfundzwanzig Quadratkilometer Satellitenfoto kosten 200 Dollar – mit Amnesty-Rabatt, und wenn die Käuferin Micah Farfour heißt, Satellitenexpertin bei Amnesty International. Von ihrem Schreibtisch in Denver aus analysiert die 35-Jährige Brandstiftungen, Fluchtbewegungen, Massengräber oder Öllecks auf der ganzen Welt – eben alles, was nicht unter einem Dach oder einer Wolkendecke versteckt ist. Seit 2007 beschäftigt Amnesty International Expertinnen und Experten, die Satellitenmaterial analysieren. Wenn Recherche-Teams Farfour beauftragen, bestimmte Vorkommnisse zu untersuchen, begibt sie sich auf Einkaufstour. »Ich schaue bei verschiedenen Händlern, was es so gibt. Hochauflösendes Material ohne Wolken oder Nebel bestelle ich«, sagt sie im SkypeGespräch, während sie auf einer sonnigen Holzterrasse in den Bergen von Colorado sitzt. Dort erholt sich die digitale Ermittlerin von den stressigen Monaten, die hinter ihr liegen. Mit Satellitenbildern aus dem syrischen Rakka hatten Farfour und ihr Team im Frühjahr Augenzeugenberichte bestätigt, nach denen die Militärallianz gegen die Terrorgruppe Islamischer Staat Wohngebiete bombardierte. Bereits zuvor nutzte sie Bildmaterial aus Nigeria, um Fluchtbewegungen nachzuzeichnen und – durch mit Wärmesensoren ausgestattete Satelliten – Brandstiftungen seitens des Militärs zu datieren. Und auch zu

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Menschenrechtsverletzungen im Jemen und im Sudan recherchierte sie. Die Bilder aus dem All sehen für Außenstehende aus wie verschwommene grün-braune Flächen mit kleinen Quadraten oder Klecksen, die Häuser oder Bäume darstellen. Doch für Amnesty und andere Menschenrechtsorganisationen gehören sie zu den wichtigsten Beweisstücken bei der Aufdeckung von Menschenrechtsverletzungen – vor allem dort, wo Ermittler nicht ohne erhebliche Hindernisse oder Gefahren einreisen können. Wie 2017 in Myanmar: Augenzeugen berichteten, dass Dörfer der muslimischen Minderheit der Rohingya abgebrannt und Tausende Menschen vertrieben wurden. Journalistinnen oder Menschenrechtler durften jedoch nicht in die Region reisen, um Beweise zu sammeln für etwas, das die Vereinten Nationen später als »ethnische Säuberung« bezeichnen sollten. »Die Satellitenbilder waren voller Wolken, sodass wir Schwierigkeiten hatten, gute Bilder zu bekommen«, erinnert sich Farfour an die Myanmar-Recherche. »Es handelte sich außerdem um eine riesige Fläche, die wir untersuchen mussten.« Trotz aller Schwierigkeiten fand sie schließlich einen Ort, von dem es nur niedrigauflösende Satellitenbilder gab. »Das Dorf hatte eine längliche Form. Der obere Teil war überhaupt nicht verbrannt, der untere Abschnitt hingegen komplett«, so Farfour. Es stellte sich heraus, dass dort die Rohingya gelebt

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Foto: CNES 2017, Distribution AIRBUS DS / Amnesty

Ganze Satellitenschwärme werden von jungen Raumfahrtunternehmen ins All geschickt.

hatten. »Wir konnten also beweisen, dass es sich um gezielte Brandstiftung gehandelt hatte.« Die Recherche von oben ist eigentlich nicht neu. Ende der 1990er Jahre wurde der Satellitenmarkt privatisiert. Aufnahmen, die zuvor nur Regierungen zur Verfügung standen, wurden nun auch für private Kunden zugänglich – Angebot und Nachfrage bestimmen bis heute den Preis. Das führt aber auch dazu, dass aus Gegenden im Norden Nigerias oder dem Südsudan, die laut Farfour »keinen interessieren«, viel weniger Bilder vorhanden sind als zum Beispiel aus der Londoner Innenstadt. Doch das dürfte sich bald radikal verändern. »Eigentlich passiert gerade eine Satellitenrevolution«, erklärt Farfour. »Man konzentriert sich nicht mehr nur auf hochauflösende Bilder von bestimmten Teilen der Welt, sondern eher darauf, die ganze Welt zu jedem Zeitpunkt mit Satelliten zu erreichen.« In der Branche nennt man die neuen Satelliten scherzhaft »Walmart-Satelliten«, eine Anspielung auf die US-Supermarktkette, die fast alles in Großhandelsmengen zu Billigpreisen verkauft. Junge Raumfahrtunternehmen schicken ganze Satellitenschwärme in Umlaufbahnen, in denen sie die Erde umkreisen. 1.738 sind bereits heute auf diesen Weltraumautobahnen unterwegs, Tausende sollen in den nächsten Jahren dazukommen. Sie werden dann eine Welt observieren, in der das massenhafte Sammeln von Daten in allen Lebensbereichen und aus

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jeder Perspektive zur Normalität geworden ist. Eine Bedrohung für die Privatsphäre – aber auch eine Chance für alle, die sich nicht mit staatlichen Ermittlungen zufriedengeben wollen. Satellitenbilder stehen dabei selten allein. Sie helfen das, was Videoschnipsel zeigen und Überlebende berichten, auf einer neutralen Karte festzustecken und abzugleichen. Neue technologische Methoden ermöglichen immer vielschichtigere Analysen von Ereignissen. Denn wenn der Staat selbst zum Täter wird, müssen Bürgerinnen und Bürger die Ermittlungen übernehmen, findet Eyal Weizman. Der israelische Architekt ist Leiter des Rechercheinstituts Forensic Architecture (FA) an der Goldsmiths-Universität in London. Bislang umfasste Forensik als Wissenschaft und Technik, die sich mit Kriminalität beschäftigt, nur einen kleinen Kreis eingeweihter Experten. Die Verbreitung digitaler Aufnahmegeräte, die Entwicklung der Satellitentechnik und die schnelle Kommunikation über das Internet haben sie zu einem Massenprojekt gemacht. So kann jeder aus der Ferne ermitteln oder Beweismittel in eine virtuelle Ermittlungsakte legen. Umso wichtiger werden Institutionen, die diese verwalten, verifizieren und schließlich den zuständigen Gerichtshöfen vorlegen. So wie Weizman und sein Team: sie nutzen Satellitenaufnahmen, Fotos, Videos und Zeugenaussagen, um dreidimensionale Modelle von Gebäuden zu erstellen. Sie machen dadurch Tatorte vorstellbar, die der Öffentlichkeit verborgen bleiben sollen – und das, ohne jemals einen Fuß an die realen Orte gesetzt zu haben. Gemeinsam mit Amnesty rekonstruierte Weizmans Team etwa das berüchtigte Foltergefängnis Saydnaya in Syrien, wo über Jahre Tausende Häftlinge hingerichtet wurden. Das Äußere des propellerförmigen Gefängniskomplexes zeigten Satellitenbilder, das Innere rekonstruierten die digitalen Ermittler mithilfe von Aussagen ehemaliger Gefangener. Da diese im Dunkeln eingesperrt worden waren, arbeitete Weizmans Team vor allem mit Erinnerungen an Geräusche, um die Aufteilung der Räumlichkeiten nachzustellen. In einem weiteren gemeinsamen Projekt mit Amnesty dokumentierte Forensic Architecture mutmaßliche Kriegsverbrechen der israelischen Armee im Gaza-Krieg 2014. In einem Modell der Grenzstadt Rafah fügten sie mehrere digitale Puzzleteile zu einer dichten Analyse zusammen. Mithilfe von Satellitenbildern zeichneten sie zunächst die Routen der israelischen Panzer nach – und vervollständigten das Bild mit 3D-Animationen von Explosionen und YouTube-Videos fahrender Panzer und fliehender Zivilisten. So gelang es ihnen auch, die Angabe eines Vaters zu verifizieren, der seine Tochter durch Panzerbeschuss auf der Flucht verlor, wie er in der Arte-Dokumentation »Digitale Ermittler« erzählt. Seine Zeugenaussage stimmt minutiös mit Videos und Satellitenbildern überein – der Beweis für ein mögliches Kriegsverbrechen. 쮿

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»Google hat alles möglich gemacht« Interview: Hannah El-Hitami

Was brachte Sie 2011 dazu, YouTube-Videos zu analysieren? Ehrlich gesagt fing alles damit an, dass ich mich in OnlineForen herumstritt. Ich hatte damals einen Job bei einer Firma, die gerade ihren Hauptauftraggeber verloren hatte. Da ich noch für sechs Monate angestellt war, saß ich plötzlich in einem leeren Büro und hatte nichts zu tun. So verbrachte ich meine Zeit im Internet und postete Videos, zum Beispiel aus Libyen, bis mich eines Tages jemand fragte: Woher weißt du, wo das gefilmt wurde? Bisher hatte ich die Herkunft der Videos nie angezweifelt. Ich guckte also genauer hin und sah, dass dort eine Moschee neben einer Hauptstraße lag. Mithilfe von Google Earth konnte ich den genauen Ort bestimmen. Und dann haben Sie einfach weitergemacht? Genau. Ich fand es frustrierend, dass die traditionellen Medien soziale Medien als Quellen komplett ignorierten. Anfang 2012 begann ich, darüber zu bloggen – ohne jeden Anspruch, daraus eine menschenrechtsrelevante Arbeit zu machen. Ich fand es einfach spannend, die Videos anzugucken und zu vergleichen, wie sie mit den Nachrichten zusammenpassen. Mit der Zeit entwickelte ich neue Methoden und wollte das als Vollzeitjob machen. Wie suchen Sie sich Ihre Recherchethemen aus? Ich schaue mich in den sozialen Medien um. Vielleicht schreibt dort jemand etwas über einen Vorfall, den ich mir genauer ansehen möchte. Besonders spannend ist, wenn zwei unterschiedliche Versionen derselben Geschichte kursieren und wir herausfinden wollen, welche wahr ist. Zum Beispiel, als die Türkei im März behauptete, im nordsyrischen Afrin kein Krankenhaus bombardiert zu haben und dies mit einem Video belegen wollte, das wir als fehlerhaft identifizieren konnten. Was ist der erste Schritt nach der Themenfindung? Anfangs sammeln wir so viel Open-Source-Material wie möglich. Wir teilen den Prozess in drei Schritte ein: identifizieren, also das Material finden; verifizieren, das heißt herausfinden, wo und wann es entstanden ist; und publik machen, indem wir einen Bericht oder einen Tweet veröffentlichen.

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Sie recherchieren viel zu Waffensystemen. Weshalb? Als ich anfing, über Syrien zu bloggen, war einer meiner ersten Gedanken: Wo kommen die ganzen Waffen her? Ich wusste zwar nicht viel über Waffen, aber es gibt eine ganze Menge Informationen im Internet. Schon bald kontaktierten mich Waffenexperten, die daran interessiert waren, mit Open-SourceMaterial zu arbeiten. So halfen wir uns gegenseitig. Man muss nur ganz genau hinsehen und die klitzekleinsten Bestandteile explodierter Bomben untersuchen, um herauszufinden, um welchen Bombentyp es sich handelt. Wenn Sie das herausgefunden haben, wissen Sie aber noch nicht, wer sie abgeworfen hat. Dafür arbeiten wir mit der Gruppe Sentry Syria zusammen, die den Flugverkehr über Syrien beobachtet. Wenn es zu einem Luftangriff kommt, der uns interessiert, fragen wir nach, welche Flugkörper sie an diesem bestimmten Tag in der Gegend gesehen haben – und von welcher Basis sie gestartet sind. Kurz vor einer Chlorgasattacke im April auf die östlich von Damaskus gelegene Stadt Duma etwa hatte Sentry Syria den Start zweier Helikopter in diese Richtung bestätigt, die nur von der Regierung genutzt werden. Und Chlorgas wird immer aus Hubschraubern abgeworfen. Auf der Bellingcat-Website gibt es eine 18-seitige Liste mit Werkzeugen für Open-Source-Recherche. Was sind die wichtigsten? Google Earth, Google Street View und die Google-Suche an sich sind essenzielle Werkzeuge für unsere Arbeit. Google hat OpenSource-Recherche eigentlich erst so richtig möglich gemacht.

»Mich beunruhigt die Entwicklung künstlicher Intelligenz.« Eliot Higgins AMNESTY JOURNAL | 08-09/2018

Foto: Sarah Eick

Mit seinem Recherchenetzwerk Bellingcat ist der britische Blogger Eliot Higgins zu einem der bekanntesten digitalen Ermittler geworden. Unter anderem hat er Giftgasattacken in Syrien nachgewiesen – mithilfe von Open-Source-Material, das frei im Internet zur Verfügung steht.


Gründliche Recherchen. Eliot Higgins im Juni 2018 in Berlin.

Für Ihre Arbeit ist es praktisch, dass Google so viele Daten sammelt. Man kann das aber auch bedrohlich finden. Das ist kein Google-spezifisches Problem. Mich beunruhigt eher die Entwicklung künstlicher Intelligenz. Bei dem Abschuss des malaysischen Passagierflugzeugs MH17 über der Ostukraine 2014 konnten wir allein durch die Analyse von Profilen in den sozialen Medien jeden einzelnen russischen Soldaten identifizieren, der daran beteiligt war. Das sind einfache Arbeitsschritte, aber Menschen brauchen dafür ein Jahr. Künstliche Intelligenz könnte solche Zusammenhänge in wenigen Tagen herstellen. Sie könnte jede einzelne Seite in den sozialen Medien innerhalb kürzester Zeit scannen und alle Informationen über jeden Soldaten der Welt sammeln. Doch was, wenn eine solche Technologie entwickelt wird und in die falschen Hände gerät? Was könnte man damit nicht alles anrichten! Ich sehe also eher eine Gefahr in der automatisierten Technologie, die zurzeit entwickelt wird und die auf solche Datenmengen zugreifen könnte. Was bedeutet das für Ihre Nutzung sozialer Medien? Ich halte mich da sehr zurück. Ich poste nichts über meine Familie. Ich nutze Twitter zwar sehr viel – hauptsächlich, um mit Leuten zu diskutieren –, aber wenn ich zum Beispiel heute in Berlin bin, dann schreibe ich nichts darüber und poste keine Bilder davon, bis ich den Ort wieder verlassen habe. Im Netz kursieren eine Menge Informationen über mich. Glücklicherweise sind darunter auch sehr viele Falschinformationen und Verschwörungstheorien. So entsteht eine Art Nebel um meine

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tatsächliche Person. Die Falschinformationen lenken die Spinner von meiner wahren Identität ab. Was ist das Ziel Ihrer Recherche? Beim Abschuss der MH17 haben wir eine Menge Material gesammelt, das nun Teil der offiziellen strafrechtlichen Ermittlungen ist. In dem Fall gibt es eine sehr aggressive Propagandakampagne seitens Russlands, das mit Falschinformationen versucht, die Ermittlungen zu diskreditieren. Es geht ja nicht nur um den strafrechtlichen Prozess, sondern auch darum, was die Gesellschaft darüber denkt. Durch unsere Recherche konnten wir dazu beitragen, dass weniger Zweifel an der Zuverlässigkeit der Ermittlungen bestanden. Sie sehen sich sehr viel Videomaterial aus Kriegsgebieten an. Was macht das psychisch mit Ihnen? Schwer zu sagen, denn vielleicht hat es einen Einfluss auf mich, ohne dass ich es merke. Ich habe keine Albträume oder ein offensichtliches Trauma. Ich denke aber, es ist wichtig, dass man darüber spricht. Bei den Saringas-Angriffen im syrischen Khan Sheikhoun haben wir mit 200 Videos gearbeitet. Viele zeigten schreckliche Bilder von Kindern, die an dem Saringas erstickten. Und wir mussten genau hinsehen, um zu erkennen, wie viele Kinder betroffen sind und welche Symptome sie haben. Das war wirklich hart. Wenn man dann sieht, wie auf Twitter behauptet wird, die Angriffe hätten gar nicht stattgefunden, ist das schwer zu ertragen. 쮿

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Kein Zurück nach Myanmar Von Oliver Grajewski

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TANER FREUT SICH ÃœBER EURE POST 5GKV ,WPK UKV\V WPUGT -QNNGIG 6CPGT -ÄŒNČÃ )TØPFWPIUOKVINKGF WPF 'JTGPXQTUKV\GPFGT XQP #OPGUV[ +PVGTPCVKQPCN KP FGT 6ØTMGK KP *CHV 'T YKTF WPVGT CDUWTFGP 8QTYØTHGP WPF QJPG $GYGKUG HGUVIGJCNVGP 5GNDUV GKP MØT\NKEJ XQTIGNGIVGT 2QNK\GKDGTKEJV DGUVÀVKIV FCUU 6CPGTU +PJCHVKGTWPI LGINKEJGT )TWPFNCIG GPVDGJTV ¸DGT /KNNKQP /GPUEJGP YGNVYGKV HQTFGTP DGTGKVU 6CPGTU (TGKJGKV WPF JCDGP #RRGNNG CP FGP VØTMKUEJGP ,WUVK\OKPKUVGT IGUEJTKGDGP #DGT CWEJ 6CPGT UGNDUV HTGWV UKEJ ØDGT 2QUV Schreibt Taner eine ermutigende Solidaritätsbotschaft ins Gefängnis und zeigt ihm, dass er nicht vergessen ist. Lasst uns weiterhin gemeinsam stark sein und uns für Taner einsetzen! We will not rest until Taner is free!

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So einfach geht’s: Karte nehmen, ermutigende Botschaften auf Englisch oder Türkisch schreiben, Karte mit 90 Cent frankieren, abschicken und Solidarität für Taner ausdrücken.


POLITIK & GESELLSCHAFT

Getrennte Geschäfte

Trügerische Idylle. Die Ratanabon-Pagode in Mrauk U, Dezember 2016.

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Foto: Franck Guiziou / hemis / laif

Im Bundesstaat Rakhine haben Myanmars Militärs ein Apartheidsystem errichtet. Wenn es überhaupt noch Verbindungen zwischen Buddhisten und Muslimen gibt, dann hat das in erster Linie geschäftliche Gründe. Aus Mrauk U berichtet Verena Hölzl

MYANMAR

Htun Shwe schiebt ein Blech Brötchen in den Ofen. Der Duft der süßen Teilchen zieht durch den Innenhof seiner Pension in Mrauk U, einer uralten Tempelstadt im Nordwesten Myanmars. Die Anreise zu den 150 Tempelruinen unweit der Grenze zu Bangladesch ist beschwerlich, doch die Reise lohnt sich: Nirgendwo in Myanmar schmiegt sich der Morgendunst schöner an dunkelgrüne Hügel und Pagodenspitzen als in der einstigen Kapitale des Rakhine-Königreiches. Htun Shwe ist Buddhist – und Geschäftsmann. Seine beiden Kinder schickt er in Rangun, Myanmars größter Stadt, auf eine internationale Schule. Er ist hochgewachsen, trägt Jeans und spricht makelloses Englisch. Htun Shwe ist ein Macher. Wer in Mrauk U etwas auf die Beine stellen will, kommt an ihm nicht vorbei. Doch die Geschäfte laufen derzeit nicht gut für Htun Shwe. Denn es kommen kaum noch Touristen in die Tempelstadt. Der Grund: Mrauk U liegt in der Provinz Rakhine, dem Schauplatz eines der größten Flüchtlingsdramen der Welt. Vor genau einem Jahr, im August 2017, zwang Myanmars Militär hier 700.000 Mitglieder der muslimischen Minderheit der Rohingya aus dem Norden des Bundesstaats zur Flucht nach Bangladesch. Mit voller Brutalität. Ärzte ohne Grenzen geht von Tausenden aus, die gewaltsam ums Leben gekommen sind – viele von ihnen erschlagen, erstochen oder verbrannt. Die Vereinten Nationen sprechen von ethnischen Säuberungen und schließen einen Genozid nicht aus. Es kam zu massenhaften Vergewaltigungen und Folter, Hunderte Dörfer wurden niedergebrannt. Dies belegt auch ein neuer Bericht von Amnesty International, der fordert, die Verantwortlichen vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu stellen. Die Rohingya siedeln zwar seit Langem in Myanmars westlichstem Bundesstaat und besaßen einst auch die burmesische Staatsbürgerschaft. Doch die offiziellen Ausweispapiere wurden nach und nach durch minderwertigere Dokumente ersetzt. Immer wieder gab es Spannungen, zuletzt 2012, kurz nach dem Ende der Militärdiktatur. Seitdem leben in Rakhine mit seinen gut drei Millionen Einwohnern beide Religionsgemeinschaften praktisch voneinander getrennt. In der Provinzhauptstadt Sittwe wohnen die meist sunnitischen Muslime sogar hinter Stacheldrahtbarrieren – in einer Art Ghetto, abgeschottet von der buddhistischen Mehrheitsbevölkerung. In den Moscheen von Sittwe residiert heute die Polizei. Muslime sind gefährlich, sagen die Buddhisten. Viele Rohingya wurden außerdem in Lager abgeschoben, in denen sie zum Teil immer noch ihr Leben fristen. Wer raus will, muss zahlen – oder riskiert, festgenommen zu werden.

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Am Rande der Gesellschaft. Rohingya in Shan Taung, März 2018.

Es hätte auch anders laufen können, wenn es mehr Menschen wie Htun Shwe gäbe im 53 Millionen Einwohner zählenden Myanmar. Als ein deutsche Sportartikelhersteller einmal Sportschuhe spenden wollte und sich an ihn wandte, hatte Htun Shwe eine Idee: Wieso nicht gleich ein Fußballspiel mit Buddhisten und Muslimen organisieren? Doch seine Freunde sagten, das gebe nur Ärger. Am Ende hat er es gelassen. Dennoch wünscht sich Htun Shwe, dass die Buddhisten und Muslime endlich in Frieden zusammenleben. Nach Leuten wie Htun Shwe muss man derzeit aber in Rakhine suchen. Nun sitzt er hinter dem Steuer, das Autoradio spielt Bruce Springsteen, der Kofferraum ist voll mit Backwaren. Htun Shwe liefert seine Brötchen aus, auch in Gegenden, wo es noch Rohingya gibt. Sie dürfen schließlich nicht mehr nach Mrauk U kommen. Muslimfreie Zone. Etwas außerhalb deutet er ein bisschen entschuldigend auf Bambushütten, in denen sich Buddhisten und Muslime zum Tee träfen. Handel zwischen den Religionsgemeinschaften gibt es nämlich nach wie vor. Einst residierten in Mrauk U Könige, die Region war fruchtbar, die Menschen reich, stolz – und wohl auch glücklich. Es gab so viel Arbeit, dass die ehemaligen britischen Kolonialherren Muslime von jenseits des Flusses ins heutige Rakhine holten. Damals gab es noch keine Grenze zwischen dem heutigen Bangladesch und Myanmar. Heute ist Bangladesch im Bewusstsein vieler Bewohner Rakhines nur noch das benachbarte muslimische Land, aus dem illegale Einwanderer nach Myanmar drängen. Für viele Menschenrechtsorganisationen, darunter auch Amnesty International, ist klar: Myanmar hat im Bundesstaat Rakhine ein Apartheidsystem etabliert, in dem die Rohingya systematisch ausgegrenzt und diskriminiert werden. Die staatlich verordnete Trennung von Ethnien gilt nach internationalem Recht als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dessen mache sich die Regierung Myanmars schuldig, weil sie »aktiv ein Apartheid-Regime aufgebaut« habe, so Amnesty.

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Weiterleben. Shan Taung, März 2018.

Ein Zaun aus Bambus Htun Shwe liefert die Kisten mit den Brötchen am Markt eines Dorfes namens Bawli ab. »Ich habe keine Angst vor den Kalar«, ruft der kleine Soe Min Aung. Die Kinder um ihn herum kichern. »Kalar« ist in Myanmar eine abschätzige Bezeichnung für die Rohingya. Aber das weiß der Zehnjährige mit dem schelmischen Blick wahrscheinlich gar nicht. Zu den Muslimen rübergehen? Die Kinder schauen verstört. Nein, niemals würden sie das tun. Wieso auch? Schließlich gibt es da ja einen Zaun. Weil viele Buddhisten sich während der Unruhen vor sechs Jahren vor den nebenan wohnenden Muslimen fürchteten, flochten sie diesen Zaun aus Bambus. Und obwohl er immer wieder verwitterte, wurde er immer wieder neu aufgebaut. »Es ist besser, wenn wir nicht mit den Kalar zusammenleben«, sagt der Bauer Maung Win. Durch das Gitter kann man Kinder auf der von Muslimen bewohnten Seite des Zauns sehen. Sie schauen interessiert, trauen sich aber nicht heran. Wer auf den wackeligen Bambus-Wachturm neben der Abgrenzung steigt, kann weite Teile des Dorfs überblicken. Je weiter weg vom Zaun man kommt, desto größer werden die Horrorgeschichten über die andere Seite. So erzählt man sich zum Beispiel, dass die Muslime sich gefährlich schnell vermehren. Auch die Regierung glaubt das und hat 2013 »zum Abbau von ethnischen Spannungen« angeordnet, dass die Rohingya nicht mehr als zwei Kinder haben dürfen, da die hohe Geburtenrate die buddhistische Mehrheit in eine Minderheit verwandeln könne. Eine Nachbarin dämpft ihre Stimme, als sie erzählt, dass zwei Frauen bei den Unruhen vor sechs Jahren von Muslimen aufgeschlitzt worden seien. Maung Win hat von einem solchen Mord noch nie etwas gehört. Er wohnt direkt am Zaun. »Wir schlafen hier sehr gut«, sagt er. »Aber wir wollen auch in der Zukunft keine Probleme hier.« Deshalb gebe es den Zaun. So einfach sei das. Die Muslime seien oft betrunken und würden stehlen. Manche hätten Waffen. Wann er zum letzten Mal drüben

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Fotos: Phyo Hein Kyaw / AFP / Getty Images

Die Ausgrenzung der Rohingya in Rakhine ist zum Geschäft geworden.

war, weiß er nicht mehr. Irgendwann deutet der Bauer an, dass es auch Vorteile hätte, wenn es den Zaun nicht gäbe: Er könnte seine Ernte dann viel besser verkaufen. Richtig laut sagen will er das aber nicht. Auch Htun Shwe will keinen Ärger. Er drängt darauf zu gehen. Schon zu viele Dorfbewohner sind neugierig vor der Hütte von Maung Win stehen geblieben. Dass wir mit ihm sprechen, ist nicht verboten. »Aber wenn die Polizei mitbekommt, dass ich mit einer Journalistin reingekommen bin, könnte das Probleme geben«, prophezeit Htun Shwe. Die Frage, welche Art von Problemen er befürchtet, bleibt unbeantwortet. Wer die staatlichen Unrechtsaktionen anzweifelt, wird in Myanmar schnell zur Zielscheibe von Vorwürfen: Reiche Geschäftsleute aus den Golfstaaten hätten ausländische Journalisten gekauft, die Myanmars Geschichte einfach nicht verstehen – und sich in interne Angelegenheiten einmischen. Menschenrechte stünden nun einmal nur Staatsangehörigen zu. Die Rohingya gehörten halt nicht dazu. Seit den achtziger Jahren nahm das Militärregime ihnen nach und nach ihre Bürgerrechte. Ausweise wurden eingezogen und nicht durch gleichwertige Papiere ersetzt. Neugeborene werden nur noch gegen Zahlung willkürlicher Gebühren registriert. Viele Myanmarer glauben tatsächlich: Wer nicht der buddhistischen Mehrheit im Land angehört, ist ein Mensch zweiter Klasse. Am Ufer treffen wir den Rohingya Mohammed Saed. Der 19Jährige macht unter einem Bambusverschlag im Schatten Pause. Er arbeitet für einen buddhistischen Chef, bringt für ihn Sand und Steine ans andere Ufer. Die Sonne brennt. Er schließt die Augen und lächelt verlegen. Es hat sich schon lange niemand mehr dafür interessiert, wie es ihm geht. Mohammed schweigt. Und ja, es gebe eine Schule. Allerdings kann er sich nicht mehr erinnern, wann der von der Regierung bezahlte Lehrer das letzte Mal zum Unterricht erschien. Die Rohingya unterrichten einander deshalb selbst. Viele Kinder verstehen gar kein Burmesisch mehr, was viele Buddhisten ihnen wiederum vorwerfen.

MYANMAR

Die Regierung beteuert regelmäßig, jeder in Rakhine habe Zugang zu Schulen und medizinischen Einrichtungen. Manche Rohingya zahlen jedoch fast das Dreifache ihres Monatsverdiensts, um in ein Krankenhaus zu gelangen. Die Ausgrenzung der Rohingya in Rakhine ist längst zum Geschäft geworden. Wer die Provinz verlassen will, zahlt für Polizeieskorten. Nicht immer glücken sie. Vor drei Jahren zahlte Mohammed einem Schmuggler, der ihn nach Rangun bringen sollte, ein halbes Vermögen. Mohammed wollte abhauen, am liebsten nach Malaysia. Der Trip ging jedoch schief. Weil er sein Dorf ohne Genehmigung der Behörden verlassen hatte, landete der damals 16-Jährige für anderthalb Jahre im Gefängnis. »Um seine Macht zu legitimieren, braucht das Militär Feinde«, erklärt Htun Shwe zurück im Auto. Im Norden des Landes sind das die Kachin, im Osten die Shan – und im Westen eben die Rohingya: Ethnische Säuberung sei in Myanmar nichts Neues, sagt er. Wie extrem die Gewalt gegen die Rohingya ist, weiß er offenbar nicht. Er liest nur selten die Zeitung. »Ich glaube nur, was ich sehe«, sagt er. Zum Beispiel, dass da vorn die geteerte Straße endet. Schon die englischen Kolonialherren haben ihr Versprechen nicht gehalten, sie fertig zu bauen. Heute sind die Verkehrswege in Rakhine so schlecht, dass auswärtige Güter mehr kosten als in anderen Landesteilen. Der Flughafen, den die Regierung versprach, ist nie fertiggestellt worden. Stattdessen soll es künftig einen Tiefseehafen geben – für die Chinesen. Strände, Erdgas und Öl könnten die Menschen in Rakhine wohlhabend machen. Stattdessen zählt die Region zu den ärmsten des Landes. »Die Myanmarer«, sagt Htun Shwe , »wollen nicht, dass wir in Rakhine reich sind«. 쮿 Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen:  www.amnesty.de/app

»WIR WERDEN ALLES ZERSTÖREN« Der Amnesty-Bericht »We Will  Destroy Everything: Military Responsibility for Crimes against Humanity in Rakhine State, Myanmar« dokumentiert das Vorgehen der Militär einheiten in Myanmars Bundesstaat Rakhine und zeigt, dass die Verantwortung für die Menschenrechts verletzungen bis in die obersten  Befehlsstrukturen reicht. Amnesty hat dafür über 400 Interviews geführt und Satellitenbilder, Foto- und Videoaufnahmen sowie kriminaltechnische Untersuchungen ausgewertet.

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Wischen und waschen für die Reichen

Eine bessere Zukunft für die Tochter. Maniu in einem Wohntower auf Madh Island in Mumbai.

Ohne sie wäre das Leben der Wohlhabenden Indiens und Pakistans undenkbar: Millionen Haushaltshilfen sorgen für saubere Wohnungen – unter miserablen Bedingungen. Von Judith Döker (Text und Fotos) In den großen Städten Indiens sieht man die Haushaltshilfen in bunten Saris und mit raschelnden Fußkettchen den ganzen Tag über von Haushalt zu Haushalt eilen. Die meisten von ihnen sind Frauen, aber auch Männer und Kinder gehen putzen. Ebenso wie Spülen und Wäschewaschen gilt das als niedere Tätigkeit und ist deshalb den Armen und Ungebildeten des Subkontinents vorbehalten. Dieses Bedienstetensystem hat seine Wurzeln nicht etwa im Kastensystem, sondern ist ein Relikt aus Kolonialzeiten. Es hält sich bis heute. Groben Schätzungen zufolge arbeiten allein in Indien mehr als vier Millionen Menschen als Hausangestellte, die meisten von ihnen Mädchen und Frauen. Arbeitsrechtlichen Schutz genießen sie keinen: Weder ein Mindestalter noch ein Mindestlohn oder die Einhaltung bestimmter Ruhezeiten werden vom

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Gesetzgeber geregelt. Auch das Mutterschutzgesetz findet bei Hausangestellten keine Anwendung, obwohl viele Frauen dringend darauf angewiesen wären. Arbeitstage von bis zu 18 Stunden, für wenig mehr als drei Euro am Tag, sind keine Seltenheit. Erschwerend kommt hinzu, dass sowohl die indische als auch die pakistanische Gesellschaft sehr hierarchisch strukturiert ist. Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Schichten findet kaum statt. Die meisten Haushalte halten ganz selbstverständlich separates Geschirr für die Haushaltshilfen bereit, manchmal auch separate Toiletten. Gibt es diese nicht, müssen die Angestellten schauen, wo sie ihre Notdurft verrichten. In den Badezimmern der Arbeitgeber jedenfalls nicht. Das Problem vieler Hausangestellter sind aber nicht nur ihre prekären Arbeitsbedingungen, sondern auch ihr privates Umfeld, das nicht selten von Alkoholismus oder häuslicher Gewalt geprägt ist. Was sie eint, ist der Wunsch nach einer besseren Arbeit für ihre Kinder. So viel wie möglich von dem wenigen Geld, das sie verdienen, stecken sie deshalb in deren Schulbildung.

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Maniu (40), Mumbai Maniu stammt aus Assam, ihr Ehemann aus Bengalen. »Es war eine  Liebesheirat«, erzählt sie und strahlt über das ganze Gesicht. In ihren Kreisen sind arrangierte Ehen die Regel. Während sie arbeitet, wird ihre dreijährige Tochter Anjali  von der Schwiegermutter betreut. Die vierköpfige Familie teilt sich ein winziges Haus, bestehend aus einem einzigen Zimmer – ohne Wasseranschluss, aber mit Plumpsklo.  Maniu arbeitet sieben Tage die Woche für verschiedene Familien in den Wohntowern auf Madh Island. Fast jeder hier arbeitet für die Filmindustrie, so auch Manius Ehemann – als Spotboy. In Bollywood versorgen Spotboys das Filmteam während der Drehs mit Tee und beseitigen den Abfall. Maniu und ihr Mann verdienen im Monat gemeinsam um die 250 Euro, wobei sie mehr verdient als er. »Es geht uns gut. Wir sind körperlich fit und haben Arbeit. Aber ich mache mir Sorgen ums Älterwerden, denn Geld zurücklegen können wir nicht«, sagt Maniu.  Ihrer Tochter wünscht sie, dass sie später unabhängig ist. »Sie soll nicht dieselbe Arbeit machen müssen wie ich. Sie soll stark sein und ihre  eigenen Entscheidungen fällen können. Ich werde alles tun, damit sie eine gute Schulausbildung erhält.«

INDIEN

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Veer (38), Neu-Delhi Der Vater von vier Kindern zwischen fünf und 17 Jahren stammt aus  einem Dorf in Nepal. Nach der Geburt seines ersten Kindes zog er ohne Familie nach Neu-Delhi, weil es ihm anders nicht möglich war, Frau und Tochter zu ernähren. Seitdem lebt und arbeitet er als sogenannter LivingIn-Servant im Haushalt seiner Arbeitgeber, wo er rund um die Uhr ansprechbar ist. Seine Aufgaben: Kochen, Servieren, Wäsche waschen, Staub und Böden wischen. Aufgrund der enormen Luftverschmutzung  ist das in den Ballungszentren ständig nötig. Seit zwei Jahren arbeitet Veer für ein Künstlerehepaar. Sein Verdienst: 13.000 Rupien pro Monat sowie Kost und Logis, rund 160 Euro. Üblich sind 100 Euro. Freie Tage hat Veer offiziell keine. »Aber Madam ist sehr großzügig. Wann immer ich frage, gibt sie mir frei«, sagt er über seine Chefin. Meist sind das ein oder zwei Tage im Monat, an denen er seinen 14-jährigen Sohn trifft, der in Neu-Delhi in einem Hotel arbeitet. Veer versucht, einmal im Jahr seine Familie in Nepal zu besuchen. Wenn er Glück hat, kann er vier Monate bleiben, wenn er Pech hat, nur zwei Wochen. Das hängt ganz davon ab, ob und wie lange er Arbeit auf der Farm findet, auf der auch seine Frau beschäftigt ist.  Seine letzte Reise in die Heimat war eine besondere. »Meine älteste Tochter hat geheiratet. Es war eine Liebesheirat, keine arrangierte Ehe«, erzählt er stolz. Sein größter Wunsch: Seine Schulden zurückzuzahlen. Außerdem würde er seiner Familie gern monatlich mehr Geld schicken können.

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Anjali (38), Amritsar Anjali hat drei Kinder zwischen 15 und 19 Jahren. Ihr Ehemann, der  früher als Koch in Privathaushalten beschäftigt war, ist aufgrund einer  Alkoholsucht arbeitsunfähig. Anjali steckt ihm täglich zehn Rupien zu.  Davon kauft er sich illegal gebrannten Alkohol. Die Verantwortung für die Familie lastet seit Jahren allein auf ihren Schultern. Wenn sie morgens die Bungalows ihrer Arbeitgeber betritt, werden ihr  Anweisungen entgegengeschleudert. »Hier, wisch den Tisch ab … gib die Zeitung … Tee, mach’ Tee.« Zu Anjalis Aufgaben gehören Putzen, Spülen und Wäschewaschen. In manchen Haushalten kocht sie auch. »Aber sie würzt alles zu Tode«, stöhnt eine ihrer Chefinnen. »Ansonsten bin ich  zufrieden. Sie ist zuverlässig. Das ist selten bei diesen Leuten.« Anjali wohnt in einem Slum, unweit der guten Wohngegenden. Ihre  Sieben-Tage-Woche beginnt morgens um 6 Uhr und endet gegen Mitternacht. Im Monat verdient sie um die 190 Euro. Von jedem ihrer sechs  Arbeitgeber bekommt sie noch etwas obendrauf: Mal ist es Kleidung,  mal Medizin, andere Male etwas zu Essen. Früher träumte Anjali davon, Englisch zu lernen oder ins Ausland zu reisen. Heute hat sie keine Träume mehr.

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Salma (zwischen 8 und 10), Lahore Wie alt Salma ist, weiß sie nicht. Das Mädchen lebt hinter hohen Mauern im Haushalt einer Kaufmannsfamilie in Pakistans zweitgrößter Stadt  Lahore. Khadija, die 23-jährige Tochter der Familie, erzählt, dass Salma aus einem Dorf stamme, aus armen Verhältnissen. »Wir haben sie zu uns genommen und bringen ihr Englisch bei. Sie ist wie eine Schwester für mich.«  Zur Schule wird das Mädchen aber nicht geschickt. Und wenn die Familie das Haus verlässt, bleibt Salma wie selbstverständlich zurück. Auf die Frage, ob Salma denn noch Kontakt zu ihren Eltern habe, antwortet Khadija: »Ja, natürlich hat sie Kontakt.« Aber in welchem Dorf die Eltern leben und wie alt Salma ist – das weiß auch sie nicht.

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Shobha (43), Mumbai Shobha wurde mit 16 Jahren verheiratet und ist Mutter von drei Kindern im Alter von 20, 22 und 23 Jahren. »Wir sind eine glückliche Familie mit fester Bindung«, sagt sie. Auch mit ihren Arbeitgebern ist sie sehr zufrieden. »In einem der Haushalte arbeite ich schon seit 19 Jahren. Es sind sehr nette Leute.« Ihr größter Wunsch: »Für meine Kinder wünsche ich mir eine gute Ausbildung. Mein 23-jähriger Sohn studiert. Das macht mich sehr glücklich.« Eine ihrer Arbeitgeberinnen sagt, dass Shobha eine außergewöhnliche Frau sei. »Das hat sicherlich mit ihrer Familie zu tun. Sie sind sehr eng miteinander verbunden und unterstützen sich gegenseitig.« Shobha arbeitet sieben Tage die Woche in fünf verschiedenen Haushalten. Sie verdient zwischen 150 und 175 Euro pro Monat. Ihr Mann arbeitet in einer Fabrik und verdient dort knapp 140 Euro. 쮿

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Früher Ikone, heute Mensch

Leben im Ausnahmezustand. Irom Sharmila in Imphal, August 2011.

Aus Protest gegen die Notstandsgesetze im Nordosten Indiens verbrachte Irom Sharmila mehr als anderthalb Jahrzehnte im Hungerstreik. Vor zwei Jahren ging sie in die Politik – und fand die Liebe. Julia Wadhawan traf sie in Kodaikanal Sie hatte diesen Moment jahrelang geplant. Als es endlich so weit war, brach die Schwere der Entscheidung trotzdem über Irom Sharmila herein. Die Ärztin hatte einen Klecks Honig in ihre Handfläche gelöffelt, Sharmila schaute lange darauf, als würde sie darin nach einer Antwort suchen. Dann musste sie weinen. Eine Frau versuchte, ihr gut zuzureden: »Tu es, tu es!« Sharmila legte kurz den Kopf in den Nacken und schaute hilfesuchend in den Himmel. Dann hob sie ihre linke Hand und leckte den Honig vom Zeigefinger. In die Tränen mischte sich Ekel, sie verzog das Gesicht, konnte kaum schlucken. Zwei Jahre liegt dieser Moment nun zurück, an dem Irom Sharmila ihr Fasten brach, es war der 9. August 2016. Hunderte Journalisten waren gekommen, um dieses Ereignis zu dokumentieren: das Ende des längsten Hungerstreiks der Welt. 16 Jahre lang hatte angeblich kein Nahrungsmittel, nicht mal ein Tropfen Wasser, Sharmilas Gaumen berührt. Die Frau mit den strähnigen Locken und dem Versorgungsschlauch in der Nase war eine Ikone. Mit ihrem Hungerstreik

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protestierte sie gegen ein Notstandsgesetz – den Armed Forces Special Power Act (Afspa) – im Bundesstaat Manipur im Nordosten Indiens. Seit der Unabhängigkeit des Landes 1947 hatten in der Region Separatisten gegen die Zentralregierung in Delhi gekämpft – und auch gegeneinander. Sie forderten Autonomie, eine Abspaltung, manche wollen ihr altes Königreich Nagaland zurück. Die Gräben verliefen zwischen Nachbarn und Ethnien, zwischen Berg- und Talbewohnern. Die indische Armee sollte die Region befrieden, das Gesetz räumte ihr deshalb zusätzliche Rechte ein. So dürfen die Soldaten ohne Begründung Häuser durchsuchen und Menschen festnehmen – in manchen Teilen der Region seit 60 Jahren. Aber die Soldaten nutzten ihre Macht aus: Menschenrechtler werfen der Armee vor, Frauen vergewaltigt und mehr als 1.500 Menschen ermordet zu haben. Irom Sharmila wurde damals wegen ihres stillen Kampfs in einem Zug mit Mahatma Gandhi genannt, 2005 war sie Kandidatin für den Friedensnobelpreis. Manche nannten sie Göttin, andere »die eiserne Lady von Manipur«. Sie wollte kein Symbol sein, sondern etwas bewirken. Mit dem Ende ihres Streiks verkündete Sharmila den Beginn ihrer politischen Karriere. Aber auch damit scheiterte sie. Die eiserne Lady gab auf, das Notstandsgesetz existiert jedoch nach wie vor. Wie fühlt sich das an?

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Foto: Manpreet Romana / The New York Times / Redux / laif

»Wie kann eine einzelne Person die Gesellschaft verändern?« Irom Sharmila

Sharmila summt und verschwindet barfuß in der Küche. Am Anfang ihres neuen Lebens sei jeder Schluck Wasser eine Qual gewesen. Reis, Linsen, Gemüse, alles schmeckte viel salziger und schärfer als in ihrer Erinnerung. Aber ihr Körper gewöhnte sich schnell um. »Ich bin nur eine einfache Frau, die sich Liebe, Gerechtigkeit und ein normales Leben wünscht.« Sie ist jetzt 46 Jahre alt und wohnt mit ihrem Ehemann am anderen Ende des Landes, in Kodaikanal, einem Bergdorf im Süden. Sharmila hat zum Gespräch auf den Teppichboden gebeten. Die Wangen leicht gerötet, das lockige Haar voll, nichts erinnert an die körperlichen Strapazen der letzten Jahrzehnte. Sie sagt: »Ich habe jetzt mein eigenes Leben.« Sharmila war 28, als ihr Kampf begann. Einen Tag zuvor waren zehn Zivilisten, darunter Kinder, an einer Bushaltestelle im Ort Malom von der Armee erschossen worden. Die junge Frau arbeitete damals für die Menschenrechtsorganisation Human Rights Alert und fühlte sich hilflos. Sie wollte handeln. Am nächsten Tag setzte sie sich im Schneidersitz in den Garten einer Kollegin und beschloss, nicht mehr zu essen, bis das Notstandsgesetz Geschichte war. So eine Weigerung kann machtvoll sein. »Wenn der Körper schwächer wird, kann merkwürdigerweise auch die Obrigkeit schwächer werden«, schreibt die US-Wissenschaftsautorin Sharman Apt Russell. Sharmilas Vorbild war Mahatma Gandhi. Er

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fastete mindestens 14 Mal aus politischen Gründen. Das erste Mal dauerte es zwei Tage, bis seine Forderung erfüllt wurde. Das letzte Mal begannen seine Nieren zu versagen. Dann lenkte die Regierung ein. Sharmilas Protest duldete der Staat nur drei Tage, dann nahm man sie fest. Vorwurf: versuchter Selbstmord. Bis 2017 war das in Indien strafbar. Sharmila wurde durch eine Nasensonde zwangsernährt, der Schlauch zum Symbol ihrer Bürde. Ihr Protest wurde verbannt, in einen banalen Rechtsstreit und in den Raum 4A des Jawaharlal-Nehru-Instituts für medizinische Forschung (JNIMS) in Imphal, Manipur. Alle paar Wochen musste sie hier vor Gericht, wo sie immer wieder dieselben Sätze wiederholte: »Dies ist ein friedlicher Protest. Ich liebe das Leben.« Ihr Kampf wurde zur absurden Normalität. Trotzdem hielten ihre Anhänger fast krampfhaft daran fest. Als Sharmila im Juli 2016 das Ende ihres Streiks verkündete, protestierten einige. »Sie wollten, dass ich weitermache. Aber was taten sie selbst? Sie wälzten die gesamte Verantwortung auf mich ab«, sagt Sharmila leise. Und: »Wie kann eine einzelne Person die Gesellschaft verändern?« War ihr Kampf umsonst? Natürlich verneint Sharmila: »Durch meinen Protest wurde Afspa weltweit bekannt. Die Armee musste darauf reagieren, an ihrem Image arbeiten. Heute ist die Lage viel besser.« Sogar das europäische Parlament appellierte an die indische Regierung, Afspa aufzuheben. Aber das Gesetz existiert weiter, bis heute. »Vielleicht liegt es an meiner fehlenden Intelligenz«, sagt Sharmila. »Gandhi und Nelson Mandela waren Juristen. Sie konnten ihr Wissen für ihren Kampf nutzen. Ich weiß nicht viel, ich wollte mit einfachen Methoden kämpfen.« Für ihr neues Leben in der Politik hat das nicht gereicht. Bei den Regionalwahlen im März 2017 bekam der Gewinner 10.740 Stimmen, Sharmila gerade mal 90. Sie hatte keine Erfahrung, kein politisches Programm. Sie hatte nur ihre Willenskraft. Gern würde sie davon etwas an die heranwachsenden Generationen abgeben. »Die jungen Menschen studieren jahrelang und am Ende wählen sie einfach, was ihre Eltern sagen.« Das ärgert Sharmila. Heute ist sie aber nicht mehr nur Aktivistin, sondern vor allem Mensch – und Ehefrau. Das ist die nächste unglaubliche Geschichte in Sharmilas Leben. Mitten in ihrer Isolation fand sie die Liebe. Sie heiratete einen Inder mit irischem Pass. Jahrelang hatte er ihr Briefe geschrieben, war bei Gerichtsterminen aufgetaucht und hatte ihr Bücher geschickt. Vielleicht trieb sie die Liebe auch zurück ins Leben, viel erzählt sie nicht darüber. Stattdessen sagt sie: »Ich beneide die Vögel. Sie können überall hinfliegen, ohne dass jemand ihnen befiehlt: Das hier ist dein Ort, deine Kultur, deine Religion.« Die Frau, deren Identität 16 Jahre über ein einziges Ziel definiert war, will sich offenbar lösen von jeder Zuschreibung. Sie hat jetzt ihr eigenes Leben. 쮿

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Dreißig Jahre nach dem Massaker im Teheraner EvinGefängnis wollen zwei Schwestern weiter wissen, was mit ihrem Vater 1988 wirklich geschah. Von Markus Bickel Lale Behzadi spricht ruhig und bedächtig. »Spuren lassen sich nicht einfach beseitigen, ohne dass dies eines Tages auf eine Gesellschaft zurückfällt«, sagt die Arabistin. Dreißig Jahre nach der Ermordung ihres Vaters Manoutcher im Evin-Gefängnis von Teheran sitzen wir im Schatten der Berliner Mauer zusammen. Hier, im Stadtteil Mitte, hat Lale 1987 Abitur gemacht, ihre Schwester Asita, heute Psychologin an der Berliner Charité, sieben Jahre später. Ihr Vater kam in den 60er Jahren in die DDR, wo er in Leipzig Brigitte Stark kennenlernte, seine spätere Frau. »Wir werden weiter nach dem Grab unseres Vaters fragen«, sagen die beiden Frauen, die Teheran aus eigener Anschauung kennen. Asita war viereinhalb Jahre alt und Lale zehn, als die Familie nach dem Sturz des Schahs 1979 in die Heimat des Vaters zog – voller Hoffnung auf einen gewandelten Iran. Nach fast einem Vierteljahrhundert im Exil arbeitete Manoutcher Behzadi in Teheran als Chefredakteur der Tageszeitung Mardom, die er bereits in Leipzig unregelmäßig herausgegeben hatte. Er war voller Elan, erinnern sich die Töchter. Das Land blühte auf, eine Vielzahl von Parteien, Zeitungen und Foren entstand. Doch die Hoffnung auf einen pluralistischen Iran erwies sich bald als Illusion, die Verhaftungen von linken Oppositionellen häuften sich. Wie die anderen Führungsmitglieder der kommunistischen Tudeh-Partei wurde Behzadi im Februar 1983 inhaftiert – wegen mutmaßlicher Spionage für die Sowjetunion. Er kam in Isolationshaft im Evin-Gefängnis, das bereits zu Schah-Zeiten für seine Folterpraktiken bekannt war. Nach Aussagen überlebender Mitgefangener wurde er stundenlang mit einer Peitsche geschlagen und mit hinter dem Rücken gekreuzten Armen aufgehängt. 1983 übertrug das Fernsehen Bilder einer inszenierten Gefängniskonferenz, bei der mehrere Männer die Islamische Republik lobten und ihren eigenen »Irrweg« verdammten. Auch von Behzadi sind Aufnahmen erhalten, in denen er vor einem Tribunal Auskunft über seinen Werdegang gibt. Dabei sind die Spuren der Folter unübersehbar. Brigitte Behzadi war damals bereits mit den Töchtern nach Ostberlin zurückgekehrt. Zu groß war das Risiko unter den islamistischen Herrschern geworden; das gefährliche Versteckspiel ihres Mannes und die ständigen Hausdurchsuchungen wollte

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sie den Kindern nicht länger zumuten. Ihre ältere Tochter Lale erinnert sich, wie die anfängliche Begeisterung über die Revolution in eine bedrückende Atmosphäre umschlug und immer mehr Rechte beschnitten wurden, von der Kleidung der Frauen bis hin zur Presse- und Versammlungsfreiheit. 25 Briefe aus dem Gefängnis sind alles, was den beiden Schwestern und der Mutter von den Jahren in der Haft geblieben ist. Die Schreiben bestehen aus einem siebenzeiligen Vordruck; auf der Rückseite sind sieben Zeilen für die Antwort vorgesehen. Gezeichnet von der Folter, so die ältere Tochter, schrieb Manoutcher Behzadi immer gleichlautende Sätze. Nur sein Bruder Cirus durfte ihn besuchen, und die Nachrichten über seinen Gesundheitszustand, die die Mutter in Deutschland am Telefon erhielt, wurden von Mal zu Mal schlechter. Im Sommer 1988 wurden die Kontakte zu den Angehörigen abgebrochen. Im Nachhinein ist klar, dass damals die massenhaften Exekutionen vorbereitet wurden. Gefangene wurden nach Partei- und Gruppenzugehörigkeit sortiert und zu Verhören abgeholt. Von Spionage war nun keine Rede mehr, stattdessen stellten die Verhörkomitees Fragen zu Glauben und Gebetspraxis. Alles zielte darauf ab, die Abtrünnigkeit von Revolutionsführer Ajatollah Ruhollah Khomeini zu beweisen. Die Hinrichtungen begannen kurz nach dem Ende des IranIrak-Kriegs und nach einem bewaffneten Angriff Tausender abtrünniger Volksmudschahedin auf die Stadt Kermanschah. Nach Informationen von Amnesty wurden zwischen August 1988 und dem zehnten Jahrestag der Islamischen Revolution im Februar 1989 mehr als 5.000 Menschen hingerichtet, ohne dass es ordentliche Gerichtsverfahren gegeben hätte. Auf dem Höhepunkt der Exekutionswelle hängte man Gefangene im Halbstundentakt, oft an extra herbeigeschafften Kränen zu fünft oder sechst, damit es schneller ging. Als diese Methode zu viel Zeit kostete, gingen die Behörden zu Erschießungen über, die wegen der ver-

Bis heute ist es den Hinterbliebenen verboten, öffentlich zu trauern. AMNESTY JOURNAL | 08-09/2018

Foto: Sarah Eick / Amnesty

Die Toten vergessen nicht


Starke Schwestern. Lale und Asita Behzadi im Juni 2018 in Berlin.

räterischen Geräusche zuvor vermieden worden waren. Mit Lastwagen und Hubschraubern schafften Helfer die Leichen aus den Gefängnissen und brachten sie in Massengräber. Im November 1988 teilten die Behörden Cirus Behzadi mit, dass er die letzten Habseligkeiten seines Bruders aus dem Gefängnis abholen könne. Eine offizielle Sterbeurkunde gab es nie. 1991 bestätigte das iranische Außenministerium auf Anfrage der deutschen Botschaft in Teheran lapidar »das Ableben des Genannten«. Bis heute wissen Lale und Asita Behzadi nicht, wie ihr Vater 1988 umkam und wo er begraben liegt. Vermutlich wurde er wie Tausende andere Opfer der Hinrichtungswelle auf dem Khavaran-Friedhof nahe der Hauptstadt verscharrt. Doch nicht nur die Angehörigen halten die Erinnerung an das Massaker wach, sondern auch Amnesty International. In einem im April veröffentlichten Bericht konnte die Organisation anhand von Satellitenaufnahmen nachweisen, dass im ganzen Land neue Gebäude auf Gräbern errichtet und Bestattungsstätten dem Erdboden gleichgemacht wurden. Ziel ist es, nach Ansicht von Amnesty, Beweismittel zu zerstören, die das Ausmaß der Verbrechen ans Licht bringen könnten. Da die Stätten unter ständiger Bewachung des Sicherheitsapparats stünden, sei davon auszugehen, dass sowohl Geheimdienste wie Justizapparat in die Spurenvernichtung eingeweiht seien.

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Die Nichtregierungsorganisation Justice for Iran geht davon aus, dass sich die sterblichen Überreste der 1988 im Evin-Gefängnis Hingerichteten in 120 Massengräbern an verschiedenen Orten des Landes befinden, mindestens sieben wurden zwischen 2003 und 2017 von den Behörden zerstört. Bis heute ist es Angehörigen verboten, gemeinsam öffentlich zu trauern. Sie dürfen auch keine Blumen oder kurze geschriebene Nachrichten an den Orten niederlegen, an denen sie ihre Liebsten vermuten. Jegliche Erinnerung soll erstickt, jegliche Forderung nach Aufarbeitung unterbunden werden. Auf Dauer dürfte dies jedoch nicht gelingen. Die BehzadiSchwestern werden jedenfalls im September, wie schon so oft, gemeinsam mit ihrer Mutter des Verstorbenen gedenken. Und Asita Behzadi ist sich sicher: »Eines Tages werden diese Ereignisse hochkochen. Irgendeine Generation wird das einer anderen vorwerfen.« Ihre ältere Schwester Lale pflichtet ihr bei. »Nehmen wir an, die Iraner suchen sich eines Tages eine neue Regierung, dann werden die unerledigten Geschichten auf den Tisch gelegt.« Bis jetzt freilich hat das Schweigekartell an der Spitze der Islamischen Republik gehalten. »Unabhängig davon, wie reformorientiert sich die Regierungen in den letzten drei Jahrzehnten gaben: Zu dem Massaker im Evin-Gefängnis wurde nie Stellung genommen.« 쮿

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Fremd im eigenen Land In Tansania und Malawi ist das Leben von Menschen mit Albinismus bedroht, weil ihren Körperteilen magische Kräfte zugeschrieben werden. Von Tabea Gleiter, Julia Kleinewiese und Fabian Vehlies Eine junge Frau steht verloren vor Blechhütten in Kibera, einem Stadtteil der kenianischen Hauptstadt Nairobi. Passanten starren sie an – sie scheint nicht dazuzugehören. Im Schatten sucht sie Schutz vor der starken Sonne, ihre helle Haut verdeckt sie mit einem weißen Tuch. Die Fotos des kenianischen Fotomodells Florence Kisombe wurden von der ugandischen Künstlerin Sarah Waiswa aufgenommen. In ihrer Reihe »Stranger in a Familiar Land« hat sie die gesellschaftliche Stigmatisierung von Menschen mit Albinismus in den Mittelpunkt gerückt. Fremd in einem vertrauten Land, so fühlen sich viele afrikanische Menschen mit Albinismus, denn sie werden nicht nur diskriminiert, sie müssen sogar um ihr Leben fürchten. In Tansania und Malawi etwa hält sich hartnäckig der Aberglaube, dass Menschen mit Albinismus Geister seien, die nicht sterben, sondern lediglich verschwinden können. Ihren Körperteilen sprechen Wunderheiler magische Kräfte zu, die in Zaubertränken und Amuletten verwendet für Glück, Wohlstand und

Macht sorgen sollen. Menschen mit Albinismus sind deshalb stark gefährdet: In Tansania sind es etwa 33.000, in Malawi etwa 10.000, die in ständiger Furcht vor Ermordung, Entführung und Verstümmelung leben müssen. Häufig sind Frauen und Kinder die Opfer; nicht selten beteiligen sich nahe Verwandte an den Angriffen. Nach der Geburt eines Kindes mit Albinismus verlassen viele Ehemänner ihre Frauen; Säuglinge werden ausgesetzt oder aus Scham und Furcht versteckt, bisweilen jahrelang. Zu den häufigsten Straftaten gehört die Schändung von Gräbern, um an Körperteile zu gelangen, die teuer verkauft werden können. 75.000 US-Dollar werden nach UN-Angaben für einen ganzen Körper bezahlt. Laut der kanadisch-tansanischen NGO Under The Same Sun, die sich für den Schutz von Menschen mit Albinismus einsetzt, wurden in Tansania in den vergangenen Jahren 180 Angriffe registriert, davon waren 76 Morde. Um den Aberglauben zu bekämpfen und weitere Gewalttaten zu verhindern, klärt Under the Same Sun in Seminaren darüber auf, dass es sich bei Albinismus um eine genetische Störung der Pigmentierung von Haut, Haaren und Augen handelt, die weder an Geschlecht noch ethnische Herkunft gekoppelt ist und nur vererbt wird, wenn beide Eltern das Gen in sich tragen. In Malawi hat in den vergangenen Jahren die Armut zuge-

Den Blicken ausgeliefert. Florence Kisombe beim Shooting von »Stranger in a Familiar Land« 2016 in Nairobi.

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nommen und in der Folge auch die Kriminalität. Dies hat dazu geführt, dass auch die alten Mythen von den magischen Kräften der Menschen mit Albinismus wieder aufleben. Vor allem außerhalb der Erntezeit, wenn es keine Arbeit gibt und Hunger herrscht, lassen sich arme Menschen dafür bezahlen, die begehrten Körperteile zu beschaffen. Die Aufträge kommen von einflussreichen Kunden, die sich davon schnellen Erfolg und Reichtum erhoffen. Medizinmänner und kriminelle Banden profitieren von der Nachfrage. Auch wenn sich die überwiegende Mehrheit der traditionellen Heiler deutlich von den Taten distanziert, beschert sie einigen von ihnen lukrative Geschäfte – und das bei geringem Risiko, denn kaum ein Angreifer kommt vor Gericht. Obwohl sich die Regierung bemüht, die Verbrechen aufzuklären, bleiben die Ressourcen von Polizei und Justiz begrenzt. Nicht einmal jeder dritte Fall wird erfolgreich abgeschlossen. Hinzu kommt, dass Staatsbedienstete und Politiker dem Problem nicht die gebotene Aufmerksamkeit schenken – sei es, weil sie selber Vorurteile hegen, sei es, weil sie in die dunklen Geschäfte verwickelt sind. Neben der Verbrechensprävention benötigen die betroffenen Menschen aber auch eine bessere medizinische Versorgung: Trotz ihres hohen Hautkrebsrisikos gibt es bislang keinen angemessenen Zugang zu Sonnencreme und ärztlicher Behandlung. Gerade einmal zwei Prozent der Menschen mit Albinismus in Malawi werden vierzig Jahre alt – auch weil es in dem landwirtschaftlich geprägten Land nur wenige Berufe gibt, die ausreichenden Schutz vor der tropischen Sonne bieten. In der Schule können Kinder mit Albinismus durch ihre angeborene Sehschwäche dem Unterricht nur schwer folgen. Ohne Hilfsmittel und Rücksichtnahme der Lehrer sind sie nicht selten gezwungen, die Schule abzubrechen. Eine, die sich damit nicht abfinden will, ist Annie Alfred. Für das Mädchen aus Malawi setzte sich Amnesty International beim Briefmarathon 2016 ein. »Die Leute nennen mich Geist.

Die Aufträge kommen von einflussreichen Kunden, die sich Erfolg und Reichtum erhoffen. Die Leute nennen mich eine Weiße, weil ich Albinismus habe. Aber ich bin genau wie sie – nur mit weißer Haut und weißen Haaren«, sagt sie und träumt weiter von einer Karriere als Krankenschwester. Zwar haben sich die Regierung und der Oberste Gerichtshof von Malawi 2016 verpflichtet, die Straflosigkeit zu beenden. Gesetzesänderungen führten dazu, dass Verbrechen besser aufgeklärt werden können. Doch die Praxis sieht anders aus: Zwischen Januar 2017 und Juni 2018 sind Amnesty zufolge abermals vier Menschen ermordet worden. Das zeigt, wie wichtig mehr Aufmerksamkeit für Menschen mit Albinismus ist. Auch deshalb gibt es seit 2015 eine unabhängige UN-Expertin für das Thema, die Nigerianerin Ikponwosa Ero. Im Juni fand bereits zum vierten Mal der »Internationale Tag der Aufklärung über Albinismus« statt. Künstlerinnen wie Sarah Waiswa zeigen Menschen mit Albinismus in einem anderen Licht, und auch das Fotomodell Florence Kisombe widersetzt sich in ihren Bildern dem konventionellen Blick – und spielt stattdessen in ihren Accessoires mit Vorurteilen und Diskriminierung. 쮿 Die Autorinnen sind Mitglieder der Amnesty-Hochschulgruppe Kiel.

Fotos: Sarah Waiswa

ALBINISMUS

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Guatemalas vergessene Töchter Anderthalb Jahre nach dem Brand in einem Kinderheim nahe Guatemala-Stadt hat die Regierung keine Konsequenzen aus der Tragödie gezogen. Von Kathrin Zeiske und James Rodríguez (Foto), San José Pinula

Untröstliche Mutter. Vianey Hernández mit einem Bild ihrer Tochter Ashly Angely, März 2018.

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Lange verstand Vianey Hernández nicht, warum ihre Tochter nicht raus aus dem Elend und rein in den »Hogar Seguro« wollte. »Sicheres Zuhause« heißt das Heim, in das die Mutter die schwer erziehbare 14-Jährige schicken wollte, um sie vor Drogen und Kriminalität zu schützen. »Ich dachte, Ashly Angely wäre dort sicher. Ich dachte, sie bekäme dort Hilfe«, sagt Vianey Hernández und weint. Was sie nicht wusste: Die Einrichtung in der Nähe von Guatemala-Stadt stand seit Jahren im Fadenkreuz von Ermittlungen. Dabei ging es um Misshandlungen und Vergewaltigungen. Die Staatsanwaltschaft hatte bereits die Schließung des »Hogar Seguro« gefordert – sie vermutete einen Kinderhandelsring, in den der Direktor des staatlichen Kinderheims verwickelt war. Doch die Behörden reagierten nicht. Im März 2017 war es zu spät: 41 Mädchen, darunter Ashly Angely, starben bei einem Brand, 15 weitere überlebten mit schwersten Verbrennungen. Die Jugendlichen hatten gegen Misshandlungen und sexuelle Ausbeutung protestiert. Angehörige und Aktivistinnen sprechen von einer Hinrichtung. Viele im Land sehen in der Tragödie ein Symptom für das Versagen des Staates. »Meine Tochter sagte, sie würde sich umbringen, wenn ich sie da nicht raushole«, erzählt Vianey Hernández. Aber sie glaubte ihr nicht. Tatsächlich waren Misshandlungen und Demütigungen Alltag in dem Kinderheim. Nach Angaben von Zeugen wurden Mädchen von den Aufseherinnen mit Medikamenten ruhig gestellt, vom Wachpersonal vergewaltigt oder nachts mit einer Kapuze über dem Kopf aus dem Heim geholt. Ein paar Stunden später wurden sie zurückgebracht und verprügelt, damit sie schweigen. Auch erzwungene Abtreibungen sollen stattgefunden haben. Am 7. März 2017 kam es zu einer Revolte. Spezialeinheiten der Polizei beendeten auf brutale Weise eine Massenflucht. Die Jugendlichen wurden zunächst stundenlang mit Elektroschockern und Schlagstöcken in Schach gehalten. Dann wurden 56 Mädchen über Nacht in einem kleinen Raum eingepfercht. Sie froren, es gab keine Toilette. Am nächsten Morgen konnten sie die Situation nicht mehr ertragen. »Laut einer Überlebenden war es Ashly Angelys Idee, Matratzen in Brand zu stecken, damit man sie rauslässt«, berichtet ihre Mutter Vianey Hernández. Alle waren einverstanden. Sie wollten ein Zeichen setzen an diesem 8. März – dem Internationalen Frauentag, an dem auf der ganzen Welt gegen Gewalt gegen Frauen protestiert wird. Doch womit die Mädchen nicht gerechnet hatten, waren ihre Aufpasser in Uniform. Neun Minuten lang schloss eine Polizeibeamtin das Zimmer trotz des Feuers nicht auf. Neun Minuten lang ignorierte sie die Hilferufe und die Schreie der Mädchen. Bis diese verstummten. Als sie die Tür schließlich öffnete, konnte nur noch eines der Mädchen mit brennenden Haaren hinauslaufen. Andere lagen schwer verletzt auf dem Boden. Hinter ihnen stapelten sich verkohlte Körper. Der »Hogar Seguro« ist direkt dem Sozialministerium unterstellt. Selbst Präsident Jimmy Morales war über den Polizeieinsatz informiert worden. »Doch der Staat ließ die Familien nach der Katastrophe vollkommen allein«, sagt Stef Arreaga. Die Besitzerin einer Bar in Guatemala-Stadt hatte die Ereignisse in dem Kinderheim in den Nachrichten verfolgt und sich kurzentschlossen mit ihrer Mutter und Freundinnen auf den Weg dorthin gemacht. Stef Arreaga schaffte über Kontakte zu Feuerwehr und Krankenhäusern, was die Behörden nicht zustande brachten: eine Liste der Überlebenden zusammenzustellen. Nebenbei stillte sie

GUATEMALA

sogar noch die Babys von Müttern, die vor dem Leichenschauhaus kollabiert waren. Später half sie bei der Identifizierung der Toten. Keine leichte Aufgabe. »Die Mütter sagten uns, meine Tochter hatte so viele Ohrlöcher, dieses Tattoo, jenen Leberfleck. Doch die toten Mädchen hatten keine Ohren und keine Haut mehr«, sagt Arreaga. Zum Glück hatte sie noch weitere Mithelfer: Das Kollektiv Ocho Tijax richtete eine Suppenküche ein und suchte Anwälte, die die Angehörigen als Nebenkläger rechtlich vertreten. Seitdem sind anderthalb Jahre vergangen. Doch das Verfahren gegen Verantwortliche tritt weiter auf der Stelle, und die Psychologin Brenda Chamán, die in der Nacht des Brandes die Aufsicht hatte, ist weiterhin unter Auflagen auf freiem Fuß. Im Sommer wollte das Parlament über eine lebenslange Opferrente für die überlebenden Mädchen entscheiden. Am ersten Jahrestag des Brandes versammelte sich eine kleine Menschenmenge vor dem »Hogar Seguro«. Von außen gleicht das Heim einer Festung. »Ratten« hat jemand in die Tür geritzt. Ein Quintett spielte klassische Musik zwischen hohen Pinien. Die Zahl der Fotografen und Kamerateams übertraf die der Angehörigen und Aktivistinnen, die eine Maya-Zeremonie für die toten Mädchen abhielten. Von staatlicher Seite aus gab es kein Gedenken. Offizielle Stellen versuchen vielmehr, von der eigenen Verantwortung abzulenken. Sie stellen die Mütter als Schuldige dar, die unfähig sind, auf ihre Kinder aufzupassen. In der Bevölkerung sehen viele die toten Mädchen aus den Armenvierteln als Kriminelle an, die den Tod verdienen. »Die Kriminalisierung der Jugend in Guatemala steht den Kinderrechten diametral entgegen«, sagt Carolina Escobar Sarti, die Direktorin der internationalen Kinderschutzorganisation La Alianza Guatemala. Einige Mädchen, die im »Hogar Seguro« starben, waren zuvor in einer Unterkunft von La Alianza. Ob eine Jugendliche vom Jugendgericht in eines dieser freundlich gestrichenen Heime oder in den völlig überfüllten »Hogar Seguro« überwiesen wurde, war oft Glückssache. Escobar Sarti prangert die Stigmatisierung der Überlebenden an: »Der Staat hat auf ganzer Linie versagt. Die Mädchen in seiner Obhut haben vor, während und nach dem Brand keinerlei Schutz genossen.« Viele Überlebende erlitten infolge der schweren Verbrennungen Amputationen. Eine von ihnen ist noch immer in einer Spezialklinik in Houston. Manche müssen einen Schutzanzug tragen, der die eigene Haut ersetzt, einige sind furchtbar entstellt. Keine Bedingungen, unter denen Mädchen aus extremer Armut langfristig überleben können. »Die physisch und psychisch für immer Gezeichneten müssen eine staatliche Versehrtenrente bekommen«, fordert Escobar Sarti. Eine 14-Jährige aus dem »Hogar Seguro« hat im Oktober ein Kind zur Welt gebracht: einen gesunden Jungen namens Alexander. Eine Wandtafel, die auf die Schwangere fiel, hatte sie vor dem Flammentod geschützt. 쮿

Staatliche Stellen stellen die Mütter als Schuldige dar, unfähig, auf ihre Kinder aufzupassen. 45


Kein Wort des Bedauerns Das Urteil im NSU-Prozess blendet die Erfahrungen und Forderungen der Betroffenen des rechtsextremen Terrors aus. Ein Kommentar von Heike Kleffner 18 Jahre lang mussten Semiya und Abdulkerim Şimşek drauf warten, dass mit Beate Zschäpe zumindest eine der Verantwortlichen für den Mord an ihrem Vater verurteilt wurde. Enver Şimşek war am 9. September 2000 in Nürnberg von mehreren Schüssen tödlich getroffen worden. Für die Hinterbliebenen des ersten Opfers der rassistischen Mordserie folgten bis zur Selbstenttarnung des NSU im November 2011 elf Jahre , »in denen wir nicht einmal richtig Opfer sein durften«, sagte Semiya Şimşek nach der Urteilsverkündung gegen Zschäpe und ihre fünf Mitangeklagten im Juli. Von Anfang an waren die Ermittler davon überzeugt, Enver Şimşek und die acht anderen migrantischen NSU-Mordopfer seien in kriminelle Machenschaften verstrickt gewesen, die mit ihrer Herkunft in Verbindung stünden. Die damals 14-jährige Semiya Şimşek etwa wurde in den zwei Tagen, in denen ihr Vater auf der Intensivstation mit dem Tod rang, ohne erwachsene Begleitperson vernommen. Ihre Mutter, Adile Şimşek, durfte ihren sterbenden Ehemann erst besuchen, nachdem sie von Ermittlern verhört worden war. Die von institutionellem Rassismus geprägten Ermittlungen und die Berichterstattung, die dem polizeilichen Ansatz blind folgte, hatten nicht nur gravierende Folgen für die Angehörigen, sondern bestärkten auch die Täter. Der NSU archivierte die Berichterstattung nach seinen Morden und Anschlägen akribisch und war präzise über die Ermittlungsrichtung informiert. Zudem behauptete der Verfassungsschutz noch bis 2011, es gebe keine neonazistischen Terrorstrukturen in Deutschland. So wies der damalige VS-Vizepräsident, Klaus Dieter Fritsche, nach einem verhinderten Neonazi-Anschlag auf den Münchner Synagogenneubau 2003 Fragen nach den »drei Bombenbauern aus Thüringen« zurück, die bei ihrem Leben im Untergrund »sicherlich die Unterstützung Dritter« erhielten. »Dem ist entgegenzuhalten, dass diese Personen auf der Flucht sind und – soweit erkennbar – seither keine Gewalttaten begangen haben. Deren Unterstützung ist daher nicht zu vergleichen mit der für einen bewaffneten Kampf aus der Illegalität.« Zu diesem Zeitpunkt hatte der NSU schon Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru in Nürnberg, Suleyman Taşköprü in Hamburg und Habil Kılıç in München ermordet, einen Sprengstoffanschlag verübt und

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mehrere Banken überfallen. Nach zahlreichen Razzien mit Waffen- und Sprengstofffunden sowie Informationen von NeonaziV-Leuten über den Aufbau bewaffneter Strukturen waren zudem Polizei und Geheimdienste über den steigenden Grad der Militanz der Neonazibewegung gut informiert. Im Prozess vor der 6. Strafkammer des Oberlandesgerichts München haben Semiya Şimşek und andere Hinterbliebene sowie Überlebende der Anschläge in Köln auf eindrückliche Weise ihre Erfahrungen mit der »Bombe nach der Bombe« – der Täter-Opfer-Umkehr der Ermittler und Medien – beschrieben. Vor Gericht wurde auch deutlich, wie sich Geheimdienstmitarbeiter in Erinnerungslücken flüchteten, um eine parlamentarische und strafprozessuale Aufklärung zu behindern. Doch das mündliche Urteil, mit dem Zschäpe im Juli zu lebenslanger Haft und ihre fünf Mitangeklagten zu Gefängnisstrafen zwischen 30 Monaten und zehn Jahren verurteilt wurden, blendete die Erfahrungen der Hinterbliebenen einfach aus. In der Urteilsbegründung fiel kein Wort darüber, dass zentrale Fragen der Angehörigen zur Mitverantwortung der Sicherheitsbehörden für die neonazistische Terrorserie weder durch die Hauptverhandlung noch durch die 13 parlamentarischen Untersuchungsausschüsse auf Landes- und Bundesebene beantwortet werden konnten. Die Hinterbliebenen und die Öffentlichkeit haben kein Wort des Bedauerns darüber gehört, dass es dem Gericht nicht gelungen ist, aufzuklären warum ausgerechnet ihre Väter, Brüder, Söhne und ihre Tochter von den neonazistischen Mördern ausgewählt wurden. Es wurde nicht erklärt, warum das Gericht den naheliegenden Fragen nach Unterstützern und Helfern an den Tatorten nicht nachgehen wollte. Keine Antwort gab es auch auf die Frage, warum die Angehörigen des NSU-Kerntrios und des-

Mit dem Urteil wird VS-Mitarbeitern signalisiert, dass sie unangetastet bleiben. AMNESTY JOURNAL | 08-09/2018


Foto: Matthias Balk / dpa / pa

Fand kein Gehör. Semiya Şimşek mit ihrer Tochter vor dem Oberlandesgericht München, Juli 2018.

sen Unterstützer nicht im Sommer 1998 festgenommen wurden – obwohl Strafverfolgungsbehörden und Verfassungsschutzämter umfangreiche Kenntnisse über den Aufenthaltsort in Chemnitz, die Bewaffnung und einen ersten Raubüberfall hatten. Mit seinem Urteil hat das Gericht stattdessen die frühe Festlegung der Generalbundesanwaltschaft auf ein »isoliertes Trio« oder eine isolierte Neonazi-Zelle mit wenigen Helfern festgeschrieben und alle Aussagen und Indizien ignoriert, die die Existenz eines Unterstützernetzwerks belegten. Das Gericht hätte die Chance – und die Aufgabe – gehabt, mit seinem Urteil der gesellschaftlichen Dimension der NSU-Verbrechen und der staatlichen Mitverantwortung gerecht zu werden. Das Urteil bot auch die Chance, einen Paradigmenwechsel in der juristischen Auseinandersetzung sowohl mit den organisierten rassistischen Terrornetzwerken der 1990er und 2000er Jahre als auch mit den Tätern der aktuellen Welle rassistischer Gewalt einzuleiten. Stattdessen brachten fünf Prozessjahre ein Urteil, das überall dort Leerstellen aufweist, wo zentrale Merkmale des NSUKomplexes hätten genannt werden müssen: an erster Stelle beim unheilvollen Zusammenwirken des mörderischen Rassismus neonazistischer Terroristen und des institutionellen Rassismus der Ermittlungs- und Sicherheitsbehörden. Diese stellten das Prinzip »Quellenschutz vor Strafverfolgung« über das Versprechen »umfassender Aufklärung« von Bundeskanzlerin Angela Merkel – und vernichteten ungestraft wichtige Be-

DEUTSCHLAND

weismittel. Diese Leerstellen und die milden Strafen für die zwei bis heute überzeugten Nationalsozialisten Ralf Wohlleben und André Eminger werden eine fatale Wirkung haben: Sie entmutigen diejenigen Strafverfolger, die die neuen rechten Terrornetzwerke ernst nehmen und bei ihren Kollegen in Polizei und Staatsanwaltschaften kein Gehör finden. Ermutigt werden hingegen die vielen straffreien Täter der Brand- und Sprengstoffanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte seit 2015 ebenso wie rassistische Gelegenheitstäter. Mit dem Urteil wird außerdem Geheimdienstmitarbeitern signalisiert, dass sie unangetastet bleiben. Und es stärkt diejenigen, die einen Schlussstrich unter die Strafverfahren gegen bekannte NSU-Unterstützer ziehen wollen. Maria Scharlau, Antirassismus-Expertin von Amnesty, fordert deshalb stattdessen »eine seit langem überfällige Untersuchung«, um zu klären, »inwieweit institutioneller Rassismus in den Behörden eine bessere Aufklärung des NSU-Komplexes verhindert hat«. Ganz im Sinne von Yvonne Boulgarides, Witwe des in München 2005 ermordeten Schlüsseldienstinhabers Theodoros Boulgarides, die betont: »Wir alle sollten auch nach dem Prozess nicht aufhören, nach Antworten zu suchen.« 쮿 Heike Kleffner ist Geschäftsführerin des Verbands der Beratungsstellen für Opfer rechter und rassistischer Gewalt. Sie war Referentin in den NSUUntersuchungsausschüssen des Bundestages für die Linksfraktion.

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PORTRÄT

Yayi Bayam Diouf setzt sich im Senegal für legale Migrationsmöglichkeiten nach Europa ein – und für mehr Ausbildungsplätze. Von Christian Jakob In Yayi Bayam Diouf sehen alle, was sie sehen wollen: Journalisten bezeichneten sie als »Mutter Courage des Senegal«, und das EU-Parlament stellte fest: »Yayi Bayam Diouf stoppt die illegale Migration von Jugendlichen aus dem Senegal.« Einige linke Aktivisten sehen in Diouf vor allem eine Kämpferin gegen die EUGrenzschutzagentur Frontex. Recht haben sie alle. Die 59-Jährige gründete 2007 die Gruppe »Frauen für den Kampf gegen die illegale Migration« und ist eine der berühmtesten Aktivistinnen des Senegals. Damals legten viele junge Männer in großen Holzpirogen von der Küste des westafrikanischen Landes ab – Richtung Kanaren. Dioufs Sohn Alioune war einer der ersten, der dabei starb. Er ertrank im März 2006, zusammen mit 81 weiteren jungen Afrikanern im Atlantik. Seine Leiche wurde nie gefunden. Das Meer nennt Diouf seitdem nur noch den »Friedhof der jungen Afrikaner«. Sie lebt in Thiaroye-sur-Mer, einem Vorort von Dakar. Viele Menschen aus dem armen Landesinnern treibt es in den Küstenort – in der Hoffnung, dort Arbeit zu finden, oder eine Möglichkeit, das Land zu verlassen. Nach dem Tod ihres Sohns gründete Diouf eine Selbsthilfegruppe für Frauen, deren Männer oder Söhne auf See gestorben waren. Sie nähten gemeinsam, um überleben zu können. Später kamen Ausbildungsprojekte für junge Männer hinzu, die als »Kandidaten für irreguläre Migration« gelten. Eine Art Graswurzel-Berufsschule, finanziert mit europäischem Geld, um jenen, die das Land verlassen wollen, doch noch eine Perspektive zu geben.

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Foto: Sylvain Cherkaoui / Cosmos / Agentur Focus

Mutter Courage der Küste »Mein Schmerz lehrte mich, dass wir gegen diese Geißel kämpfen müssen, damit andere Söhne des Landes nicht dasselbe Schicksal erleiden«, sagt Diouf. Deshalb klärt sie seit Jahren auch über »die tödliche Gefahr der klandestinen Migration« auf. Die europäischen Institutionen betrachten Dioufs Arbeit mit Wohlwollen, denn »die »Gefahren der Migration sichtbar zu machen«, ist eine der wichtigsten Strategien der EU in Westafrika, weil sie sich davon eine abschreckende Wirkung erhofft. Dioufs Haltung ist ambivalenter: »Natürlich müssen wir den Menschen sagen, was sie riskieren«, sagt sie. Gleichzeitig erzürnt sie, dass es kaum Möglichkeiten der legalen Migration gibt. »Europäer können zu uns kommen, wenn sie wollen. Aber hier sperren sie sogar die Straßen ab, die zu den Botschaften der europäischen Länder führen.« Seit 2006 patrouilliert die spanische Grenzpolizei vor der senegalesischen Küste – die älteste Mission der EU-Grenzschutzagentur Frontex. Damit ist die Route zu den Kanarischen Inseln weitgehend abgeschnitten. Diouf sieht in diesem Vorgehen einen Menschenrechtsverstoß. Bekannt wurde sie auch, weil sie darauf hinwies, dass die Fischbestände vor der senegalesischen Küste nicht zuletzt deshalb stark zurückgegangen sind, weil europäische Flotten sich rücksichtslos bedienten. Einige der westafrikanischen Fischer, die nicht mehr von ihrer Arbeit leben konnten, suchten deshalb Arbeitsmöglichkeiten in Europa, das durch seine Raubfischerei die Entwicklung erst ausgelöst hatte. Dioufs Verdienst besteht darin, immer wieder auf die komplexen Ursachen der Migration und die europäische Mitverantwortung hinzuweisen und zu versuchen, durch Projekte vor Ort weitere Dramen auf dem Meer zu verhindern. 쮿

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2018


DRANBLEIBEN

Seoul schafft Zivildienststellen In Südkorea soll es künftig einen Zivildienst als Alternative zum Militärdienst geben. Das Verfassungsgericht setzte der Regierung im Juni eine Frist bis Ende 2019, um das entsprechende Gesetz anzupassen. »Mit diesem Urteil hat das Verfassungsgericht die klare Botschaft gesendet, dass Kriegsdienstverweigerung ein Menschenrecht ist«, sagte Hiroka Shoji,

Amnesty-Expertin für Ostasien. Derzeit müssen Männer zwischen 18 und 35 Jahren einen 21- bis 24-monatigen Wehrdienst ableisten. Verweigerern drohen 18 Monate Gefängnis. In Südkorea sind weltweit die meisten Kriegsdienstverweigerer inhaftiert. Die meisten von ihnen sind Zeugen Jehovas, die den Dienst an der Waffe aus religiösen

Gründen ablehnen. Amnesty International geht davon aus, dass noch 230 Menschen wegen ihrer Gewissensentscheidung inhaftiert sind. »Die jungen Männer, die noch im Gefängnis sind, müssen nun umgehend freigelassen werden«, sagte Shoji. »Die Waffen nieder«,  Amnesty Journal 12-2017/01-2018

Bundestag unterstützt Nadeem-Zentrum

»Direkt aus dem Kühlschrank«,  Amnesty Journal 04-05/2018

Foto: Sarah Eick / Amnesty

Die Leiterinnen des Nadeem-Zentrums für die Rehabilitierung von Opfern von Gewalt und Folter in Ägypten sind im Juli in das Bundestagsprogramm »Parlamentarier schützen Parlamentarier« aufgenommen worden. Die Abgeordneten Bärbel Kofler (SPD), Margarete Bause (B90/Die Grünen) und Lukas Köhler (FDP) übernahmen jeweils eine Patenschaft für Suzan Fayad, Magda Adly und Aida Seif elDawla. Das Nadeem-Zentrum in Kairo betreibt die einzige Spezialklinik für Überlebende von Folter und Gewalt in Ägypten. Anfang 2017 schlossen die Behörden die Klinik. Amnesty in Deutschland zeichnete die Leiterinnen des Zentrums im April mit dem Menschenrechtspreis aus. Das Programm des Bundestags umfasst Gespräche mit politischen Entscheidungsträgern, Gefängnisbesuche und Prozessbeobachtungen, um Menschenrechtler weltweit zu unterstützen. #ReopenNadeem. Solidaritätsaktion für das Nadeem-Zentrum in Papenburg, Mai 2018.

Todesurteile in Belarus ausgesetzt Der Oberste Gerichtshof in Minsk hat im Juni entschieden, die Vollstreckung von zwei Todesurteilen auszusetzen, um sie noch einmal zu überprüfen. Das sei bisher noch nie vorgekommen, sagte Marie Struthers, Amnesty-Expertin für Osteuropa und Zentralasien. »Wir verfolgen den Fall weiterhin aufmerksam und haben die Hoffnung, dass die Regierung, mit der wir seit Jahren

PORTRÄT

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DRANBLEIBEN

über die Abschaffung der Todesstrafe diskutieren, bereit ist, diesbezüglich mit uns im Gespräch zu bleiben.« Ihar Hershankou und Siamion Berazhnoy waren im Juli 2017 zum Tode verurteilt worden, weil sie zwischen 2009 und 2015 sechs Menschen getötet haben sollen, um deren Grundstücke in Besitz zu nehmen. Ihre Fälle werden nun überprüft. »Wir fordern die höchsten belarussi-

schen Behörden nachdrücklich auf, weitere Schritte in diese Richtung zu unternehmen, unverzüglich ein Moratorium für Hinrichtungen einzuführen und alle Todesurteile umzuwandeln«, so Struthers. Belarus ist das einzige europäische Land, das die Todesstrafe noch nicht abgeschafft hat. »Auf Leben und Tod«,  Amnesty Journal 06-07/2018

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KULTUR

Hissa Hilal

Foto: Brockhaus / Wolff Films

»Wer hasst, kommt nicht zur Ruhe« 50

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2018


Anonymität des Schleiers. Die saudische Dichterin Hissa Hilal.

HISSA HILAL

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Kultur der Wüste. Hissa Hilal.

Die saudische Dichterin Hissa Hilal wurde durch ihre mutige Kritik am patriarchalen System ihres Landes bekannt. Seither bewegt sie sich aus Sicherheitsgründen nur noch verschleiert in der Öffentlichkeit. Ein Gespräch über die Macht der Sprache und männliche Dichtkunst. Interview: Jürgen Kiontke

Obwohl Sie international bekannt sind, müssen Sie verschleiert sein und Details über Ihr Privatleben geheim halten. Mein Gesicht zu verhüllen, hat mich nicht daran gehindert, eine berühmte Frau in meiner Gesellschaft zu werden. Vielleicht ist es auch Teil meiner Persönlichkeit, nicht so viel Wert darauf zu legen, mein Gesicht zu zeigen. Viele prominente Frauen sind abhängig von ihrem Erscheinungsbild. Ich vertraue auf meine Gedanken und Gefühle, auf meine Sprache und persönliche Geschichte – und auf meine eigene Philosophie, wie ich die Welt sehe und verstehe. Zu Hause trage ich übrigens keinen Schleier. 2010 schafften Sie es ins Finale der beliebten Fernsehshow »Poet der Millionen« in Abu Dhabi. Welche Bedeutung hat dieser Dichterwettbewerb mit seinen 75 Millionen Zuschauern?

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In der arabischen Kultur ist Dichtung den Menschen heilig, heiliger als der Islam, und sie ist auch älter. Nur gute Poeten durften ihre auf Leder geschriebenen Gedichte an die Kaaba in Mekka hängen. Wenn die Menschen sich einmal im Jahr auf dem Markt oder auf der Pilgerfahrt trafen, spielte Dichtung eine große Rolle. Tausende berühmte Dichter kamen aus der ganzen arabischen Welt, um hier vorzutragen. Dichtung ist in der arabischen Sprache eng verbunden mit Musik, Rhythmus und Fantasie, sie erzeugt Bilder, ist magisch. Früher glaubten die Araber, Dichtung sei eine Art Prophezeiung: Sie vermittelt Freude und Weisheit, Musik und Philosophie, ist Kunst und Magie, Literatur und die Sprache der Menschlichkeit. Sprache ist für Araber viel mehr als nur Worte und ihre Bedeutung. Wie kam es zu Ihrer Teilnahme an dem Wettbewerb? Ich war bereits als Dichterin bekannt. Aber durch die Show konnte ich Millionen Araber in der ganzen Welt erreichen. Mit meinem Auftritt konnte ich zeigen, dass arabische Frauen genauso talentiert sind wie Männer. Außerdem wollte ich die Möglichkeit nutzen, Dinge zu sagen, über die andere niemals zu sprechen wagen. Wann haben Sie begonnen, in Ihren Gedichten Kritik zu üben? Vor langer Zeit, als ich noch ein Kind war, verbrannten meine Verwandten ein Notizheft mit Gedichten, das sie gefunden hatten. Ich war traurig und schockiert. Damals schrieb ich ein

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ZWEI GEDICHTE VON HISSA HILAL FÜR DAS AMNESTY JOURNAL: FREMDE Hab keine Angst vor Fremden, sie könnten verirrte Engel sein  Fülle ihre Taschen mit süßen Geschichten Und strahlendem Lächeln Leg ihnen auf die Schultern die Wärme deiner mitfühlenden Hände Eine Träne der Liebe in ihre Augen Das Leuchten der Mutterschaft Gewähre ihnen eine Kerze der Hoffnung und einen Stern des Vergessens. *** All diese schönen Wälder Diese Flüsse Diese Freiheit Dieser Frieden Weil diese Stadt  Niemals die Fremden steinigt mit Verdächtigungen und mit Ängsten.

Foto: Brockhaus / Wolff Films

ROTE LEICHENTÜCHER ÜBER DEM SCHWEIGEN Die rot dampfende Stimme des Opfers  Auf den Leichentüchern unseres Schweigens Wir sind der Friedhof der Opfer Wir sind die Bösen, die beten und fasten Ihre furchtbaren Schreie … Ein brennendes Schwert getaucht in die Kälte unseres Blutes Wir sind die Verdorbenheit des Glaubens Die Gerechtigkeit bewahrend

(aus dem Englischen)

Gedicht mit der Zeile: »Der Stamm verurteilt die Dichterin.« Ein sehr starkes Gedicht, das in den großen Magazinen der Golfregion gedruckt wurde. Ich war glücklich und habe begriffen, was Sprache leisten kann. Bis heute bin ich davon überzeugt, dass Sprache die größte Stütze ist, die man haben kann. Worte können nicht besiegt werden. Erinnern Sie sich an die Gedichte Ihrer männlichen Kollegen in der Show? Allerdings. Sie rezitierten Gedichte über den Prinzen oder den Scheich, sie priesen die Stämme, sprachen über Liebe und Frauen, Kamele und Pferde. Inwiefern hat der Auftritt im Fernsehen Ihr Leben verändert? Die Show gab mir einen Platz in der Geschichte der Dichtung. Prominent zu sein, bedeutet nicht, erfolgreich zu sein. Aber wenn es Menschen gibt, die deine Gedichte in sich tragen, sie rezitieren und lieben, dann hast du ihre Herzen tief berührt. Sie waren auch mit Todesdrohungen konfrontiert. Ich habe schon früh erkannt, dass manche Menschen bereit sind, Gewalt auszuüben. Sie sind bereit zu hassen, und sie warten nur darauf, dass sie ihren Hass auf jemanden projizieren können. Gewalt ist in den meisten Nationen verankert: Es ist eine Art Kultur. Jene, die hassen, kommen niemals zur Ruhe. Ich glaube, in jeder Gesellschaft gibt es Gewalt. Nur die Weise, sie

HISSA HILAL

»Worte können nicht besiegt werden.« Hissa Hilal

auszudrücken, ist unterschiedlich. Manche behaupten, mit Gewalt ihre Religion verteidigen zu müssen, manche meinen, kämpfen zu müssen, weil andere nicht zivilisiert sind oder falsche Ansichten haben oder die heilige Geschichte oder Kultur oder was auch immer nicht respektieren. Aber die Menschen wollen nur den ganzen Hass zurückgeben, den sie in sich tragen. Außerdem stellen sie ihre Handlungen als logisch oder vernünftig dar. Diejenigen, die mich angegriffen haben, sind Teil dieser Hasskultur. Sie behaupten, dass sie die Religion verteidigen, aber das ist nur die Oberfläche. Welche Spuren hinterlassen diese Drohungen bei Ihnen? Wenn ich meine Meinung nicht äußern würde, könnte ich vielleicht ausgesprochen respektiert und geschätzt leben. Aber wenn du anders bist, werden diese Leute dir alles nehmen und dich ausschließen. Umgekehrt bedeutet dies: Wer sich innerlich frei fühlt, wie wir es von Natur aus sind, zieht es vor, allein zu sein. Du wirst nie das Gefühl haben, dass du diese Leute brauchst. Der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman hat Reformen eingeleitet. Sind Sie optimistisch, dass er es ernst meint? Wie alle Frauen hoffe ich, dass er uns Veränderung bringen kann. Wir alle beobachten, wie es weitergeht. Wie würde Saudi-Arabien aussehen, wenn Frauen gleichberechtigt wären? Nicht nur Saudi-Arabien, sondern die ganze arabische Welt würde sich zum Besseren verändern, der ganze Nahe Osten, vielleicht die ganze Welt. 쮿

HISSA HILAL Hissa Hilal ist auch unter dem Künstlernamen Remia  bekannt. Die 50-Jährige schreibt seit ihrer Kindheit Gedichte. 2010 erreichte sie das Finale der Lyrik-TV-Show »Million’s Poet« in Abu Dhabi. Vor 75 Millionen Fernsehzuschauern übte sie harsche Kritik an der patriarchalen Gesellschaft ihres Landes und prangerte den islamischen Extremismus an. Der Film »The Poetess« (D/SA 2017.  Regie: Stefanie Brockhaus, Andreas Wolff. Nominiert für den Deutschen Filmpreis)  erzählt ihre Geschichte. Eine ursprünglich geplante Kinotour durch Deutschland sagte Hilal aufgrund der jüngsten Verhaftungen von Aktivistinnen in Saudi-Arabien ab.

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Von wegen ungebildete Mütter Das RomaniPhen-Archiv in Berlin sammelt Bücher, Filme sowie andere Werke von Sinti- und Roma-Frauen und klärt über Rassismus auf. Von Lena Reich

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omani Chaji ist vielleicht zwölf Jahre alt, trägt lange dunkle Zöpfe und eine hellblaue Bluse. In einem Kurzfilm erzählt das »Roma-Mädchen«, so ihr Name auf Deutsch, von der Verfolgung und Diskriminierung der Sinti und Roma in Europa. Die Stimme der animierten Zeichenfigur berichtet von der Ankunft der ersten Roma in Europa, Menschen mit »dunklerer Hautfarbe«, die wahrscheinlich Anfang des 15. Jahrhunderts als Sklaven aus Indien verschleppt wurden. Ein Aufenthaltsrecht in Städten wurde ihnen gar nicht erst zugesprochen. Ab 1498 galten sie als vogelfrei, ihre Verfolgung und Ermordung stand nicht unter Strafe. An dieser Stelle macht Romani Chaji einen Zeitsprung – und klärt über die ausgrenzende und entmenschlichende Rassenideologie der Nationalsozialisten auf. Neuere Studien gehen davon aus, dass etwa anderthalb Millionen Sinti und Roma dem »Porajmos« zum Opfer fielen – auf Romanes wird der Genozid das »Verschlingen« genannt. Lange wurde dies verschwiegen. »Keiner hat sich bei ihnen entschuldigt«, empört sich Romani Chaji. Eine finanzielle Entschädigung der wenigen Hinterbliebenen steht immer noch aus. Der Porajmos wäre heute vergessen, hätten nicht Überlebende wie Otto Rosenberg, der Vater der Sängerin Marianne Rosenberg, in den 1970er Jahren die Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma initiiert. »Djelem Lungone Dromensa – Die Roma-Geschichte« ist ein Erklärfilm des feministischen Romnja-Archivs RomaniPhen. Auf YouTube ist er unter dem Titel »Verfolgungsgeschichte der Rom*nja« zu finden. In nur sieben beklemmenden Minuten zeigt der Clip den rassistischen Blick auf die größte Minderheit Europas, die jahrhundertelange Verfolgung, das jahrzehntelange Schweigen zum Genozid und den täglichen Antiziganismus, mit dem Roma noch heute konfrontiert sind. Wohnen, Bildung, Gesundheit und Arbeit – es gibt kaum einen Bereich, in dem die rund 120.000 Sinti und Roma in Deutschland nicht Diskriminierungen ausgesetzt sind. Medien berichten oft einseitig über Roma-Gruppen – meist als exotisches Sujet einer nicht geglückten Integration. »Es wird sehr viel über Sinti und Roma gesprochen«, sagt Tayo Awosusi-Onutor vom RomaniPhen-Archiv. »Doch die meisten Bilder, die die Mehrheitsgesellschaft von uns vermittelt, sind rassistisch geprägt – gerade das Bild der Frau.« Ein Stereotyp, dominiert von der Romnja als ungebildeter Mutter, der Männerwelt unterworfen. Diese Klischees will das RomaniPhen-Archiv brechen. Es ist aus einer Gruppe von Aktivistinnen namens »IniRromnja« her-

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vorgegangen. Seit 2015 sammeln die Aktivistinnen unter Leitung der Sozialpädagogin Isidora Randjelović politisch relevante Bücher, Filme und andere Medien von Romnja und Sintizza und machen diese in einer kleinen Ladengalerie in Berlin-Treptow zugänglich, um aufzuklären und Diskurse anzustoßen. Das Archiv publiziert Kalender mit Frauenbiografien, organisiert Lesungen von Autorinnen und Diskussionsabende mit Bürgerrechtsaktivistinnen. Tayo Awosusi-Onutor hat im vergangenen Jahr in ihrem Dokumentarfilm »Phral mende – wir über uns« selbstbewusste Sintezza und Romnja in Deutschland porträtiert. Darin kommt auch ihre Mutter, Anita Awosusi, zu Wort, die eine Biografie ihrer vom Porajmos betroffenen Familie geschrieben hat und im Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg aktiv war. Auch das Berliner RomaniPhenArchiv, in dem sich nun ihre Tochter engagiert, ist Teil der Bürgerrechtsbewegung, ohne deren zähen Kampf die Erinnerung an die eigene Kultur noch viel weiter ins Abseits gedrängt worden wäre. Im Archiv treffen sich jede Woche Mädchen zwischen sieben und 17 Jahren zu Workshops und produzieren Filme zu Themen, die sie beschäftigen. Neben Freundschaft, Liebe und Schule sind das eben auch Sexismus und Rassismus. Das wachsende Netzwerk des Archivs vermittelt diese Medien dann an Schulen. So ist etwa der Erklärfilm mit Romani Chaji mehr als jedes deutsche Schulbuch dazu angetan, das vorherrschende Bild der Roma zu korrigieren. Es waren zwei Schülerinnen, Sabrina und Estera, die während ihres Praktikums im Archiv den Film mit entwickelt haben. »In den Schulen spiegelt sich das Wissen der gesamten Gesellschaft«, sagt Awosusi-Onutor. Oder das Nichtwissen. So sei etwa die herabsetzende Bezeichnung der Minderheit als »Zigeuner« immer noch gebräuchlich: »Der Holocaust an den Sinti und Roma wird bewusst verschwiegen. Die Schülerinnen und Schüler ahnen nicht einmal, dass der rassistische Begriff, der noch zu oft auf den Schulhöfen zu hören ist, ein rassistischer Begriff ist, mit dem die Nazis Millionen Menschen umgebracht haben!« In der Bildungsarbeit des Archivs gilt es, Lehrkräfte wie Kinder gleichermaßen zu sensibilisieren, Empathie zu befördern und aufzuzeigen, wie Rassismus im Alltag funktioniert. Roma und People of Colour, zu denen viele der Berliner Schülerinnen und Schüler gehören, sind schon im Kindesalter Objekt auch sprachlicher Diskriminierung, sei es auf dem Spielplatz, im Hort oder auf der Straße. Und so klärt der Film über Rassismus im Allgemeinen auf. Trotz eines 2013 vom Berliner Senat verabschiedeten Aktionsplans für ausländische Roma, der Hilfemaßnahmen wie Willkommensklassen, Notunterkünfte oder mobile Anlaufstellen für »Wanderarbeiter« vorsieht, werden Roma bei der Job-

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»Die meisten Bilder, die die Mehrheitsgesellschaft von Roma und Sinti vermittelt, sind rassistisch geprägt – gerade das Bild der Frau.« Tayo Awosusi-Onutor

Foto: Lena Reich

oder Wohnungssuche weiterhin häufig als »Problemfälle« behandelt. Bundesweit kommt es immer wieder zu nachweislicher Diskriminierung durch die Behörden. Eine der häufigsten Diskriminierungen ist das Racial Profiling, das auch Sinti und Roma regelmäßig trifft. Auf Straßen und Bahnhöfen sind rassistisch motivierte Polizeikontrollen von Menschen vermeintlich nichtdeutscher Herkunft nach wie vor gang und gäbe. Gemeinsam mit der Berliner Amnesty-Gruppe haben das RomaniPhen-Archiv und andere Berliner Organisationen, wie die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland und die Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt, die YouTube-Kampagne »Ban Racial Profiling; Gefährliche Orte abschaffen« unterstützt. Sie soll zunächst einmal die Berliner Regierung dazu bewegen, Racial Profiling per Gesetz zu verbieten. Die »Ban«-Videos sollen die Verantwortlichen daran erinnern, die Rechte von Minderheiten zu schützen, und die Opfer über ihre Rechte aufklären. »Nach wie vor findet eine kulturelle Codierung statt«, sagt Tayo Awosusi-Onutor. »Dass nicht mit uns geredet wird, das ist Rassismus.« 쮿

Gegen Klischees. Tayo Awosusi-Onutor und Archivleiterin Isidora Randjelovic.

ROMANIPHEN-ARCHIV

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Die Unbequeme Die regierungskritische Journalistin Humayra Bakhtiyar aus Tadschikistan versucht, in Deutschland beruflich Fuß zu fassen. Doch auch hier gerät sie unter Druck. Von Anke Schwarzer

Im Visier des tadschikischen Geheimdienstes. Humayra Bakhtiyar, Hamburg, Mai 2018.

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Foto: Mauricio Bustamante

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rst in Hamburg merkt Humayra Bakhtiyar, welche Spuren die jahrelange Belästigung und Einschüchterung hinterlassen haben. »Jeder braucht seine Zeit«, sagt die 32-jährige Journalistin über ihre Monate im Exil, in denen sie versucht, zu Kräften zu kommen. Feine graue Strähnen durchziehen ihr Haar; ihre Ohrstecker funkeln. Aufgrund ihrer Recherchen war sie ins Visier des tadschikischen Geheimdienstes geraten: Agenten suchten die preisgekrönte Reporterin seit 2014 mehrfach in ihrem Büro auf. Ihr Telefon wurde abgehört. Zunächst konnte die Journalistin die staatlichen Verfolger auf Abstand halten. Wurde sie ins Gebäude des Geheimdienstes zitiert, bestand sie stets auf einer schriftlichen Vorladung – die nie erfolgte. Hatte sie einen Termin, wies sie die Geheimdienstler darauf hin, dass Kollegen über soziale Medien über das Treffen informiert seien. Laut Reporter ohne Grenzen werden unabhängige Journalisten in der ehemaligen Sowjetrepublik regelmäßig an ihrer Arbeit gehindert – etwa, indem ihnen der Zugang zu Pressekonferenzen verweigert wird. Wer zu heiklen Themen recherchiert, muss mit gewaltsamen Übergriffen von beauftragten Schlägern, aber auch von Polizisten rechnen. Im März 2015 erschossen Unbekannte in Istanbul den im türkischen Exil lebenden Regierungskritiker Umarali Quvvatov – einen Tag nachdem Bakhtiyar ihn per Telefon interviewt hatte. Ihr Facebook-Account wurde gehackt, manipulierte Bilder zeigten die kritische Journalistin als angebliche Prostituierte oder sollten belegen, dass sie von der Opposition bezahlt werde. »Moralische Attacken«, sagt Bakhtiyar dazu. »Du bist so jung und schön, warum beschäftigst du dich mit dreckiger Politik?«, fragte sie ein Agent bei einem der Überraschungsbesuche. Um sich eine Pause zu verschaffen, arbeitete sie im Sommer 2015 bei der Deutschen Welle in Bonn. Trotz Warnungen ihrer Kollegen kehrte sie nach Tadschikistan zurück. Vor 14 Jahren hatte sich für die junge Frau eine Notlösung in eine Profession mit Herzblut gewandelt: Sie erhielt die Möglichkeit, an der Tadschikischen Nationaluniversität Journalismus zu studieren. Begeistert war sie zunächst nicht. »Ich kannte damals nur das russischsprachige Staatsfernsehen«, erklärt Bakhtiyar. Ihr Traumberuf war Diplomatin. Doch ihre Eltern, ein Lehrer und eine Krankenschwester, konnten das dafür notwendige Studium nicht finanzieren. Also Journalismus. Während der Praxismonate arbeitete die Studentin mit Redakteuren aus verschiedenen Ländern zusammen, die sie sehr beeindruckten, etwa in der Farsi-Abteilung der BBC in Duschanbe. Die Gründung des ersten unabhängigen Radiosenders des Landes, Radio Imruz, im Jahr 2007 begeisterte Bakhtiyar. Zum ersten Mal konnte sie auf Tadschikisch berichten. Die Redaktion informierte über soziale Themen in dem bitterarmen Land, über die Preisentwicklung oder Transportprobleme. Dann fiel der Sender aus. Von Regierungsseite hieß es, es gebe »technische Probleme, an denen gearbeitet werde«, sagt Bakhtiyar und malt Anführungszeichen in die Luft. Zwei Monate später gingen wieder Nachrichten über den Äther – nach einem Gespräch von Regierungsvertretern mit der Chefredaktion. Von nun an galt die Devise, »vorsichtiger« zu berichten. Die unbequeme Bakhtiyar musste nunmehr als Parlamentsreporterin arbeiten. »Ich habe geweint«, sagt sie über diese Versetzung, »denn das Pro-Regierungsparlament war völlig passiv«. Bald aber begann sie, an den öffentlichen Sitzungen Gefallen zu finden und hinter die Kulissen zu schauen. Sie recherchierte zur mangelhaften Trinkwasserversorgung, zu Foltervorwürfen und

TADSCHIKISTAN

kritisierte, dass die Regierung die tadschikischen Arbeitsmigranten in Russland nicht unterstützt, die häufig Opfer von Ausbeutung und Gewalt werden. Die Journalistin erzählt ausführlich und ruhig. Ab 2014 berichtete sie unter anderem auch für die Nachrichtenagentur Asia-Plus über Menschenrechtsverstöße der tadschikischen Regierung: Prozesse gegen Oppositionelle und deren Anwälte unter Ausschluss der Öffentlichkeit mit hohen Haftstrafen, Beschneidung der Religionsfreiheit, Korruption, Festnahmen von Regierungskritikern, Gewalt in der Haft, Unregelmäßigkeiten bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im März 2015, willkürliche Verbote von Oppositionsparteien, Medienlizenzen und Nichtregierungsorganisationen. Auch Amnesty International hat zahlreiche Einschränkungen demokratischer Grundrechte in Tadschikistan dokumentiert. Das Land zählt zu den repressivsten Staaten der Welt, und der seit 1994 regierende Präsident Emomali Rahmon baut seinen Einfluss offenbar weiter aus. 2016 setzte er mehrere Verfassungsänderungen durch, darunter die Möglichkeit einer lebenslangen Präsidentschaft. Nur wenige Tage nach ihrer Rückkehr von ihrer Tätigkeit bei der Deutschen Welle wurde Bakhtiyar von der Asia-Plus-Redaktion entlassen. »Ich habe keine Wahl«, sagte ihr einer der Chefs im September 2015. Sie war enttäuscht. Aber aufgeben? Freiberuflich arbeitete sie weiter. Im Café saßen die Agenten nun am Nachbartisch, standen zu Hause vor ihrer Tür, verfolgten sie mit dem Auto. »Du erkennst die Männer des Geheimdienstes an ihren standardisierten Anzügen und Krawatten, an den Blicken; sie tun so, als tippten sie eine SMS oder unterhielten sich, aber du merkst, dass sie wegen dir da sind«, erzählt sie. Ständig erhielt sie Anrufe. Im Fitnessstudio forderte man sie auf, vor die Tür zu kommen. »Sie wollen dich einschüchtern, kontrollieren und zeigen, dass sie alles wissen, was auch immer du machst«, sagt Bakhtiyar. Zu einer Journalistenfortbildung ins Nachbarland Kirgisistan durfte sie nicht ausreisen. Als sie im Herbst 2015 von vier Männern verfolgt wurde, bekam Bakhtiyar Panik. Sie konnte fast nicht mehr atmen, nicht mehr alleinbleiben. Weil ein Auto ihr nachgejagt war, wollte sie Anzeige erstatten. »›Vielleicht sind sie in dich verliebt‹, sagten die Polizisten und machten noch andere dumme Sprüche, obwohl sie wussten, wer ich war.« Bakhtiyars sonst so ruhige Stimme übersteuert kurz. Es dauert, bis die Flucht gelingt. Die Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte und andere NGOs ermöglichen ihr schließlich im Sommer 2016 einen Auslandsaufenthalt. »Ich kann nicht zurück, aber ich weiß nicht, wie es hier weitergeht«, sagt Bakhtiyar. Für unabhängige Medien in Tadschikistan arbeiten? Erst vor wenigen Wochen hat der Geheimdienst Angehörige von ihr bedrängt. »Ich kann mir vorstellen, was sie alles machen können«, sagt sie und schüttelt den Kopf. Und so sorgen Präsident Rahmons Agenten weiterhin dafür, dass die Journalistin auch in Deutschland ihren Beruf nicht ausüben kann. 쮿

»Ich kann nicht zurück, aber ich weiß nicht, wie es hier weitergeht.« Humayra Bakhtiyar 57


Unorte, überall Dystopische Romane zeichnen Visionen einer hoffnungslosen Zukunft. Auffallend viele Bücher dieser Gattung kommen derzeit aus Ägypten – sie spiegeln bedrückend deutlich reale gesellschaftspolitische Verhältnisse. Von Hannah El-Hitami

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ie Grenze zwischen Albtraum und Komik kann verschwimmen. Im September 2015 wurde der ägyptische Autor und Journalist Ahmed Naji inhaftiert, weil ein Bürger nach Lektüre seines Romans unter Herzrasen und niedrigem Blutdruck gelitten haben will. Grund soll die sexuell anstößige Sprache in Najis dystopischem Werk »Using Life« gewesen sein. Die Anklage, wegen der Naji zehn Monate im Gefängnis verbrachte und eine Geldstrafe von rund 1.000 Euro zahlen muss, klingt so absurd, dass sie selbst einer gesellschaftskritischen Dystopie entstammen könnte. Der Begriff Dystopie stammt aus dem Griechischen und bedeutet wörtlich Orte, die es nicht geben kann, Orte, an denen alles schlecht ist. Doch wenn man Naji sprechen hört, so sind diese Unorte in vielen arabischen Ländern bereits Realität geworden: »Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich eine Dystopie schreibe«, sagt der 30-Jährige im Skype-Gespräch. »Plötzlich haben mich alle zu Dystopien befragt und mir ist aufgefallen, dass es in letzter Zeit viele solcher Romane auf Arabisch gegeben hat. Das liegt nahe, denn wir leben in einer dystopischen Gegenwart. Worüber sollst du als irakischer, syrischer oder ägyptischer Autor denn sonst schreiben?« In den vergangenen Jahren hat die arabische Literatur auffallend viele dystopische Romane hervorgebracht. Einige kom-

men aus Ägypten, wo die Menschen nicht erst seit der Machtübernahme des Ex-Militärs Abdel Fattah al-Sisi mit sozialer Spaltung, behördlicher Willkür und staatlicher Überwachung konfrontiert sind – typische Themen der schwarzmalerischen Fiktion. Doch während Klassiker des Genres, wie George Orwells »1984« oder Ray Bradburys »Fahrenheit 451«, noch fürchterliche Zukunftsvisionen waren, so erscheinen die zeitgenössischen arabischen Romane dieser Gattung mehr wie verzerrte Darstellungen einer finsteren Gegenwart. »Ja, mein Roman ist eine Karikatur der Realität«, sagt die ägyptische Autorin Basma Abdel Aziz. »Er ist voller Sarkasmus, Überspitzungen und schwarzem Humor, doch im Kern habe ich mich an die Realität gehalten.« Im September 2012 kehrte Abdel Aziz, die in Frankreich studierte, für einen Sommer nach Ägypten zurück. Im Kairoer Stadtzentrum passierte sie eine Schlange von Menschen, die vor einer Behörde warteten. Als sie zwei Stunden später erneut vorbeikam, war dort immer noch eine Schlange. Zum Erstaunen der Autorin erkannte sie die Gesichter der Wartenden wieder. Dieselben Menschen standen ohne Fortschritt seit mehreren Stunden vor verschlossenen Türen. Zu Hause angekommen begann sie zu schreiben. Anstatt wie geplant nach Frankreich zurückzukehren, schrieb sie immer weiter, bis der Roman fertig war. In »The Queue« (Die Warteschlange) ist jedes kleinste Detail der Kontrolle eines autoritären Regimes unterworfen. Ob Schaufenstergucken oder lebenswichtige Medikamente – für alles brauchen die Bürgerinnen und Bürger eine Genehmigung. Und die gibt es nur hinter einem riesigen Tor, das geschlossen ist, seit es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und dem Regime gekommen ist. So steht Tag für Tag eine kilometerlange Schlange von Wartenden vor dem Tor. Je länger die Menschen warten, desto mehr spielt sich ihr Leben in der Schlange ab. Eine Wartende eröffnet ein kleines Teegeschäft für die Umstehenden, Mini-

Absurde Anklage. Der Autor Ahmed Naji (Mitte hinten) bei seiner Gerichtsverhandlung im Februar 2016 in Kairo.

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Foto: Ramy Yaacoub / AP / pa

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busse verkehren zwischen Anfang und Ende der Schlange, junge Frauen sehen sich nach geeigneten Ehemännern um. Die Autorin Basma Abdel Aziz arbeitet als Psychiaterin für das Nadeem-Zentrum, das im April den Menschenrechtspreis von Amnesty International in Deutschland erhalten hat. Das Zentrum betreibt die einzige Spezialklinik zur Behandlung von Überlebenden von Folter im Land. Weil der Staat den Einsatz von Folter leugnet, wurde die Klinik vor etwa einem Jahr von Sicherheitskräften versiegelt und ihre Arbeit verboten. »The Queue« erzählt die Geschichte von Yehya, in dessen Unterleib seit den Ausschreitungen eine Patrone der staatlichen Sicherheitskräfte steckt. Weil das Regime jedoch leugnet, auf Demonstranten geschossen zu haben, kann er sich die Patrone nicht entfernen lassen. Er wartet wie viele Tausend andere vor dem verschlossenen Tor, um eine Genehmigung für die Operation zu erhalten. In der Zwischenzeit verbietet der Staat jedoch Röntgengeräte. Yehyas Chancen, die Existenz der Patrone zu beweisen und eine Genehmigung für die notwendige Operation zu bekommen, werden immer schlechter, sein Gesundheitszustand ebenfalls. Als das Buch 2013 auf Arabisch erschien, war die Klinik des Nadeem-Zentrums noch geöffnet und al-Sisi noch nicht Präsident. Heute gleicht der Alltag in Ägypten immer mehr dem dystopischen Szenario in Abdel Aziz’ Roman. »Wie ich in ›The Queue‹ vorhergesagt habe, regiert ein totalitäres Regime, das gleichzeitig bürokratisch versagt«, sagt Abdel Aziz. »Es gibt immer mehr Fälle von staatlicher Gewalt, Folter und Verschwindenlassen. Zehntausende werden ohne gerechte Verfahren eingesperrt, und die Todesstrafe wird routinemäßig angewendet.« Während Basma Abdel Aziz staatliche Gewalt und Willkür in Ägypten kritisiert, setzt sich Ahmed Naji mit sozialen Fragen auseinander. Sein Roman »Using Life« spielt zwanzig Jahre nachdem ein riesiger Tsunami aus Sand Kairo und die Hälfte seiner Einwohner verschluckt hat. Der Protagonist Bassem Bahgat erinnert sich an sein Leben als junger Mensch vor der Katastrophe in einem Kairo, das er als »miserabel, abscheulich, schmutzig, verfault, düster, beklemmend, belagert, leblos, entnervend, verpestet, überfüllt, verarmt, wütend, verraucht, fiebernd, feucht, geschmacklos, beschissen, cholerisch und blass« beschreibt. Demgegenüber steht das sterile Kairo der Zukunft,

»Ja, mein Roman ist eine Karikatur. Doch im Kern habe ich mich an die Realität gehalten.« Basma Abdel Aziz wo der ältere Bassem »keinen Platz zum Rebellieren, keinen Raum zum Schreien« mehr findet. Die Natur ist glatt designed, das Wetter wird reguliert und jegliche Kreativität in die Passform eines globalen Marktes gepresst. Ein verschwörerischer Architektenbund regiert die Welt. Im realen Ägypten 2018 existieren beide Zeitebenen aus dem Roman nebeneinander. Die Regierung baut seit 2016 tatsächlich eine neue administrative Hauptstadt außerhalb von Kairo. Anfang 2018 eröffnete das erste Luxushotel in der prunkvollen Wüstenanlage. Die moderne Großstadt teilt sich entlang der Machtstrukturen, ein Thema, das schon andere Autoren aufgegriffen haben. In »Utopia« beschrieb der ägyptische Science-Fiction-Autor Ahmed Khaled Towfik schon 2011 eine Welt, in der sich die reichen Kairener in einer glanzvollen, neuen Hauptstadt isolieren, während der Rest der Gesellschaft in einer entmenschlichten, verfallenen Altstadt haust. In Mohammad Rabies schauerlichem Zukunftsroman »Otared« kämpfen Milizen um die Kontrolle über Kairos Viertel. Die arabischen Dystopien beschreiben Unorte und warnen zugleich davor, dass diese Orte Realität werden können – auch anderswo. »Die Lügen, die alternativen Fakten, die Manipulation der Gesellschaft: Alles, was in meinem Roman vorkommt, erleben auch Menschen in anderen Ländern wie den USA«, so Abdel Aziz. »In meiner Geschichte gibt es keine Orts- oder Zeitangaben, denn diese Zustände können jede Gesellschaft treffen.« 쮿

Düstere Lektüre. Die Autorin Basma Abdel Aziz in einer Buchhandlung in Kairo, September 2016.

ÄGYPTEN

Foto: Nariman El-Mofty / AP / pa

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Foto: Magnolia Pictures

Infiziertes Laufwerk. 2010 wurde das iranische Atomprogramm gehackt. Ein Akt des »Cyberwars«?

Der erfundene Krieg Der Politologe Thomas Rid widerspricht in seinem Buch »Mythos Cyberwar« der Behauptung, es gebe einen digitalen Krieg. Hackern gehe es vielmehr um Sabotage oder Spionage. Von Maik Söhler

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s war wieder einmal soweit: Kurz nachdem die USA, Großbritannien und Frankreich im April Luftangriffe flogen, um das mutmaßliche Chemiewaffenarsenal des syrischen Diktators Baschar al-Assad zu zerstören, beklagten die Regierungen in Washington und London digitale Angriffe auf staatliche Stellen und Internetprovider. Hacker aus Russland, dem wichtigsten Verbündeten Syriens, stehen seither im Verdacht, gezielt staatliche Netzwerke, Router, Weichen und Firewalls attackiert zu haben. Wenige Wochen zuvor war bekannt geworden, dass Außenstehende in einen Teil des deutschen Regierungsnetzes eingedrungen waren, auch hier fiel der Verdacht auf Russland. Andere europäische Staaten haben in den vergangenen Jahren ähnliche Erfahrungen gemacht. Jedes Mal sprachen einige Politiker und Militärs von einer digitalen Kriegsführung, mahnten mehr Schutz an und wollten die entsprechende Aufrüstung vorantreiben, um besser gegen Angriffe gewappnet zu sein. In diesem Zusammenhang ist das nun erstmals ins Deutsche übersetzte Standardwerk »Mythos Cyberwar« (auf Englisch bereits 2013 erschienen) ein enorm hilfreiches Buch. Denn der Politologe Thomas Rid widerlegt auf mehr als 350 Seiten kenntnisreich sämtliche Argumente von Politik, Militär und Geheimdiensten, die das Wort »Krieg« bemühen, um ihre Etats aufstocken zu lassen. »Es hat in der Vergangenheit keinen Cyberkrieg gegeben, es findet gegenwärtig keiner statt, und es ist überaus wahrschein-

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lich, dass auch in Zukunft keiner über uns hereinbrechen wird«, schreibt Rid, der als Professor für Strategische Studien an der Johns-Hopkins-Universität in Washington, DC, arbeitet. Und in der Tat kann keines der von Rid aus der internationalen Debatte gepflückten Argumente der Befürworter eines »Cyberkrieges« den strengen Kategorien genügen, die sich Rid aus den Klassikern der Militär- und Staatstheorie leiht, um zu begründen, was genau einen Krieg samt Angriff und Verteidigung ausmacht. Rid nimmt digitale Angriffe durchaus ernst, nur eben nicht als Akt des Krieges, sondern als Akte der Spionage, der Sabotage und der Subversion mit jeweils neuen Mitteln. Digitale Spionage kann von Staaten eingesetzt werden, um aus Regierungsnetzwerken Informationen herauszufiltern. Auch Wirtschaftsspionage ist weit verbreitet, um Wettbewerbsvorteile zu sichern oder -nachteile zu beseitigen. Den wohl am häufigsten mit einem »Cyberwar« in Verbindung gebrachten Angriff – Stuxnet, bei dem im Jahr 2010 Teile der digitalen Infrastruktur des iranischen Atomprogramms unbrauchbar gemacht wurden – ordnet der Autor völlig korrekt dem Bereich der Sabotage zu. Subversion wiederum ist überall dort zu beobachten, wo bei politischen Konflikten oder Aufständen digital gesteuerte propagandistische Botschaften oder Kampagnen zu vernehmen sind. Die Debatte um digitale Angriffe und Verteidigung wird wegen ihrer technischen Details von vielen gemieden. »Mythos Cyberwar« bietet Abhilfe. Das Buch ist sowohl für Einsteiger als auch für Leser mit Vorkenntnissen bestens geeignet, weil es wichtige Kenntnisse plastisch vermittelt und zentrale Argumente übersichtlich strukturiert. Thomas Rid: Mythos Cyberwar. Aus dem Englischen von Bettina Engels und Michael Adrian. Edition Körber, Hamburg 2018. 352 Seiten, 18 Euro.

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Rassistische Macht

Unsichtbare Arbeitskämpfe

Ein kleines Buch von nur wenig mehr als 100 Seiten widmet sich einem großen Thema und bekommt es mit Nonchalance in den Griff. 2016 hielt die US-Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison mehrere Vorträge über »die Literatur der Zugehörigkeit« an der Harvard University. Daraus ist das Buch »Die Herkunft der anderen« entstanden, das sich sämtlichen Formen des Rassismus gegenüber Schwarzen in den USA in den vergangenen 250 Jahren widmet – angefangen von der Sklaverei über Lynchmorde bis zum heutigen »Racial Profiling« und der Alltagsdiskriminierung. Dabei interessieren Morrison weniger die Erscheinungsebenen des Rassismus als vielmehr das, was Angehörige der weißen Mehrheitsgesellschaft umtreibt, wenn sie diskriminieren oder sogar töten. Die Schriftstellerin zitiert den US-Politologen Bruce Baum mit dem Satz: »Rasse ist, kurzgefasst, nichts anderes als eine Auswirkung von Macht« und vertieft diesen Gedanken an vielen Beispielen wie der USEinwanderergesellschaft, in der das Privileg, weiß zu sein, bis heute kaum hinterfragt wird und an gängigen Rechtsnormen, die einen Opportunismus schwarzer US-Bürger erzwingen. Viele Neuerscheinungen der sogenannten Critical-Whiteness-Forschung bleiben bei der Beschreibung des Rassismus im Ungefähren. Im Gegensatz dazu besticht dieses Sachbuch durch seine Präzision.

Sozialistische Staaten schützen, dem Namen und oft auch der Verfassung nach, die Interessen ihrer Arbeiter in besonderem Maße. Und so ist es immer wieder interessant, wenn aus solchen Staaten Informationen nach außen dringen, die vom exakten Gegenteil künden. Miserable Arbeitsbedingungen, ausbeuterische und unterbezahlte Arbeit sowie eine hohe Suizidrate sind aus der chinesischen Elektronikindustrie bekannt. Ähnliches, wenn auch ohne Suizide, gilt für die chinesische Autoindustrie, wenn man der neuen Studie »Arbeitskämpfe in Chinas Autofabriken« der Soziologieprofessorin Zhang Lu aus den USA folgt. Auf der Grundlage ihrer Dissertation hat die Soziologin in den Jahren 2004 bis 2011 »Arbeitsverhältnisse und Arbeiterwiderstand« in diversen Autofabriken in China untersucht. Sie konnte als Forscherin vor Ort mit Managern, Politkadern, Gewerkschaftern und Arbeitern sprechen. Herausgekommen ist ein empirisch hervorragend abgesichertes Buch, das vor allem die Spaltung der chinesischen Arbeiterschaft in Festangestellte und schlechter gestellte Zeitarbeiter sowie noch schlechter gestellte Praktikanten beschreibt. Und doch: Widerstand in Form von wilden Streiks ist möglich; je geschlossener sich die Arbeiterschaft gegen Ausbeutung, Spaltung und für höhere Löhne einsetzt, desto mehr Erfolg ist ihr beschieden.

Toni Morrison: Die Herkunft der anderen. Aus dem  Englischen von Thomas Piltz. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2018. 112 Seiten, 16 Euro.

Flüchtiger Aufstand »Sehen wir noch etwas ineinander, außer der Erinnerung an unser Scheitern?«, fragt sich Khalid, der Protagonist von Omar Robert Hamiltons Roman »Stadt der Rebellion«. Die Entwicklungen nach den Massenprotesten in Kairo im Jahr 2011 haben nicht nur dazu geführt, dass sich die revolutionären Absichten des jungen Mannes in nichts aufgelöst haben, auch seine Liebesbeziehung zu Mariam steht auf der Kippe. In seinem Debütroman zeichnet der Autor aus der Sicht der Aufständischen nach, wie die Proteste ihren Anfang nahmen, wie sie zum Sturz des Despoten Husni Mubarak führten, wie Mohammed Mursi und die Muslimbrüder die folgende Wahl gewannen, wie Mursi kurz darauf vom Militär gestürzt wurde und sich die Herrschaft von General Abdel Fatah al-Sisi festigte. Hamiltons Figuren wollen all das nicht. Sie träumen von einer Revolution, diskutieren Demokratie, Liberalismus, Anarchie und neue Formen des Zusammenlebens. Dabei nutzen sie die modernen medialen Möglichkeiten – sie drehen Filme, nehmen Podcasts auf und informieren via YouTube, Twitter und Facebook. Und doch müssen sie dabei zusehen, wie ihre »digitale Stadt« zu einer Metropole »der gefilterten Kontrolle« wird, in der Festnahmen, Folter, sexuelle Gewalt und Mord an der Tagesordnung sind. »Stadt der Rebellion« ist ein sympathisch-temporeiches Buch über die Flüchtigkeit des Aufstands in Ägypten. Omar Robert Hamilton: Stadt der Rebellion. Aus dem Englischen von Brigitte Walitzek. Wagenbach, Berlin 2018. 320 Seiten, 24 Euro.

Zhang Lu: Arbeitskämpfe in Chinas Autofabriken.  Aus dem Englischen von Ralf Ruckus. Mandelbaum, Wien 2018. 436 Seiten, 20 Euro.

Mandelas Magie »Nur wenige haben ein so großes Verlangen nach Freiheit, dass sie dafür unter Einsatz ihres Lebens kämpfen, ihre Gesundheit gefährden, gefürchteten Autoritäten widersprechen, Zivilcourage zeigen oder Nachteile – bei der Karriere, der Versorgung von Gütern, dem Zugang zur Bildung – in Kauf nehmen.« Nelson Mandela zählte zweifellos zu jenen wenigen, von denen Christian Nürnberger hier spricht. Anlässlich des 100. Geburtstags Mandelas spürt der Autor, der für seine Sachbuchreihe »Mutige Menschen« mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde, dem südafrikanischen Freiheitskämpfer nach. Auf knapp 30 Seiten gelingt es ihm, ein eindringliches Bild von Mandela, dessen Lebensweg, Überzeugungen und Willenskraft zu zeichnen. Ergänzt wird seine biografische Erzählung durch die Ausführungen des Politologen und Südafrikakenners Stephan Kaußen: Auch für jüngere Leser leicht verständlich verortet er Mandelas Vermächtnis im heutigen »neuen Südafrika«, bettet dessen Wirken in den weltpolitischen Rahmen ein und versucht, die »Madiba Magic«, die »spezielle Aura dieses Nelson Mandela, seinen regelrecht vorgelebten Humanismus« greifbar zu machen. Der facettenreiche Blick, der auch das berücksichtigt, was nicht im Sinne Mandelas verwirklicht wurde oder werden konnte, lässt dessen Größe erkennen und die Faszination verstehen, die auch fast fünf Jahre nach seinem Tod noch von ihm ausgeht. Christian Nürnberger, Stephan Kaußen: Nelson Mandela. Gabriel, Stuttgart 2018. 112 Seiten, 12,99 Euro. Ab 13 Jahren.

Bücher: Maik Söhler, Marlene Zöhrer BÜCHER

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Digitales Elend

Hommage an die Revolutionäre

Die größte Elektroschrottdeponie Europas befindet sich in Afrika: »Sodom« oder auch »Toxic City« nennt man den Stadtteil Agbogbloshie in Ghanas Hauptstadt Accra. 250.000 Tonnen ausrangierte Teile der digitalen Wohlstandsgesellschaft landen hier jährlich: Computer und Smartphones, Drucker, Klimaanlagen, Kabel. 6.000 Menschen arbeiten und leben auf der Deponie, laut Experten müssten sie nach spätestens zwei Stunden von hier verschwinden. Die Schadstoffkonzentration ist immens: Überall brennen Feuer, um die Metalle aus den Geräten herauszukochen. Der Dokumentarfilm »Welcome to Sodom« lässt jene zu Wort kommen, die hier Metalle sammeln und Computerbildschirme demontieren. Es dürfte einer der dreckigsten und giftigsten Orte der Welt sein. Und dennoch gibt es mittendrin Viehzucht, Fußballspiele und Geschäfte aller Art. Dieser Film kann als Kommentar zu Weltwirtschaft und zum globalen Wohlstandsgefälle gesehen werden. Der Alltag auf der Müllkippe bietet bizarre Szenen. Etwa wenn zwei Sammler auf ein Mobiltelefon stoßen, auf dem noch die Urlaubsbilder einer weißen Familie gespeichert sind, oder wenn ein homosexueller Jude erzählt, dass dies einer der wenigen Orte ist, an dem er sich sicher fühlt, oder wenn ein Mädchen die Geschlechtsidentität nach Belieben wechselt, um besser durchs Leben zu kommen. Eine vielfältige Wirklichkeit, in spektakulären Bildern erzählt: Mehr Kino geht nicht.

Seun Kuti ist der jüngste Sohn des 1997 verstorbenen Afrobeat-Erfinders Fela Kuti. Nach dessen Tod übernahm er dessen Band, Egypt 80. Seit gut zehn Jahren hat er sich aus dem Schatten seines Vaters gelöst und einen eigenen Ruf erspielt. Auf dem Cover seines neuen Albums zeigt sich Seun Kuti nun mit schwarzem Beret und dicker Zigarre, eine Kreuzung aus militantem Black-Panther-Aktivisten und kubanischem Comandante – als »letzter Revolutionär«, wie der Eröffnungssong heißt. Darin zählt Kuti seine Vorbilder auf, von ermordeten afrikanischen Staatschefs wie Thomas Sankara über Patrice Lumumba bis zum US-Bürgerrechtler Kwame Ture alias Stokely Carmichael. Auch der Vater darf nicht fehlen. Das Album ist eine Hommage an große Männer, die sich für einen radikalen gesellschaftlichen Wandel eingesetzt haben. Die scharfe Anklage korrupter Machthaber in Nigeria und globaler Eliten, des Brain Drains der afrikanischen Mittelschichten sowie die Feier eines panafrikanischen Bewusstseins sind quasi Familientradition. Funk-Bläser, treibende Percussion und mitreißende Call-and-Response-Chants kleiden diese Botschaften in ein äußerst ansprechendes, zeitgemäßes Gewand. Illustre Gäste wie der Rapper Yasiin Bey (früher Mos Def) und die Gitarren-Legende Carlos Santana geben sich ein Stelldichein. Seun Kuti zeigt: Der afrikanische Traum lebt.

»Welcome to Sodom«. A/GH 2018. Regie: Christian  Krönes, Florian Weigensamer. Kinostart: 2. August 2018

Not macht keine Ferien »Halten Sie sich fern, greifen Sie nicht ein, Hilfe ist unterwegs!« Eindringlich fordert die Küstenwache die Ärztin Rike auf, sich nicht einem Schiff mit Flüchtlingen zu nähern und auf ihrem Segelboot zu bleiben. Die Medizinerin, die einen Segeltörn von Gibraltar aus in den Atlantik unternommen hat, um sich für ein paar Tage von ihrem stressigen Alltag in der Klinik zu erholen, steht vor einer schwierigen Entscheidung: Ihr hippokratischer Eid gebietet es ihr, den in Not geratenen Menschen auf dem sinkenden Seelenverkäufer zu helfen. Die ersten springen ins Wasser, bald schwimmt ein Kind längsseits, mit schweren Treibstoffverätzungen auf der Haut. Andererseits ist da die Angst, sich den Behörden zu widersetzen: Aber die Hilfskräfte lassen auf sich warten, und es ist zu vermuten, dass sie nie kommen werden. In seinem Drama »Styx« erzählt Regisseur Wolfgang Fischer vom Zusammenprall zwischen der europäischen Freizeitgesellschaft und dem Elend des Flüchtlingsdaseins und davon, wie eine starke Frau unvermittelt von der Ersten in die Dritte Welt gerissen wird. Die Kameraarbeit rund um die zentrale Figur der Rike, hervorragend gespielt von Susanne Wolf, ist leider nicht frei von Voyeurismus. Das wirkt sich nicht unbedingt positiv auf das Gesamtwerk aus. Dennoch ist dies ein sehenswertes Filmexperiment auf hoher See. Der Hauptdarsteller dieser Tragödie: der sichere Tod. »Styx«. D/A 2018. Regie: Wolfgang Fischer.  Darsteller: Gedion Oduor Wekesa, Susanne Wolff.  Kinostart: 9. August 2018

Seun Kuti & Egypt 80: Black Times (Strut Records / Groove Attack)

Klangvoller Stimmverlust Die palästinensische Sängerin Rim Banna ist im März diesen Jahres gestorben, sie wurde gerade einmal 51 Jahre alt. Zu ihrer Beerdigung in ihrer Heimatstadt Nazareth kamen Hunderte Menschen. Rim Banna war eine Symbolfigur des friedlichen palästinensischen Protests gegen Besatzung und Unterdrückung. Sie trat oft in traditionellen Gewändern auf und verstand sich als politische Aktivistin, verfolgte in ihrer Musik aber einen durchweg modernen und subjektiven Ansatz. Durch ein Krebsleiden waren ihre Stimmbänder zuletzt teilweise gelähmt, und sie konnte deshalb nicht mehr singen. Dennoch nahm sie noch ein letztes Album auf, es ist ihr Vermächtnis geworden. Auf »Voice of Resistance« verarbeitete sie ihre Krankheit auf ungewöhnliche Weise. Das tunesische Elektronik-Kollektiv Checkpoint 303 wandelte die Daten ihrer medizinischen Untersuchungsergebnisse, die Computertomographie-Scans und Röntgenbilder, in Töne um und baute daraus meditative Soundscapes. Der norwegische Jazz-Pianist Bugge Wesseltoft steuerte zarte Piano-Improvisationen bei. Rim Banna sang und rezitierte dazu Gedichte, in denen sie ihren Kampf gegen die Krankheit mit ihrem Einsatz für die Rechte der Palästinenser verwob. Ihre Poesie und die jazzigelektronischen Melodien verschmelzen zu einem experimentellen Klangkunstwerk, dessen Wirkung man sich kaum entziehen kann. Die arabische Musikwelt hat mit Rim Banna eine außergewöhnliche Stimme verloren. Rim Banna feat. Checkpoint 303 and Bugge Wesseltoft: Voice of Resistance (Kirkelig / Indigo)

Film: Jürgen Kiontke | Musik: Daniel Bax 62

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2018


Soundtrack zum Widerstand Mit seinem neuen Album »Heaven & Earth« gelingt dem gefeierten Tenorsaxofonisten Kamasi Washington die Repolitisierung des Jazz. Von Thomas Winkler

FILM & MUSIK

Foto: Promo

J

azz ist wieder, Achtung, politisch relevant. Ein bis vor Kurzem noch vollkommen absurder Satz. Jazz? Das war doch Musik für Studienräte. Hintergrundbeschallung in der Cocktailbar. Jazz war viel Vergangenheit, wenig Gegenwart und keine Zukunft. Doch nun ist alles anders. Dank Kamasi Washington ist Jazz plötzlich wieder aufregend. Zeitgemäß. Mitreißend. Und ja, vor allem das: politisch. Denn dem Tenorsaxofonisten aus Los Angeles, der sich zunächst Meriten als prägender Mitarbeiter von Rap- und Pop-Größen wie Snoop Dogg, Lauryn Hill und Kendrick Lamar erworben hat, ist es gelungen, den Jazz musikalisch wiederzubeleben. Mit seiner eigenen Band schloss er das altehrwürdige Gewerbe mit den afro-amerikanischen Gegenwartsmusiken HipHop und R&B kurz und entriss es so der Deutungshoheit weißer Akademiker. Washingtons aktuelles Album »Heaven & Earth« nimmt außerdem ganz unverblümt und ausdrücklich auf die aktuelle gesellschaftliche Situation in den USA Bezug – für den oft um Worte verlegenen Jazz ist dies immer noch eine Sensation. Nahezu zweieinhalb Stunden lang geht es auf »Heaven & Earth« auf und ab, vor und zurück, durch die Geschichte des Jazz und hinein in seine Zukunft. Das neue Doppelalbum des 34-Jährigen ist musikalisch noch breiter angelegt als der gefeierte Erstling »The Epic« vor drei Jahren. Zwar bezieht sich Washington erneut auf große Momente des Jazz, vor allem auf den von ihm verehrten John Coltrane und den Spiritual Jazz, den dieser mit seinem Meisterwerk »A Love Supreme« aus der Taufe gehoben hatte. Aber Washington zeigt auch neue Wege auf, die nicht zwangsläufig in eine immer größere Komplexität münden: Bei ihm schwingen sich Chöre auf in die höchsten Sphären, Melodien beschreiben epische Bögen, und die beiden Schlagzeuger klöppeln sich durch vertrackte Polyrhythmen. Immer wieder scheinen die selten unter zehn Minuten langen Stücke in Richtung Filmmusik abzuheben und eine Cinemascope-Leinwand auszufüllen. Washingtons Idee von Jazz ist immer eingängig, ja massenwirksam, weil weniger verkopft als die anderer Jazz-Musiker. Bei ihm ist Jazz eine Musik, die sich nicht nur an sich selbst berauscht, sondern vor allem einen Blick auf die Welt wirft. Eine Welt, die immer noch von Rassismus und Sexismus bestimmt wird. Gleich im Eröffnungssong »Fists of Fury« greift Washington aktuelle Diskussionen über Polizeibrutalität in den USA, #BlackLivesMatter und #MeToo auf, wenn eine Frauenstimme immer wieder das Selbstermächtigungsmantra vorträgt: »Our time as victims is over. We will no longer ask for justice. Instead we will take our retribution.« Opfer. Gerechtigkeit. Vergeltung. Und dazu Musik, die ebenso groß ist wie diese Worte. Musik, die stolz wieder das werden will, was sie lange nicht mehr war: Träger von Protest, Soundtrack zum Umsturz, Rhythmus des Wandels. Ja, Jazz ist politisch. Zumindest der von Kamasi Washington.

Kamasi Washington: »Heaven & Earth« (Young Turks/XL/ Beggars Group/Indigo)

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MACH MIT: BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt, oder man lässt sie verschwinden. AMNESTY INTERNATIONAL veröffentlicht regelmäßig an dieser Stelle drei Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden.

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Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes.

ÄGYPTEN HANAN BADR EL-DIN Am 27. Juni verlängerte ein Gericht die Haftanordnung für Hanan Badr el-Din erneut um 45 Tage. Sie befindet sich schon seit mehr als einem Jahr in Haft. Die ägyptischen Behörden hatten die Menschenrechtlerin im Mai 2017 unter dem Vorwurf festgenommen, einer verbotenen Vereinigung anzugehören. Amnesty International betrachtet den Vorwurf als konstruiert und geht davon aus, dass sie inhaftiert wurde, um ihre Menschenrechtsarbeit zu unterbinden. Hanan Badr el-Din setzt sich gegen das »Verschwindenlassen« von Menschen in Ägypten ein. Ihr Engagement begann, nachdem ihr Mann Khalid Ezz el-Din am 27. Juli 2013 nach einer Protestveranstaltung gegen den Militärputsch »verschwand«. Sie suchte Krankenhäuser, Polizeiwachen und Leichenhallen auf, um etwas über sein Schicksal zu erfahren – ohne Erfolg. Dabei traf sie auf Menschen, die ebenfalls nach Angehörigen suchten,

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und gründete zusammen mit ihnen die Organisation »Familien von Opfern des Verschwindenlassens«. Im Dezember 2017 forderten weltweit Tausende Menschen beim Amnesty-Briefmarathon die Freilassung von Hanan Badr el-Din. Im Februar 2018 startete Amnesty eine Eilaktion für sie, da ihr medizinische Versorgung verweigert wurde. Am 22. Februar erhielt sie die benötigten Medikamente. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Innenminister und bitten Schicken Sie bitte auch Solidaritätsbriefe ohne religiöse Äußerungen ins Gefängnis. Amnesty International können Sie erwähnen. Folgenden kurzen Text könnten Sie schreiben: »We stand with you Hanan Badr el-Din. From Name, Land« Frau Hanan Badr el Din c/o Halim Henesh Cairo Center for Law 4a Al Saraya Al Kobra street, flat 2, Garden city, Kairo, ÄGYPTEN

Sie ihn, sich dafür einzusetzen, dass Hanan Badr el-Din freigelassen und alle Anklagen fallen gelassen werden. Bitten Sie außerdem darum, dass sie ungehinderten Zugang zu medizinischer Versorgung erhält. Schreiben Sie in gutem Arabisch, Englisch oder auf Deutsch an: Innenminister Mahmoud Tawfik Ministry of the Interior 25 El Sheikh Rihan Street Bab al-Louk, Kairo, ÄGYPTEN Fax: 002 02 - 2 794 552 E-Mail: center@iscmi.gov.eg oder E.HumanRightsSector@moi.gov.eg Twitter: @moiegy (Anrede: Dear Minister / Sehr geehrter Herr Minister) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,90 €)

Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an Botschaft der Arabischen Republik Ägypten S. E. Herrn Badr Ahmed Mohamed Abdelatty Stauffenbergstraße 6–7, 10785 Berlin Fax: 030 - 477 10 49 E-Mail: embassy@egyptian-embassy.de (Standardbrief: 0,70 €)

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trag abgelehnt und ihre Abschiebung aus den USA angeordnet. Ihr Rechtsbeistand legte Rechtsmittel gegen die Entscheidung ein. Bis zum Ende des Berufungsverfahrens muss Alejandra vor Abschiebung geschützt werden. Ein Antrag auf Haftentlassung aus humanitären Gründen wurde von den Behörden bereits zum zweiten Mal abgelehnt, obwohl sich Alejandras Gesundheitszustand verschlechtert hat und sie dringend angemessene medizinische Versorgung benötigt.

USA ALEJANDRA Alejandra ist eine 43-jährige Transfrau aus El Salvador. In ihrem Heimatland war sie als Kosmetikerin tätig und engagierte sich für die Menschenrechte. Aufgrund ihrer Geschlechtsidentität als Transfrau wurde sie zwischen 2013 und 2016 immer wieder von Mitgliedern einer Gang angegriffen und sexuell genötigt, weshalb sie schließlich in die USA floh und dort Asyl beantragte. Derzeit befindet sich Alejandra im US-Bundesstaat New Mexico in Haft. Am 15. Juni wurde Alejandras Asylan-

Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den stellvertretenden Leiter des örtlichen Büros der Einwanderungs- und Zollbehörde und fordern Sie ihn auf, sicherzustellen, dass Alejandra (Aktenzeichen der US-Einwanderungsbehörde: A# 216-269-450) umgehend aus humanitären Gründen freigelassen wird, bis endgültig über ihren Asylantrag entschieden worden ist. Bitten Sie ihn zudem, so viele Asylsuchende wie möglich aus humanitären Gründen freizulassen, insbesondere wenn es sich um Lesben,

Briefentwürfe auf Englisch und Deutsch finden Sie unter www.amnesty.de/briefe. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie sie bitte an: info@amnesty.de

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BURUNDI ESDRAS NDIKUMANA

Der Journalist Esdras Ndikumana wurde am 2. August 2015 vom Geheimdienst festgenommen, als er den Ort eines Anschlags fotografierte, bei dem General Adolphe Nshimirimana getötet wurde. Anschließend wurde er in der Zentrale des Geheimdienstes in der Hauptstadt Bujumbura seinen Angaben zufolge etwa zwei Stunden lang gefoltert. Nach seiner Freilassung schilderte er Amnesty International, was geschehen war: »Ich machte gerade Fotos und befragte Leute am Ort des Anschlags, als ich plötzlich von Geheimdienstangehöri-

BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN

Schwule, Bisexuelle, Trans- und Intergeschlechtliche (LGBTI) oder um Menschen mit akuten Beschwerden handelt. Schreiben Sie in gutem Englisch oder auf Deutsch an: Stellvertretender Leiter des örtlichen Büros der Einwanderungs- und Zollbehörde (ICE) Mr. Joe Renteria ICE-ERO El Paso Field Office 11541 Montana Ave Suite E El Paso, TX, 79936, USA E-Mail: Jose.A.Renteria@ice.dhs.gov (Anrede: Dear Mr. Renteria / Sehr geehrter Herr Renteria) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,90 €)

Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika S. E. Herrn Richard Allen Grenell Clayallee 170, 14191 Berlin Fax: 030 - 83 05 10 50 E-Mail: feedback@usembassy.de (Standardbrief: 0,70 €)

AMNESTY INTERNATIONAL Zinnowitzer Straße 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0, Fax: 030 - 42 02 48 - 488 E-Mail: info@amnesty.de, www.amnesty.de

gen festgenommen und zusammengeschlagen wurde. Sie brachten mich in ihre Zentrale im Stadtzentrum. Sie schlugen mich immer wieder, über lange Zeit, mit Schlagstöcken und Stahlrohren. Sie traten mich, sie schlugen mich überall, einer meiner Finger ist gebrochen, und meine Fußsohlen schmerzen sehr.« Weil er um sein Leben und das seiner Familie fürchtete, floh Esdras Ndikumana nach Frankreich, wo er einen Asylantrag stellte. Mitte August 2015 versprach Präsident Pierre Nkurunziza, die Foltervorwürfe untersuchen zu lassen und die Täter strafrechtlich zu verfolgen. Dies ist jedoch bis heute nicht geschehen. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Generalstaatsanwalt von Burundi und bitten Sie ihn, umgehend eine umfassende und unabhängige Untersuchung der von Esdras Ndikumana erhobenen Foltervorwürfe einzuleiten und die Verantwortlichen in einem fairen Verfah-

ren vor ein ordentliches Gericht zu stellen. Bitten Sie ihn außerdem, dafür einzutreten, dass Esdras Ndikumana eine angemessene Entschädigung für das erlittene Leid erhält. Schreiben Sie in gutem Kirundi, Französisch, Englisch oder auf Deutsch an: Sylvestre Nyandwi Parquet General de la République BP 105, Bujumbura, BURUNDI (Anrede: Dear Prosecutor General / Sehr geehrter Herr Generalstaatsanwalt / Monsieur le Procureur Générale) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,90 €)

Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Burundi I. E. Frau Else Nizigama Ntamagiro Berliner Straße 36, 10715 Berlin Fax: 030 - 23 45 67 20 E-Mail: info@burundi-embassy-berlin.com (Standardbrief: 0,70 €)

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Fotos: privat

AKTIV FÜR AMNESTY

Auf den Spuren der Tour-Sieger. Heinz Klein auf dem Weg zum Gipfel des Mont Ventoux, September 2017.

RADELN FÜR DIE MENSCHENRECHTE 1.912 Meter hoch ist der Gipfel des Mont Ventoux in der französischen Provence, bekannt als Etappenziel der Tour de France. Der pensionierte Zahnarzt Heinz Klein erklomm ihn vergangenen Herbst mit dem Fahrrad und sammelte dabei 5.000 Euro für Amnesty. Damit hat er den zweithöchsten Spendenbetrag in der Geschichte von »Amnesty in Bewegung« erradelt. Das Projekt ermöglicht es jedem, sich mit Sport für die Menschenrechte einzusetzen – sei es beim Laufen, Radfahren, Schwimmen oder Fußball. Indem man sich von Familienmitgliedern oder Freunden für die Teilnahme an einem Sportereignis sponsern lässt, wird der körperliche Einsatz zum menschenrechtlichen. Dann gibt es beispielsweise für jeden gelaufenen Kilometer beim Marathon oder jeden gewonnenen Satz beim Tennis eine Spende zugunsten von Amnesty. Für die Fahrt auf den Mont Ventoux brauchte Klein nur etwa drei Stunden. Doch er bereitete sich mehrere Monate darauf vor. Denn um den Gipfel zu erreichen, fährt man 21 Kilometer am Stück bergauf. Klein zweifelte jedoch nicht daran, seine beiden Ziele zu erreichen. »Genauso wie ich im Anblick des Gipfels mein Fahrrad zur Not die letzten zwei Kilometer noch hochgeschoben hätte, genauso werde ich auch nachschieben, wenn das Spendenziel sonst nicht erreicht wird«, schreibt er auf seinem Blog »Für Freiheit kämpfen«, auf dem er regelmäßig über den Radsport und das Engagement für Amnesty berichtet. Schieben musste er letztendlich nicht, und auch das Spendenbarometer lag zum Schluss bei 4.900 Euro. Der fehlende Hunderter kam von seinem Schwager. Am meisten spendete Kleins Tochter für die Gipfeltour. Der Rest kam von Verwandten, Freunden, ehemaligen Patienten und einer Clique aus der UniZeit. Amnesty-Mitglied ist Klein schon seit seinem Studium, 1975 schloss er sich der Bewegung an. »Ich war damals schon bei meinen Kommilitonen dafür bekannt, dass ich immer mit der Unterschriftenliste in der Hand ankomme«, erzählt der 64-

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Jährige. Auch heute habe er bei Treffen immer eine Petition dabei, die alle unterschreiben müssten. »Da gibt es keine Diskussionen«, erzählt er lachend. Vor einigen Jahren war Klein auf das Projekt »Amnesty in Bewegung« aufmerksam geworden. Im Ruhestand beschloss er dann, seiner Leidenschaft für das Radfahren intensiver nachzugehen und gleichzeitig einen Beitrag für die Menschenrechte zu leisten. »Weil ich selbst Wert auf meine persönlichen Freiheiten lege, bin ich auch für die Freiheit von anderen«, sagt er. »Für die Arbeit von Amnesty sind Ausdauer, Geduld und Biss erforderlich, ähnlich wie beim Radfahren.« Geduld und Biss wird Klein auch für seine nächste Aktion brauchen. Denn inspiriert vom Preisgeld des Amnesty-Menschenrechtspreises plant er eine Radtour im Wert von 10.000 Euro. Ob er dafür 10.000 Höhenmeter zurücklegt, 1.000 Kilometer fährt oder innerhalb von zehn Tagen zehn Bundesländer durchradelt, ist noch offen.

Ausdauernd. Heinz Klein.

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2018


45 JAHRE, 15.000 FÄLLE UND IMMER NOCH IN EILE Am Abend des 15. Februar 1973 stürmten Angehörige der brasilianischen Militärpolizei das Haus des Wirtschaftsprofessors und Aktivisten Luiz Basilio Rossi in São Paulo. Seine Frau Maria José wurde unter Hausarrest gestellt, doch gelang es ihr, einen Zettel mit einem Hilferuf aus dem Fenster zu werfen, der über Umwege zu Amnesty International gelangte. Einen Monat später startete die AmnestyMitarbeiterin Tracy Ulveit-Moe eine Eilaktion: Sie rief Menschen dazu auf, Briefe an die brasilianische Militärregierung zu schreiben und Rossis Freilassung zu fordern. Damit war vor 45 Jahren die erste Eilaktion (Urgent Action) geboren – eine der

wichtigsten Aktionsformen von Amnesty International. Und sie hatte Erfolg: Rossi wurde im Oktober 1973 freigelassen. Bis heute sind Urgent Actions ein wichtiges Druckmittel der Zivilgesellschaft; auch wenn die Briefe heute eher per Twitter, E-Mail und Facebook verschickt werden, statt per Fernschreiben, Telefax und Luftpost. Aber auch die analogen Briefeschreiberinnen und -schreiber gibt es nach wie vor, sagt Mascha Rohner, die die täglich eintreffenden Urgent Actions für die deutsche Amnesty-Sektion aus dem Englischen übersetzt. Sie und ihr Team leiten die deutschen Aufrufe dann an die Amnesty-Sektionen in Österreich und der

Schweiz weiter sowie an Ehrenamtliche, die sie wiederum in ihren Netzwerken verteilen oder selbst Briefe schreiben. »Online können sich die Menschen sehr schnell und in großer Masse beteiligen«, sagt sie. »Aber auch wenn wochenlang Briefe eintrudeln, macht das ganz schön Eindruck.« Seit der Geburtsstunde der Urgent Action im März 1973 gab es bereits 15.000 Eilaktionen für Menschen aus aller Welt.

HER MIT DEM HEFT

Sie haben das Amnesty Journal zufällig in die Hände bekommen und Lust auf weitere Ausgaben? Das Journal landet alle zwei Monate bei all jenen im Briefkasten, die die Arbeit von Amnesty International mit mindestens 5 Euro pro Monat oder als Mitglied unterstützen. Mehr Infos unter: www.amnesty.de/foerdererwerden und www.amnesty.de/mitglied-werden

Foto: Amnesty

AKTIV FÜR AMNESTY

Mitglieder von Amnesty International versuchen auf vielfältige Art und Weise, Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme zu geben. Dazu zählen Aktionen und Veranstaltungen in vielen deutschen Städten. Wenn Sie mehr darüber erfahren oder selbst aktiv werden wollen: http://blog.amnesty.de www.amnesty.de/kalender

Einsatz mit Erfolg. Luiz Rossi mit Amnesty-Angestellten 1996 in London.

IMPRESSUM Amnesty International e.V. Zinnowitzer Str. 8 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 E-Mail: info@amnesty.de Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redak tion Amnesty Journal Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin E-Mail: journal@amnesty.de  Adressänderungen bitte an:  info@amnesty.de Redaktion: Markus Bickel (V.i.S.d.P.), Jessica Böhner,  Hannah El-Hitami,  Anton Landgraf,  Katrin Schwarz

AKTIV FÜR AMNESTY

Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit   lbrecht, Daniel Bax, Markus N. Beeko, A Judith Döker, Sam Dubberley, Tabea Gleiter, Oliver Grajewski, Tirana Hassan, Verena Hölzl, Jürgen Kiontke, Heike Kleffner, Julia Kleinewiese, Lena Reich, Wera Reusch, Uta von Schrenk, Anke Schwarzer, Maik Söhler, Peter Stäuber, Fabian Vehlies, Julia Wadhawan, Thomas Winkler, Kathrin Zeiske, Marlene Zöhrer Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck und Verlag: Hofmann Druck, Nürnberg GmbH & Co. KG

Bankverbindung: Amnesty International Bank für Sozialwirtschaft  IBAN: DE23 3702 0500 0008 0901 00 BIC: BFS WDE 33XXX  (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00) Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und  erscheint sechs Mal im Jahr.  Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.

und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, für die  Verbreitung im Internet oder für Vervielfältigungen auf CD-Rom.

ISSN: 2199-4587

Für  unverlangt eingesandte Artikel oder Fotos übernimmt die Redaktion keine Verantwortung. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder. Die  Urheberrechte für Artikel

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ABER SIE WERDEN VON VIELEN SEITEN ANGEGRIFFEN. JETZT UNSERE MENSCHENRECHTE SCHÃœTZEN UNTER AMNESTY.DE


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