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DAS MAGAZIN FÜR DIE MENSCHENRECHTE
AMNESTY JOURNAL
KAUM ZU BREMSEN DER KAMPF DER ZIVILGESELLSCHAFT UM IHRE RECHTE
VANDALISMUS IN VENEZUELA Schlägerbanden gehen gegen Bewohner von Armenvierteln vor
HOFFEN AUF ENTSCHÄDIGUNG Namibias Herero klagen gegen die Bundesregierung
RECHTSRUCK Neue Bücher über Populismus
10/11
2017 OKTOBER/ NOVEMBER
Unter Verdacht. Weltweit werden Menschenrechtsverteidiger von Regierungen schikaniert. In der Türkei sitzen sogar zwei Amnesty-Verantwortliche in Untersuchungshaft – ein einmaliger Vorgang in der langen Geschichte der Organisation.
INHALT
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TITEL: ZIVILGESELLSCHAFT UNTER DRUCK Türkei: Unter Verdacht
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Fremde im eigenen Land. Saudi-Arabien geht hart gegen Kritiker und Angehörige der schiitischen Minderheit im Osten des Landes vor. Zugleich verändert ein rasanter sozialer Wandel das Königreich.
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Bärbel Kofler: »Meine stärkste Waffe ist die Öffentlichkeit« 18 Ungarn: Alle Macht dem Ministerpräsidenten
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Russland: Auf eigenes Risiko
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Saudi-Arabien: Fremde im eigenen Land
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THEMEN Venezuela: Tropischer Vandalismus
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Brasilien: Langsamer Tod am süßen Fluss
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Mauretanien: Den Atlantik vor Augen
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Namibia: Bedauern ohne zu bezahlen
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Jürgen Zimmerer: »Unkenntnis sorgt für Verklärung«
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Deutschland: Ehren, wem Ehre gebührt
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Porträt: Yam Bahadur Kisan
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Dranbleiben: Killerroboter, Afghanistan, Jemen
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Langsamer Tod am süßen Fluss. Die größte Umweltkatastrophe in der Geschichte Brasiliens hat das Leben der indigenen Krenak für immer verändert.
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KULTUR Buchmesse Frankfurt: Rückkehr nach rechts
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USA: Kulturlos
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Nir de Volff: Die Angst tanzen
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Bangladesch: »In den Cafés herrscht Schweigen«
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Guy Delisles »Geisel«: 111 Tage Unfreiheit
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»Die Nile Hilton Affäre«: Im Sumpf
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Die Angst tanzen. Der israelische Choreograf Nir de Volff arbeitet mit geflüchteten syrischen Tänzern in Berlin – eine Auseinandersetzung mit Traumata und Feindbildern.
RUBRIKEN Panorama 04 Einsatz mit Erfolg 06 Markus N. Beeko übers Einmischen 07 Kolumne: Simon Ramirez-Voltaire 09 Spotlight: Kampf gegen den Islamischen Staat 10 Interview: Elisa Stein 11 Rezensionen: Bücher 67 Rezensionen: Film & Musik 68 Briefe gegen das Vergessen 70 Aktiv für Amnesty 74 Impressum 75
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AMNESTY JOURNAL | 10-11/2017
Alle Macht dem Premier. Viktor Orbán geht hart gegen die Zivilgesellschaft vor. Das neue NGO-Gesetz folgt russischem Vorbild – und verstößt gegen EURecht.
20 Tropischer Vandalismus. Gewalt statt Sozialismus: In Venezuela gehen regierungstreue Schlägerbanden gegen Bewohner von Armenvierteln vor.
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Rückkehr nach rechts. Mit Frankreich hat die Frankfurter Buchmesse ein Gastland gewählt, in dem die extreme Rechte gerade noch in Schach gehalten werden konnte. Die Frage, ob ihr Aufstieg in Europa gebremst ist, beschäftigt derzeit einige Autoren.
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Titelbild: Cartoon aus der türkischen Tageszeitung BirGün, 22. November 2015. Mit freundlicher Genehmigung des AvantVerlags dem Buch »Schluss mit Lustig« entnommen. Zeichnung: Zeynep Özatalay Fotos oben: Galip Tekin + Erdal Belenlioğlu / Uykusuz | Attila Volgyi / Polaris / laif | Edgard Garrido / Reuters Daniel Blanco | Nicoló Lanfranchi | Vincent Boisot / Riva Press / laif | Bernhard Musil Foto Editorial: Sarah Eick / Amnesty
INHALT
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EDITORIAL
NESTBESCHMUTZER, TERRORISTEN, … … Vaterlandsverräter: Die Liste der Schmähungen, mit der autoritäre Regime Aktivisten, Menschenrechtsverteidiger und Journalisten bedenken, ist lang. Vor allem Regierungschefs, die sich in ihrer Macht bedroht sehen, greifen hart durch gegen die Zivilgesellschaft. Dabei sind Basisorganisationen, Initiativen und Vereine gerade in diesen Ländern besonders wichtig. Oft sind sie die einzigen, die den Herrschenden auf die Finger schauen und Verantwortung und Transparenz einfordern, um Korruption und Machtmissbrauch zu stoppen. In dieser Ausgabe des Journals werfen wir einen Blick darauf, wie zivilgesellschaftliche Akteure diesem globalen Trend trotzen – nicht wenige riskieren dabei ihr Leben. Die Weltallianz für Bürgerbeteiligung Civicus hat festgestellt, dass sechs von sieben Milliarden Menschen in Ländern leben, in denen die freie Ausübung von Menschenrechten nur auf dem Papier garantiert ist. Vor allem die Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit werden zunehmend eingeschränkt. Dass das für die Türkei gilt, konnten Sie im Journal immer wieder lesen – insbesondere seit dem vereitelten Putsch gegen Präsident Recep Tayyip Erdoğan im Sommer 2016 (Seite 15). Aber auch in Staaten Afrikas, Lateinamerikas und Asiens werden soziale Bewegungen, lokale Gemeinschaften und zivilgesellschaftliche Organisationen öffentlich diffamiert, bedroht und kriminalisiert. Aktivisten wie Pierre Claver Mbonimpa aus Burundi (Seite 19) und der Nepalese Yam Bahadur Kisan (Seite 48) lassen sich davon nicht beirren, sondern kämpfen weiter. Ebenso wie die Frauen Chiles, denen es im Sommer immerhin gelungen ist, nach einem jahrzehntelangen totalen Abtreibungsverbot das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche unter bestimmten Bedingungen durchzusetzen (Seite 8). »Einmischen für Menschenrechte!« lautete die Devise von Amnesty im Bundestagswahlkampf – dies gilt auch für Europa. Denn dass freie Meinungsäußerung keine Selbstverständlichkeit ist, sondern Tag für Tag neu verteidigt werden muss, zeigen die Entwicklungen etwa in Ungarn (Seite 20). Dort wehren sich Tausende gegen die Einschränkungen bürgerlichen Engagements durch die Regierung Victor Orbáns. Markus Bickel ist Verantwortlicher Redakteur des Amnesty Journals.
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PANORAMA
Foto: Adam Dean / The New York Times / Redux / laif
MYANMAR: ETHNISCHE SÄUBERUNGEN IN ROHINGYA-GEBIETEN
Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte ließ keine Zweifel offen: »Es sieht alles aus wie ein Paradebeispiel für ethnische Säuberungen«, sagte Said Raad al-Hussein im September in Genf über die Gewalt im Bundesstaat Rakhine im Westen Myanmars. Mehr als 400.000 Angehörige der unterdrückten muslimischen Minderheit der Rohingya waren in den Wochen zuvor Richtung Bangladesch geflohen. Im August hatte sich die Situation in dem von Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi regierten Land verschärft: Das Militär startete eine Offensive, nachdem die muslimische Gruppe Arakan Rohingya Salvation Army Polizei- und Grenzposten angegriffen hatte. Flüchtlinge berichteten, dass ihre Häuser niedergebrannt und Familienangehörige von Soldaten erschossen worden seien. Friedensnobelpreisträger wie der Dalai Lama, Malala Yousafzai und Desmond Tutu forderten die 1991 mit dem Preis ausgezeichnete Suu Kyi deshalb auf, etwas gegen die Gewalt zu unternehmen – vergebens. »Ethnische Säuberung ist ein zu hartes Wort, um zu beschreiben, was dort passiert«, hatte sie im Frühjahr in einem Interview gesagt, als bereits 400.000 Rohingya nach Bangladesch geflohen waren. Im September legte sie nach: »Terroristen« seien für die Gewalt verantwortlich; die Berichterstattung über ihr Land bestünde aus einem »gewaltigen Eisberg an Falschinformationen«. Mitte September forderte der UN-Sicherheitsrat Suu Kyis Regierung auf, »sofortige Schritte« zur Beendigung der Gewalt zu ergreifen.
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AMNESTY JOURNAL | 10-11/2017
USA: UN-AUSSCHUSS KRITISIERT TRUMP-REGIERUNG
Der UN-Menschenrechtsausschuss für die Beseitigung rassistischer Diskriminierung hat wegen der gewaltsamen Ausschreitungen in Charlottesville Beschwerde gegen die US-Regierung eingelegt. »Wir sind alarmiert wegen der rassistischen Demonstrationen mit rassistischen Slogans und Grußgesten von weißen Nationalisten, Neonazis und dem Ku-Klux-Klan, die weiße Vorherrschaft propagieren und Rassendiskriminierung und Hass schüren«, sagte die Ausschussvorsitzende Anastasia Crickley. Im August war bei einem Aufmarsch von Neonazis in Charlottesville im US-Bundesstaat Virginia ein mutmaßlicher Rechtsextremist mit einem Auto in eine Gruppe von Gegendemonstranten gefahren und hatte dabei eine Teilnehmerin getötet. US-Präsident Donald Trump hatte die Rechtsextremisten anschließend nicht explizit verurteilt, sondern Hass und Fanatismus »auf vielen Seiten« angeprangert. Eine Beschwerde des UN-Ausschusses verpflichtet Regierungen, weitere Verletzungen der Anti-Rassismus-Konvention zu verhindern. Zuletzt war 2016 Burundi dazu aufgerufen worden, 2014 der Irak. Foto: Mark Peterson / Redux / laif
PANORAMA
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EINSATZ MIT ERFOLG
LIBYEN Nach sieben Wochen Haft ist Salem Mohamed Beitelmal seit dem 6. Juni wieder auf freiem FuÃ&#x;. Ende April hatten Mitglieder  einer libyschen Miliz den Professor für Ingenieurwissenschaften auf dem Weg zur Uni versität in einem Vorort von Tripolis entführt. Aufgrund seiner Diabeteserkrankung muss er täglich Medikamente einnehmen, was ihm  jedoch während seiner Gefangenschaft nicht möglich war. An Tagen, an denen er keine  Medikamente erhielt, musste er die Nahrungsaufnahme reduzieren. Infolgedessen verlor  Salem Mohamed Beitelmal 30 Kilogramm an Gewicht. Zurück im Kreise seiner Familie verbessert sich sein Gesundheitszustand stetig.
SYRIEN Der syrisch-kurdische Oppositionelle Suleiman Abdulmajid Oussou ist Ende Juni aus der Haft entlassen worden. Er war einen Monat lang in einem Gefängnis in Qamischli festgehalten worden. Die Stadt in der kurdischen Region Syriens wird von der Partei der Demokratischen Union (PYD) verwaltet, die der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in der Türkei nahesteht. Während der Haft verschlechterte sich sein Gesundheitszustand infolge  eines Herzinfarkts. Drei Tage später wurde er deshalb unter Auflagen entlassen. Amnesty International hat der PYD in der Vergangenheit Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. í¢²
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DOMINIKANISCHE REPUBLIK Ein guter Tag für die Frauenrechte in der Dominikanischen Republik: Am 11. Juli hat die Abgeordnetenkammer eine Strafrechtsreform abgelehnt, die ein rückschrittliches Abtreibungsrecht festgeschrieben hätte. Ein Schwangerschaftsabbruch wäre demnach nur legal gewesen, wenn das Leben der Schwangeren in Gefahr gewesen wäre. Präsident Danilo Medina hatte zuvor empfohlen, mehrere Ausnahmen zuzulassen: Unter anderem sollten Abtreibungen auch in Fällen von Vergewaltigung oder Inzest möglich sein. Der Senat hatte sich gegen den Präsidenten gestellt, die Abgeordnetenkammer entschied nun gegen den Senat.  
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SÃœDSUDAN Präsident Salva Kiir hat den ehemaligen Gouverneur des Bundesstaates Wau, Elias Waya Nyipuoch, begnadigt. Seit März ist er wieder auf freiem FuÃ&#x;. Es wurde keine Anklage gegen ihn erhoben. Elias Waya Nyipuoch war seit Ende Juni 2016 inhaftiert – ohne Angabe von Gründen und ohne dass er einem Gericht vorgeführt wurde. Er verbrachte achteinhalb Monate in willkürlicher Haft auf einem Militärgelände. Möglicherweise wird sich die Menschenrechtslage in dem Land verbessern, denn Präsident Kiir kündigte an, auch »alle anderen politischen Gefangenen« freizulassen. 
SRI LANKA Der katholische Priester Elil Rajendram hat sich erfolgreich gegen Schikanen der Polizei gewehrt. Im Mai erwirkte er vor dem Hohen Gericht in Vavuniya eine gerichtliche Verfügung, die der Polizei weitere Verhöre untersagt. Nachdem Rajendram eine Gedenkveranstaltung für die Opfer des bewaffneten Konflikts von 1983 bis 2009 organisiert hatte, wurde er mehrere Wochen lang überwacht und zu Befragungen geladen. Wegen seines Engagements war er bereits früher verhört  worden. Nun kann er mithilfe eines Kurzzeit stipendiums ins Ausland reisen.
AMNESTY JOURNAL | 10-11/2017
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Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen mit Appellschreiben an den ÂťUrgent ActionsÂŤ, den ÂťBriefen gegen das VergessenÂŤ und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz Folter verhindert, die Freilassung Gefangener bewirkt und Menschen vor unfairen Prozessen schĂźtzt, zeigt unsere Weltkarte. Siehe auch: www.amnesty.de/erfolge
EINSATZ MIT ERFOLG
MARKUS N. BEEKO ĂœBERS
Foto: Bernd Hartung / Amnesty
RUSSLAND Das Verfahren gegen Valentina Cherevatenko wegen systematischer Unterlassung von gesetzlichen Pflichten ist am 19. Juni eingestellt worden. Cherevatenko ist Vorsitzende der Organisation Frauen vom Don und wurde als erste Vorsitzende einer NGO unter dem sogenannten Agentengesetz angeklagt. Nachdem ihr Rechtsbeistand den Stand ihres Verfahrens angefragt hatte,  erhielt er am 24. Juli die Information, dass die  Anklage fallengelassen worden sei. Als Grund wurde Nichtvorliegen von Straftaten ange geben. Bei einer Verurteilung hätten ihr bis zu zwei Jahre Haft gedroht.
EINMISCHEN Was fĂźr ein Land wollen wir sein? Und wie wird die Bundestagswahl hierĂźber Auskunft geben? Diese Fragen gingen mir durch den Kopf, als ich meine Stimme zur Bundestagswahl abgab. Viele Menschen sind von den weltweiten Nachrichten beunruhigt: vom Brexit, den Trump-Dekreten, den Verhaftungen in der TĂźrkei, den VĂślkerrechtsverletzungen in Syrien und im Jemen und den Entwicklungen in den EUStaaten Ungarn und Polen. Handlungsbedarf gibt es auch im Inneren: ÂťUnd was ist mit ... Bildung, Armut, (‌) Digitalisierung (...)?ÂŤ, titelte eine Berliner Zeitung nach dem TV-Kanzlerduell. Die Antwort ist fĂźr mich: ÂťEinmischen!ÂŤ ÂťEinmischen fĂźr Menschenrechte!ÂŤ war die Parole, die Amnesty im Bundestagswahlkampf ausgegeben hatte. ÂťEinmischenÂŤ, um alle Kandidat_innen daran zu erinnern, was uns Ăźber Parteigrenzen, soziale Milieus, ethnische HintergrĂźnde, Alters- und Berufsgruppen hinweg verbindet: das Selbstverständnis einer Gesellschaft, die auf einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung mit Gewaltenteilung, Minderheitenschutz, Schutz der BĂźrgerrechte und Achtung der Menschenrechte beruht. Unser Kompass bei der Frage, in was fĂźr einem Land wir leben wollen. Zugegeben – auf die gesellschaftlichen und weltpolitischen Herausforderungen gibt es keine einfachen Antworten. Deshalb tut ein Kompass not, um Kurs zu halten. Wir genieĂ&#x;en unsere Menschenrechte, sie sind fĂźr uns zur Selbstverständlichkeit geworden. Das ist gut so. Aber welches Gewicht räumen wir den Menschenrechten ein in Zeiten, in denen es sie zu verteidigen gilt? Stehen wir an der Seite derjenigen, die in Ă„gypten, Honduras oder Indien friedlich fĂźr ihre Rechte eintreten und dabei Repressalien ihrer Regierungen ausgesetzt sind? Ăœberdenken wir RĂźstungsexporte in Krisengebiete? Hinterfragen wir rechtsstaatliche Voraussetzungen bei der Einschränkung unserer Freiheitsrechte im Zuge der Terrorbekämpfung? Sollen mit EU-UnterstĂźtzung FlĂźchtende von der libyschen KĂźstenwache ergriffen und in Haftzentren gebracht werden, wo Misshandlungen an der Tagesordnung sind? Damit wir als das Land erlebbar bleiben, das wir uns erhoffen, wird es darauf ankommen, dass wir der neuen Bundesregierung den Auftrag geben, Menschenrechte zum Leitbild ihrer Politik zu machen. Dass die Mitglieder des Bundestages sich nicht nur Fraktionsdisziplin oder Realpolitik verpflichtet fĂźhlen, sondern dem Grundgedanken der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, verankert in Artikel 1 unseres Grundgesetzes: ÂťDie WĂźrde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schĂźtzen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.ÂŤ Das konsequente Eintreten fĂźr unsere Werte in schwierigen Zeiten wird uns auch etwas abverlangen – aber stellen wir uns doch mal vor, wir täten es nicht. Markus N. Beeko ist Generalsekretär der deutschen  Amnesty-Sektion.
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Foto: Esteban Felix / AP / pa
CHILE: LEGALE ABTREIBUNGEN WIEDER MÖGLICH
Für freie Entscheidung. Frauenrechtsmarsch in Santiago de Chile, Juli 2017.
In Chile ist das strikte Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen gelockert worden. Ein erster Schritt, die Rechte von Frauen und Mädchen zu stärken. Von Roman Filipović Das chilenische Verfassungsgericht hat Ende August einem Abtreibungsgesetz seine Zustimmung erteilt, das bereits zuvor von den beiden Kammern des Parlaments genehmigt worden war. Die Verabschiedung gilt als historische Entscheidung, denn bisher gehörte Chile zu den neun Ländern weltweit, in denen Abtreibungen strikt verboten sind. Mit sechs zu vier Stimmen lehnten die obersten Richter zwei Anfechtungsklagen gegen das Gesetz ab, die von konservativen Kongressabgeordneten eingereicht worden waren, um die Reform in letzter Minute zu verhindern. Demnach ist eine Abtreibung in Chile künftig in drei Ausnahmefällen erlaubt: bei Vergewaltigung, bei einer Lebensgefahr für die Mutter und bei tödlichen Erkrankungen des Fötus. »Hiermit haben wir, die Frauen Chiles, ein Grundrecht wiedergewonnen, um in extremen Fällen selbst entscheiden zu können«, sagte die chilenische Präsidentin Michelle Bachelet nach Bekanntgabe des Richterspruchs Ende August. »Die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs unter diesen drei Bedingungen ist eine Grundlage für den Schutz
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und die Würde jeder unserer Mitbürgerinnen.« Nun könne jede Frau entsprechend ihren Werten, religiösen Überzeugungen, Prinzipien und realen Optionen entscheiden, wie sie mit einer Krisensituation umgehen wolle. Bislang standen in Chile auch sogenannte therapeutische Schwangerschaftsunterbrechungen unter Strafe – diese nehmen Ärzte vor, wenn entweder der Mutter oder dem Fötus bei der Austragung gesundheitlicher Schaden droht. Die sozialistische Staatschefin hatte sich seit ihrem Amtsantritt 2014 für eine Reform des restriktiven Abtreibungsrechts eingesetzt. Das wollten mehrere Senatoren der Rechtsallianz Chile Vamos mit ihrer Klage vor dem obersten Gericht verhindern. Sie beriefen sich auf die 1980 unter der Militärdiktatur General Augusto Pinochets erlassene und bis heute gültige Verfassung. Dort heißt es: »Das Gesetz schützt das noch nicht geborene Leben.« Die Mehrheit der Richter wies die Klage jedoch zurück. Auch chilenische und internationale Menschenrechtsorganisationen, darunter Amnesty International, hatten sich dafür eingesetzt, dass die ursprüngliche Fassung des Entwurfs beibehalten wird. Gegner hatten vorgeschlagen, den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen stärker einzuschränken. Chile gehörte bis zu dem Beschluss des Verfassungsgerichts zu einem der we-
nigen Länder weltweit mit einem absoluten Abtreibungsverbot. Sechs davon liegen in Lateinamerika, darunter die Dominikanische Republik, Haiti, Honduras, El Salvador, Nicaragua und Surinam. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums wurden in dem katholisch geprägten Land jährlich 33.000 illegale Abtreibungen durchgeführt. Die bislang gültige restriktive Regelung geht zurück auf eine Entscheidung Pinochets, der 1989 Absatz 119 des Gesundheitsgesetzes aufhob. Seither wurden auch therapeutische Schwangerschaftsabbrüche unter Androhung von Gefängnisstrafen strafrechtlich verfolgt. Das nun vom Verfassungsgericht abgesegnete Gesetz war bereits 2015 von Bachelet ins Parlament eingebracht worden, Umfragen zufolge unterstützen es 70 Prozent der Bevölkerung. Zahlreiche Befürworter der Reform begrüßten die Entscheidung am Sitz des Verfassungsgerichts in Santiago de Chile mit Beifall. Sie dankten Bachelet, die gelernte Ärztin ist, für ihren Einsatz zugunsten der Reform. Präsidentschaftskandidat Sebastián Piñera vom rechts-konservativen Oppositionsbündnis Chile Vamos hingegen bekräftigte im August seine Haltung, er werde »immer für den Schutz des ungeborenen Lebens stimmen, das am unschuldigsten und schutzlosesten ist«.
AMNESTY JOURNAL | 10-11/2017
KOLUMNE SIMON RAMIREZVOLTAIRE
Die globalen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen machen es möglich: Seit 2015 die sogenannten Sustainable Development Goals (auch bekannt als Agenda 2030) verabschiedet wurden, ist direktes zivilgesellschaftliches Engagement in den Fokus nachhaltiger Entwicklung gerückt: Nicht mehr nur Staaten sollen künftig dafür sorgen, ökonomische, soziale, ökologische und politische Veränderungen voranzutreiben, sondern ebenso Individuen und Basisorganisationen. Dadurch verändert sich das Verhältnis von Staat und Zivilgesellschaft. Es muss eine neue Arbeitsteilung gefunden werden zwischen dem Staat als Treuhänder von Steuermitteln und der Zivilgesellschaft als Sphäre freier Menschen und Organisationen, die finanziell unterstützt werden, weil sie das Gemeinwohl fördern.
Zeichnung: Oliver Grajewski
Dieser Prozess ist nicht frei von Gefahren. Gestalten künftig einflussreiche Akteure gemeinsam mit dem Staat hinter verschlossenen Türen Politik ohne öffentliche Kontrolle? Oder werden zivilgesellschaftliche Organisationen strukturell zu Auftragnehmern des Staates im Namen der globalen Entwicklungsziele?
MEHR DEMOKRATIE WAGEN
Neu sind diese Fragen nicht. Jürgen Habermas ging davon aus, dass eine breit gefächerte Zivilgesellschaft nicht nur ein Indikator für demokratische Verhältnisse ist, sondern deren fester Bestandteil. Kurz gefasst: ohne Zivilgesellschaft kein demokratischer Prozess. Kritiker halten diesem idealistischen Ansatz entgegen, dass auch die Zivilgesellschaft nicht neutral sei, sondern ein Raum, in dem von Medien, wirtschaftlichen und ideologischen Interessen beeinflusste Akteure ihre Machtkämpfe austragen. Antonio Gramsci betrachtete die Zivilgesellschaft deshalb als Vorfeldbereich des Staats – und beschrieb beide als ein System ineinandergreifender Sphären. Die eine regierend, formal, verwaltend, die andere informeller und diffuser, ein Ort kultureller Kämpfe um Hegemonie. Vereint man beide Sichtweisen, können sie als Lernanstoß dienen: Einerseits ist die Zivilgesellschaft unerlässlich für Freiheit, Demokratie und Meinungsbildung, andererseits muss sie davor gefeit sein, zum verlängerten Arm von Regierungshandeln zu werden. Die Gefahr, dass Letzteres eintritt, ist seit Verabschiedung der Agenda 2030 gewachsen. Denn noch fehlt es an Bewusstsein dafür, dass sich bislang gültige Rollen dadurch verändern – mit potenziell negativen Folgen. Deshalb sollten wir darüber nachdenken, wie die Beziehungen zwischen Staat und Zivilgesellschaft demokratisch ausgebaut werden können – gerade dort, wo sie (noch) nicht bedroht ist. Denn es gibt einen globalen Trend, die Zivilgesellschaft einzuschränken oder sie als Instrument von Regierungshandeln zu nutzen. Verwaltungen sind darauf angelegt, Prozesse steuern zu wollen – sie müssen daher den Umgang mit einer erstarkten Zivilgesellschaft erst noch lernen. Die Antwort darauf darf jedoch nicht mehr staatliche Kontrolle sein, notwendig ist vielmehr ein größeres Bewusstsein über die unterschiedlichen Rollen beider Seiten. Das Engagement für eine globale, offene und freie Zivilgesellschaft muss damit verbunden sein, bürokratischer Steuerung Grenzen zu setzen. Denn zivilgesellschaftliche Prozesse sind ein Gut, das geschützt und weiterentwickelt werden muss. Dies sollten sowohl zivilgesellschaftlich Aktive als auch Beamte und Politiker achten. Zudem sollten Möglichkeiten gefunden werden, dieses Gut institutionell stärker zu verankern, in Deutschland etwa durch Qualitätsstandards für Beteiligungsprozesse bis hin zu Verbesserungen im Gemeinnützigkeitsrecht und im Grundgesetz. Simon Ramirez-Voltaire ist Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft der Eine-Welt-Landesnetzwerke in Deutschland.
EINSATZ MIT ERFOLG
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KOLUMNE
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KAMPF UM RAKKA UND MOSSUL: KRIEGSVERBRECHEN AUF BEIDEN SEITEN In sicheren Händen. Irakischer Soldat mit gerettetem Kind, Mossul, Juli 2017.
Die Vorwürfe sind gravierend: Sowohl die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) als auch die von den USA geführte Antiterrorkoalition könnten beim Kampf um die irakische Stadt Mossul Kriegsverbrechen verübt haben. Die 2014 vom IS besetzte Millionenstadt am Tigris wurde im Sommer von irakischen Einheiten zurückerobert. Nach Informationen von Amnesty hat der IS vor dem Einmarsch der irakischen Truppen Zivilisten aus umliegenden Dörfern nach Mossul gebracht, um sie als menschliche Schutzschilde zu missbrauchen. Die Menschen wurden durch verschweißte Türen und Sprengfallen an der Flucht gehindert.
»Wir legen sehr strenge Kriterien bei der Auswahl unserer Ziele an, um zivile Opfer zu vermeiden oder möglichst gering zu halten.« KYLE RAINES, US-ARMEE
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Die irakischen Streitkräfte und die US-geführten Koalitionstruppen haben Waffen eingesetzt, »die in bevölkerungsreichen Gegenden niemals hätten eingesetzt werden dürfen«, heißt es in dem Amnesty-Bericht »At All Costs«. Auch in der syrischen IS-Hochburg Rakka zahlen Zivilisten den höchsten Preis für den Krieg: Amnesty konnte allein von Anfang Juni bis Ende Juli 2017 die Tötung von 95 Zivilisten durch die USA und ihre Verbündeten bestätigen. Russland und das syrische Regime töteten bei ihren Angriffen südlich der Stadt im selben Zeitraum 30 Zivilisten, darunter 16 Kinder.
Menschenrechtsexperten befürchten, dass es nach dem Ende der IS-Herrschaft in Rakka zu Racheakten kommen könnte, ähnlich wie in Mossul. Nach Angaben US-amerikanischer Medien haben dort Angehörige der 16. Division der irakischen Armee, die von der US-Armee ausgebildet wurde, mutmaßliche IS-Mitglieder hingerichtet. Zudem seien Hunderte Jugendliche und Männer ohne Anklage über Wochen festgehalten worden. Amnesty fordert angesichts der Vorwürfe die Einsetzung einer unabhängigen internationalen Kommission, um sicherzustellen, dass mögliche völkerrechtliche Verbrechen geahndet werden.
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ANGRIFFE AUF IRAKISCHE ZIELE HAT DIE ANTI-IS-ALLIANZ ZWISCHEN AUGUST 2014 UND AUGUST 2017 UNTERNOMMEN.
US-DOLLAR HABEN DIE USA BIS AUGUST 2017 FÜR DEN KRIEG IM IRAK UND IN SYRIEN AUSGEGEBEN.
AMNESTY JOURNAL | 10-11/2017
Foto: Ivor Prickett / The New York Times / Redux / laif
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ELISA STEIN
»DER IS HAT ZIVILISTEN AN DÄCHERN ANGEKETTET« Foto: Stefan Jarosch
Im Juli hat die irakische Armee Mossul von der Terrormiliz Islamischer Staat zurückerobert. Die Berliner Hilfsorganisation Cadus unterhielt während der Kämpfe vor Ort eine mobile Klinik in der Nähe der Front, die als erste Anlaufstelle für Menschen diente, die verletzt wurden. Die Ärztin Elisa Stein arbeitete dort mehrere Wochen lang. Interview: Markus Bickel
Menschenrechtsorganisationen berichten von standrechtlichen Hinrichtungen durch Angehörige der 16. irakischen Armeedivision in Mossul. Können Sie das bestätigen? Da wir in erster Linie mit der 9. Division zusammengearbeitet haben, sind wir nur gelegentlich mit Angehörigen der 16. Division in Berührung gekommen. Aber in einem Fall beobachtete einer meiner deutschen Kollegen, wie vier Soldaten einen unserer Patienten um die Ecke trugen. Dann fielen zwei Schüsse, und sie kamen ohne den Mann zurück. Außerdem hat er mehrere Leichen gesehen, deren Hände hinter dem Rücken gefesselt waren und die durch Kopfschüsse getötet wurden – Aufnahmen des Fotografen Kenny Karpov belegen das. Ich habe selbst miterlebt, wie IS-Kämpfer nach der Behandlung einzeln weggeführt wurden. Ob sie danach erschossen oder in ein Gefängnis gebracht wurden, war nicht klar. Haben Sie Angehörige der irakischen Armee mit dem Thema konfrontiert? Ja, auch wenn Hinrichtungen zum Teil schlicht geleugnet wurden. Als mir in einem Fall unklar war, wohin ein IS-Mann gebracht werden sollte, dessen Frau ich behandelt hatte, drohte ich im Falle von Kriegsverbrechen mit dem Abbruch meiner Arbeit. Daraufhin versicherte man mir, dass im Geltungsbereich der Armee niemand erschossen werde. Meine Versuche, ins Obergeschoss unseres Gebäudes zu gelangen, um mir selbst ein Bild der von der Armee genutzten Räumlichkeiten zu machen, wurden allerdings unterbunden. Konnten Sie Fälle von Folter beobachten während Ihrer Tätigkeit in Mossul? Nicht direkt, aber indirekt, da wir die Spätfolgen behandelt haben. Häufig waren es Menschen, die unter der Besetzung
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durch den IS gefoltert worden sein müssen. Wir sahen Verbrennungen, Knochenbrüche und Narben, die von Schlägen herrührten. Kollegen wiederum bekamen mit, wie gefesselte IS-Kämpfer von Soldaten geschlagen wurden, ihnen für den Weitertransport die Augen verbunden und Scheinhinrichtungen vorgenommen wurden. Sind irakische Soldaten auch gegen Kinder vorgegangen? Nein. Ich war im Gegenteil überrascht darüber, wie liebevoll Soldaten mit den Kindern von IS-Angehörigen umgingen, darunter vielen Waisen. Das zeigt, dass sie durchaus in der Lage sind, ihrer ethisch-moralischen Verantwortung gerecht zu werden und eine Differenzierung zwischen dem IS als verfeindeter Kriegspartei und den Kindern von Kombattanten vorzunehmen. Haben von Ihnen behandelte Zivilisten Angaben darüber gemacht, ob sie vom IS als lebende Schutzschilde verwendet wurden? Ja. Viele Opfer erzählten uns, wie sie in ihren Häusern in der Altstadt gefangen gehalten wurden. Die Türen seien abgeriegelt, Häuser und Straßen mit Sprengfallen versehen worden. Geflohene Zivilisten haben zudem darüber berichtet, dass sie auf Dächern angekettet wurden, um Luftschläge zu verhindern. Haben ausländische Angehörige der Anti-IS-Koalition irakische Armeeangehörige in ihrem Vorgehen gegen Zivilisten ermuntert? Nein. Uns ist kein individuelles Vergehen des irakischen Militärs oder ausländischer Soldaten gegen Zivilisten bekannt geworden. Zivilisten wurden in unserem Arbeitsbereich stets medizinisch behandelt und wir haben versucht, sie zu retten. Benachteiligungen gab es lediglich in den Traumastabilisierungspunkten der Militärärzte, wo Soldaten Zivilisten bei der Behandlung vorgezogen wurden.
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Zivilgesellschaft unter Druck
Weltweit gehen autoritäre Regierungen gegen Bürgerinitiativen, Menschenrechts- und Umweltaktivisten vor – mit bürokratischen Schikanen, rechtlicher Verfolgung und nackter Gewalt. Ihr Einsatz für Meinungs- und Versammlungsfreiheit hat einen hohen Preis.
Verhaftungswelle. Titelbild der türkischen Satirezeitschrift Uykusuz (Schlaflos), April 2017. Zeichnung aus dem Band »Schluss mit Lustig« mit freundlicher Genehmigung des Avant-Verlags
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»Absurd und ungeheuerlich«. Amnesty-Aktivistinnen und Aktivisten aus 30 Länder protestieren vor der türkischen Botschaft in London, 12. Juli 2017.
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Unter Verdacht Überall auf der Welt werden Menschenrechtsverteidiger von Regierungen schikaniert. In der Türkei sitzen auch zwei Amnesty-Verantwortliche in Untersuchungshaft – ein einmaliger Vorgang in der langen Geschichte der Menschenrechtsorganisation. Von Ralf Rebmann
Foto: Will Clein / Amnesty
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er Istanbul besucht, fährt meist auch auf die Insel Büyükada. Sie ist die größte der Prinzeninseln und liegt im nordöstlichen Marmarameer, etwas mehr als eine Stunde mit der Fähre von Istanbul entfernt. Vom Lärm und Verkehrschaos der Großstadt ist dort wenig zu spüren, bei Touristen und Einheimischen sind die Inseln deshalb sehr beliebt. Auf Büyükada angekommen, geht es von der Fähranlegestelle oft direkt weiter bergauf, per Fahrrad oder Pferdekutsche erreicht man den höchsten Punkt der Insel. Dort bietet sich nicht nur ein lohnenswerter Blick auf die anderen Prinzeninseln, sondern auch auf das jahrhundertealte griechische Kloster Aya Yorgi. Nalan Erkem stand am 3. Juli 2017 ebenfalls vor dem Kloster. Sie machte ein Foto davon und veröffentlichte es auf ihrem Instagram-Account. Erkem ist Rechtsanwältin und Menschenrechtlerin. Zusammen mit neun weiteren Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten besuchte sie auf Büyükada Anfang Juli einen Workshop zum Thema »Wie kann die Menschenrechtsarbeit sicherer gemacht werden?«. Unter den Teilnehmenden waren einige der erfahrensten Menschenrechtlerinnen der Türkei, so zum Beispiel İdil Eser, Direktorin der türkischen Amnesty-Sektion, und Özlem Dalkıran, aktives Mitglied der Citizens’ Assembly. Auch der deutsche Menschenrechtstrainer Peter Steudtner und der schwedische IT-Experte Ali Gharavi nahmen als Referenten an dem Treffen teil. Die Gruppe traf sich im Ascot-Hotel im Norden der Insel. Auch das konnte man als Außenstehender erfahren, denn Nalan Erkem teilte diese Information ebenfalls auf ihrem Instagram-Account mit – einschließlich eines Fotos ihres Frühstückstellers. Der dreitägige Workshop endete damit, dass die Polizei am 5. Juli 2017 das Hotel stürmte und alle Anwesenden festnahm. Regierungsnahe Zeitungen berichteten kurz darauf von einem »geheimen Treffen« auf Büyükada, angeblich organisiert mit Unterstützung des britischen und US-amerikanischen Geheimdienstes. Es sei nicht auszuschließen, dass das Meeting eine Fortführung des Putschversuches vom 15. Juli 2016 gewesen sei, sagte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan kurz darauf beim G20-Gipfel in Hamburg. Ein später veröffentlichter Polizeibericht offenbarte Details der Razzia: Demnach fanden die Polizeikräfte die Teilnehmen-
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den des Workshops im oberen Geschoss des Hotels vor – sie saßen bei geöffneter Tür im Halbkreis zusammen. »Wenn, wie behauptet wird, das Treffen auf Büyükada so ›geheim und gefährlich‹ war, wieso stand dann die Tür offen?«, schrieb die Journalistin Melis Alphan in der türkischen Tageszeitung Hürriyet. Und wie geheim kann das Treffen gewesen sein, wenn die Teilnehmenden ihren Standort freiwillig per Instagram mitteilten? »Absurd«, »haarsträubend«, »ungeheuerlich« – die Kritik an den Festnahmen ließ nicht lange auf sich warten. UNO, OSZE und Europarat sowie die Regierungen der USA und zahlreicher EU-Mitgliedsstaaten forderten die sofortige Freilassung der Inhaftierten. Die türkischen Behörden ließen sich von dem weltweiten öffentlichen Aufschrei allerdings nicht beirren. Schon bald wurde klar, dass den Menschenrechtlern ein ähnlicher Prozess drohen würde, wie er bereits zahlreichen Journalisten und Regierungskritikern im Land gemacht wird: Sie werden der Unterstützung einer Terrororganisation bezichtigt.
Ankara ist überall »Verräter«, »Terroristen«, »ausländische Agenten«. Die Türkei ist nicht das einzige Land, in dem Menschen verfolgt werden, weil sie sich für die Rechte anderer einsetzen. Nach Informationen der NGO Front Line Defenders wurden 2016 weltweit mindestens 281 Menschenrechtsaktivisten wegen ihrer Arbeit getötet, In 68 Ländern wurden sie verhaftet oder festgenommen, in 94 Ländern bedroht oder tätlich angegriffen. Die staatliche Repression reicht vom Entzug der Finanzierungsgrundlage bis zur Schließung von Organisationen, von Schikanen und öffentlichen Hetzkampagnen bis zur strafrechtlichen Verfolgung und Inhaftierung. Einer, der beinahe täglich mit derartigen Repressalien konfrontiert wird, ist der indische Menschenrechtsanwalt Henri Tiphagne. Er gründete die Organisation People’s Watch, die Menschenrechtsverletzungen in Indien dokumentiert und Betroffene vor Gericht vertritt. Schon mehrmals wurden die Konten der NGO gesperrt, weil sie Fördergelder aus dem Ausland erhält. Grundlage dafür ist ein spezielles Gesetz, das dazu dient, kritische NGOs zu schikanieren und ihnen ihre Arbeitsgrundlage zu entziehen. Zuletzt war People’s Watch im Oktober 2016 von der Sperre betroffen. Tiphagne hatte kurz zuvor in Deutschland den Amnesty-Menschenrechtspreis erhalten. Die indischen Behör-
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»Seit Sommer 2016 sind in der Türkei Zehntausende entlassen oder festgenommen worden.« den begründeten die Finanzierungssperre damit, dass die Organisation ausländischen Kräften geholfen habe, Indien in ein schlechtes Licht zu rücken. Tiphagne habe damit dem »nationalen Interesse geschadet«. In Ungarn wurde nach dem Vorbild des russischen »Agentengesetzes« im Juni 2017 ein Gesetz verabschiedet, das zivilgesellschaftliche Organisationen als »ausländisch finanziert« brandmarkt. NGOs, die jährlich umgerechnet mehr als 24.000 Euro aus dem Ausland erhalten, müssen sich künftig gerichtlich registrieren lassen. Darüber hinaus sind sie verpflichtet, sich in ihren Dokumenten und im Internet als »vom Ausland unterstützte Organisation« zu bezeichnen. Weigern sie sich, kann dies im Zweifelsfall zur Schließung der Organisation führen. Zwar leitete die Europäische Kommission wegen des restriktiven NGO-Gesetzes im Juli ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn ein, doch unmittelbar geholfen wird den Aktivisten dort nicht. Während das Vorgehen der ungarischen Behörden auf die finanzielle Schwächung von Gruppen und Organisationen abzielt, ist es in der Türkei die Verhaftungswelle, die zivilgesellschaftlichen Akteuren die Arbeit verunmöglicht – so hanebüchen die Begründungen für das juristische Vorgehen im Einzelfall auch sind. »Die Absurdität der Vorwürfe kann nicht verschleiern, wie schwerwiegend dieser Angriff auf einige der bekanntesten zivilgesellschaftlichen Organisationen in der Türkei ist«, kritisierte Salil Shetty, der internationale Generalsekretär von Amnesty, die Festnahmen. Für die internationale Menschenrechtsorganisation ist die Situation alarmierend, weil neben Idil Eser auch Taner Kılıç, der Vorstandsvorsitzende der türkischen AmnestySektion, seit dem 9. Juni in Untersuchungshaft sitzt. Erstmals in der Geschichte der Organisation sind damit zwei Amnesty-Verantwortliche einer Ländersektion in Haft. Kılıç wird der Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung bezichtigt, die nach Auffassung der türkischen Regierung für den Putschversuch im Juli 2016 verantwortlich sein soll. Dem Menschenrechtsverteidiger wird vorgeworfen, er habe die Messenger-App Bylock auf seinem Smartphone installiert, die auch von Gülen-Anhängern genutzt werde.
Verschärfte Lage Der Türkei-Experte von Amnesty, Andrew Gardner, bezeichnete den Vorwurf der »Terrorunterstützung« und die Inhaftierung von Kılıç, Eser und den anderen Menschenrechtlern als unhaltbar. Seit der Verhängung des Ausnahmezustandes in der Türkei im Sommer 2016 wurden Zehntausende Personen suspendiert, entlassen oder festgenommen. »In vielen Fällen gibt es keine rechtliche Grundlage für die andauernde Inhaftierung der Beschuldigten«, stellt Gardner fest. Die türkische Regierung geht dennoch weiterhin gegen Personen vor, die sie bezichtigt, der
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Gülen-Bewegung oder auch »Fethullahistischen Terrororganisation« (FETÖ), wie sie von den Behörden bezeichnet wird, anzugehören. Seit dem Putschversuch hat sich auch für große internationale NGOs wie Amnesty International die Situation verschärft. Das zeigte sich nach der Veröffentlichung eines Amnesty-Berichts über Folter an mutmaßlichen Putschisten im Juli 2016. Der türkische Präsident nahm den Bericht zum Anlass, die Menschenrechtsorganisation öffentlich zu attackieren. Das Istanbuler Amnesty-Büro musste aus Sicherheitsgründen für mehrere Tage geschlossen bleiben. »Die gesamte Zivilgesellschaft in der Türkei wird von den Behörden ins Visier genommen. Zuerst Journalisten, dann die politische Opposition und jetzt ganz offensichtlich die Menschenrechtsbewegung«, kritisiert Gardner. Mit den jüngsten Inhaftierungen von Kılıç, Eser und den anderen Menschenrechtlern sei man an einem kritischen Punkt angelangt. »Sie wurden nur deshalb festgenommen und inhaftiert, weil sie sich für die Menschenrechte einsetzen. Sollte dieser Fall vor Gericht Bestand haben, wird die Situation für uns alle sehr gefährlich.« Wenig beruhigend sind die Aussagen von Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu. Er sagte im Juli, die Polizeioperation auf Büyükada habe ausschließlich Individuen gegolten und nicht der gesamten Organisation. Die Beziehungen zwischen Erdoğans Partei AKP und zivilgesellschaftlichen Organisationen waren schon einmal besser. Nach ihrem Sieg bei den Parlamentswahlen 2002 setzte die islamisch-konservative Regierung Reformen durch, von denen auch zivilgesellschaftliche Organisationen profitierten, allen voran religiöse. Der Reformkurs diente dazu, die Aussicht auf
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Foto: Richard Burton / Amnesty
Einmaliger Vorgang. Kundgebung vor der Europäischen Kommission in Brüssel, 25. Juli 2017.
einen EU-Beitritt zu verbessern. Zudem sollte verhindert werden, der säkular ausgerichteten Militärführung Gründe für einen Ausschluss aus der Politik oder gar einen Putsch zu liefern. Ein Resultat dieser Reformen war beispielsweise das internationale Menschenrechtssymposium »Neue Taktiken für die Menschenrechtsarbeit« im Jahr 2004. Damals kamen knapp 500 Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten in Ankara zusammen. Die Konferenz wurde mit 300.000 US-Dollar von der AKP-Regierung unterstützt, der damalige Außenminister Abdullah Gül hielt ein Grußwort. Die Menschenrechtler, die am 5. Juli 2017 auf Büyükada von den Behörden ins Visier genommen wurden, waren mit ihren Organisationen damals auf der Konferenz vertreten. Amnesty organisierte Workshops, Özlem Dalkıran und Ali Gharavi gehörten zum Organisationsteam der Konferenz. 15 Jahre später werden dieselben Personen nun von der türkischen Regierung verdächtigt, eine Terrororganisation unterstützt zu haben. Idil Eser arbeitete für zahlreiche NGOs und Stiftungen, wie die Helsinki Citizens’ Assembly, Ärzte ohne Grenzen und die Umweltstiftung Tema, bevor sie 2016 Direktorin der türkischen Amnesty-Sektion wurde. Für sie ist die Inhaftierung im SilivriGefängnis nahe Istanbul besonders hart, weil sie keine Verwandten ersten Grades besitzt und die Regelungen des Ausnahmezustands bei Terrorvorwürfen nur diesen Angehörigen Besuche gestatten. Der Rechtsanwalt und Amnesty-Vorstandsvorsitzende Taner Kılıç hat ebenfalls jahrelange Erfahrung als Menschenrechtler. Bevor er 2002 die türkische Amnesty-Sektion mitgründete, in der er seither eine führende Rolle spielt, arbeitete er beim mus-
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limischen Menschenrechtsverein Mazlumder in Izmir. 1999 geriet er deshalb schon einmal ins Visier der türkischen Behörden. Damals ordnete die Staatsanwaltschaft in Ankara eine Untersuchung der Büroräume von Mazlumder an, weil die muslimische Organisation angeblich die »säkulare Ordnung« des Landes bedrohte. Kılıç klagte vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof und bekam im Jahr 2006 Recht – der türkische Staat wurde zu Entschädigungszahlungen verurteilt. »Es scheint, als werde Taner Kılıç 18 Jahre später ein weiteres Mal dieser Prozedur ausgesetzt«, schrieb Hakan Ataman, Koordinator bei der Citizens’ Assembly, auf der Nachrichtenplattform Bianet einen Tag nach der Festnahme des Menschenrechtsverteidigers. Anstatt mit Taner Kılıç über die schwierige Situation von Flüchtlingen in der Türkei zu sprechen, müsse er nun über dessen Inhaftierung schreiben. 1998 verabschiedeten die Vereinten Nationen erstmals eine Erklärung zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern. Knapp 20 Jahre später muss man feststellen, dass sie diesen heute mehr denn je benötigen.
»Die ganze Zivilgesellschaft wird von den Behörden ins Visier genommen.« Andrew Gardner 17
»Meine stärkste Waffe ist die Öffentlichkeit« Die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Bärbel Kofler, über eingeschränkte zivilgesellschaftliche Spielräume
Weltweit gehen autoritäre Staaten gegen Menschenrechtsverteidiger und andere NGO-Vertreter vor. Wie lässt sich dieser Trend stoppen? Wir dürfen nicht aufhören, für internationale Aufmerksamkeit zu sorgen. Das sagen mir Menschenrechtler in Gesprächen immer wieder. Denn so sehen deren Regierungen, dass sie im Ausland wahrgenommen werden. Und das verschafft ihnen Schutz. Außerdem können wir zur Vernetzung von Menschenrechtsaktivisten beitragen durch Projekte oder Seminare vor Ort sowie die Vermittlung wichtiger Kontakte in kritischen Situationen. Die strukturellen Ursachen für wachsende autoritäre Tendenzen bleiben dadurch unberührt. Deshalb ist es umso wichtiger, auch systematisch Dialoge einzugehen – über die grundsätzliche Auffassung von Rechtsstaatlichkeit etwa. Denn worin sich viele Länder, die Menschenrechte einschränken, gleichen, sind Gesetze, die vom Geist getragen sind, dass zivilgesellschaftliche Organisationen Unruhe ins Land bringen. Deshalb versucht man, diese einzuschränken und einzuhegen. Besonders kritisch beäugt werden dabei oft Kontakte ins Ausland. Das stellt vor allem in ärmeren Ländern ein Problem dar, weil viele Gruppen gar nicht über ausreichend Ressourcen verfügen, um ihre Arbeit zu finanzieren. Macht Dialog mit autoritären Regimen überhaupt Sinn, wenn der vermeintliche Dialogpartner immer nur Nein sagt? Es ist immer die Frage, was ich in einem solchen Dialog anspreche. Solange es möglich ist, menschenrechtlich klar Position zu beziehen und auch Einzelfälle anzusprechen, kann zwischenstaatlicher Dialog einen Mehrwert bilden. Wenn das nicht mehr der Fall ist, wird es schwierig. In Ägypten sind seit dem Putsch des heutigen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi vor vier Jahren 40.000 Menschen inhaftiert worden. Warum empfängt die Bundeskanzlerin Sisi dennoch in Berlin? Das müssen Sie die Kanzlerin fragen. Das Argument, dass Stabilitätsinteressen bisweilen vor demokratischer Entwicklung stehen, prägt auch die Politik des Auswärtigen Amts. Es ist unstrittig, dass es legitime staatliche Sicherheitsinteressen gibt. Es ist jedoch völlig unzulässig, jeden, der nicht die gleiche Meinung wie die Regierung vertritt, zum Terroristen abzustempeln. Das ist eine fatale Entwicklung, die weltweit im-
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mer stärker wird. So dient der Antiterrorkampf häufig lediglich als Ausrede für die Missachtung von Menschenrechten. Dem widerspreche ich entschieden: Staaten müssen nicht nur für die Sicherheit ihrer Bürger sorgen, sondern auch für die Aufrechterhaltung menschenrechtlicher Standards. Mittelfristig führt eine Politik, die das nicht berücksichtigt, übrigens nicht zu mehr Stabilität, sondern zu steigender Frustration und mehr Unrecht. Und das wirkt destabilisierend. Haben Sie als Menschenrechtsbeauftragte nicht das Gefühl, manchmal nur Feigenblatt für eine an Stabilitätsinteressen orientierte Politik zu sein? Aufgabe aller Beauftragten der Bundesregierung ist es, auf Entwicklungen hinzuweisen, die im Regierungshandeln aus eigener Sicht in die falsche Richtung laufen – und in meiner Position menschenrechtlichen oder humanitären Prinzipien widersprechen. Das habe ich beim Familiennachzug von Flüchtlingen oder der Frage von Abschiebungen nach Afghanistan auch deutlich gemacht. Da man als Beauftragte nicht in die ministerielle Hierarchie eingebunden ist, verschafft einem das eine gewisse Unabhängigkeit. Aber natürlich muss man sich der Kritik stellen, dass man über keine Weisungsbefugnis verfügt. Ihr Vorgänger ist wegen der Asylpolitik der großen Koalition zurückgetreten. Ist der Rücktritt Ihr stärkstes Schwert? Die stärkste Waffe eines Menschenrechtsbeauftragten ist die Öffentlichkeit – und damit natürlich auch der Diskurs mit der Zivilgesellschaft. Aber gerade in der Frage der Asylpolitik zeigt sich, wo der Zuschnitt des Amts an seine Grenze stößt, betrifft diese doch heute außen- wie innenpolitische Fragen stärker als je zuvor. Und was ich auf keinen Fall will, ist, nur die Zustände in anderen Ländern zu kritisieren, nicht aber auf die eigene Gesellschaft zu schauen.
Foto: Conny Schweidler
Interview: Markus Bickel
INTERVIEW BÄRBEL KOFLER Bärbel Kofler ist seit März 2016 Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe. Dem Deutschen Bundestag gehört die SPD-Politikerin seit 2004 an. Zu ihren Aufgaben gehört es, dem Bundesaußenminister Vorschläge zur Politikgestaltung in den Bereichen Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu machen.
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Foto: Oliver Wolff / Amnesty
Indien: »Rechte werden auf der Straße erkämpft«
Henri Tiphagne ist Gründer und Leiter der indischen Bürgerrechtsorganisation People’s Watch. 2016 gewann er den Menschenrechtspreis von Amnesty International.
Als ich 2016 den Amnesty-Menschenrechtspreis in Berlin entgegennahm, war mir noch nicht klar, dass People’s Watch bald wieder geschlossen werden würde. Damals hatten wir gerade eine 540-tägige Schließung unseres Büros hinter uns. Wir waren vor Gericht gezogen und hatten Recht bekommen. Doch im Oktober 2016 informierte mich die Regierung, dass wir gegen den Foreign Contribution Regulation Act (FCRA) verstoßen hätten, der mit ausländischen Geldern finanzierte indische NGOs der Kontrolle des Innenministeriums unterstellt. Seitdem sind unsere
Konten eingefroren. Unsere Projekte sind zwar offiziell gestoppt, laufen aber trotzdem weiter. Das ist nicht nur durch unseren Idealismus möglich, sondern auch durch die aufopferungsvolle Arbeit unserer Mitarbeiter und deren Familien. Seit der Preisverleihung hat sich also einiges geändert. Anstatt Raum dazuzugewinnen, ist der Raum, den wir hatten, weiter geschrumpft und sogar geschlossen worden. Aber ich werde weiterkämpfen. Schließlich werden Rechte auf der Straße erkämpft, nicht in den Vereinten Nationen, Gerichten oder Kommissionen.
Foto: Sarah Eick / Amnesty
Burundi: »Man muss sich mit den Mächtigen anlegen«
Pierre Claver Mbonimpa gründete 2001 die Association for the Protection of Human Rights and Persons Detained (APRODH) in Burundi. Seit 2015 lebt er in Belgien im Exil.
1994 kam ich das erste Mal ins Gefängnis und sah, wie die Menschen dort behandelt wurden. Ich selbst wurde gefoltert. Als ich aus dem Gefängnis entlassen wurde, beschloss ich, eine Organisation für Gefangene zu gründen, um für bessere Haftbedingungen zu sorgen. So entstand die Association for the Protection of Human Rights and Persons Detained (APRODH). Mit der Zeit musste ich aber feststellen, dass diese Tätigkeit viele Gefahren mit sich bringt. Schließlich sind es die Regierung und die Sicherheitskräfte, die die Menschenrechte verletzen. Man
muss sich also mit den Mächtigen anlegen, um etwas zu verändern. Die wiederum versuchen, einen zum Schweigen zu bringen, einzuschüchtern oder gar auszulöschen. Auch auf mich wurde ein Anschlag verübt, dem ich gerade noch entkommen bin. Um mein Leid zu vergrößern, haben sie, während ich im Krankenhaus lag, meinen Sohn getötet und zwei Wochen später meinen Schwiegersohn. Auf diese Weise versuchen die Regierenden, zivilgesellschaftliche Akteure so einzuschüchtern, dass sie ihre Arbeit einstellen.
Foto: privat
Ägypten: »Deutschlands Engagement ist nötig«
Heba Morayef ist Nordafrika-Direktorin von Amnesty International.
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Das neue ägyptische NGO-Gesetz nimmt Menschenrechtsorganisationen die Luft zum Atmen. Das bisherige Gesetz schränkte sie zwar in ihrer Arbeit ein, ließ den Organisationen aber noch einige Schlupflöcher. Künftig dürfen sie nur noch Entwicklungsziele haben, die den Zielen und Prioritäten des Staates entsprechen. NGOs, die sich nicht innerhalb eines Jahres registrieren, werden verboten, ihre Gelder eingefroren und ihre Mitglieder strafrechtlich verfolgt. Außerdem wird die Beteiligung von NGOs an »politischen
Aktivitäten« kriminalisiert. Einige Begriffe wurden in dem Gesetz absichtlich vage gehalten, damit die Regierung entscheiden kann, wann sie hart durchgreift und wann nicht. Es ist schon ein Akt des Widerstands, jeden Tag ins Büro zu gehen. Die deutsche Regierung sollte sich deshalb nicht nur für die Präsenz der deutschen politischen Stiftungen einsetzen, sondern für die Rechte der ägyptischen Zivilgesellschaft allgemein. Protokolle: Hannah El-Hitami
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Ziviler Protest. Demonstration auf dem Heldenplatz in Budapest, April 2017.
Alle Macht dem Ministerpräsidenten Viktor Orbán geht hart gegen die Zivilgesellschaft vor. Das neue ungarische NGO-Gesetz folgt russischem Vorbild – und verstößt gegen EU-Recht. Von Gregor Mayer, Budapest
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eit sieben Jahren regiert in Ungarn der Rechtspopulist Viktor Orbán. Seine Herrschaft brachte dem Land an der Donau den Abbau von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Ein Großteil der reichweitenstarken Medien wird von Orbáns Propagandisten und mit ihm verbandelten Oligarchen kontrolliert. Alle Macht im Staate ist auf beispiellose Weise in den Händen des Ministerpräsidenten und Vorsitzenden der Regierungspartei Fidesz-MPSZ (Ungarischer Bürgerbund) kon-
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zentriert. 2014 verkündete Orbán den Bruch seines Systems mit der liberalen Demokratie, dem Standard in der EU. Die politische Opposition in Ungarn ist schwach und zersplittert. Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass sich Orbán bei den nächsten Parlamentswahlen im Frühjahr 2018 nicht nur ein weiteres Regierungsmandat, sondern erneut eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit sichern wird. Der heute 54-jährige Orbán war schon früher einmal, als
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Foto: Attila Volgyi / Polaris / laif
junger Mann, Ministerpräsident gewesen. Von 1998 bis 2002 hatte er mit einer einfachen Parlamentsmehrheit regiert. Schon damals hatte er einen autoritären und populistischen Führungsstil an den Tag gelegt. Doch die Ungarn wählten ihn nach vier Jahren wieder ab. Die Wahlniederlage von damals empfand Orbán als schweres persönliches Trauma. Sobald er wieder an die Macht zurückkehren würde, so schwor er sich, würde er eine derartige schmähliche Abwahl zu verhindern wissen. Von der politischen Opposition, den Medien und den öffentlichen Institutionen mögen heute für Orbáns Herrschaftsanspruch keine Gefahren mehr ausgehen. Doch der »liebe Führer« – wie ihn Oppositionelle sarkastisch nennen – kann nicht ruhen, bevor nicht jeder Faktor ausgeschaltet ist, der seine Macht auch nur in Ansätzen gefährden könnte. Nun gibt es in Ungarn tatsächlich eine recht aktive Zivilgesellschaft. Deren Akteure leisten gesellschaftlich wertvolle karitative Arbeit auf Gebieten, aus denen sich der Staat mehr oder weniger zurückgezogen hat: bei der Versorgung von Armen, von ausgegrenzten Roma, von Menschen mit Behinderungen, von Obdachlosen. Nichtregierungsorganisationen wie das ungarische Helsinki-Komitee, die Bürgerrechtsunion TASZ oder die ungarische Sektion von Amnesty International bringen wiederum mit der reichen Expertise, über die sie verfügen, Menschenrechtsverletzungen zur Sprache und helfen betroffenen Bürgern – oder misshandelten Flüchtlingen –, sich mit kompetentem Rechtsschutz gegen Übergriffe der Behörden und des Staates zur Wehr zu setzen. Orbán ist das alles ein Dorn im Auge. Die Aktivitäten von zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich nicht auf das rein Karitative beschränken oder sich für die Rechte von Minderheiten einsetzen, empfindet er als unzulässige Infragestellung seines Machtanspruchs. Zugleich gibt es in Ungarn keine wohlhabende und bewusste Mittelschicht, die solche Organisationen aus staatsbürgerlichem Engagement heraus finanzieren könnte. Viele der Organisationen sind deshalb auf materielle Unterstützung von ausländischen Geldgebern angewiesen. Die wichtigsten von ihnen sind die Europäische Union, die Norwegian Grants – ein Fonds, den die wohlhabenden Nicht-EU-Länder Norwegen, Island, Schweiz und Liechtenstein aufgebaut haben, um ärmeren EU-Ländern Hilfe analog zu den EU-Förderungen zukommen zu lassen – und die Stiftungen des US-Milliardärs und Philanthropen George Soros. NGOs bewerben sich bei Ausschreibungen um diese Gelder. Über die Mittelverwendung legen sie Rechenschaft ab. Als gemeinnützige Vereine kommen sie ihren Buchhaltungs- und Offenlegungspflichten gegenüber den staatlichen Behörden nach. All dies geschieht transparent, die Organisationen veröffentlichen die Daten auf ihren Webseiten. Umso unnötiger erscheint es, dass Orbán im Parlament ein eigenes Gesetz beschließen ließ, das die Tätigkeit von Organisationen regelt, die Unterstützung aus dem Ausland erhalten. Das Gesetz, das die Regierungsmehrheit im Juni billigte, führt zwar zur Begründung Transparenzgebote an, dient aber nur dazu, unbotmäßige NGOs nach russischem Vorbild zu schikanieren. Die Kernbestimmung besagt, dass sich Organisationen, die im Jahr mehr als 23.000 Euro an Hilfen aus dem Ausland bekommen, bei Gericht registrieren lassen und sich in allen ihren Publikationen und Internetauftritten selbst als »vom Ausland unterstützte Organisation« abstempeln müssen. Der einzige Unterschied zur russischen Vorlage ist, dass diese die noch negativere Bezeichnung »ausländischer Agent« als Brand-
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»Die politische Opposition in Ungarn ist schwach und zersplittert.« zeichen für die »Staatsfeinde« vorschreibt. Orbáns Dauerstreit mit Brüssel geht damit in eine neue Runde: »Wir haben das neue Gesetz über nichtstaatliche Organisationen gründlich geprüft und sind zu dem Schluss gelangt, dass es nicht im Einklang mit dem EU-Recht steht«, erklärte Kommissions-Vizepräsident Frans Timmermans im Juli. Die Diffamierung in der Sprache des Totalitären besorgt indes die Dampfwalze der Orbán-Propaganda. In deren Fadenkreuz steht vor allem der ungarischstämmige, liberale Jude George Soros. Da fehlt es nicht an verschwörungstheoretischen und antisemitischen Tönen. Soros, so Orbán im Mai 2016, sei der Lenker einer »Hintergrundmacht«, die »illegale Migranten« in Riesenzahl nach Europa »anliefert«, um die Völker des alten Europas ihres »nationalen und christlichen Charakters« zu berauben. AfD und Pegida lassen grüßen. Theoretisch könnten starke NGOs wie das Helsinki-Komitee, TASZ oder Amnesty die lächerliche Brandmarkung als »vom Ausland unterstützte Organisation« wegstecken. Doch in dem Klima, das die Orbán-Propaganda erzeugt, könnten kleinere Partner oder auch Menschen, die bei ihnen Schutz suchen, davon abgeschreckt werden, mit ihnen in Kontakt zu treten. Die drei genannten Organisationen erklärten deshalb, dass sie die neue Regelung boykottieren werden. Mit dieser Art von zivilem Ungehorsam wollen sie es auf Gerichtsverfahren ankommen lassen, in deren Verlauf die Verfassungsmäßigkeit des NGO-Gesetzes und auch seine Vereinbarkeit mit der Europäischen Menschenrechtskonvention zu prüfen wären. Der Kreuzzug des Regierungschefs gegen die Zivilgesellschaft erfolgt indes auf breitester Front. Im April beschloss das Parlament ein neues Hochschulgesetz, durch das der renommierten Central European University (CEU) in Budapest nun die Schließung droht. Das Gesetz beinhaltet neue Bedingungen für den Hochschulbetrieb, die die CEU nicht erfüllen kann. Der vermeintliche Makel der internationalen Postgraduierten-Einrichtung: Sie wurde 1991 von George Soros gegründet. Ende Juni wurde der alternativen Budapester Kulturkneipe Auróra mit juristisch unhaltbaren Begründungen die Gaststättenlizenz entzogen – von einer Bezirksverwaltung, hinter der ein Orbán-loyaler Bürgermeister steht. Das Auróra ist eines der Nervenzentren der ungarischen Zivilgesellschaft. Unter anderen haben dort die Veranstalter des jährlichen Gay Pride, das unabhängige Roma-Pressezentrum und Obdachlosen-Aktivisten ihre Büros. Auch an der Organisation der Protestkundgebung gegen die drohende Schließung der CEU, an der im April 70.000 Menschen teilnahmen, hatten die Macher des Auróra ihren Anteil. Als Begegnungs- und Veranstaltungsstätte läuft das Auróra vorerst weiter. Doch weil der nun behördlich eingestellte Gaststättenbetrieb für 80 Prozent der Einnahmen gesorgt hatte, ist die Zukunft dieser Einrichtung ungewiss.
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Auf eigenes Risiko F
ünfzig russische Schülerinnen und Schüler aus ganz Russland sollten ausgezeichnet werden, eigentlich ein Tag der Freude. Doch die Preisverleihung Ende April konnte nur unter erschwerten Bedingungen stattfinden: Vor dem Eingang des Moskauer Theaters am Nikitski-Tor standen nationalistische Aktivisten und protestierten. »Memorial schreibt für Geld aus Deutschland die Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges um«, hieß einer der Slogans auf den Plakaten, ein anderer warnte vor »ausländischen Agenten«. 40.000 Heranwachsende aus allen Landesteilen haben bisher beim Geschichtswettbewerb der Menschenrechtsorganisation Memorial mitgemacht. Seit 20 Jahren werden so Familiengeschichten rekonstruiert oder Geschichten von Straßen erforscht. Doch der Wettbewerb hat es immer schwerer. Der russischen Führung passt die Arbeit von Memorial nicht. Denn die Organisation, die 2004 den alternativen Nobelpreis erhielt, wird aus Deutschland unterstützt. Die Körber-Stiftung, die Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft, die Heinrich-Böll-Stiftung und die Friedrich-Naumann-Stiftung fördern den Geschichtswettbewerb seit Jahren. Ihr Ziel ist es, den deutsch-russischen Dialog in Gang zu halten. Alle russischen Nichtregierungsorganisationen, die mit ausländischen Partnern kooperieren, haben derzeit ähnliche Probleme. Sie sehen sich einem Generalverdacht ausgesetzt: dem der Spionage. Bereits seit 2012 müssen sich alle russischen NGOs, die Geld aus dem Ausland erhalten, als »ausländische Agenten« bezeichnen, wenn sie politisch arbeiten. Das klingt für viele Russen stigmatisierend: So wurden zu Stalin-Zeiten Andersdenkende genannt. Mittlerweile sind rund hundert NGOs betroffen. Dazu gehören fast alle namhaften Menschenrechts- und Umweltorganisationen, aber auch Vereinigungen, die Aids-Aufklärung betreiben. »Agent« zu sein erschwert die Arbeit enorm. Die MemorialPreisverleihung im Frühjahr konnte nur unter verschärften Sicherheitsvorkehrungen stattfinden. Im April war der ursprüngliche Veranstaltungsort plötzlich gekündigt worden, Memorial musste kurzfristig in das Theater ausweichen. Bei der Preisverleihung 2016 war es sogar zu Handgreiflichkeiten gekommen. Damals hatten Nationalisten die regierungskritische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja mit grüner Farbe beschmiert und Eier auf die Teilnehmer geworfen.
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Sie fühlen sich im Recht. Nach den Massenprotesten gegen Wahlfälschung und Machtmissbrauch im Winter 2011/12 beschloss die Kremlführung das sogenannte »Agentengesetz«, um »politisch aktive« Organisationen zu diskreditieren. Es geht grundsätzlich von der Annahme aus, dass die Kooperation mit ausländischen Partnern dazu dient, sich aktiv in die russische Innenpolitik einzumischen. Das Gesetz umfasst strenge Rechenschaftspflichten, alle publizierten Materialien müssen mit dem Label »ausländischer Agent« versehen werden. Außerdem drohen Geldstrafen und Freiheitsentzug im Falle einer Nicht-Registrierung im Agentenverzeichnis des Justizministeriums. Mittlerweile klagen einige NGOs vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg gegen die Regelung. Sie richtet sich vor allem gegen US-Organisationen, von denen bereits einige als »unerwünscht« gelten. USAID, eine Behörde für Entwicklungszusammenarbeit, der Thinktank US National Endowment for Democracy und die Open-Society-Stiftung des US-Milliardärs George Soros mussten wegen des Gesetzes bereits das Land verlassen. Aus Sicht von Präsident Wladimir Putin hatten sie die Proteste angestachelt. Soros’ Open Society sieht sich derzeit ähnlichen Attacken in Ungarn ausgesetzt. Auch Deutschland ist betroffen. Wegen der Annexion der Krim und dem verdeckten Krieg in der Ostukraine ist das Verhältnis zwischen Westeuropa und Russland ohnehin angespannt. Das neue Misstrauen gegenüber ausländischen Geldgebern belastet die deutsch-russische Zusammenarbeit nun noch mehr. Im Umgang mit Behörden steht auf russischer Seite immer öfter der Verdacht im Raum, die Deutschen verfolgten subversive Absichten.
»Mittlerweile sind alle unsere Partner ›Agenten‹.« Johannes Voswinkel, Heinrich-Böll-Stiftung AMNESTY JOURNAL | 10-11/2017
Foto: AFP / Getty Images
Der Kreml drangsaliert Nichtregierungsorganisationen, die mit ausländischen Partnern zusammenarbeiten. Immer öfter weichen Aktivisten deshalb nach Berlin aus. Von Gemma Pörzgen
Abgeführt. Moskau, Juni 2017.
»Mittlerweile sind alle unsere russischen Partner ›Agenten‹«, sagt Johannes Voswinkel, Leiter des Moskauer Büros der Böll-Stiftung. Die Stiftung arbeitet mit Memorial, aber auch mit Umweltorganisationen oder Homosexuellenprojekten landesweit zusammen. »Das schafft erhebliche Schwierigkeiten für unsere Partner – und damit indirekt auch für uns«, sagt Voswinkel. Deutsche Stiftungen könnten zwar noch unbehelligt in Russland agieren, aber die Kontrolle ihrer Arbeit sei immer spürbarer; bürokratische Hürden belasteten zunehmend den Alltag. »Da ist es manchmal einfacher, eine Veranstaltung nach Berlin zu verlegen, anstatt sie in Moskau zu organisieren«, sagt Voswinkel. Die NGOs holten bereits weniger ausländische Experten nach Russland, weil der Aufwand viel höher sei als früher. Ob Reisekosten, Steuern oder Anstellungsverhältnis – fast alles könne inzwischen heikel sein, klagt der Stiftungsleiter. Stefan Melle, langjähriger Leiter des Deutsch-Russischen Austauschs in Berlin bestätigt die Schwierigkeiten. Projekte im Nordkaukasus, wo Separatisten einen islamistischen Gottesstaat errichten wollen, seien inzwischen ein Tabuthema für viele NGOs: »Leute, die das dennoch machen, gehen ein hohes persönliches Risiko ein«, sagt Melle. Bei der Kooperation mit russischen Partnern würden Gespräche über Risiken immer mehr Raum einnehmen. Hinzu kommt, dass angesichts von Hackerangriffen und Überwachung die normale Arbeitskommunikation nicht sicher ist. »Die Überwachung als Normalzustand nimmt zu«, sagt Melle.
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Einen kleinen Hoffnungsschimmer allerdings bedeutet die Einstellung des Verfahrens gegen die Vorsitzende der Frauen vom Don, Valentina Cherevatenko, Ende Juli. Während bisher NGOs, die gegen das Gesetz über ausländische Agenten verstießen, lediglich mit Geldbußen rechnen mussten, drohte ihr sogar eine Gefängnisstrafe. Die Frauen vom Don sind eine der ältesten zivilgesellschaftlichen Organisationen Russlands: Seit mehr als 20 Jahren helfen sie in Nowotscherkassk im Süden des Landes Menschen mit sozialen Problemen oder unterstützen Frauen in Not. Für ihr Engagement erhielt Cherevatenko 2016 den deutsch-französischen Menschenrechtspreis. Ihr war vorgeworfen worden, bei einem ihrer Projekte mit einer deutschen Stiftung kooperiert zu haben und die Frauen vom Don trotzdem nicht freiwillig als »ausländischer Agent« registriert zu haben. Im Falle einer Verurteilung hätte ihr eine Haftstrafe von bis zu zwei Jahren gedroht. Eine Gefahr, die für zahlreiche Aktivisten weiter besteht: Viele Experten fürchten, dass der Druck auf die NGOs vor den Präsidentschaftswahlen und der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 weiter zunehmen wird. Dennoch beobachtet Melle auch gegensätzliche Entwicklungen: In der NGO-Szene entwickelten sich derzeit neue Projekte, jüngere Leute würden aktiv. »Es gibt ›shrinking spaces‹ und gleichzeitig ›expanding spaces‹«, sagt Melle. »Das Land ist nicht tot, die Wirtschaft ist nicht tot und die Regierung ist nicht das Land – das gehört seltsamerweise alles zusammen.«
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Fremde im eigenen La Mehr als 20 Regimekritiker, Journalisten und Geistliche sind im September in Saudi-Arabien festgenommen worden. Kronprinz Mohammed Bin Salman will sie so zum Schweigen bringen. Von Sebastian Sons
In den Kerkern des Königs. Amnesty-Demonstration in Mexiko-Stadt für die Freilassung politischer Gefangener in Saudi-Arabien, Februar 2015.
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Foto: Edgard Garrido / Reuters
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adschwa will nicht mehr auf ihren Papa warten. »Er hat nur einen Blog veröffentlicht. Das ist nicht verboten«, sagt die 14-Jährige in einem von Amnesty International veröffentlichten Video. Und dennoch sitzt Nadschwas Vater Raif Badawi nun seit mehr als fünf Jahren in Saudi-Arabien im Gefängnis. Der Blogger wurde 2014 wegen »Abfall vom Islam« zu zehn Jahren Haft und 1.000 Peitschenhieben verurteilt. »Juden, Christen und Muslime sind in ihren Rechten gleich«, hatte er geschrieben und das konservative religiöse Establishment des Königreichs kritisiert. Außerdem hatte er eine Initiative gestartet, die Frauen Englisch und Computerkenntnisse beibringen wollte. Offenbar zu liberal für Saudi-Arabien. »Mein Mann hat nicht einmal die Religion an sich kritisiert, sondern vor allem das Verhalten der saudischen Religionspolizei«, sagt Badawis Frau Ensaf al-Haidar, die schon vor Jahren mit ihren Kindern nach Kanada floh und seitdem auf das Schicksal ihres Mannes aufmerksam macht. »Im Grunde hat er nur gefordert, dass die Menschen in Saudi-Arabien ein normales Leben führen dürfen.« Doch das reicht im Königreich aus, um bestraft zu werden. Der Fall Badawi, für den die Peitschenhiebe mittlerweile aus gesundheitlichen Gründen ausgesetzt wurden, ging um die Welt, auch wegen der Initiative seiner Frau. In Deutschland wurden Badawis Schriften unter dem Titel »1.000 Peitschenhiebe. Weil ich sage, was ich denke« veröffentlicht. Raif Badawi, heute 33 Jahre alt, ist kein Einzelfall. Allein Anfang September wurden laut Amnesty mehr als 20 bekannte islamische Geistliche, Schriftsteller, Wissenschaftler, Journalisten und Aktivisten festgenommen. »Die neue Führung um Kronprinz Mohammed Bin Salman sendet damit eine abschreckende Botschaft: Meinungsfreiheit wird nicht geduldet«, urteilt der Amnesty-Nahostexperte Samah Hadid. Noch nie in den vergangenen Jahren sei eine so große Zahl Prominenter in derart kurzer Zeit festgenommen worden. Zu den Inhaftierten zählt Scheich Salman al-Awda, der mehr als 14 Millionen Follower in sozialen Netzwerken hat – und sich für Reformen sowie eine stärkere Beachtung von Menschenrechten in der Scharia-Gesetzgebung einsetzt. Der Schriftsteller Abdullah al-Maliki wurde ebenfalls festgenommen, auch er setzt sich für Reformen und Menschenrechte in dem Königreich ein. Bis Ende September hatte die Justiz keine Anklagepunkte gegen die beiden genannt, auch bei 20 weiteren Inhaftierten waren die Gründe unklar. Allerdings teilte der Staatssicherheitsdienst mit, dass man gegen eine Gruppe vorgehe, die sich »zum Wohle ausländischer Parteien« zum Ziel gesetzt habe, »Aufruhr zu schüren und die nationale Einheit zu beeinträchtigen«. Tausende politische Aktivisten sind derzeit in Saudi-Arabien im Gefängnis. Trotz Kritik aus der ganzen Welt spüren Oppositionelle und Menschenrechtsaktivisten, Angehörige der schiitischen Minderheit und Arbeitsmigranten die Härte des saudischen Regimes. Es duldet keine Kritik an den Mitgliedern des Königshauses, an den Religionsgelehrten und am Islam. Wer diese roten Linien überschreitet, dem drohen Haft, Auspeitschungen oder die Todesstrafe. 2016 wurden nach Informationen von Amnesty in Saudi-Arabien 154 Menschen hingerichtet, 2015 waren es sogar 158. Das Königshaus begründet seine Unbarmherzigkeit mit dem Kampf gegen den dschihadistischen Terror, in dessen Fadenkreuz Saudi-Arabien geraten ist. Seit 2014 verübt der Islamische Staat regelmäßig Anschläge – zunächst auf schiitische Moscheen in der Ostprovinz, zuletzt auch in Riad, Dschidda und Medina.
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»Viele junge Saudis wollen die verkrusteten Strukturen aufbrechen.«
Foto: Hasan Jamali / AP / pa
Es vergeht fast kein Tag, an dem in saudischen Medien nicht über vereitelte oder verübte Anschläge oder ausgehobene Terrorzellen berichtet wird. Der Dschihadismus ist derzeit ohne Frage die gefährlichste Bedrohung für das Land. Das weiß die Regierung um König Salman und nutzt den Kampf gegen den Terror, um unliebsame Kritiker auszuschalten. Auch für das Image in der westlichen Welt ist das harsche Vorgehen gegen Extremisten hilfreich. Als »verlässlichen Partner« lobt selbst die deutsche Regierung Saudi-Arabien. Zu Beginn der arabischen Aufstände 2011 bewunderten viele saudische Frauen und Männer den Mut der Demonstrierenden in Ägypten und Tunesien, für Freiheit und Gerechtigkeit auf die Straße zu gehen. In unzähligen Tweets und Facebook-Posts bekundeten vor allem junge Saudis ihre Solidarität und hofften auf ähnliche Veränderungen im eigenen Land. Aktivistinnen stellten Videos ins Netz, die sie beim Autofahren zeigten. Dabei ist das für Frauen offiziell noch immer verboten. Gleichzeitig kritisierten sie die Bevormundung durch den Mann und die Geschlechtertrennung. Sie hielten damals die Zeit für reif, auf ihre Hoffnungen aufmerksam zu machen. Doch das Regime um den 2015 verstorbenen König Abdullah reagierte knallhart: Je stärker das politische System kritisiert wurde, desto unversöhnlicher handelten die
Behörden. Nicht alle Blogger und Aktivisten wurden inhaftiert. Oft reichte es schon, sie bei ihren Familien zu diskreditieren. In einer Gesellschaft, in der der Rückhalt der Familie über die persönliche Zukunft entscheidet, kann das katastrophale Konsequenzen haben. Und so folgten damals einem Aufruf im Internet zum »Tag des Zorns« nicht wie in Kairo oder Tunis Zehntausende, sondern nur ein einziger Demonstrant, der sich einer Armada von Sicherheitskräften gegenübersah. Der saudische Frühling war zu Ende, bevor er wirklich begonnen hatte. Inzwischen agiert das Regime noch unnachgiebiger gegenüber sogenannten Feinden der inneren Ordnung. Darunter leiden vor allem die Angehörigen der schiitischen Minderheit im Land, etwa zehn bis 15 Prozent der mehr als 31 Millionen Einwohner, die vor allem in der ölreichen Ostprovinz leben. Die saudische Islamauslegung des Wahhabismus verunglimpft sie als Ungläubige. Die konsequente berufliche und politische Ausgrenzung der Schiiten dient dem Regime auch dazu, sich die Loyalität der wahhabitischen Religionsgelehrten zu sichern. Der konfessionell grundierte Konflikt mit Iran trägt ebenfalls dazu bei, sie zu Fremden im eigenen Land zu machen. Den saudischen Schiiten wird unterstellt, Agenten des schiitischen Rivalen um Hegemonie in der Region zu sein, die das sunnitisch-wahhabitische Königshaus stürzen und den Einfluss Irans ausweiten wollen. Doch dieser Vorwurf ist übertrieben: Viele schiitische Aktivisten fordern lediglich mehr Integration in den Staat, mehr Freiheiten und mehr berufliche Perspektiven. Sie grenzen sich sogar dezidiert vom Iran ab, der ihnen fremd ist. Seit 2011 kam es in der Ostprovinz immer wieder zu schiitischen Protesten, die in gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstrierenden und Sicherheitskräften endeten. Insbesondere die Predigten des prominenten Schiitenklerikers Nimr al-Nimr heizten die Atmosphäre an. 2014 wurde er unter anderem wegen Volksverhetzung und Anstiftung zum Aufruhr zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde im Januar 2016 vollstreckt – nicht zuletzt, um wahhabitische Prediger zu besänftigen, denen das harte Vorgehen gegen sunnitische Dschihadisten zu weit geht. Von den insgesamt 47 am selben Tag wie al-Nimr Hingerichteten waren 43 Sunniten. Doch die Exekution des schiitischen Anführers ließ die Situation eskalieren: In Teheran stürmten iranische Demonstrierende die saudische Botschaft; in der Ostprovinz schürte sie den Hass auf das Regime weiter. Rund um al-Awamiyah, der Heimatstadt al-Nimrs, kommt es regelmäßig zu Razzien saudischer Polizisten, die willkürlich Häuser durchsuchen und Verhaftungen vornehmen. Aktivisten behaupten, dass sogar Anschläge auf Kontrollposten inszeniert worden seien, um das harte Vorgehen gegen die schiitische Bevölkerung besser legitimieren zu können. Auch die Situation der etwa acht Millionen Arbeitsmigranten aus Indien, Pakistan und Bangladesch ist
Frauenprotest. Auf der Stadtautobahn von Riad, März 2014.
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Foto: AP / pa
miserabel. Erst seit den Berichten über Missstände auf den Baustellen für die Stadien der Fußballweltmeisterschaft 2022 in Katar ist das Leiden der Lohnsklaven am Golf auch im Westen bekannt. Dabei leben asiatische Arbeiter bereits seit dem wirtschaftlichen Aufschwung der 1970er Jahre auf der Kehrseite der saudischen Erfolgsstory. Sie leiden unter dem Kafala-System, das sie abhängig von ihren Arbeitgebern macht. Diese behalten deren Reisepässe ein oder lassen Hausangestellte teilweise bis zu 16 Stunden an sieben Tagen der Woche für sie arbeiten. Fast täglich erscheinen Berichte über Misshandlungen, Schlafentzug und Vergewaltigungen. Neben all diesen Missständen vollzieht sich im Land ein sozialer Wandel, der an Dynamik kaum zu überbieten ist: 70 Prozent der Menschen sind unter 30 Jahre alt. Das macht SaudiArabien zu einem sehr jungen Staat, Mutig. Schiitische Demonstranten in Qatif, März 2011. in dem zuletzt die Lust am Diskutieren deutlich zugenommen hat. Über Mängel im Bildungssystem, über Korschürt und dadurch die Region weiter destabilisiert. Als Verteiruption, Drogenmissbrauch oder Frauenrechte wird vor allem digungsminister ist er verantwortlich für die katastrophale huonline kontrovers diskutiert. Hunderttausende junge saudische manitäre Lage im südlichen Nachbarland Jemen, die sich durch Frauen und Männer kehren mit hohen Erwartungen von ihren die Angriffe der von Saudi-Arabien geführten Militärallianz seit Studienaufenthalten im Ausland zurück. Viele wollen ihr Land März 2015 dramatisch verschärft hat. verändern – wirtschaftlich, politisch und kulturell. Sie sind Teil Zunächst beschränkt sich der Wandel daher weitgehend auf der globalisierten Welt und wollen die verkrusteten Strukturen wirtschaftliche Reformen. Politische Veränderungen hingegen aufbrechen. Zugleich dient das Chaos in Syrien oder Ägypten wie die Abschaffung der Todesstrafe oder die Erweiterung der auch als warnendes Beispiel: Evolution statt Revolution gilt Pressefreiheit werden in der von Muhammad bin Salman verdeshalb vielen als Weg – schrittweise Reformen, keine Radikalantworteten Vision 2030 mit keinem Wort erwähnt. Stattdessen lösungen. will das Königshaus Reformtempo und -umfang kontrollieren. Das haben die Entscheidungsträger im saudischen KönigsDas gilt vor allem für die Frage der Frauenrechte: Immer mehr haus verstanden. Deshalb versuchen sie, sich als Reformer und weibliche Führungskräfte drängen an die Spitze der Wirtschaft. Partner auch der jungen Bevölkerung zu präsentieren. WichtigsSo wurde zum ersten Mal eine Frau Chefin der Börse, für kurze te Figur dabei ist der 31-jährige Königssohn Mohammed bin Salman, der im Juni zum Kronprinzen ernannt wurde, und den alle Zeit leitete eine saudische Prinzessin die arabische Ausgabe der nur MbS nennen. MbS ist zum Inbegriff des saudischen Wandels Modezeitschrift Vogue. Auch auf internationalem Parkett sind saudische Diplomageworden, weil er selbst die Missstände in der saudischen Geten deshalb aktiv, um sich als Beschützer von Menschen- und sellschaft anspricht. Als designierter Nachfolger seines 81 Jahre vor allem Frauenrechten zu präsentieren. Mit Erfolg: Im April alten Vaters könnte er vielleicht schon bald als König das Land 2017 wurde das Königreich in die UN-Kommission für Frauenprägen. rechte gewählt. Der Direktor von UN Watch, Hillel Neuer, komMohammed ist Architekt der sogenannten Vision 2030: mentierte die umstrittene Wahl so: »Saudi-Arabien zu wählen, Dieses Reformprogramm soll die Wirtschaft diversifizieren und um Frauenrechte zu schützen, ist in etwa so, wie einen Branddas Land von Öleinkünften unabhängig machen. Dafür soll die stifter zum Feuerwehrchef der Stadt zu machen.« Jugendarbeitslosigkeit von derzeit 30 Prozent massiv gesenkt werden, vor allem durch die Schaffung von Jobs für Frauen, die Stärkung der Privatwirtschaft sowie eine Ausweitung des Tourismus. Selbst über frühere Tabus wie die Eröffnung von Kinos wird nun gesprochen. Ein Komitee für Unterhaltung, von den Saudis »Glücksministerium« genannt, soll sogar US-Filmstars wie Robert de Niro einfliegen. Kronprinz Mohammed gilt zwar als Aushängeschild des Wandels, gleichzeitig betreibt er aber eine nationalistische Außenpolitik der Konfrontation, die den Konflikt mit dem Iran
»Der saudische Frühling war zu Ende, bevor er wirklich begonnen hatte.«
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GLOBALER AKTIONSTAG 14. OKTOBER +O ,WNK YWTFGP ċFKN 'UGT FKG &KTGMVQTKP FGT VØTMKUEJGP #OPGUV[ 5GMVKQP WPF PGWP YGKVGTG /GPUEJGPTGEJVU XGTVGKFKIGTKPPGP WPF XGTVGKFKIGT HGUVIGPQOOGP 5KG YGTFGP DG\KEJVKIV GKPG VGTTQTKUVKUEJG 1TICPKUCVKQP WPVGTUVØV\V \W JCDGP &KGUGT 8QTYWTH KUV CDUWTF WPF GPVDGJTV LGFGT )TWPFNCIG
Für aktuelle Informationen und Materialien: amnesty.de/tuerkei
#PartyWithIdil Am 14. Oktober muss Ä‹dil ihren Geburtstag im Gefängnis verbringen – und das nur, weil sie sich fĂźr die Rechte anderer eingesetzt hat. Deshalb feiern wir ihren Geburtstag weltweit umso lauter und sorgen dafĂźr, dass die Menschen von dieser Ungerechtigkeit erfahren. Backt einen Kuchen, kocht Kaffee und Tee, pustet Luftballons auf, streut Konfetti, setzt euch PartyhĂźtchen auf, singt ein Ständchen – feiert Idils Geburtstag einfach so, wie ihr sonst auch Geburtstag feiert. Ob zuhause, auf der Arbeit, im Sportverein, auf der StraĂ&#x;e oder wo auch immer, ladet spontan Menschen ein, stoĂ&#x;t auf den Geburtstag an und haltet einen kleinen Plausch. Ihr kĂśnnt natĂźrlich auch Geburtstagskarten basteln und GlĂźckwĂźnsche fĂźr Ä‹dil sammeln. Wir werden die
)GDWTVUVCIU 2QUV HĂ˜T Ä‹FKN YGKVGT NGKVGP YGPP GU FKG Situation erlaubt. Macht Fotos oder Videos von eurer Party und teilt sie mit dem Hashtag #PartyWithIdil in den sozialen Medien. Zeigt eure Solidarität mit Ä‹dil und tragt dazu bei, dass sie und auch die anderen Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger nicht in Vergessenheit geraten.
THEMEN
Tropischer Vandalismus Operation zur Unterdrückung des Volkes. Polizisten im Armenviertel Las Casitas von Caracas, November 2016.
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Foto: Daniel Blanco
Gewalt statt Sozialismus: In Venezuela gehen regierungstreue Schlägerbanden gegen Bewohner von Armenvierteln vor. Von Wolf-Dieter Vogel, Caracas
VENEZUELA
Sie kamen im Morgengrauen, noch bevor die Sonne ihre ersten Strahlen auf die Häuser am Hang warf. Behelmt und mit Pistolen bewaffnet drangen die uniformierten Männer in La Ensenada ein. Stufe für Stufe schritten sie voran, von Tür zu Tür. »Wir hatten nur zwei Stunden Zeit, um alles zusammenzupacken«, erinnert sich Irene González. Zwei Stunden, in denen die Venezolanerin alles aufgeben musste, was sie in den letzten 30 Jahren geschaffen hatte: ihr Haus, ihr Feld und vor allem ihre Comunidad – das gemeinschaftliche Leben im Viertel, das ihr so wichtig geworden war. »Melancholie, Ohnmacht, Wut, Traurigkeit« – auch zwei Jahre nach jenem 24. Juli 2015, an dem sie aus ihrer Siedlung vertrieben wurde, fällt es González schwer, an diesen Ort oberhalb von Caracas zurückzukehren. »Es war sehr schmerzhaft zuzuschauen, wie sie unsere Häuser zerstörten, Familien auseinanderrissen, Frauen und Kinder schlugen«, sagt die 43-jährige Verkäuferin. Sie berichtet von den Baggern, die alles zertrümmerten, von den Lastwagen der Regierung, in denen ihre Kühlschränke und Waschmaschinen verschwanden, für immer: »Wir waren im Depot, aber dort haben wir nichts mehr gefunden.« Inzwischen überwuchern tropische Bäume und Büsche den Bauschutt, den die staatlichen Eindringlinge hinterließen, nachdem sie La Ensenada dem Erdboden gleichgemacht hatten. Doch die Erinnerung ist geblieben. »Hier sind unsere Kinder und Enkel geboren«, erzählt González. Ein paar Meter weiter oben habe sie mit ihrem Mann Gemüse, Früchte und Salat angebaut. So wie viele der 106 Familien, die jetzt vor dem Nichts stehen. Auch Emily León hat alles verloren. »Sie haben nicht nur mein Haus, sondern mein Leben zerstört«, sagt die 24-Jährige. Nun ist sie in einem Wohnheim untergebracht. Vorübergehend. Besonders wegen ihres zehnjährigen Sohnes und der siebenjährigen Tochter macht sie sich Sorgen: »Sie haben uns behandelt wie Tiere.« Bis heute wissen die ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohner von La Ensenada nicht, warum an jenem Morgen 1.500 Polizisten, Nationalgardisten und Beamte des Geheimdienstes Sebin ihre und zwei anliegende Siedlungen stürmten. Auf Anordnung des Präsidenten Nicolás Maduro, habe man ihnen gesagt. Mehr nicht. »Aber wir sind keine Kriminellen und keine Oppositionellen«, betont León. Im Gegenteil, die meisten seien früher Chavisten gewesen, Anhänger des 2013 verstorbenen linken Präsidenten Hugo Chávez. Dessen Nachfolger sprach jedoch nach dem Einsatz von einem erfolgreichen Schlag gegen paramilitärische Gruppen. Für Maduro war die Räumung eine weitere von vielen erfolgreichen »Operationen zur Befreiung des Volkes« (OLP), mit denen die sozialistisch genannte Regierung seit zwei Jahren verschärft gegen vermeintliche Verbrecherbanden vorgeht. So will sie die ausufernde kriminelle Gewalt in Venezuela bekämpfen. Kritiker der Regierung bezweifeln jedoch, dass die OLP nur Kriminelle im Visier haben. Weil sich viele wegen der Wirtschaftskrise Lebensmittel nicht mehr leisten können und das Gesundheitssystem kollabiert ist, nimmt auch in den armen
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Fotos: Fabiola Ferrero
Auf Trümmern. Irene González und Emily León in La Ensenada, August 2017.
Vierteln, den ehemaligen Hochburgen der Chavisten, der Widerstand gegen Maduros Politik zu. Immer wieder liefern sich Regimekritiker und -anhänger Straßenschlachten, bei denen seit Anfang des Jahres 124 Menschen ums Leben kamen. Die Regierung reagiert repressiv: Über 5.000 Menschen wurden inhaftiert, der für Menschenrechte zuständige UN-Hochkommissar Said Raad al-Hussein spricht von Folter. Die von Gefolgsleuten Maduros gebildete Verfassungsgebende Versammlung baut zudem systematisch demokratische Rechte ab. So entmachtete das im Juli wahrscheinlich durch Wahlbetrug neu zusammengesetzte Gremium das von Regimegegnern dominierte Parlament. Angesichts dieser Zuspitzung geht Rafael Uzcáteguí von der Menschenrechtsorganisation Provea davon aus, dass die »Operationen zur Befreiung des Volkes« vor allem gegen den wachsenden Widerstand eingesetzt werden. »Es gibt mittlerweile zahlreiche OLP in Armenvierteln, in denen es zu Protesten kam«, sagt er. Uzcáteguí spricht von Hinrichtungen, Durchsuchungen ohne richterlichen Beschluss, Diebstahl und vielen willkürlichen Festnahmen. »Nur eine von zehn betroffenen Personen musste sich vor Gericht verantworten, neun konnte nicht einmal ein kriminelles Delikt vorgeworfen werden«, so der Aktivist. Auch Emily León saß hinter Gittern. 47 Tage lang. Dann konnte ein von ihrer Nachbarschaft finanzierter Anwalt ihre Unschuld beweisen. Die Beamten hatten behauptet, sie habe Marihuana gepflanzt, und zum Beweis ein Foto vorgelegt, das
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jedoch nichts belegte. »Sie haben nichts gefunden, das war nur ein Vorwand«, ist sie überzeugt. »Bei uns im Viertel gab es weder Drogen noch Überfälle oder Morde.« Nur sehr ungern spricht die junge Frau vom Gefängnis. »Sie haben mich gezwungen, mich auszuziehen«, sagt sie und stockt. »Sagen wir, ich habe die Zeit überlebt.« Die OLP haben bereits viele Todesopfer gefordert. So etwa in Ciudad Caríbia. Die urbane Siedlung außerhalb von Caracas wurde einst von Chávez als sozialistische Modellstadt konzipiert. Daran erinnern nur noch eine dunkle Statue des verstorbenen Führers der Bolivarianischen Bewegung und Wandmalereien mit dessen Konterfei. Heute ist Ciudad Caríbia eine von Gewalt gezeichnete Ansammlung mehrstöckiger Häuserblocks, in denen rund tausend Familien leben. Niemand redet öffentlich über das Morden. Denn hier haben Kriminelle das Sagen. Und Colectivos. Immer wieder gehen diese der Regierung nahestehenden Motorradgangs brutal gegen Oppositionelle und Journalisten vor, häufig rauben sie Passanten aus. Über ihre Aufgabe lassen sie keinen Zweifel. »Die Colectivos übernehmen Caracas, um die Revolution zu verteidigen«, heißt es auf Plakaten, die an Häuserwänden kleben und die Silhouette eines bewaffneten Mannes zeigen. Kritiker sprechen von parastaatlichen Gruppen, die für Maduro die Drecksarbeit machten. Auch in Ciudad Caríbia sind die »Kollektive« nicht nur damit beschäftigt, die günstigen Lebensmitteltüten des staatlichen Ernährungsprogramms CLAP zu verteilen. Um gegen eine Bande vorzugehen, projizierten die militanten Biker im Juni letzten
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»Niemand redet öffentlich über das Morden.« González, wie sie ihr Geld verdienen. Die beiden arbeiten als Verkäuferinnen im Einkaufszentrum Los Prócedes. Doch die Angst sitzt tief. »Nach der Räumung mussten alle erst einmal auf der Straße schlafen«, berichtet González. Derzeit wohne ihre Familie vorübergehend im Haus eines Freundes. Dann erzählt sie von ihrem Vater, einem Gründer der Siedlung: »Er hat das nicht mehr ertragen. Im Sommer ist er gestorben.« Trotzdem kämpfen die beiden weiter und fordern eine Entschädigung. Zu Chávez’ Zeiten hatte ihre Comunidad staatliche Unterstützung für Selbsthilfe erhalten, um Häuser zu renovieren. Heute ist Eigeninitiative nicht mehr gefragt. Jedenfalls nicht, wenn sie Kritik am Regime übt. Weil er sich für Gerechtigkeit einsetzt, habe man ihm seine Hamburger-Bude in Los Prócedes gekündigt, sagt González’ Ehemann Carlos. Das Einkaufszentrum sei im Besitz des Militärs, andere Ladenbesitzer stünden unter Druck, weil sie renitente ehemalige Bewohnerinnen von La Ensenada beschäftigten. Grund genug für Emily León, vorsichtig zu sein. Aufgeben will sie aber nicht. Trotz der Verantwortung für die Kinder. Sie hofft, eines Tages zumindest Antwort auf diese eine Frage zu bekommen: Warum hat man ihr das alles angetan?
Foto: Daniel Blanco
Jahres auf dem Hugo-Chávez-Platz mit einem Videobeamer Fotos vermeintlicher Paramilitärs und Drogenhändler. Wenige Tage später folgte der Einsatz. »Sie trugen Sweatshirts und schwarze Westen, militärische Tarnanzüge, Handschuhe und versteckten ihre Gesichter hinter Masken«, erinnert sich eine Anwohnerin. Gemeinsam mit Nationalgardisten und Geheimdienstlern drangen die Colectivos im Rahmen einer OLP in die Wohnungen der Gebrandmarkten ein und richteten mehrere von ihnen regelrecht hin. »Diese Leute schossen noch, als die Opfer schon tot waren«, berichtet ein Bekannter. »Sie feuerten Kugeln auf den Boden und in die Tür, damit es wie eine Konfrontation wirkte.« Sechs Menschen starben an diesem Morgen, zehn wurden in das Spezialgefängnis der Sebin El Helicoide gebracht. Ob die Getöteten tatsächlich einer Bande angehörten, wird wohl nie aufgeklärt werden. Ebenso wenig wie die Fälle der 500 weiteren Menschen, die bei OLP starben. Denn die Generalstaatsanwältin Luisa Ortega, die die Operationen von Juli 2015 bis März 2017 in einem Bericht dokumentierte, wurde jüngst von der Verfassungsgebenden Versammlung abgesetzt. Die regierungskritische Juristin musste ins Ausland flüchten. »Die Gewaltenteilung ist aufgehoben und Ortegas eingesetzter Nachfolger Tarek William Saab ist nicht unabhängig«, sagt Menschenrechtsverteidiger Uzcáteguí. Die an OLP beteiligten Kräfte würden zunehmend zu einer »Besatzungsarmee«, um die soziale Kontrolle in den Armenvierteln wiederzuerlangen. In La Ensenada braucht es keine Kontrolle mehr – die Siedlung liegt in Trümmern. Immerhin wissen Emily León und Irene
Repression statt Revolution. Polizeikontrolle im Armenviertel La Vega in Caracas, November 2016.
VENEZUELA
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Langsamer Tod am süßen Fluss Die größte Umweltkatastrophe in der Geschichte Brasiliens hat das Leben der indigenen Krenak für immer verändert. Von Nicoló Lanfranchi
Vergiftetes Heiligtum. Krenak bei einem Ritual am Ufer des Rio Doce, April 2017.
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Foto: Nicoló Lanfranchi
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Am 5. November 2015 bricht eine rote Lawine aus toxischem Schlamm durch den Fundão-Damm des Minenunternehmens Samarco im Südosten von Brasilien. 55 Millionen Kubikmeter der tödlichen Masse bahnen sich ihren Weg durch die Landschaft des Bundesstaates Minas Gerais und fließen in den Rio Doce, der im nahegelegenen Espinhaço-Gebirge entspringt. Etwa zwei Wochen später wird das Gemisch aus Arsen, Quecksilber, Blei und anderen hochgiftigen Chemikalien den Atlantik erreichen. Auf dem Weg dorthin wird es 19 Menschen sowie zahllose Tiere und Pflanzen in den Tod gerissen, ganze Dörfer begraben haben. Der »süße Fluss« verwandelt sich in ein rotes, totes Gewässer. Besonders fatale Auswirkungen hatte die wohl größte Umweltkatastrophe Brasiliens auf die indigenen Krenak, die etwa 400 Kilometer östlich des Unfallsortes Mariana am Rio Doce leben. Für sie ist der Fluss mehr als ein Gewässer: Sie nennen ihn »Watu«, heiligen Fluss, bezeichnen ihn als Vater. Er bildet die Grundlage ihrer Kultur und Spiritualität, am Fluss finden traditionelle Rituale statt, wie zum Beispiel die Initiationsriten der jungen Männer. Die Krenak sind vom Rio Doce abhängig, denn sie fischen und jagen dort. Seit der Katastrophe sind sie gezwungen, Fleisch in Supermärkten zu kaufen. Sie können den Fluss nicht mehr zum Baden oder als Trinkwasserquelle nutzen. Das Absterben der Flora hat dazu geführt, dass sie ihr Einkommen durch Kunsthandwerk verloren haben. Die Giftschlammlawine hat ihnen nicht nur ihre Lebensgrundlage, sondern auch einen Grundpfeiler ihrer Identität geraubt. Daran ändern auch die Entschädigungszahlungen nichts, zu denen ein Gericht das australisch-brasilianische Bergbau-
unternehmen 2016 verurteilte. Samarco muss über zehn Jahre hinweg umgerechnet 4,6 Milliarden Euro für die Schäden bezahlen, die durch den Dammbruch entstanden sind. Die Krenak-Familien erhalten nach eigenen Angaben jeweils rund 2.000 Euro monatlich, doch immer mehr Mitglieder der indigenen Gemeinschaft verfallen in Depressionen und Alkoholismus. Ohne Aussicht auf Besserung: Im Juli 2017 wurde der Prozess wegen Mordes und Umweltverbrechen gegen 22 Verantwortliche von Samarco und drei weiteren in die Katastrophe verwickelten Unternehmen wegen Verfahrensfehlern gestoppt. Das Unglück trifft eine Gemeinschaft, die schon seit Jahrhunderten verfolgt wird. Unter der portugiesischen Kolonialherrschaft bezeichnete Portugals König Johann VI. sie als Kannibalen und erklärte 1808 die Vernichtung der Krenak zum »gerechten Krieg«. Mehr als 150 Jahre später wurden die verbliebenen Mitglieder unter der Militärdiktatur in Arbeitslager gebracht oder zwangsumgesiedelt. Erst 1997 erhielten die Krenak nach einem langen Rechtsstreit 4.000 Hektar Land zwischen den Dörfern Resplendor und Consilhero Pena zurück, wo sie heute leben. Dort hatten sie sich bereits Anfang des Jahrhunderts, vor ihrer Vertreibung und Internierung, niedergelassen. Die Gemeinschaft umfasst etwa 500 Menschen. Seit 2015 kämpfen die Krenak um ein weiteres Gebiet ihrer Vorfahren am anderen Ufer des Rio Doce, das in den Händen reicher Landbesitzer ist. Dort gibt es Wasserquellen, die nicht durch landwirtschaftliche Nutzung versiegt sind. Und sie kämpfen um weitere Kompensation für den Verlust des Rio Doce, ihrer Lebensader. Denn wann der Fluss wieder nutzbar sein wird, kann niemand sagen.
Kampf um das andere Ufer. Die Krenak wollen in das Gebiet ihrer Vorfahren zurückkehren.
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»Die Kinder baden nicht mehr wie früher im Fluss, sondern in Wassertanks.« Rondon Krenak Moderne Zeiten. Kindergeburtstag nahe des Rio Doce.
In der Schule. Krenak-Kinder beim Sprachunterricht.
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»Bewaffnete Männer wurden angeheuert, um uns an der Rückkehr auf unser eigenes Land zu hindern. So sind wir nicht mehr in der Lage, Gebete an den Gräbern unserer Vorfahren zu sprechen oder die heiligen Bilder zu besuchen, die sie an die Wände von Höhlen gemalt haben. Viele von ihnen sind beim Kampf um die Rückeroberung unserer Ursprungsgebiete gestorben. Doch noch gibt es auch hier Heilpflanzen mit unglaublicher Kraft. Aber wenn wir nicht aufpassen, werden auch diese von den Weißen zerstört werden so wie sie es mit dem Fluss getan haben. Wir wissen, dass sie bereits begonnen haben, Wälder zu roden, um dort Weidegründe zu schaffen. Und auch das auf dem traditionellen Territorium unserer Vorfahren.« Lirio Krenak
»Mein Bruder ist im vergangenen Dezember im Alter von 107 Jahren gestorben. Ihm tat es im Herzen weh, den Fluss so zu sehen. Ich sagte ihm, er solle sich nicht so sorgen, sondern zu Gott beten, uns zu helfen. Doch er starb in großer Trauer.« Dejanira Krenak
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Douglas Krenak (Mitte) »Sie haben uns das Recht auf unser Land genommen und das Recht auf unser Wasser. Den Fluss zu töten, bedeutet auch, uns zu töten. Eigentlich sind wir ein Volk der Krieger, das nach Niederlagen den Staub abschüttelt und sich immer wieder aufrappelt. Doch diesmal geschah nichts, niemand wurde verhaftet. So wie im Jahr 1808, als König Johann VI. entschied, unser Volk zu vernichten. Diese Zeit kehrt jetzt zurück.«
Trügerische Idylle. Rio Doce in Minas Gerais.
Brasilien Krenak Belo Horizonte
Rio Doce
Rio de Janeiro
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Den Atlantik vor Augen
Karges Auskommen. Fischer am Strand von Nouakchott, Mai 2017.
Spanien zahlt Mauretanien viel Geld dafür, die Migration Richtung Kanaren zu kontrollieren. Die ehemaligen Sklaven, die Hratins, profitieren davon nicht. Von Alexander Bühler, Nouakchott Am Badestrand Nouakchotts zeigt die Jeunesse Dorée Mauretaniens, was sie kann. In schweren Geländewagen liefern sich die jungen Männer Wettrennen mit Fahrern von Quadbikes, mit heulenden Motoren pflügen die dicken Reifen durch den Sandstrand. Ihre Freunde beobachten das Spektakel begeistert, laut dröhnt Musik. Zehn Kilometer weiter südlich, am Fischereistrand der Hauptstadt des westafrikanischen Landes, rieseln Fischschuppen in den Sand, eine Mauretanierin macht ihre Ware verkaufsfertig. Um sie herum Hunderte Menschen. Manche ziehen bunt bemalte Fischerboote an Land, andere bringen wagenradgroße Körbe zu Booten, die noch im Wasser liegen, und wieder andere torkeln mit gefüllten Körben voller Fisch zurück zu ihren La-
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gern. Eine pittoresk anmutende Szene, wären da nicht die vielen Polizisten, die misstrauisch die Fischer beobachten. Die meisten der Arbeiter sind Senegalesen, angestellt von mauretanischen Bootsbesitzern, die ihnen einen kargen Lohn zahlen. Die Stimmung ist angespannt, immer wieder kommt es zu Streitereien. Denn viele Senegalesen sind hier, im Norden ihrer Heimat gestrandet, obwohl sie eigentlich weiter wollten. Doch der Weg nach Europa ist versperrt, dafür haben die spanische Regierung und die Europäische Union mit zahlreichen Verträgen gesorgt. Eine für viele westafrikanische Ausreisewillige wenig erfreuliche Lehre aus der Vergangenheit: Nachdem auf dem Höhepunkt der spanischen Migrantenkrise 2007 mehr als 31.000 Menschen an den Küsten der Kanarischen Inseln gelandet waren, begann Madrid auf eine Politik der Abschottung zu setzen. Die meisten Meeresmigranten hatten von senegalesischen oder mauretanischen Häfen abgelegt. Die Bilder, die in anderen Teilen Europas erst 2015 über die Fernseher und Screens von Mobiltelefonen flackerten, waren
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»Die europäische Migrationspolitik befördert den Stillstand im Land.«
Foto: Jean-Marc Caimi / Redux / laif
deshalb in Spanien nicht neu: Tausende von Migranten, die nach einer gefährlichen Meeresüberfahrt an der Küste landeten, Leichen Ertrunkener, die an die Strände gespült wurden. Weil Spaniens frühere Kolonien in Nordafrika, Ceuta und Melilla, schon früher zu Festungen ausgebaut worden waren, erschienen die Kanareninseln wie das letzte Schlupfloch zur EU. Doch bereits 2012 kamen nur 43 Migranten dort an. Die aus Sicht der EU erfolgreiche Migrationspolitik bedeutete für viele Senegalesen, dass sie in Mauretanien oft schlecht bezahlte Arbeiten als Haushaltshilfen annehmen mussten – in Städten wie Rosso, Nouakchott oder Nouadhibou. Einst war der Hafen des Atlantikorts Ausgangspunkt für die lange und gefährliche Reise Richtung Kanaren: Vier oder fünf Tage dauerte der Trip auf den sechs Meter langen Piroggen. Doch damit ist es nun vorbei. Heute liegt in Nouadhibou der größte Schiffsfriedhof der Welt – und die maritime Müllhalde der EU. Reeder, denen die Abwrackung ihrer Schiffe zu teuer ist, ließen sie hierher schleppen, wo Wind und Wasser sie langsam zerfressen. Spanien zahlt Mauretanien viel Geld dafür, die Migration zu kontrollieren. Allein zwischen 2007 und 2011 flossen 150 Millionen Euro in Löhne für mauretanische Polizisten und Schiffe, die vor der Küste patrouillieren. Die dreißig Meter langen Kähne, die ebenfalls aus den Geldern aus Madrid bezahlt sind, werden von der spanischen Guardia Civil betrieben oder von deren westafrikanischen Kollegen. Auch für Hubschrauber und ein Radar-Überwachungssystem kam die spanische Regierung auf. Hinzu kommen Abschiebezentren und Rückführungsabkommen: Allein 2015 wurden mehr als 6.500 Flüchtlinge aus Spanien nach Mauretanien zurückgeschickt. Diese Maßnahmen haben dazu geführt, dass die mauretanische Gesellschaft nach innen hin immer konservativer geworden ist. Denn im Interesse ihrer Migrationspolitik übersieht die EU, dass die mauretanischen Eliten der Bidans nach Belieben schalten und walten können – ihnen fließt das meiste Geld zu, obwohl sie nur dreißig Prozent der Bevölkerung stellen. Damit verhindert die Machtclique um Präsident Mohamed Ould Abdel
MAURETANIEN
Aziz nicht nur, dass Flüchtlinge aus den Nachbarländern in die EU reisen, sondern schottet auch die 3,5 Millionen Mauretanier von Veränderung und Modernisierung ab. Ein Trend, der während der großen Sahel-Dürre zwischen 1970 und 1990 begann. Die berberischen Nomaden verloren damals ihren Reichtum und mussten sich in den Städten ansiedeln. Die Sklaven, die sie sich nun nicht mehr leisten konnten, entließen sie. Doch die Macht, die sie vorher über sie gehabt hatten, blieb in ihrer Hand. »Meine Eltern waren Sklaven, meine Großeltern waren Sklaven. Bis heute hält meine Familie Verbindungen zu unseren ehemaligen Herren«, sagt Hamady Lehbouss. Längst müsste er mit seiner Erfahrung und in seinem Alter Schuldirektor sein, so der Lehrer und Antisklaverei-Aktivist verbittert. Doch seine Herkunft als Hratin, als Nachkomme von Sklaven, verhindere das. Nicht einmal die Wohnung wechseln könne er ohne die Genehmigung seines ehemaligen Herrn. Zugleich sorgen Gelder aus Saudi-Arabien für eine stärkere Islamisierung. Auf der staubigen Matte in ihrem kleinen Zelt blickt Mbarka Essatim stumm auf den Fernseher, wo ein islamischer Prediger seine Botschaften versendet. Reglos liegt ihr jüngster Sohn auf ihrem Schoß und lässt sich von ihr stillen. Ihre vier anderen Kinder spielen draußen im Sand des Quartier Arafat der Hauptstadt Nouakchott, wo viele Hratins leben. Wasser gibt es nur von einem Händler, der Staat investiert nichts. Die Wüste fängt gleich hinter den Häusern und den Zelten an, pirscht sich immer weiter an die Vergessenen heran. Mbarka Essatim spricht mit leiser Stimme, als würde die Vergangenheit sie quälen: »Ich habe gearbeitet, soweit ich zurückdenken kann«, sagt sie über ihre früheren Herren. »Wenn sie in die Wüste aufbrachen, ging ich mit. Ich habe alle Putzarbeiten für sie gemacht. Alles.« Kurz vor der Pubertät sei sie das erste Mal vergewaltigt worden, und danach immer wieder, ehe sie sich von der Sippe ihrer Herren lossagte. Und auch jene, die sich gegen die Herrschaft des von der EU umworbenen Präsidenten Abdel Aziz stellen, stehen am Rande der Gesellschaft – oder sitzen im Gefängnis. Menschen wie Mohammed Mkhaitir, der zum Tode verurteilt wurde, weil er einen Blogeintrag verfasste, in dem er die Meinung vieler junger Leute ausdrückte: Er kritisierte den Koran für die positive Darstellung der Sklaverei. In den Augen der Gerichte und der Islamisten machte er sich damit der Blasphemie schuldig, worauf in der Islamischen Republik Mauretanien das höchste Strafmaß steht. Doch weil das Todesurteil vom obersten Gericht des Landes wegen Verfahrensfehlern zurück an die unteren Gerichte gegeben wurde, gehen Hunderte seit Februar Freitag für Freitag gegen die Ungerechtigkeit des mauretanischen Justizsystems auf die Straße – zum Gefängnis in der Hafenstadt Nouabdhibou. Sie protestieren dagegen, dass Mohammed Mkhaitir immer noch nicht hingerichtet wurde, obwohl sein Todesurteil seit Jahren feststeht. Dass es ihm bei seiner Kritik nicht um den Islam, sondern um die Sklaverei ging, fällt dabei unter den Tisch. Ebenso wie die Tatsache, dass die Migrationspolitik der EU den Stillstand im Land fördert.
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Bedauern ohne zu bezahlen Mehr als 100 Jahre nach dem Völkermord an den Herero sperrt sich die Bundesregierung noch immer gegen Entschädigungszahlungen an Namibia. Von Andrzej Rybak, Okakarara Sie trägt einen Glockenrock, eine Bluse mit Puffärmeln und ein kunstvoll drapiertes Kopftuch, dessen Ecken wie Rinderhörner abstehen. Alles in grünbraun. Gustavine Katjari hat die traditionelle Tracht der Herero-Frauen angezogen, um den Gast aus Deutschland zu empfangen. Ende des 19. Jahrhunderts hatten rheinische Missionare dem spärlich bekleideten Hirtenvolk der Herero im damaligen Deutsch-Südwestafrika die neue Garderobe verordnet. Noch heute tragen die Herero die seltsam unmodernen Kleider mit afrikanischen Stoffen zu besonders feierlichen Anlässen. Doch Katjaris Geschichte ist traurig: »Meine Haut ist viel heller als die der anderen Herero«, sagt die 67-Jährige. »Meine Großmutter wurde damals von einem deutschen Soldaten vergewaltigt. Diese Schande konnte ich nie verstecken: Deutsches Blut fließt in meinen Adern.« Nur eines von Abertausenden Kriegsverbrechen, die zwischen 1904 und 1908 beim ersten Völkermord des vergangenen Jahrhunderts verübt wurden – in deutschem Namen. Doch wer kommt dafür auf? Noch Generationen später zieren sich die einstigen Kolonialherren aus dem Norden – zum Nachteil der bitterarmen Herero. Deutschland spielt offenbar auf Zeit. Inzwischen ist klar, dass aus den Entschädigungen in diesem Jahr nichts mehr wird, obwohl die Bundesregierung das als Ziel ausgegeben hatte. Immerhin: Deutschland gab im Sommer 2015 den Genozid nach mehr als 100 Jahren zu. Das sorgte auch international für Respekt. Seitdem verhandelt eine deutsche Delegation unter Leitung des ehemaligen CDU-Generalsekretärs Ruprecht Polenz mit der namibischen Regierung über Form und Höhe einer Entschädigung. Nachdem vor einem guten Jahr der Bundestag den Völkermord der Türkei an den Armeniern geißelte, schien klar: Wer dort moralisch den Zeigefinger hebt, muss auch beim Genozid im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika handeln. Doch weit gefehlt. Während die Herero den Deutschen inzwischen Arroganz vorwerfen, tut die deutsche Seite die namibischen Ansprüche als Wunschdenken ab. Berlin denkt bei der Ent-
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schädigung nämlich höchstens an einzelne Projekte der Wiedergutmachung. Namibische Zeitungen berichten hingegen von Reparationsforderungen aus Windhoek in Höhe von 25 Milliarden US-Dollar, mehr als das Dreifache des Bruttoinlandsprodukts. Ein Kompromiss ist vorerst nicht in Sicht. Im Juni hat die deutsche Regierung ihre Stellungnahme an Namibia übergeben – als Verschlusssache. Sie betrachtet die Angelegenheit als rein völkerrechtliches Problem: Demnach sind Genozide erst seit ihrer Aufnahme in das Völkerstrafrecht 1948 überhaupt justiziabel. Das dränge die moralische Verantwortung des deutschen Mordens zu sehr zur Seite, finden Kritiker wie der Hamburger Kolonialhistoriker Jürgen Zimmerer. Er hält die Geheimpolitik des Auswärtigen Amts für einen »Affront«. Einige Herero wollen sich nicht länger hinhalten lassen. Herero-Chief Vekuii Rukoro und der Nama-Vertreter David Frederick haben deshalb im Januar 2017 bei einem New Yorker Gericht eine Sammelklage gegen die deutsche Regierung eingereicht. Rukoro fordert zudem direkte Verhandlungen zwischen Berlin und den Herero, da er der namibischen Regierung nicht traut. Von den 20 Millionen Euro, die 2004 von der damaligen Entwicklungsministerin Heide Wieczorek-Zeul (SPD) in einem Sonderfonds zu Verfügung gestellt wurden, »haben wir keinen Cent gesehen«, sagt der Stammesvordere, der zur politischen Opposition in Namibia gehört. Dabei ist die Schuldfrage eindeutig. Historiker zitieren als Beleg einen »Brief an die Herero« des Oberkommandierenden der deutschen Schutztruppe, Generalleutnant Lothar von Trotha, vom 2. Oktober 1904: »Innerhalb der Deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auf sie schießen. Dies sind meine Worte an das Volk der Herero.«
»Die deutsche Seite tut die namibischen Ansprüche als Wunschdenken ab.« AMNESTY JOURNAL | 10-11/2017
Fotos: Andrzej Rybak
Traditionsbewusst. Gustavine Katjari (oben) und Kaitjindire Tjerije, März 2017.
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Die Herero streiten inzwischen über die Entschädigungen. In Okakarara , einer ihrer wichtigen Städte im Norden Namibias, wird das Gerichtsverfahren im fernen New York mit Skepsis beäugt. »Chief Rukoro spricht nur für einen Teil von uns«, sagt Herero-Aktivist Ueriuka Tjikuua. »Die Klage in New York ist sinnlos, schon zwei Mal wurde eine ähnliche abgewiesen.« Tjikuua hat sich intensiv mit dem Thema befasst. Er hat in Deutschland studiert und arbeitete viele Jahre bei den Vereinten Nationen. »Die namibische Regierung ist die einzige Instanz, die die Verhandlung mit Deutschland führen kann«, sagt der 65-jährige Rentner. Katjari, die unfreiwillige Nachfahrin eines Deutschen, kann »Berlin muss aber dafür sorgen, dass keine Entscheidungen sich noch gut an ihre Großmutter erinnern und an die lange ohne Beteiligung der betroffenen Gruppen getroffen werden.« Narbe über deren rechter Brust: »Erst als ich erwachsen wurIndividuelle Entschädigungen an einzelne Nachkommen de«, erzählt die großgewachsene Frau, »habe ich von meiner hält Tijkuua für »politisch nicht durchsetzbar« – und auch nicht Mutter erfahren, dass der Soldat mit seinem Bajonett auf die für wünschenswert. »Das Geld wäre schnell verpulvert, ohne Großmutter einstach, als sie sich wehrte.« Für Katjari ist klar: nachhaltigen Entwicklungseffekt«, sagt er. Stattdessen solle »Wir haben eine Wiedergutmachung verdient.« Es geht ihr um Berlin ein umfassendes Förderprogramm auflegen. »Ich werde ein bisschen Gerechtigkeit: »Durch den Völkermord haben wir davon nichts mehr haben«, sagt Tijkuua. »Aber vielleicht be80 Prozent der Bevölkerung, unser Land und unsere Herden kommen meine Enkel eine bessere Ausbildung.« verloren.« Vor dem Krieg waren die Herero eine der mächtigDie Liste der Projekte, mit denen Deutschland das karge Lesten Volksgruppen in Namibia. Seitdem konnten sie sich weder ben der Herero aufbessern könnte, ist lang, aber natürlich nicht wirtschaftlich noch politisch vollständig erholen. In Namibia geeignet, historisches Unrecht wiedergutzumachen: Schulen haben heute die Ovambo das Sagen, die fast die Hälfte der Beund Krankenhäuser, bessere Straßen, moderne Tiefbrunnen, völkerung stellen. Wasserreservoirs. Oder mehr Land für Rinder. Vor allem aber Direkt hinter dem Zaun von Katjaris kleinem, sauber gefegmehr Jobs, denn auch in dem 4.000 Einwohner zählenden tem Hof geschah die wohl größte Tragödie in der Geschichte der Okakarara hat nicht mal jeder Fünfte eine feste Arbeit. Herero. Hier, ganz in der Nähe des Waterbergs, fand am 11. AuIn Namibia leben heute etwa 200.000 Nachfahren von gust 1904 die Schlacht statt, bei der deutsche Soldaten etwa Herero und Nama, doppelt so viele wie vor dem Genozid. Doch 40.000 Herero- und Nama-Krieger niedermetzelten. sie haben zu wenig Land für ihr Vieh. »Wir brauchen mehr Land, Die Soldaten verfolgten die Überlebenden, die mit ihren um unsere Bevölkerung zu ernähren«, sagt Kaitjindire Tjerije, Familien nach Osten flohen und töteten dabei Männer, Frauen die zur Königsfamilie Kamba Zembi gehört. »Die deutsche Reund Kinder. Danach riegelten sie alle Wasserstellen ab und liegierung müsste die deutsch-namibischen Farmen aufkaufen ßen Tausende in der Omaheke-Wüste verdursten. Etwa 80.000 und das Land den Herero geben.« Für Tjerije wäre das ein Akt Herero starben. Auch die Nama, von den Deutschen verächtlich historischer Gerechtigkeit, denn viele der Farmer sind Nachals »Hottentotten« bezeichnet, mussten leiden. Die deutschen kommen von deutschen Siedlern und Beamten, die das Land Truppen töteten rund 10.000 Nama – etwa die Hälfte des Volkes. der Herero geraubt haben. Weitere wurden in Konzentrationslager gesteckt oder vertrieDie deutschstämmigen Farmer aber wollen nicht gehen. ben. Viele sind in Namibia geboren und fühlen sich hier zu Hause. Wie Harry Schneider-Waterberg. Sein Großvater ist 1909 nach Namibia ausgewandert, die Familie bewirtschaftet die Farm mit Blick auf den sagenumwobenen Waterberg mittlerweile in der dritten Generation. »In Namibia gibt es genug Land, es stehen heute mehr ›weiße Farmen‹ zum Verkauf als die Regierung erwerben kann«, sagt Schneider-Waterberg. Mehrere Höfe sind im Rahmen der Landreform in den vergangenen Jahren an die Herero und andere Volksgruppen zurückgegeben worden, doch das Unrecht bleibt. Und die Angst vor neuen Spannungen. »Wir wollen nicht, dass sich bei uns so etwas wiederholt wie in Simbabwe«, betont die 61-jährige Tjerije. Dort wurden vor 15 Jahren viele weiße Farmer von landlosen schwarzen Bauern – angestiftet durch die Regierung von Robert Mugabe – gewaltsam vertrieben. »Während der letzten Dürre haben wir Teile unserer Herden verloren, und kein Farmer war bereit, mit uns sein Wasser zu teilen«, sagt Tjerije. Kläger. Vekuii Rukoro 2015 in roter Uniform auf dem Hügel, wo 1904 der Genozid begann. Foto: Jürgen Bätz / dpa / pa
»Kritiker halten die Geheimpolitik Berlins für einen ›Affront‹.«
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»Unkenntnis sorgt für Verklärung« Interview: Andrzej Rybak
Die Bundesregierung hat den Feldzug gegen die Herero als Völkermord anerkannt, lehnt aber Reparationszahlungen ab. Ist das ein Versuch, sich aus der Verantwortung zu stehlen? Die Frage der erfolgten Anerkennung ist ein Stück komplizierter. Manche Regierungsvertreter sprechen zwar seit anderthalb Jahren davon, dass es einen Genozid an den Herero und Nama gegeben hat. Aber es gibt bis heute keinen offiziellen Bundestagsbeschluss dazu – auch keine Entschuldigung für den Völkermord. Weder der Bundespräsident noch die Kanzlerin haben sich offiziell geäußert. Es scheint mir, die Regierung wolle die Anerkennung des Völkermords mit dem Verzicht auf Reparationen verknüpfen – das lehnten die Namibier aber bisher ab. Deutschland hat Opfer des Holocausts und der NS-Arbeitslager entschädigt. Warum tut sich die Regierung jetzt so schwer? Die Entschädigung der NS-Opfer ging auch nicht reibungslos vonstatten. Vor allem die Entschädigung der Zwangsarbeiter kam erst sehr spät und fand auf massiven internationalen Druck statt. Einen vergleichbaren internationalen Druck gibt es heute nicht. Deutschland hat damals auch nur direkte Überlebende des Unrechts entschädigt. Bei den Herero und Nama gibt es aber niemanden mehr, der ein Opfer ist und heute noch lebt. Könnten deutsche Reparationen an Herero einen Präzedenzfall schaffen und eine Entschädigungslawine lostreten? Die Angst ist offenbar da, etwa wenn es um die Opfer von Massenerschießungen und Massakern im Zweiten Weltkrieg geht. Was die Verbrechen der Kolonialzeit betrifft, könnte ein Präzedenzfall vor allem auch andere europäische Kolonialmächte wie Portugal, Spanien, Großbritannien, Frankreich, Belgien, die Niederlande oder Dänemark treffen. Deswegen sagt heute niemand von ihnen, ihr Deutsche müsst euch der Verantwortung stellen und die Forderungen der Herero erfüllen. Dennoch: Deutschland darf nicht den Genozid an den Armeniern verurteilen und eigene Verbrechen ignorieren. Manche Herero-Aktivisten würden Deutschland am liebsten vor dem Internationalen Strafgerichtshof verklagen. Das geht nicht. Eine Privatperson kann keinen Staat verklagen. Die namibische Regierung hat jetzt aber zugegeben, dass sie so eine Klage hat prüfen lassen. Nach dem Völkerrecht könnte sie Deutschland verklagen. Als Mittel zur postkolonialen Vergangenheitsbewältigung ist das Völkerrecht jedoch höchst problematisch, weil es europäisches Recht, also das Recht der Kolonialherren, kodifiziert.
NAMIBIA
Deutschland hat ausgeschlossen, Direktzahlungen an Individuen zu leisten. Es könnten höchstens Entwicklungsprojekte in Namibia finanziert werden. Ist das der richtige Ansatz? Entwicklungshilfe ist nicht dafür gedacht, historisches Unrecht wiedergutzumachen. Schon von der Begrifflichkeit her ist das eine Hilfe, die in der Not aus humanitären Gründen gewährt wird. Beim historischen Unrecht hat man vielmehr eine Pflicht, die Folgen des eigenen unrechtmäßigen Tuns zu lindern. Viele Herero wollen ihr Land zurück, das oft Nachfahren der Kolonialsiedler gehört. Können Sie sich eine Enteignungswelle wie in Simbabwe vorstellen? Seit der Unabhängigkeit 1990 gibt es in Namibia einen Streit über die Landreform. Bisher kamen Zwangsenteignungen nicht infrage. Wer aber verkaufen will, muss dem Staat das Vorkaufsrecht einräumen. Heute stehen mehr Farmen zum Verkauf als die Regierung aufkaufen kann. Es fehlt das Geld. Wenn sich die politische Lage aber weiter zuspitzt und die Radikalisierung voranschreitet, ist ein Simbabwe-Szenario möglich. Hamburg hat wie keine andere deutsche Stadt vom Kolonialismus profitiert. Hat die Stadt ein schlechtes Gewissen? Hamburg ist die erste Stadt in Europa, die sich ganz offiziell der Aufgabe stellt und ihre koloniale Vergangenheit aufarbeiten will. Dafür sollen wir nun die wissenschaftlichen Grundlagen schaffen. Die meisten Menschen wissen nur ganz wenig über diese Periode der deutschen Geschichte, der Kolonialismus stand sozusagen immer im Schatten der NS-Verbrechen. Aus der Unkenntnis erwächst jedoch oft eine nostalgische Verklärung. Dagegen wollen wir historisches Wissen setzen. Auch in diesem Zusammenhang ist die Herero-Debatte sehr wichtig. In deutschen Museen gibt es viele Objekte, die während der Kolonialzeit geraubt wurden. Warum fühlt sich bis heute kein Kolonialland zur Rückgabe der Raubkunst verpflichtet? Es gibt Diskussionen um die Herkunft kolonialer Sammlungen und kolonialer Kunst und auch Rückgabeforderungen. Vereinzelt wurde dem nachgegeben. Insgesamt ist unter den ehemaligen Kolonialmächten das Unrechtsbewusstsein über den Kolonialismus nicht sehr ausgeprägt. Es herrscht oft eine exotisierende Verklärung und imperiale Nostalgie vor.
INTERVIEW JÜRGEN ZIMMERER Foto: Andrzej Rybak
Der Historiker Jürgen Zimmerer über die Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte und die Verantwortung der Bundesregierung für die historischen Verbrechen im heutigen Namibia.
ist Professor für Globalgeschichte mit Schwerpunkt Afrika an der Universität Hamburg. Dort leitet er die Forschungsstelle »Hamburgs (post-)koloniales Erbe«, die sich mit den Nachwirkungen des Kolonialismus in der Hansestadt befasst.
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Ehren, wem Ehre gebührt In Berlin tobt ein Streit um die Umbenennung von Straßen, mit denen Schlüsselfiguren der deutschen Kolonialherrschaft gewürdigt werden. Von Hannah El-Hitami »Ein Schöffi, wie immer?« Es ist ein warmer Nachmittag im Berliner Stadtteil Wedding, genauer gesagt, im Afrikanischen Viertel. »Heute mal ein richtiges Bier, ein kleines«, sagt die eben eingetroffene Frau und setzt sich zu den Stammgästen auf die Bierbank vor dem Löwenherz. Seit etwa einem Jahr betreiben Jasmina und Mike die Kneipe in der Lüderitzstraße. So heißt die gut 850 Meter lange Straße im Wedding schon seit 1902 – »zu Ehren des Begründers des deutschen Kolonialwesens«, wie es in einem Brief des Polizeipräsidenten aus jener Zeit heißt. Das soll sich nun ändern. Die Bezirksverordnetenversammlung Berlin-Mitte (BVV) hat 2016 beschlossen, nicht länger Männer wie den Bremer Kaufmann Adolf Lüderitz zu ehren, die in die Verbrechen der deutschen Kolonialherrschaft in Afrika verstrickt waren. Viele Straßen und Plätze im Afrikanischen Viertel tragen die Namen ehemaliger deutscher Kolonien oder deutscher Kolonialbeamter, darunter der Nachtigalplatz – benannt nach dem einstigen Reichskommissar für Westafrika, Gustav Nachtigal – und die Petersallee, die die Nationalsozialisten 1939 nach dem auch als »Hänge-Peters« bekannten Begründer Deutsch-Ostafrikas, Carl Peters, tauften. Auch sie sollen neu benannt werden, möglichst nach afrikanischen Widerstandskämpferinnen. Und statt Lüderitzstraße könnte künftig der Name der Herero-Freiheitskämpferin Anna Mungunda auf den Straßenschildern prangen. »Totaler Blödsinn«, findet Jasmina, die das Löwenherz mit ihrem Mann Mike betreibt. »Nicht nur für die Geschäftsleute ist das doppelte Arbeit und kostet Geld. Auch privat muss man alle Verträge ändern.« Dass die Lüderitzstraße den Namen des sogenannten »Lügenfritzes« trägt, der die Nama an der Küste des heutigen Namibia 1883 um große Teile ihres Landes betrog, weckt bei ihr auch nicht mehr Verständnis für die Umbenennungspläne. »Wen interessiert das denn, wer da was vor 200 Jahren gemacht hat?«, fragt Jasmina. Ein Stammgast pflichtet
»Es geht um Deutungshoheit – darüber, woran man sich erinnert und auf welche Weise.« 46
ihr bei: »Ich wohne seit 42 Jahren hier, und mich hat das noch nie gestört.« Beim Anstoßen einigt man sich darauf, dass am besten alles so bleiben solle, wie es ist. Dass alles so bleibt, wie es ist, wünscht sich auch Karina Filusch von der CDU. Die 30-jährige Juristin ist das junge, freundliche Gesicht der Initiative Pro Afrikanisches Viertel. Die Pläne der Bezirksverordnetenversammlung sind ihrer Meinung nach eine Zumutung für die Anwohnenden. »Für die Gewerbetreibenden wäre das katastrophal«, so Filusch. »Wir haben mit einem Bäcker gesprochen, der extra eine Verkäuferin für einen Tag einstellen müsste, damit er sich um die ganzen Dokumente kümmern kann.« Sie will die Straßen deshalb einfach umwidmen. Die Lüderitzstraße etwa würde künftig nicht an Adolf Lüderitz erinnern, sondern an die Hafenstadt Lüderitz in Namibia – übrigens auch benannt nach Adolf Lüderitz. Christian Kopp von der Initiative Berlin Postkolonial hält das für Etikettenschwindel, der »symptomatisch« sei für den Umgang mit der deutschen Kolonialgeschichte: »Das ist kein Vergessen, sondern ein Vergessen-Wollen, ein Nichtwichtig-Nehmen, ein Wegschieben.« Er fordert, die Umbenennungspläne in ein breit angelegtes Bildungsprojekt einzubinden. Auf Stelen und anhand von Führungen durch das Afrikanische Viertel solle über die deutschen Kolonien aufgeklärt werden. Nicht die Bedenken der Anwohnenden müssten dabei an erster Stelle stehen, sondern eine rassismuskritische Perspektive auf die deutsche Geschichte. Dazu gehört die Auseinandersetzung mit der 35-jährigen Kolonialpolitik des deutschen Kaiserreichs im heutigen Namibia, Togo, Kamerun, Tansania, Burundi und Ruanda, deren Bevölkerungen von 1884 bis 1919 enteignet, versklavt und einer rassistischen Gesetzgebung unterworfen wurden. Ausschlaggebend war die Berliner Afrika-Konferenz 1884/1885: Unter der Moderation Otto von Bismarcks teilten die europäischen Mächte, das Osmanische Reich und die USA den afrikanischen Kontinent unter sich auf. Legitimiert wurde die Unterwerfung durch die Forschung kolonialer Wissenschaftler, deren Rassentheorien später die Nationalsozialisten aufgriffen. Rassismus schwinge auch in der Debatte um die Umbenennung der Straßennamen mit, sagt Tahir Della von der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland: »Die weiße Mehrheitsge-
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Neue Namen. Ausstellung in Berlin, 2010.
Foto: Hannimari Jokinen / Ausstellung freedom roads!
steht im Schatten des Nationalsozialismus. Wohl auch deshalb begann der Streit um die neuen Straßennamen Medien und Bewohner Berlins schon vor dem BVV-Beschluss 2016 zu beschäftigen. Seinerzeit berief Bezirksstadträtin Sabine Weißler eine Jury ein, die aus Vertreterinnen und Vertretern der schwarzen Community, aus Anwohnenden und BVV-Mitgliedern bestand. Am Ende blieben von 196 Vorschlägen sechs übrig, mit denen Persönlichkeiten des antikolonialen Widerstands geehrt werden sollten – anstelle von Adolf Lüderitz, Carl Peters und Gustav Nachtigal. Doch dann wurde der Jury Intransparenz vorgeworfen, die Gegner der Umbenennung fühlten sich in ihrem grundlegenden Widerstand bestätigt. Im Juni schließlich beschloss die BVV, den Prozess der Namensfindung neu aufzurollen und die Vorschläge der Jury von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern beurteilen zu lassen. Die Emotionalität der Debatte zeigt, dass es um mehr als neue Personalausweise und Visitenkarten geht. »Die Kolonialgeschichte hat bis heute Auswirkungen, die das weltpolitische Geschehen bestimmen«, sagt Della, der selbst in der Jury saß. »Wenn ich Deutschland als Akteur in diesem europäischen Projekt sichtbar mache, dann folgt natürlich Verantwortung. Dazu gehört, Entschädigungen zu zahlen, die Folgen zu mildern und Strukturen, die bis heute wirken, zu beseitigen.« Dass im heutigen Namibia ein Genozid stattfand, hat die Bundesregierung inzwischen zwar anerkannt – ohne sich jedoch offiziell zu entschuldigen. Zehntausende Angehörige von Herero und Nama wurden zwischen 1904 und 1908 ermordet, weil sie sich gegen die Besatzer aufgelehnt hatten. Die unzureichende Übernahme von Verantwortung dürfte ein Grund sein, weshalb so viele schwarze Aktivistinnen und Aktivisten sich vehement für eine Ehrung kolonialer Widerstandskämpferinnen und -kämpfer einsetzen. Und die mangelnde Aufklärung in Schulen und seitens der Politik erklärt vielleicht, weshalb viele Bewohner der Lüderitzstraße am Namen eines Mannes nichts auszusetzen haben, der für großes historisches Unrecht verantwortlich ist. Bis sich das nicht ändert, bleibt Lüderitz für die meisten nur ein Straßenname und Mungunda ein fremdartig klingendes Wort.
sellschaft hat das Gefühl, dass ihr etwas von einer Minderheit diktiert wird. Schwarze Menschen sollen ihrer Meinung nach keine Vorschriften machen, was Sprache, Geschichte und Erinnerungskultur angeht.« Letztlich gehe es um Deutungshoheit – darum, woran man sich erinnert und auf welche Weise. An die deutsche Kolonialgeschichte erinnert man sich in Deutschland kaum. In den Schulbüchern und im öffentlichen Raum geht sie unter in der zeitlich und geografisch weitreichenderen Kolonialherrschaft Frankreichs und Großbritanniens. Oder sie
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PORTRÄT
Foto: privat
Kämpfer gegen Kasten Yam Bahadur Kisan setzt sich für die Rechte der Dalits in Nepal ein. Von Karl Tachser Für Yam Bahadur Kisan ist die Entscheidung ein Weckruf: Dass im Nachbarland Indien im Juli Ram Nath Kovind zum Staatspräsidenten gewählt wurde, lasse hoffen, dass sich auch in Nepal etwas an dem rigiden Kastensystem ändern könnte, das die Gesellschaft des südasiatischen Landes seit mehr als anderthalbtausend Jahren prägt, sagt der Politikwissenschaftler und Rechtsanwalt. Denn das neue Staatsoberhaupt in Delhi gehört zur Kaste der sogenannten Unberührbaren, der untersten Gruppe in der traditionellen Hierarchie der Hindus. So wie der nepalesische Menschenrechtler Kisan, der seit Jahren für eine Verbesserung der Lage der rund drei Millionen Dalits in seinem Land kämpft. Die täglichen Schikanen, die deren Leben prägen, hat der 1972 im Distrikt Myagdi im Himalaja Geborene am eigenen Leib erfahren. Nicht zuletzt im Bildungsbereich: Waren es in der Grundschule noch neun andere Dalit-Schüler, die mit ihm den Unterricht besuchten, war er ab der sechsten Klasse allein mit Kindern höherer Kasten. Zwei Stunden Fußmarsch entfernt von seinem Zuhause lag die Mittelschule in Magaragadi. Doch er biss sich durch und schaffte mit 17 Jahren den Abschluss an der Oberschule, was ihm den Weg an die Universität freimachte. Auch wenn die sozialen Schlupflöcher für Dalits und andere Minderheiten in Nepal in den vergangenen Jahren größer geworden sind, ist Aufstieg durch Bildung noch immer nicht die Regel. Im Gegenteil: Jeder zweite nepalesische Dalit ist Analphabet – in der Gesamtbevölkerung hingegen beträgt der Anteil derer, die nicht schreiben und lesen können, nur ein Drittel. Und das, obwohl die vor zwei Jahren verabschiedete neue Verfassung die Diskriminierung der sogenannten Unberührbaren verbietet, deren Vorfahren vor rund 1.700 Jahren von Indien nach Nepal kamen. Doch Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit klaffen in Nepal weit auseinander. Um das zu ändern, engagiert sich Kisan als Forscher, Autor und Bürgerrechtsanwalt. Denn auch das Justizsystem ist von
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Diskriminierung und Ausgrenzung gezeichnet, viele Landstreitigkeiten etwa werden zuungunsten von Dalits entschieden. Und Ehen mit Unberührbaren sind Angehörigen der vier höheren Hauptkasten – den sogenannten Varna – verboten. Der 45-Jährige ist auch Vorsitzender der Menschenrechtsorganisationen Jana Utthan Pratisthan sowie der Samabeshi-Stiftung, die sich für soziale Gerechtigkeit, Rechtsstaatlichkeit und nachhaltige Entwicklung einsetzt. Das sei auch deshalb nötig, weil der Einfluss der mächtigen Religionsgelehrten auf die Politik weiterhin sehr groß sei, so Kisan: »Die Hindu-Priester sind unmittelbar mit der Macht verbunden.« Nicht nur der Besuch im Tempel ist Dalits laut der brutalen Hindu-Hierarchie verwehrt, oft dürfen sie nicht einmal aus dem gleichen Brunnen trinken wie andere. Zwar wurde das Kastensystem 1963 offiziell abgeschafft, die wirtschaftliche und soziale Ausgrenzung aber hält bis heute an. Eine komplizierte religiöse Hierarchie verschärft die Lage noch zusätzlich: Die nepalesischen Dalits gliedern sich noch einmal in 26 sogenannte Jatis – darunter sieben aus dem Hochland, aus dem die Herrscher des Landes stammen, und 19, die als Tarai bezeichnet werden. Sie gelten als Unberührbare der Unberührbaren, Zugang zu Bildung und Arbeit haben sie kaum. Kisan hat sich damit auch wissenschaftlich auseinandergesetzt. »Die Einbeziehung der Dalits im nepalesischen Staat: Aussichten und Herausforderungen«, lautet der Titel seiner Doktorarbeit, mit der er 2013 das Politikwissenschaftsstudium an der Tribhuvan-Universität in Kathmandu abschloss. Zuvor hatte er bereits Rechtswissenschaften studiert. Für herausragende akademische Leistungen verlieh ihm Präsident Ram Baran Yadav 2015 die Bidhya-Busan-Medaille. Die Anerkennung von höchster Stelle hält ihn freilich nicht davon ab, weiter für radikale Änderungen einzutreten. »Das Kastensystem muss ausgemerzt werden«, sagt er nüchtern.
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DRANBLEIBEN
Unternehmer fordern Verbot von Killerrobotern Vertreter von mehr als 100 Technologieunternehmen haben die Vereinten Nationen aufgefordert, ein Verbot automatisierter Waffensysteme durchzusetzen. Nach der Erfindung des Schießpulvers und atomarer Waffen könnte die Entwicklung sogenannter Killerroboter eine »dritte Revolution der Kriegsführung« nach sich ziehen, warnen sie. »Einmal erfunden, könnten sie zu bewaffneten Konflikten in nie dagewesenem Ausmaß führen«, heißt es in einem offenen Brief, den
unter anderem Mustafa Suleyman vom amerikanischen Technologieunternehmen Alphabet und Tesla-Gründer Elon Musk unterzeichneten. Die Tech-Unternehmer befürchten, dass Waffen, die Ziele ohne nennenswerte menschliche Kontrolle auswählen und angreifen, in die Hände von Terroristen und Despoten gelangen könnten. »Wenn diese Büchse der Pandora erst einmal geöffnet ist, wird es sehr schwer sein, sie wieder zu schließen.«
Vertreter von 89 Staaten waren zuletzt Ende 2016 in Genf zusammengekommen, um ein Verbot der Kampfmaschinen voranzutreiben. Amnesty International setzt sich seit Jahren für ein solches Verbot ein, da automatisierte Waffen nicht zwischen Zivilisten und Kombattanten unterscheiden und sich nicht auf die Regeln des Kriegsvölkerrechts programmieren lassen. »›Es könnte zu Kriegen aus Versehen kommen‹«, Amnesty Journal 04-05/2017
Wieder Abschiebungen nach Afghanistan
»Fremd gewordene Heimat«, Amnesty Journal 08-09/2017
Foto: Alexander Heinl / dpa / pa
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge entscheidet seit August wieder über Abschiebungen nach Afghanistan. Das gab die Behörde bekannt, nachdem das Auswärtige Amt einen neuen Lagebericht zur Situation in dem Bürgerkriegsland veröffentlicht hatte. In dem Papier heißt es, die Sicherheit hänge »stark von individuellen Faktoren wie Wohnort, Herkunft, ethnischer Zugehörigkeit, Beruf und Geschlecht« ab. Die Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl bezeichnete diese Einschätzung als »unbrauchbar« und forderte einen umfassenden Abschiebestopp nach Afghanistan. Nach einem Anschlag nahe der deutschen Botschaft in Kabul im Mai hatte die Bundesregierung Rückführungen zunächst weitgehend ausgesetzt. Lediglich Straftäter, Gefährder und Asylbewerber, die in ihren Verfahren angeblich nicht kooperierten, durften weiter abgeschoben werden. In dem neuen Bericht ist nun von einer »regional unterschiedlichen Bedrohungslage« für Zivilisten die Rede, an der sich seit Ende der Nato-Mission Isaf 2014 nichts wesentlich geändert habe. Zugleich listet das Papier 27 der insgesamt 34 Provinzen auf, in denen mit Angriffen der islamistischen Taliban zu rechnen sei. Unveränderte Lage. Demonstration in München, Juni 2017.
Verbrechen im Jemen müssen geahndet werden Mehr als sechzig Organisationen haben den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen im August aufgefordert, Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverstöße im Jemen zu untersuchen. Auch Amnesty International fordert in dem Brief die Einrichtung einer unabhängigen internationalen Ermittlungskommission, um Vergehen im Armenhaus der arabischen Welt rechtlich zu ahnden. Seit Frühjahr 2015 versucht eine von Saudi-Arabien
PORTRÄT
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DRANBLEIBEN
geführte Koalition arabischer Staaten, die Rückkehr des international anerkannten Präsidenten Abed Rabbo Mansur Hadi durchzusetzen. Der Militäreinsatz hat zur derzeit weltweit größten humanitären Katastrophe geführt: Drei Millionen Menschen sind auf der Flucht, sieben Millionen drohen zu verhungern. Sowohl die arabische Militärkoalition wie die vom früheren Präsidenten Ali Abdullah Saleh und den schiitischen Huthi-
Rebellen gebildete Allianz sollen Kriegsverbrechen verübt haben, heißt es in dem Brief an die Vertreter des UN-Menschenrechtsrats. Weil 16 der 27 Millionen Einwohner keinen Zugang zu sauberem Wasser mehr haben, sind inzwischen 500.000 Menschen an Cholera erkrankt und mehr als 2.000 an den Folgen der Epidemie gestorben. »Menschen vor Waffen schützen«, Amnesty Journal 04-05/2017
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KULTUR
Gewichtsverlagerung. Anhänger von Marine Le Pen in Villepinte bei Paris, Mai 2017.
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Rückkehr nach rechts
Foto: Vincent Boisot / Riva Press / laif
FRANKFURTER BUCHMESSE
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Mit Frankreich hat die Frankfurter Buchmesse ein Gastland gewählt, in dem die extreme Rechte gerade noch in Schach gehalten werden konnte. Die Frage, ob ihr Aufstieg in Europa gebremst ist, beschäftigt derzeit einige Autoren. Von Maik Söhler
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ie Frankfurter Buchmesse rückt in diesem Jahr den größten Nachbarstaat Deutschlands in den Mittelpunkt und nimmt damit auch die politisch-institutionelle Auseinandersetzung mit rechtsextremer Politik von der kommunalen bis zur nationalen Ebene in den Blick. Gerade noch einmal gutgegangen – so lautet das vorsichtige Fazit nach den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Frühsommer 2017. Doch der Schreck über den Front National (FN), der in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl ein Drittel der abgegebenen Stimmen erhielt, hat Nachwirkungen. Zusammen mit der Brexit-Entscheidung Großbritanniens, strammen Rechtsregierungen in Ungarn und Polen, dem Aufstieg und der Etablierung rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien in Skandinavien, den Niederlanden, in Österreich, Italien und Deutschland ergibt sich ein politisches Bild, wonach Menschenrechte in Europa an Bedeutung verlieren. Umso wichtiger erschien der Sieg Emmanuel Macrons über Marine Le Pen in Frankreich, denn er zeigte, dass die populistische und extreme Rechte in Europa nicht immer Erfolg hat und dass sie von demokratischer Politik durchaus selbstbewusst ausgebremst werden kann. Mehrere Neuerscheinungen zur Buchmesse befassen sich mit Aspekten dieser Debatte, die noch lange nicht beendet ist. Darunter sind auch einige aus dem Gastland Frankreich und seinem weit über die französischen Grenzen hinausreichenden Sprachraum. Während in Deutschland immer noch gern Didier Eribons autobiografisches Buch »Rückkehr nach Reims« herangezogen wird, um das Erstarken des FN zu verstehen, sind in Frankreich längst andere Werke in den Vordergrund gerückt, die sich mit der aktuellen und spezifischen Situation der »Grande Nation« beschäftigen, die von Postkolonialismus, Ausnahmezustand, Terror und Terrorverdacht, Rassismus und Selbstmarginalisierung geprägt ist. So veröffentlicht der Verlag Heyne nun mit »Eine französische Hochzeit« den ersten Teil von Sabri Louatahs in Frankreich viel gelesener und diskutierter Romantrilogie »Die Wilden« auf Deutsch. Darin wird ein Attentat auf den französisch-arabischen Präsidentschaftskandidaten Idder Chaouch verübt, und die aus Algerien eingewanderte Familie Nerrouche gerät unter Verdacht. Ein weiteres, in den französischen Feuilletons oft debattiertes Werk erscheint bei Piper: Gaël Fayes »Kleines Land«. Es ist ein Roman über den in einem Vorort von Paris lebenden Gabriel, seine verspätete Hinwendung zum frankophonen Burundi, das er während des Bürgerkriegs verlassen musste, und die Wechselwirkungen afrikanisch-französischer Migration.
Etablierte Parteien radikalisieren sich Im Bereich des politischen Buches sind zwei Werke erschienen, die auch nach der Wahlniederlage des FN aktuell bleiben. Zum einen »Der Bruch« des französischen Soziologen und Islamwissenschaftlers Gilles Kepel, ein Plädoyer für bürgerliches Engagement und ein Appell, sich nicht auf die »falsche Konfrontation«
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einzulassen, die Franzosen aus Angst vor dschihadistischem Terror in die Arme der Rechtsextremen treiben soll. Zum anderen hat Tanja Kuchenbecker, Paris-Korrespondentin zahlreicher deutscher Magazine und Zeitungen, ein beachtenswertes Buch über die FN-Vorsitzende Marine Le Pen geschrieben. Beachtenswert ist es vor allem, weil sie sichtbar macht, wie Marine Le Pen aus dem Schatten ihres antisemitischen Vaters Jean-Marie heraustrat und einer rechtsextremen Partei ohne reelle Machtchancen ein neues Image verpasste. Gleichzeitig analysiert Kuchenbecker das Programm des »neuen« FN, stellt dessen Protagonisten vor und geht der Vernetzung Le Pens mit anderen europäischen Parteien der extremen Rechten nach. Ihr Fazit weist über die Situation in Frankreich hinaus: »Statt Konzepte für eine Einwanderungs- und Integrationsgesellschaft zu entwickeln, fühlen sich die etablierten politischen Parteien vom Populismus und den extremen Parolen ihrer Gegner unter Druck gesetzt und versuchen, diesem auszuweichen, indem sie ihre eigenen Positionen radikalisieren und anpassen.«
Das Recht, Rechte zu haben In Frankreich hat es Macron dennoch weitgehend geschafft, sich die Themen und Thesen nicht vom FN diktieren zu lassen. Wie ließe sich dies auf Deutschland übertragen? Dazu hat der Historiker Michael Wildt in »Volk, Volksgemeinschaft, AfD« einige Vorschläge parat. Er beschäftigt sich mit der deutschen AfD, einem Bündnispartner des FN, und ihren Bezügen zu den Begriffen »Volk und Volksgemeinschaft«. Wildt will keine »geschichtswissenschaftliche Analyse« leisten, sondern »eine historisch-politische Intervention«: »Volk und Volksgemeinschaft sind politisch, kulturell und sozial definierte Gemeinschaften, bei denen stets um die Zugehörigkeit, um Inklusion und Exklusion, gekämpft wurde.« Mit der Philosophin Hannah Arendt stellt der Autor allen ausschließenden, auf ethnische Homogenität zielenden Volkskonzepten das Recht entgegen, Rechte zu haben. Wildts Buch untersucht Begriffe und Diskurse entlang ihrer Entstehung und Entwicklung. Besonders die Interpretationen und verbalen Auseinandersetzungen um Volk und Volksgemeinschaft in der Weimarer Republik samt ihrer Folgen im Nationalsozialismus werden herausgearbeitet. Ebenso präzise gerät die Analyse, wie und zu welchem Zweck sich die AfD diese Begriffe aneignet und gegen politische Konkurrenten in Stellung bringt. Dem entgegnet Wildt: »Es kommt nun darauf an, dass wir das alte Volkskostüm ablegen, die heroische Bühne verlassen und uns als Menschen mit gleichen Rechten und gleicher Freiheit verstehen.«
»Es kommt darauf an, die heroische Bühne zu verlassen und uns als Menschen mit gleichen Rechten zu verstehen.« Michael Wildt AMNESTY JOURNAL | 10-11/2017
Foto: Michael Zumstein / VU / laif
Wiederkehr des Vaterlandes. Anhänger Le Pens in Metz, März 2017.
»Endland« gegen »Invasoren« Wie aber sähe es aus, wenn all das vergeblich wäre? Wenn die extreme Rechte die Macht in Zentraleuropa übernähme? Ein solches Szenario entwickelt der Autor Martin Schäuble in seinem Jugendroman »Endland«. Die Rechtsaußenpartei Nationale Alternative hat in Deutschland die Wahl gewonnen – und in den Nachbarländern sieht es nicht viel besser aus. Die Nationale Alternative macht den Atomausstieg rückgängig, privatisiert soziale Einrichtungen, führt die Wehrpflicht wieder ein, rüstet im Inneren und an den Außengrenzen drastisch auf, interpretiert die deutsche Geschichte neu und bekämpft mit aller Härte die noch im Grundgesetz verankerten Reste einer liberalen Asylund Migrationspolitik, um »Invasoren« fernzuhalten. Die Protagonisten in »Endland« sind junge Erwachsene, zwei deutsche Soldaten und eine Frau, die aus dem vom Klimawandel zerstörten Äthiopien geflohen ist. Sie begegnen sich in einer Atmosphäre der Angst und des Misstrauens, die von der Nationalen Alternative und ihren paramilitärischen Unterorganisationen ständig neu geschürt wird. Doch Widerstand ist möglich. Martin Schäubles Szenario ist stellenweise schlicht und unpräzise, dennoch macht es auf literarische Weise deutlich, wie wenig Menschenrechte zählen, wenn jene, denen sie nichts gelten, an die Macht gelangen. Es zeigt aber auch, dass Literatur solidari-
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sches Handeln und Menschlichkeit nicht aus dem Blick verliert und damit ihren Teil dazu beiträgt, den Boom der extremen Rechten zu bremsen. Der Bücherherbst 2017 hat in dieser Hinsicht einiges zu bieten. Sabri Louatah: Eine französische Hochzeit. Aus dem Französischen von Bernd Stratthaus. Heyne, München 2017. 704 Seiten, 18 Euro. Gaël Faye: Kleines Land. Aus dem Französischen von Andrea Alvermann, Brigitte Große. Piper, München 2017. 224 Seiten, 20 Euro. Gilles Kepel: Der Bruch. Aus dem Französischen von Martin Weyerle. Verlag Antje Kunstmann, München 2017. 240 Seiten, 20 Euro. Tanja Kuchenbecker: Marine Le Pen. Tochter des Teufels. Herder, Freiburg 2017. 224 Seiten, 22,99 Euro. Michael Wildt: Volk, Volksgemeinschaft, AfD. Hamburger Edition, Hamburg 2017. 160 Seiten, 12 Euro. Martin Schäuble: Endland. Hanser, München 2017. 224 Seiten, 15 Euro. Ab 14 Jahren.
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Ausgezeichnet von Obama, ausgegrenzt von Trump. Der US-amerikanische Oud-Spieler Rahim Alhaj.
Kulturlos Die US-Regierung unterbindet mit ihrem Einreiseverbot den internationalen kulturellen Austausch. Zudem plant sie, die öffentliche Förderung von Museen und Bibliotheken zu streichen. Dagegen regt sich Widerstand. Von Arndt Peltner, Oakland
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as Einreiseverbot für Menschen aus Syrien, Libyen, dem Iran, Somalia, dem Sudan und dem Jemen trifft die Kulturlandschaft der USA hart – Museen genauso wie Ausstellungsräume und Musikfestivals. Auf der South By Southwest Music Conference (SXSW) in Austin/Texas sollten eigentlich auch Bands aus dem Iran und Ägypten auftreten. Doch die Mitglieder erhielten keine Visa für die USA. Gründe wurden nicht genannt, nur die Einreise wurde verwehrt. Die SXSW reagierte und organisierte zwei Events mit dem Namen »ContraBanned«, Live-Konzerte mit Musikern aus den muslimi-
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schen Ländern, die nach offizieller Lesart nicht mehr willkommen sind in den USA. Daneben gab es eine Diskussionsrunde über das Thema internationaler Musikaustausch, einem der Grundpfeiler der Messe in Austin. Die internationale kulturelle Zusammenarbeit sieht Lori Fogarty, die Direktorin des Oakland Museums of California, auch in ihrem Bereich gefährdet: »Die Einreiseverbote haben große Probleme für die Museen gebracht, gerade für Museen, die auf den kulturellen Austausch und die internationale Arbeit angewiesen sind, auf Künstler, Wissenschaftler und Forscher aus dem Ausland.« Ähnlich ergeht es Max Hollein, Direktor der Fine Arts Museums, dem De Young Museum und der Legion of Honor in San Francisco. Nicht nur, dass das De Young Museum und die Legion of Honor international ausgerichtet sind und daher Künstler und Wissenschaftler von überall her ansprechen. Die Fine Arts Museums sehen sich plötzlich auch mit Ausstellungen, die ganz unpolitisch gedacht waren, im politischen Rampenlicht, erklärt der Museumsdirektor. So bereitet das Museum derzeit eine Aus-
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Foto: Rick Scibelli Jr. / The New York Times / Redux / laif
»Die Kürzungspläne haben der Kunst- und Kulturszene kalte Schauer über den Rücken gejagt.«
stellung über die Mode des Islam vor – ein Projekt, das schon lange in Planung war, noch bevor die Regierung in Washington wechselte: »Und jetzt wird das natürlich in einem politischen Kontext gesehen, der in dem Sinne zuvor gar nicht da war.« Überhaupt ist plötzlich alles politisch in der Kunst- und Kulturlandschaft der USA. Im September begannen die Haushaltsberatungen für 2018. Im März hatte Präsident Donald Trump bereits angekündigt, die Gelder für die National Endowment for the Arts, die National Endowment for the Humanities, das Institute of Museums and Library Services und für den öffentlichen Rundfunk komplett streichen zu wollen. Das wäre das Aus der öffentlichen Kulturförderung in den USA. Allein bei den beiden National Endowments geht es um jährlich je 149 Millionen Dollar aus dem Bundeshaushalt. Diese Pläne schmetterte der Kongress zwar für den Haushalt 2017 vorerst ab. Aber der Präsident und sein Umfeld haben ihr Vorhaben bislang nicht aufgegeben, ganz im Gegenteil. »Das hat der Kunst- und Kulturszene kalte Schauer über den Rücken gejagt«, sagt Museumsdirektorin Lori Fogarty, »es wurde klar, welche Auswirkungen diese Regierung haben kann«. Zwar kann Max Hollein, dessen Einrichtungen im reichen und liberalen San Francisco vor allem durch private Gelder getragen werden, die Streichpläne aus Washington gelassen nehmen – sie machen in seinem Gesamtbudget von knapp 60 Millionen Dollar nur einen kleinen Teil aus – doch sieht auch er die kulturelle Arbeit in der Breite durch die Politik Trumps gefährdet. »Ich glaube, es geht eher um die Gesamtstruktur in den USA. Die National Endowment ist sehr wichtig für Institutionen abseits unserer Größenordnung, und sie sorgt auch für eine andere Form der Zusammenarbeit in der Kultur.« Was das Trump’sche Einreiseverbot letztendlich bewirkt, ist ein Frontalangriff auf kulturelle Menschenrechte, die im Artikel 15 des internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der UN festgelegt sind. Dort heißt es: »Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden an, am kulturellen Leben teilzunehmen« und weiter: »Die Vertragsstaaten erkennen die Vorteile an, die sich aus der Förderung und Entwicklung internationaler Kontakte und Zusammenarbeit auf wissenschaftlichem und kulturellem Gebiet ergeben.« Beides wird durch das Einreiseverbot und durch die Eliminierung der Kulturförderung erschwert, behindert, wenn nicht sogar unterbunden. Denn die USA sind ein Land von Immigranten. Hier leben Menschen aus aller Herren Länder, haben eine neue Heimat gefunden und pflegen ihre kulturellen Wurzeln. Somalis in Minnesota, Iraner in Los Angeles, Jemeniten in Michigan – sie alle stehen nun unter Verdacht, ihre Freiheiten werden beschränkt, ihre kulturelle Identität in Frage gestellt. Der Ausnahme-Oud-Musiker Rahim Alhaj wohnt seit vielen Jahren im Bundesstaat New Mexico, er kam aus dem Irak, lebte sich in den USA ein, wurde amerikanischer Staatsbürger. Kürzlich veröffentlichte er sein jüngstes Album »Letters from Iraq«,
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eine Platte, die nun politisch gesehen wird, denn Alhaj vertont darin Briefe seines Neffen an Amerika. Rahim Alhaj erzählt, wie er im vergangenen Jahr mit einem Stipendium der National Endowment for the Arts ausgezeichnet wurde. Präsident Barack Obama nannte ihn damals in der Begründung einen »lebenden Schatz«. Nun fühlt er sich angefeindet. »Das ist ironisch, unglaublich: Der eine Präsident sagt, ›ich danke Dir Rahim für Dein wunderbares Geschenk, Du bereicherst unser Land hier‹. Und zwei Monate später bin ich hier nicht mehr willkommen.« Für Lori Fogarty ist das Vorgehen der Trump-Administration eine ganz klare Verletzung der Menschenrechte. Es sei naiv und falsch zu behaupten, dass die Kulturförderung und die Finanzierung des öffentlichen Rundfunks nicht Aufgabe des Staates sei, sondern vielmehr die Aufgabe von Philanthropen, Städten und Bundesstaaten. »Im Gegensatz zu europäischen Ländern, die die kulturelle Herkunft und den kreativen Ausdruck als fundamentalen Teil des bürgerlichen und menschlichen Seins sehen, ist es mehr als enttäuschend, dass wir Politiker in diesem Land haben, die das entweder nicht verstehen oder nicht glauben.« Abgewartet wird nun nicht, was Trump und die republikanische Mehrheit im Kongress im Herbst verabschieden wollen. Von den kleinen, unbekannten und regionalen Museen, die von den öffentlichen Zuwendungen abhängig sind, bis hin zu den weltbekannten großen Einrichtungen, wie den Fine Arts Museums in San Francisco will man nun gemeinsam dem Angriff aus dem Weißen Haus auf die Kunst-, Kultur- und Museumslandschaft begegnen, sagt Max Hollein. »Wir haben unsere Mitglieder und unseren Vorstand aufgerufen, direkt ihre Meinung dazu bei den entsprechenden Senatoren kundzutun. Wir betreiben also unser eigenes Lobbying.« Auch immer mehr Kulturschaffende melden sich und erwachen aus ihrer anfänglichen Schockstarre nach dem Wahlsieg von Donald Trump. Der Bühnenautor und Dramatiker Robert Schenkkan sagt: »Theater kann nicht einfach so weitermachen, als sei nichts passiert. Wenn wir Teil dieses nationalen Dialogs sein wollen – den wir unbedingt brauchen –, dann muss das Theater flexibler sein. Diese Haltung, dass wir uns von Kontroversen fernhalten sollen, ist albern.« Die Countrymusikerin Lucinda Williams meint ganz klar: »Ich empfinde es als meine Verantwortung als Künstlerin, bestimmte Dinge rüberzubringen.« Williams schrieb den Song »Foolishness« und ergänzte ihn bei Konzerten um Textzeilen, wie »I don’t need hate in my life. I don’t need walls in my life. I don’t need fear in my life«. Und ein paar Male sogar »I don’t need Donald Trump in my life«. Doch bei allem künstlerischen und kulturellen Protest: Aufhorchen würde die US-Regierung sicher nur, wenn vor allem die vielen kleinen, lokalen und regionalen Einrichtungen in den republikanisch dominierten Bundesstaaten aufbegehrten. Denn die kulturverachtende Politik aus Washington würde auch und vor allem eines treffen: das »Heartland« Amerikas.
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Der israelische Choreograf Nir de Volff arbeitet mit geflüchteten syrischen Tänzern in Berlin – eine Auseinandersetzung mit Traumata und Feindbildern. Von Astrid Kaminski
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hre Körper waren wie aus Stein. Die Art, wie sie sich bewegten, wie sie atmeten, alles war überspannt.« So beschreibt der Choreograf Nir de Volff seine erste Begegnung mit syrischen Geflüchteten. Sie waren in seine Bewegungsworkshops gekommen, in denen er versuchte, Körper und Alltag wieder miteinander zu versöhnen – dabei reichte das Spektrum von gemeinsamen Markteinkäufen und Joggen bis hin zu Tanzübungen Seit 14 Jahren wohnt de Volff in Berlin. Lange genug, dachte er, um vor Ort Verantwortung zu übernehmen. 2015 schloss er sich einer Gruppe aus Künstlern, Ärzten, Anwälten und anderen Engagierten an, die Geflüchteten ihre Kompetenzen und Gesellschaft anbot. »Was kann ich beitragen?«, fragte sich der Choreograf. »Ich kenne mich aus mit körperlichen Entspannungsübungen, ich habe eine Bewegungsmethode entwickelt, die über das Atmen körperliche Blockaden lösen kann. Ich bat also bei der Berliner Tanzbühne Dock 11 um ein Studio – es wurde mir kostenfrei zur Verfügung gestellt – und fing an.« Über Mitglieder seiner Willkommensklasse lernte Nir de Volff drei professionelle Tänzer aus Damaskus kennen und entwickelte mit ihnen das Stück »Come as you are«. Es zeigt den Prozess ihrer Annäherung an die Berliner Tanzlandschaft sowie ihre Auseinandersetzung mit Stress- und Gewalterlebnissen. Medhat Aldaabal und Moufak Aldoabl flüchteten über die Balkanroute, Amr Karkout flog mit gefälschten Papieren von Beirut nach Brüssel. Aldoabl, der jüngste, ein durchlässig, zart wirkender Mann, hatte am meisten Glück im Unglück. Er musste am eigenen Leib keine Gewalt erfahren. Aldaabal wirkt am introvertiertesten. Er macht sich Sorgen um seinen Vater, der in Syrien von Assad-Anhängern mit dem Tod bedroht wird. Zudem hat er körperliche Strapazen hinter sich und erlebte während der Flucht Polizeigewalt. Monate ohne regelmäßiges Essen haben zu Problemen mit Muskeln, Gelenken und Zähnen geführt. Auch die kalten Nächte, in denen ihm jede Minute wie ein ganzes Jahr vorkam, sitzen ihm noch in den Knochen. Der erst in diesem Jahr in Deutschland angekommene Karkout fällt durch seine optimistische Energie auf. Als könne er durch seinen Enthusiasmus vergessen, dass ihm mehrmals Milizen auf den Fersen waren, die ihm drei Rippen und die Nase brachen. Alle wollen sie in die Zukunft gerichtet denken, ihren Beruf wieder aufnehmen. Aber wenn die Lage in Syrien für ihre dort verbliebenen Angehörigen zu gefährlich wird, alte Erfahrungen hochkommen oder ein neues Leben aufgrund der kulturellen Differenzen unerreichbar scheint, verhärten sich ihre Körper. »Wenn es ganz schlimm ist, kann ich mich gar nicht bewegen«, sagt Medhat Aldaabal. Im besten Fall aber, erklärt Amr Karkout, könne eine abstrakte tänzerische Figur sinnbildlich für eine Blockade stehen und deren Auflösung kreative Energie freisetzen.
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Die Gruppe legt daher auch keine Bewegungsabfolge fest, sondern nutzt Improvisationen, um sich immer wieder selbst überraschen zu können. Dass de Volff als Israeli mit geflüchteten syrischen Männern zusammenarbeitet, ist eine außergewöhnliche Kombination. Obwohl Tanz eine der internationalsten Künste überhaupt ist und es in Berlin weit mehr internationale als deutsche Tänzer gibt, ist es auch in Europa selten, dass Israelis und Araber zusammenarbeiten. Selbst der Kompanie von Emanuel Gat, der als Israeli in Südfrankreich arbeitet, gehört kein Mitglied aus einem arabischen Land an. Dabei leben dort sehr viele arabischstämmige Tänzer. Das gleiche Bild gilt für die ebenfalls renommierte Hofesh Shechter Company in London. Entsprechend aufgeregt war Nir de Volff, als er die ersten Syrer traf. Zunächst wollte er seine Nationalität verschweigen, um das Projekt nicht zu gefährden – schließlich befinden sich Syrien und Israel offiziell immer noch im Krieg. Diese Vorsicht war jedoch unnötig. Erstens, weil seine Herkunft den Syrern, obwohl es ihre erste bewusste Begegnung mit einem Israeli war, ohnehin sofort klar war, und zweitens, weil sie durchweg positiv und neugierig reagierten. Allgemeines Aufatmen: »Mit der Zeit war es, als würde die Berliner Mauer fallen«, sagt de Volff. Letztlich führte seine eigene Biografie Nir de Volff zur Arbeit mit Traumata. Als junger Mann musste er seinen Militärdienst in Israel ableisten und in absoluter Dunkelheit in der Nähe eines arabischen Dorfes patrouillieren. Es war sein erster Monat in der Armee und seine erste Wache. Zweieinhalb Stunden musste er allein an einem Zaun entlang wandern. »Ich war 18 Jahre alt, ein vielversprechender Tänzer, nicht bereit, irgendwen zu töten, aber plötzlich hatte ich diese Waffe, diese Gewalt in der Hand. Überall Geräusche. Und jedes Geräusch stammte möglicherweise von einem Araber, der mich attackieren könnte«, erinnert sich Nir de Volff. Dieser Moment, auf den er durch nichts vorbereitet war, hat ihn, wie er erst viel später feststellte, traumatisiert. »Alle haben wir Angst vor dem Tod, aber bei mir ist es mehr, es ist eine ständige Panik.« So beschreibt Nir de Volff die Erfahrung hinter einer Szene, die er in seinem Stück »Dancing to the End« von 2014 tanzte. Es war das erste Mal, dass der für seine große tänzerische Energie und seine mitunter skurrile Dramatik bekannte Choreograf sich in seinem Werk mit einer konkreten Traumaerfahrung auseinandersetzte. Inzwischen ist der Umgang mit Traumata Teil seiner Arbeit geworden.
»Alle haben wir Angst vor dem Tod, aber bei mir ist es mehr, es ist eine ständige Panik.« AMNESTY JOURNAL | 10-11/2017
Foto: Bernhard Musil
Die Angst tanzen
Der Tänzer und Choreograf Nir de Volff (40) ist in Israel aufgewachsen und lebt seit 14 Jahren in Berlin. Er hat unter anderem mit Pina Bausch, Constanza Macras, Falk Richter und She She Pop zusammengearbeitet und 2007 seine eigene, international tourende Kompanie Total Brutal gegründet.
Die von Nir de Volff seit acht Jahren entwickelte Technik, die er weltweit auch Nichttänzern vermittelt, heißt Use Abuse, und es sollte sich herausstellen, dass sie für körperliche Traumafolgen besonders geeignet ist. Traumata werden im Nervensystem gespeichert. Werden sie aktiviert, äußern sie sich körperlich häufig durch Muskel- und Atemblockaden. Das war auch bei den Syrern in de Volffs Gruppe der Fall. Mit diesen Erfahrungen sind sie nicht allein, oft aber allein gelassen. Die Bundespsychotherapeutenkammer geht davon aus, dass etwa 50 Prozent der syrischen Geflüchteten traumatisiert sind. In Behandlung sind nur wenige. Nun ist Nir de Volff kein Therapeut. Aber die Trennlinie zwischen einer präzisen Technik, die den Tänzern einen gezielten Zugang zu ihrem Körper verschafft, und therapeutischen Methoden ist dünn. Zeitgenössischer Tanz hat sich längst vom Selbstverschleiß des Balletts alter Schule gelöst und ein großes Repertoire an Techniken aufgebaut, die Körperprozesse optimieren. De Volff konzentriert sich auf ein gezieltes Trainieren der Atemmuskulatur. Durch das bewusste Verbinden von Gedanke, Gefühl und Atem wird die Grundlage für ein Lösen geschaffen. Verspannungen werden lokalisiert und freigeatmet, zuweilen
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auch durch die Zuhilfenahme positiver Imagination. Dies folgt dem Grundsatz körperlicher Traumatherapien, dem zufolge das rein sprachliche Ausformulieren der traumatischen Situation, wie es die Psychotherapie handhabt, eine Retraumatisierung auslösen kann. Das Tanzprojekt »Come as you are« nimmt diesen Faden auf. Krieg und Flucht scheinen sich in den eruptiven Ausbrüchen auszudrücken, während die Auseinandersetzung mit Ankommen und Fremdsein direkt verbalisiert wird. Wie sensibel die Lage seiner Gruppe ist, wurde Nir de Volff umso deutlicher, als eine Tänzerin, die zeitweise im Ensemble mittanzte, die Gruppe verließ. De Volff hielt sie für eine gute Tänzerin und hatte Hoffnungen, dass sie schnell Anschluss in der deutschen Szene finden würde. Von einem Tag auf den anderen änderte sich jedoch ihre Körperspannung. Bald bat sie um ein Gespräch. Da es auf die erste öffentliche Präsentation der Tanzgruppe zuging, hatte sie mit ihren in Syrien verbliebenen Eltern gesprochen. Diese meinten, es könne für sie lebensgefährlich werden, wenn ihre Tochter zusammen mit einem Israeli öffentlich auftreten würde.
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»In den Cafés herrscht Schweigen« Regierungskritiker und Journalisten haben es schwer in Bangladesch. Mit dem nach Deutschland geflohenen Blogger Nur Nobi Dulal sprachen Bernhard Hertlein und Jeba Habib. Wie wirkt sich das Vorgehen der Regierung von Premierministerin Hasina Wajed auf die Meinungsfreiheit aus? Die Meinungsfreiheit ist in Bangladesch auf Nullniveau. Unter Berufung auf Paragraph 57 des Gesetzes über Informationsund Kommunikationstechnologie versucht die Regierung, alle missliebigen Stimmen zum Schweigen zu bringen. Auch die Pressefreiheit wird immer weiter eingeschränkt. Cartoons, die
früher sehr amüsant und wichtig für die bangladeschischen Leser waren, sind ganz aus den Zeitungen verschwunden. Wie stark ist die Bedrohung durch islamistische Extremisten? Sie nimmt zu – obwohl die Regierung kategorisch bestreitet, dass es in Bangladesch nationale Ableger des Islamischen Staats und von Al-Qaida gibt. Die Zahl der Mordanschläge hat zuletzt abgenommen – wohl vor allem, weil die Bedrohten frühzeitiger abtauchen und fliehen. Die Zahl der Drohungen nimmt aber nicht ab, sondern zu. Wer wird vor allem bedroht? Alle Regierungskritiker. Das sind vor allem Blogger, Journalisten, Studenten und Professoren. Mitte Mai ist bei einer Razzia
Tod eines Bloggers. Protest gegen die Ermordung des Regierungskritikers Niloy Neel in Dhaka, August 2015.
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Wie ergeht es Regierungskritikern, wenn sie die Behörden um Schutz bitten? Im besten Fall werden sie weggeschickt – vielleicht mit der Aufforderung, sich nicht länger kritisch in der Öffentlichkeit zu äußern. Ansonsten sollen sie doch bitte das Land verlassen. Anzeigen werden nicht angenommen, obwohl die Polizei dazu verpflichtet wäre. Zu den besonders schlimmen Erfahrungen von uns Bloggern gehört, dass unsere Auskünfte weitergereicht werden an extremistische Kreise – sei es direkt oder über Presseerklärungen. Das Verhalten der Polizei wird von höchster politischer Stelle in Bangladesch gedeckt. Premierministerin Wajed selbst hat öffentlich erklärt, dass niemand, der den Islam beleidigt, Anrecht auf staatlichen Schutz habe. Ich hatte einen guten Freund, auch ein Blogger, Niloy Neel, der 2015 zur Polizei ging, nachdem er mehrfach Todesdrohungen von islamistischer Seite erhalten hatte. Auch ihm empfahl man, mit dem Schreiben aufzuhören. Er hörte nicht auf, ging aber auch nicht ins Ausland. Wenige Wochen später wurde er ermordet. Das war für mich das Signal, Bangladesch zu verlassen, um nicht mein Leben und das meiner Familie aufs Spiel zu setzen. Sind lediglich prominente Blogger von den Einschränkungen der Meinungsfreiheit betroffen? Die meisten prominenten Blogger, die noch in Bangladesch leben, haben ihre Aktivitäten eingestellt. Es ist einfach zu gefährlich geworden. Eine schlimme Rolle hierbei spielt die ChhatraLeague, die Jugendorganisation der regierenden Awami-League, die immer wieder Gewalt gegen Kritiker einsetzt. Vor ihr haben alle Bangladeschis Angst. Meine Landsleute diskutieren gern und engagiert, auch in der Öffentlichkeit. Doch heute herrscht in den Cafés und auf den Straßen Schweigen, weil schon ein Gerücht über mögliche Kritik an der Regierung einen Schlägertrupp herbeirufen kann. Aber auch einfache Facebook-Nutzer sind in Gefahr. Es ist schon mehrfach vorgekommen, dass Accounts gehackt wurden. Völlig unschuldige Facebook-Nutzer wurden inhaftiert, und islamistische Gruppen oder Mitglieder der ChhatraLeague haben danach deren Heimatdörfer angegriffen. Sind Angehörige religiöser und ethnischer Minderheiten sowie Homosexuelle besonders gefährdet? Leider ja. Im Mai wurden 27 Angehörige einer Homosexuellengruppe inhaftiert – weil sie angeblich Drogen genommen haben, tatsächlich aber wegen ihrer sexuellen Orientierung. Auch hier geht die Bedrohung nicht nur von islamistischen Terroristen aus, sondern auch von der Regierung und den staatlichen
Foto: Munir uz Zaman / AFP / Getty Images
»Schon ein Gerücht über Kritik an der Regierung kann einen Schlägertrupp herbeirufen.« BANGLADESCH
Behörden. Die indigene Gruppe der Adivasis hat kaum Zugang zu Medien und ist deshalb Menschenrechtsverletzungen besonders stark ausgesetzt. In der Region Chittagong Hill Tracts, in der viele indigene Gruppen leben, sind Landraub, Vertreibung, Festnahmen und Folter an der Tagesordnung. Auch die Lage der größten religiösen Minderheit, der Hindus, hat sich verschärft: Seit 1948 ist ihr Bevölkerungsanteil von rund 30 auf knapp zehn Prozent zurückgegangen. Selbst Fake News werden zum Anlass genommen, Dörfer, in denen besonders viele Hindus leben, zu überfallen, Tempel zu schänden, Häuser zu plündern und Menschen zu verletzen, zu töten oder einzusperren. Doch in erster Linie sind es weder der islamistische Terror noch private Kriminalität, die die Angehörigen von Minderheiten außer Landes treiben, sondern die fehlende Unterstützung und Rückendeckung durch die Regierung. Amnesty International nimmt immer wieder Stellung gegen die repressiven Gesetze und gegen den fehlenden Schutz der Meinungsfreiheit in Bangladesch. Wird dies im Land wahrgenommen? Die Aktivitäten von Amnesty International werden in Bangladesch genau registriert. Für Blogger und andere Angehörige der Zivilgesellschaft sind die Stellungnahmen eine große Hilfe. Dazu zähle ich nicht nur die offiziellen Verlautbarungen, sondern auch Kommentare und Stellungnahmen aktiver AmnestyMitglieder. Die bangladeschische Presse bringt sich ja selbst in Gefahr, wenn sie diese Aktivisten unterstützt. Umso wichtiger ist es, dass Amnesty die Welt über die Verfolgung der Blogger und Journalisten in Bangladesch informiert. Bernhard Hertlein und Jeba Habib sind Mitglieder der BangladeschLändergruppe von Amnesty International.
INTERVIEW NUR NOBI DULAL Foto: privat
im Dschihadistenmilieu erneut eine Todesliste von zehn Journalisten gefunden worden.
Der Blogger (46) schreibt seit 2009 auf verschiedenen Blogs und Facebook über Menschenrechtsthemen, insbe sondere zu Meinungsfreiheit, Frauenrechten, religiöser Unterdrückung und Terrorismus sowie zu Fragen der bangladeschischen Geschichte. 2011 wurde er zum »Blogger des Jahres« gewählt, 2013 startete er den inzwischen abgeschalteten Blog »Istishon«. Wegen seiner Religionskritik setzte ihn die islamistische Bewegung Hefazat 2013 auf eine Liste von 84 »Feinden des Islams«. Nach dem Mord an einem befreundeten Blogger floh die Familie im Oktober 2015 ins Ausland. Seit Anfang 2017 lebt Nur Nobi Dulal mit seiner Familie auf Einladung der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte in Deutschland. Bis auf Weiteres kann er nur unter Lebensgefahr nach Bangladesch zurückkehren. Neben der Verfolgung durch die Islamisten droht ihm auch eine Verhaftung wegen Verstoßes gegen Paragraph 57 des Gesetzes über Informations- und Kommunikationstechnologie, der Kritik an Staat und Religion mit einer Haftstrafe von bis zu 14 Jahren ahndet.
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macht Delisle eindrücklich klar, was es heißt, in erzwungener Einsamkeit zu leben, nicht mehr die Rechte zu haben, sich zu bewegen, in Gesellschaft sein zu können und sein Leben selbst zu bestimmen. Christophe André ist, wie er selbst erkennt, »eine Ware«, aber eine Ware mit Bewusstsein. Dieses Bewusstsein in all seinen Facetten mit filigranen Strichen sichtbar zu machen, gelingt Delisle auf jeder einzelnen der mehr als 400 Seiten: Hoffnung, Angst und Frustration, Akte des Widerstands, Fantasien, die Entführer zu töten, kleinste Momente der Freude und selbst die verrinnende Zeit werden überzeugend zu Papier gebracht. »Geisel« ist ein luzides Panoptikum dessen, was bleibt, wenn dem Menschen die Freiheit genommen wird. Ein hervorragendes Buch.
in bisschen verschüttete Brühe und eine Zigarette … die beiden Höhepunkte des Tages.« Es ist Tag 9, als Christophe André diesen Satz sagt oder denkt, genau weiß man es nicht, denn er steht über einem kleinen gemalten Bild, das einen Betonboden zeigt, eine Matratze und einen Fuß, seinen Fuß. Seit neun Tagen befindet er sich in Geiselhaft. Unbekannte haben ihn in Inguschetien, wo er für Ärzte ohne Grenzen Guy Delisle: Geisel. Aus dem Französischen von Heike in der Finanzverwaltung arbeitete, entführt und nach Tschet Drescher. Reprodukt, Berlin 2017. 432 Seiten, 29 Euro. schenien verschleppt. Die NGO soll eine Million Dollar zahlen, damit ihr Mitarbeiter wieder freikommt. Guy Delisle, ein kanadischer Comiczeichner, der 2012 für »Aufzeichnungen aus Jerusalem« den renommierten Prix du meilleur album erhielt, dokumentiert den Fall des im Jahr 1997 im Kaukasus entführten und erst nach 111 Tagen freigekommenen Christophe André. Da die Entführer in den Nachtstunden vom 1. auf den 2. Juli kamen, dominieren auf den ersten 20 Seiten die Farben der Nacht: schwarz und verschiedene Grautöne. Sie geben auch die Atmosphäre vor für die weitere Handlung, denn schwarz und grau, minimalistisch und eintönig, werden nicht nur die Nächte, sondern auch die Tage des Entführten sein. Delisles Pinsel- und Stiftführung ist schlicht und reduziert. Damit wird sie dem Alltag Andrés gerecht, an knapp 100 von 111 Tagen passiert so gut wie nichts. Man bringt ihm Mahlzeiten, er darf zur Toilette, und das war es. Mit Handschellen ist er an einen Heizkörper gekettet, ohne Kontakt zu den Entführern, ohne Wissen, wie es weitergeht. »Im Gefängnis weiß man wenigstens, warum man eingesperrt ist. Es gibt einen Grund, ob der nun stimmt oder nicht, aber immerhin gibt es einen Grund. (…) Aber ich kann nur die Tage zählen, die vergangen sind, und weiß nicht, wann es vorbei ist«, überlegt der Gefangene, der von Tag zu Tag mehr fürchtet, den Verstand zu verlieren. Zum Glück hat André eine Vorliebe für Militärgeschichte. Wenn ihn die Grübelei niederdrückt, flieht er im Geiste in große Schlachten der vergangenen Jahrhunderte. Mit einem imaginierten ABC großer Generäle und Schlachtfelder hält er seinen Geist rege, und der Zeichner Delisle folgt ihm dabei mit sichtlichem Vergnügen: Endlich kann die Tristesse der Geiselhaft bildlich durchbrochen, können vielfältige und helle Karten, Feldzüge und Porträts aus der Militärgeschichte gemalt werden. Wo Kriege und Generäle die Rettung darstellen, muss die Realität finster sein. Und tatsächlich Die Farben der Nacht. Christophe André von Ärzte ohne Grenzen wird entführt.
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Foto: Reprodukt
Guy Delisles »Geisel« zeichnet die Entführung eines Mitarbeiters von Ärzte ohne Grenzen in Tschetschenien nach. Die Graphic Novel ist ein Panoptikum erzwungener Einsamkeit. Von Maik Söhler
Umkämpfte Ressourcen
Aufstieg und Fall der Türkei
Wer Umweltschutz und Menschenrechte zusammendenkt, trifft in der politischen Debatte schnell auf Staaten Mittelund Südamerikas. Gelten doch die Urwälder des Amazonasgebiets als letzte Bastion gegen den Klimawandel und geht doch der Kampf um Landbesitz und -bewirtschaftung häufig mit Menschenrechtsverletzungen einher. Dawid Danilo Bartelt, ehemals Pressesprecher der deutschen Sektion von Amnesty International und inzwischen Mitarbeiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Lateinamerika, wendet sich in »Konflikt Natur« gleichzeitig den ökologischen und den sozialen Problemen des Halbkontinents zu. Er beschreibt die klassische Ausbeutung von Natur und Menschen im Bergbau, Agrobusiness sowie Erdöl- und -gassektor, nimmt aber auch den »neuen Markt für Natur« samt Emissionshandel und Umweltdienstleistungen in den Blick. Im Vorwort schreibt Bartelt: »Naturressourcen haben eine Konfliktnatur. Nirgendwo ist sie derart trächtig wie in Lateinamerika. Aber Betroffene wehren sich immer wahrnehmbarer, alternative Ansätze werden lauter diskutiert.« Wer sich mit Begriffen aus der Rohstoffökonomie wie Extraktivismus und sozialen Konzepten wie Buen Vivir bereits auskennt, findet in »Konflikt Natur« eine analytisch-vertiefende Übersicht. Wer sich nicht auskennt, wird hervorragend ins Thema eingeführt. Ein gedanklich herausforderndes, wichtiges Buch.
Noch vor zehn Jahren wunderte sich die Welt über den Aufstieg der Türkei zu einem Staat, der plötzlich als ökonomisch erfolgreich, politisch weitgehend verlässlich und international angesehen galt. Recep Tayyip Erdoğan, seine AKP und der neue türkische Mittelstand schufen ein islamisch-sozioökonomisches Modell, das sich andere Länder zum Vorbild nehmen wollten, um Politik, Soziales, Wirtschaft und Religion in Einklang zu bringen. Im Jahr 2017 aber ist die Türkei nur noch ein Musterbeispiel für autokratisch-repressive Fehlentwicklungen. Wie konnte es dazu kommen? Cihan Tugal, Professor für Soziologie an der University of California in Berkley, untersucht in seinem neuen Buch »Das Scheitern des türkischen Modells« die Veränderungen in der Türkei, dem Iran und in arabischen Staaten wie Ägypten und Tunesien. Der Untertitel »Wie der arabische Frühling den islamischen Liberalismus zu Fall brachte« verweist darauf, dass Tugal die Türkei nicht isoliert, sondern als Teil der islamischen Welt im Umbruch und als Akteur in einer Krisenregion betrachtet. Der Autor begutachtet die soziologische, politologische und makroökonomische Forschung zum Thema, setzt beim Leser also sehr viel voraus, und auch die Sprache ist akademischanalytisch. Wer sich davon nicht abschrecken lässt, wird mit profunden Einsichten in das politische Denken und Handeln in der Region belohnt.
Dawid Danilo Bartelt: Konflikt Natur. Ressourcenaus beutung in Lateinamerika. Wagenbach, Berlin 2017. 144 Seiten, 12 Euro.
Cihan Tugal. Das Scheitern des türkischen Modells. Aus dem Englischen von Hans Freundl und Karsten Petersen. Kunstmann, München 2017. 400 Seiten, 24 Euro.
Bilder für die Pressefreiheit
Mit Haut und Haar
Diesmal liegt der Schwerpunkt auf der Türkei, Polen, Eritrea, den Philippinen, Großbritannien, Mexiko, dem Südsudan und Ägypten. Jedes Jahr gibt die Journalistenorganisation Reporter ohne Grenzen den vom Bildjournalismus dominierten Band »Fotos für die Pressefreiheit« heraus, der deutlich macht, in welchem Verhältnis die Lage der Medien zum Recht auf Meinungsfreiheit steht, wo diese bedroht ist oder gar systematisch missachtet oder unterdrückt wird. Die Rangliste der Pressefreiheit 2017 umfasst 173 Staaten. Auf Platz 1 befindet sich Finnland, auf Platz 173 Laos; Deutschland nimmt Rang 16 ein. Ausgewählte Text- und Bildbeiträge geben den statistischen Ziffern und gelisteten Ländern Tiefe, analysieren den Kampf um Pressefreiheit. Der britische Fotograf Guy Martin etwa hat lange in der Türkei gelebt und das Land nach dem Putschversuch und der anschließenden Repression im Jahr 2016 verlassen. Im Band zeigt er seine beeindruckende Bildserie »Der parallele Staat« und überlegt in einem Textbeitrag, welche Fotos in Krisensituationen angemessen sind. Beeindruckend ist auch der Beitrag »Menschenjagd bei Nacht« von Dondi Tawato über »einen gnadenlosen Krieg gegen Drogenkriminelle und Süchtige« auf den Philippinen. Im Vorwort betont »Stern«-Herausgeber Andreas Petzold, was den Band ausmacht: »Fotografie zeigt, was ist! Unbestechlich, wahrheitsgetreu – in einer Millisekunde eingefrorene, aussagekräftige Fakten.«
Unfrei. Was bedeutet es, keine Rechte zu haben, jemand anderem zu gehören, versklavt zu sein? Der historische Roman »Mein Name ist nicht Freitag« von Jon Walter beantwortet diese Fragen aus Sicht des zwölfjährigen Samuel und gewährt einen kindlichen, schonungslosen und durch den Glauben an Gott geprägten Blick auf die Sklaverei in den Südstaaten der USA während des Sezessionskriegs zwischen 1861 und 1865. Samuel wird nicht als Sklave geboren, er wächst nach dem Tod der Mutter gemeinsam mit seinem kleinen Bruder, für den er sich verantwortlich fühlt, in Pater Moselys Waisenhaus für farbige Jungen auf. Er ist ein Musterknabe, lernt Lesen, Schreiben, Rechnen. Als er jedoch die Verantwortung für ein Vergehen seines Bruders übernimmt, wird er zur Strafe an einen Sklavenhändler übergeben und auf einer Auktion an den jungen Gerald Allen verkauft. »Dieser Junge hat mich gekauft. Dieser weiße Junge, der nicht einmal so alt aussieht wie ich. Ich gehöre jetzt ihm, mit Haut und Haar, und ich bin sechshundert Dollar wert.« Schnell muss sich Samuel, der jetzt Freitag heißt, in seine neue Rolle als Leibeigener einfinden, muss gehorchen, die Regeln auf der Baumwollplantage lernen, um in der brutalen Realität der Sklaverei zu überleben. Und er muss überleben, denn schließlich will er zurück nach Middle Creek zu seinem Bruder, so wie er es versprochen hat.
Reporter ohne Grenzen (Hg.): Fotos für die Pressefreiheit 2017. Berlin 2017. 107 Seiten, 16 Euro.
Jon Walter: Mein Name ist nicht Freitag. Aus dem Amerikanischen von Josefine Haubold. Carlsen, Hamburg 2017. 448 Seiten, 18,99 Euro. Ab 14 Jahren.
Bücher: Maik Söhler, Marlene Zöhrer BÜCHER
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Rappende Selbstbehauptung
Das Erbe der Garifuna
»Wenn Gott so mächtig ist, warum habt ihr dann solche Zweifel?« Diese Frage stellt der Musiker Shahin Najafi, der aus dem Iran flüchten musste, seinen konservativen Verfolgern. Er selbst hält sich für einen Atheisten, und so klingen auch seine Texte. Im Jahr 2012 veröffentlichte er einen satirischen Rap, der iranische Religionsführer dazu veranlasste, ihn mit einer Todes-Fatwa zu belegen. Wer Najafi umbringt, kann mit 100.000 Dollar Belohnung rechnen. Seit seiner Flucht lebt Najafi in Deutschland im Exil. Seine Musik ist ein Statement des Lebens, eine Selbstbehauptung. Felix Schauders Dokumentation »When God Sleeps« über Najafi zeigt Internet-Tutorials, die demonstrieren, wie man Sprengstoff mischt, um den Musiker von der Bühne zu bomben. Die deutsche Polizei nennt das bei der Sicherheitsberatung des Musikers eine »abstrakte Bedrohung«. Es kommen Künstlerkollegen zu Wort, die gemeinsame Konzerte mit Najafi aus Angst absagten, und Günter Wallraff, der den Musiker einige Monate beherbergt hat. Der Film zeigt Prügelvideos aus dem Iran, aber auch beiläufig-ironische Alltagsszenen des Musikerlebens, etwa wenn der Sänger ein Riesenpeniskostüm für einen Auftritt erwirbt. Seine Freundin ist die Enkelin eines ehemaligen iranischen Premierministers. Najafis Musik zählt nicht zu dessen Vorlieben, er ist in seinen Augen ein »Anarchist«. Najafis Fazit: »Frauen sind stärker als Männer.« Ein beeindruckendes filmisches Porträt.
Der Musiker Aurelio Martínez war der erste schwarze Abgeordnete, der ins Parlament von Honduras gewählt wurde. Doch nach vier Jahren legte er sein Mandat nieder. Als das Militär 2009 gegen den liberalen Präsidenten Manuel Zelaya putschte, schien das ratsamer. Außerdem hält Aurelio Martínez die Musik für die wirksamere Waffe, um sich für die Sache der Garifuna zu engagieren. Die Garifuna leben überwiegend als Fischer an der Küste von Belize und Honduras. Sie sind Nachkommen von indigenen Bewohnern der Karibikinsel St. Vincent und Westafrikanern, die nach dem Schiffbruch zweier Sklavenschiffe im 17. Jahrhundert angeschwemmt wurden, und brachten eine eigene Kultur hervor, die 2001 von der Unesco zum immateriellen Kulturerbe erklärt wurde. Doch diese Kultur ist bedroht – durch Politiker und Investoren, die die Küsten für den Tourismus erschließen wollen, sowie durch Auswanderung und Assimilation. Auch der Vater von Aurelio Martínez wanderte einst in die USA aus, wo viele Garifuna leben, und schickte Kassetten mit Liedern nach Hause, die sein Sohn auf einer selbstgebauten Gitarre nachspielte. Auf seinem Album »Darandi« hat der Musiker seine Lieblingssongs aus drei Jahrzehnten versammelt. Sie handeln von der Liebe, der Emigration und der Bewahrung der eigenen Traditionen, und in den bittersüßen Melodien spiegelt sich der rebellische Geist der Garifuna, die sich schon immer gegen mächtigere Gruppen behaupten mussten.
»When God Sleeps«. D/US 2017. Regie: Till Schauder. Kinostart: 12. Oktober 2017
Aurelio: Darandi (Real World Records)
Die Nazis und der Swing
Verbotene Sängerinnen
Eine Künstlerbiografie der besonderen Sorte ist »Django«, das filmische Porträt des genialen Gitarristen Django Reinhardt, der 1953 starb. Der Film, der 2017 die Berlinale eröffnete, thematisiert nicht zuletzt das ambivalente Verhältnis von Kunst und Diktatur. Die Nationalsozialisten wollten für ihre Tanzveranstaltungen ausgerechnet den Sinto Reinhardt einspannen, der durch einen Unfall zwei Finger der linken Hand verlor, deshalb eine besondere Spielweise entwickelte und damit in den vierziger Jahren zum König des »Gipsy Swing« aufstieg. Seine Musik sollte gegen die amerikanische »Negermusik« anklingen. Reinhardt wird in diesem Film als ein in politischen Dingen unentschiedener Charakter geschildert, der dieses Angebot nicht ablehnt. Er steckt sich eine Zigarette an und beginnt zu spielen. Und während andere Sinti und Roma schon in Konzentrationslager transportiert werden, ist Reinhardt aufgrund seiner Prominenz noch recht sicher. Doch als ihn Hitlers Kulturpolitiker auf Deutschland-Tour schicken wollen, ergreift er die Flucht – die Nazis immer dicht auf den Fersen. Regisseur Etienne Comar porträtiert einen Künstler und Freigeist, mit dem das Leben so beiläufig spielt wie er selbst seine Musik. »Django« ist ein mitreißender Film, vor allem in den musikalischen Sequenzen. Die Verfolgung dieser Musik zeigt am besten, was faschistische Politik bedeutet: Nicht einmal die eigenen Ohren sind frei.
Seit der »islamischen Revolution« von 1979 dürfen Frauen im Iran nicht mehr vor einem männlichen Publikum auftreten, das hat der Revolutionsführer Ayatollah Khomeini einst so verfügt. In ihrem Heimatland gibt die Sängerin Marjan Vahdat deshalb keine Konzerte. Dafür haben sie und ihre Schwester Mahsa im Ausland Karriere gemacht. In Norwegen haben sie eine Reihe von Alben aufgenommen, sie haben vielerorts in Europa, den USA und im Nahen Osten gastiert und sind über das Internet auch im Iran bekannt. Auf ihrem Soloalbum »Serene Hope« (»Heitere Hoffnung«) interpretiert Marjan Vahdat klassische Gedichte des Sufi-Mystikers Dschalaluddin Rumi, aber auch von modernen Poeten wie Forough Farrokhzad und Mohammad Ebrahim Jafari sowie armenische und kurdische Schlaflieder. Getragen werden die Lieder von ihrer Ausnahmestimme, ehrfürchtig eingerahmt werden sie von einem Ensemble aus Oud (Ahmad Al Khatib, Palästina), Duduk (Ertan Tekin, Türkei), Bass (Gjermund Silset, Norwegen) und dezenter Percussion (Ali Rahimi, Iran). Die Stimmung ist meditativ und melancholisch, aber zuweilen doch hoffnungsvoll. Das Stück »Exile« etwa ist all jenen gewidmet, die aus politischen Gründen ihre Heimat verlassen mussten. »Mein Liebster, du hast das fremde Land in deine Heimat verwandelt. Deine Heimatstadt hat sich während deiner Abwesenheit in ein Gefängnis verwandelt.« Mehr Worte braucht es nicht.
»Django«. F 2017. Regie: Etienne Comar. Darsteller: Reda Kateb, Cécile de France. Kinostart: 26. Oktober 2017
Marjan Vahdat: Serene Hope (Kirkelig Kulturverksted / Indigo)
Film: Jürgen Kiontke | Musik: Daniel Bax 62
AMNESTY JOURNAL | 10-11/2017
Foto: Port au Prince Pictures
Verstrickt. Der korrupte Polizist Noredin (Fares Fares) soll einen Mord aufklären.
Im Sumpf »Die Nile Hilton Affäre« ist ein Musterkinostück über Polizeikorruption. Von Jürgen Kiontke
V
ergiss Gerechtigkeit« – ist einer der ersten Sätze in Tarik Salehs sehenswertem Thriller »Die Nile Hilton Affäre«. Und er ist bezeichnend für diese Geschichte, die einen wahren Fall zum Aufhänger nimmt: 2008 wurde die Sängerin Suzanne Tamim in Dubai ermordet. Die Spuren führten damals zu einem der einflussreichsten Männer Ägyptens, einem Bauunternehmer mit besten Verbindungen in die Politik. Der Fall sorgte in den arabischen Ländern für viel Aufsehen. Ging es doch um persönliche Abhängigkeiten, Erpressung und Korruption. Regisseur Saleh hat aus diesem Gebräu einen spannenden Film gemacht und die Handlung ins Kairo der »Arabellion«, ins Jahr 2011, verlegt. An den Hauswänden wird noch für den Aufbau des Landes unter Präsident Mubarak geworben – und noch viel mehr für die neuen Eigentumswohnungen, die Hatem Shafiq errichten ließ. Der Bauunternehmer genießt aufgrund seiner politischen Aktivitäten Immunität, gerät aber bald unter Verdacht, die Sängerin Lalena umgebracht zu haben. Sie wurde blutüberströmt in einem Hotelzimmer aufgefunden und war die zentrale Figur eines Verbrechersyndikats, das Prominente erpresst. Der ägyptische Polizist Noredin (Fares Fares) soll den Mord aufklären. Damit ist er ein bisschen überfordert: Denn normalerweise beschäftigt er sich damit, Schutzgeld von Straßenhändlern und Kleinkriminellen zu erpressen. Die Polizei erscheint im Film als Geldeinzugszentrale und Familienbetrieb – Noredins Onkel deckt als Chef der Polizeiwache nicht nur die krummen Geschäfte, sondern fordert von seinen Beamten sogar noch mehr Umsatz.
FILM
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MUSIK
Das Kapitalverbrechen gerät streckenweise in den Hintergrund, während die Machenschaften der Beamten erzählt werden. Am Tatort bestellen sich die Ermittler erst einmal ein Mittagessen auf Rechnung der Toten – der sie umgehend das Bargeld aus der Handtasche klauen. Die Polizeieinheiten verschiedener Bezirke erpressen sich gegenseitig, wichtige Zeugen sterben in der Untersuchungshaft im Beisein eines gesamten Polizeireviers. Ermittlungsergebnis: Selbstmord. Und dann gibt es noch die junge Putzfrau Salwa. Die wichtigste Zeugin des Verbrechens hält sich illegal in Ägypten auf – viel größer kann die soziale Distanz zwischen den Milieus eigentlich nicht sein. Während Bauunternehmer Shafiq im Luxus schwelgt, werden Salwa und ihre Mitbewohner unter Druck gesetzt, indem man ihnen die Pässe abnimmt, sie zusammenschlägt oder sogar tötet. Mit Salwas Hilfe will Noredin das Verbrechen aufklären – in dem er selbst bis zum Hals drinsteckt, ohne es zu wissen. »Die Nile Hilton Affäre« ist ein Polizeifilm der komplett anderen Art: Er zeigt ein korruptes Behördensystem, dessen Auswirkungen – Missachtung der Gesetze und Vorteilsnahme – bei den Protesten auf dem Kairoer Tahrir-Platz öffentlich angeprangert wurden. Einer der Auslöser der »ägyptischen Revolution« war der Tod des Bloggers Khaled Said. Der junge Mann war von zwei korrupten Polizisten zu Tode geprügelt worden. Der Mord werfe ein »Schlaglicht auf die von ägyptischen Sicherheitskräften Tag für Tag ausgeübte brutale Gewalt« stellte Amnesty International damals fest. Mit einigen Jahren Abstand zeigt der Film nun die gleiche Problematik. »Die Nile Hilton Affäre.« D, DK, SWE 2017. Regie: Tarik Saleh, Darsteller: Fares Fares, Mari Malek. Kinostart: 5. Oktober 2017
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Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt oder man lässt sie »verschwinden«. AMNESTY INTERNATIONAL veröffentlicht regelmäßig an dieser Stelle drei Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden. Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie bitte eine digitale Kopie an: info@amnesty.de
AMNESTY INTERNATIONAL Zinnowitzer Straße 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 Fax: 030 - 42 02 48 - 488 E-Mail: info@amnesty.de www.amnesty.de Spendenkonto Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE23 3702 0500 0008 0901 00 BIC: BFS WDE 33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00)
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Foto: privat
BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN
CHINA LIU XIA Die Künstlerin Liu Xia wird rechtswidrig in Hausarrest gehalten, seit ihr 2017 verstorbener Mann Liu Xiaobo mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Nachdem das Nobelpreiskomitee den Preisträger am 8. Oktober 2010 bekannt gegeben hatte, wurde Liu Xia von der Polizei in die Provinz Liaoning gebracht, um sie von den Medien fernzuhalten. Dort konnte sie am 10. Oktober 2010 Liu Xiaobo in der Haft besuchen. Anschließend twitterte sie, dass ihr Mann unter Tränen seinen Friedensnobelpreis all den gewaltfreien Aktivist_innen gewidmet habe, die sich für Frieden, Freiheit und Demokratie einsetzen. Am selben Tag wurde Liu Xia nach Peking zurückgebracht und konnte ihren Mann bis zu seinem Tod am 13. Juli 2017 nur noch selten besuchen. Seit der eilig organisierten Seebestattung ihres Ehemanns am 15. Juli 2017 besteht kein Kontakt mehr zu Liu Xia. Sie wurde nach Yunnan im Südwesten Chinas gebracht, wo sie weiterhin von Sicherheitskräften überwacht wird. Selbst ihre engsten Freund_innen können sie nicht erreichen. Amnesty International schrieb am 10. August 2017 einen offenen Brief an Präsident Xi Jinping, dem eine von fast 70.000 Menschen unterzeichnete Petition beilag, in der die Aufhebung aller willkürlichen Einschränkungen gegen Liu Xia gefordert wurde. Am 18. August wurde ein kurzes Video auf YouTube veröffentlicht, in dem Liu Xia versicherte, ihr gehe es besser und sie benötige Zeit zur Trauer. Ein später veröffentlichtes Video, das eine teilweise verdeckte Gestalt zeigte, die wie Liu Xia gekleidet war, löste Befürchtungen aus, die Videos könnten unter Zwang entstanden sein. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den chinesischen Präsidenten und bitten Sie ihn, den rechtswidrigen Hausarrest und die Überwachung von Liu Xia zu beenden, Schikanierungen zu unterlassen und ihr zu erlauben, sich frei zu bewegen. Bitten Sie ihn zudem, entsprechend der UN-Erklärung zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger_innen wirksame Maßnahmen zu ergreifen, damit Liu Xia und alle anderen Menschenrechtler_innen ihre friedlichen Aktivitäten ohne Angst vor Schikane, Einschüchterung oder Inhaftierung ausüben können. Schreiben Sie in gutem Chinesisch, Englisch oder auf Deutsch an: President Xi Jinping 習近平 The State Council General Office 2 Fuyoujie, Xichengqu Beijingshi 100017, VOLKSREPUBLIK CHINA Fax: 00 86 - 10 62 38 10 25 (Anrede: Your Excellency / Exzellenz) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,90 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Volksrepublik China S. E. Herr Mingde Shi Märkisches Ufer 54, 10179 Berlin Fax: 030 - 27 58 82 21 (Standardbrief: 0,70 Euro)
AMNESTY JOURNAL | 10-11/2017
Foto: ICRC
USA AMMAR AL BALUCHI Ammar al Baluchi soll auf dem US-Marinestützpunkt Guantánamo Bay ein Verfahren vor einer Militärkommission erhalten. Ihm droht die Todesstrafe. Er wird beschuldigt, Männern Geld überwiesen zu haben, die später an den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA beteiligt waren. Ammar al Baluchi wurde von 2003 bis 2006 in geheimen CIA-Gefängnissen festgehalten, gefoltert und anderweitig misshandelt. Weder der genaue Haftort seines CIA-Gewahrsams noch das genaue Ausmaß der erlittenen Misshandlungen sind bekannt. Am 4. September 2006 wurde Ammar al Baluchi nach Guantánamo gebracht. Erst 2008 wurden Ammar al Baluchi und vier weitere Angeklagte auf der Grundlage des Gesetzes über Militärkommissionen von 2006 angeklagt. 2012 genehmigte die zuständige Behörde für Militärkommissionen der Staatsanwaltschaft, für alle fünf Angeklagten die Todesstrafe zu fordern. Die Eröffnung des Verfahrens gegen Ammar al Baluchi steht nach wie vor aus. Laut seiner Rechtsbeistände zeigt er Symptome eines SchädelHirn-Traumas und einer posttraumatischen Belastungsstörung, die auf die erlittene Folter zurückzuführen ist. Obwohl Ammar al Baluchi umfassende medizinische Untersuchungen und Behandlungen in Aussicht gestellt wurden, stehen diese noch aus. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den US-Verteidigungsminister und drücken Sie Ihre Sorge darüber aus, dass für Ammar al Baluchi und die anderen vier Angeklagten die Todesstrafe gefordert wird. Machen Sie ihn darauf aufmerksam, dass nach dem Völkerrecht die Todesstrafe nur in einem Verfahren verhängt werden darf, dass den Standards für ein faires Verfahren entspricht und dass dies nicht auf die Verfahren vor Militärkommissionen zutrifft. Fordern Sie ihn dazu auf, den Fall vor einem US-Zivilgericht und nicht vor einer Militärkommission zu verhandeln und bei dem Strafmaß die Todesstrafe auszuschließen, egal vor welchem Gericht der Fall verhandelt wird. Bitten Sie ihn zudem, Ammar al Baluchi umgehend eine umfassende medizinische Untersuchung und Versorgung zuteilwerden zu lassen. Schreiben Sie in gutem Englisch oder auf Deutsch an: James Mattis, Secretary of Defense 1000 Defense Pentagon Fax: 001 - 70 35 71 89 51 E-Mail über die Webpage: http://execsec.defense.gov/Contact-Us/ Washington D.C., 20301-1000, USA (Anrede: Dear Secretary of Defense / Sehr geehrter Herr Verteidigungsminister) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,90 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika Herrn Kent Doyle Logsdon Clayallee 170, 14191 Berlin Fax: 030 - 83 05 10 50 E-Mail über die Webpage: http://germany.usembassy.de/email/feedback.htm (Standardbrief: 0,70 Euro)
BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN
NIGERIA DESMOND NUNUGWO Desmond Nunugwo starb im Juni 2016 im Gewahrsam der Regierungsbehörde zur Strafverfolgung von Wirtschafts- und Finanzdelikten (Economic and Financial Crimes Commission – EFCC). Seine Familie erfuhr dies nur durch Medienberichte, die die EFCC veröffentlichte. Über die Umstände seines Todes ist nichts bekannt. Seit seinem Tod liegt sein Leichnam in der Gerichtsmedizin, um eine Autopsie vorzunehmen. Desmond Nunugwos Familie hat seither mehrfach um eine Untersuchung seines Todes gebeten. Im August 2016 schrieb sie an den Generalstaatsanwalt und bat ihn, die Ermittlungen zu übernehmen, weil sie nicht darauf vertraue, dass die Polizei diese unparteiisch durchführen würde. Obwohl der Generalstaatsanwalt auf Bitten der Familienangehörigen im August 2016 anordnete, die nigerianische Polizei und eine andere Behörde solle den Tod untersuchen, ist dies bislang nicht geschehen. Die Polizei gibt ebenso wie die EFCC an, er sei eines natürlichen Todes gestorben. Die Familie hat darum gebeten, dass der Leichnam von Desmond Nunugwo von den Behörden freigegeben werde, damit sie ihn beerdigen könne, sobald die Ermittlungen abgeschlossen sind. Desmond Nunugwo war leitender Beamter im Verteidigungsministerium. Am 9. Juni 2016 wurde er von Angehörigen der EFCC festgenommen. Es hieß, er sei wegen des Verdachts auf Betrug inhaftiert worden. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den nigerianischen Polizeichef, in denen Sie ihn bitten, ohne weitere Verzögerungen eine umfassende und unabhängige Untersuchung des Todes von Desmond Nunugwo einzuleiten und sicherzustellen, dass die Ergebnisse der Ermittlungen veröffentlicht werden und diejenigen, die unter Verdacht stehen, für seinen Tod verantwortlich zu sein, faire Verfahren vor ordentlichen Gerichte erhalten, ohne dass Todesurteile verhängt werden. Bitten Sie außerdem darum, dass der Familie von Desmond Nunugwo nach Abschluss der Ermittlungen der Leichnam zur Bestattung übergeben wird. Schreiben Sie in gutem Englisch oder auf Deutsch an: Inspector General of Police Mr. Ibrahim Kpotum Idris Nigeria Police Force Headquarters Louis Edet House Shehu Shagari Way Abuja, NIGERIA E-Mail: igp@fib.gov.ng; ingenpolsecabuja@npf.gov.ng Twitter: @Police_NG (Anrede: Dear Sir / Sehr geehrter Herr Kpotum Idris) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,90 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Frau Mobolaji Sakirat Ogundero, Gesandte (Geschäftsträgerin a.i.) Neue Jakobstraße 4, 10179 Berlin Fax: 030 - 21 23 01 64 E-Mail: info@nigeriaembassygermany.org (Standardbrief: 0,70 Euro)
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Foto: Jarek Godlewski / Amnesty
AKTIV FÜR AMNESTY
Menschenrechtsbildung. Schüler der Integrierten Gesamtschule Winsen-Roydorf, Juni 2017.
»DIE SCHÜLER WERDEN AUFGERÜTTELT« Der Amnesty-Briefmarathon an Schulen bietet die Chance, auf Menschenrechtsverletzungen weltweit aufmerksam zu machen – im Unterricht und darüber hinaus. Ein Interview mit der Lehrerin Jehan Abushihab. Das Thema Menschenrechte ist unglaublich abstrakt. Wie lässt es sich im Unterricht veranschaulichen? Meist versuche ich das am Beispiel der Regeln im Klassenverband. Diese Regeln sind wichtig, um uns gegenseitig zu schützen und das Lernklima zu erhalten. Ausgehend von dieser konkreten Situation ziehe ich Analogien zum Geschehen in der Welt – auf Rechte, die über die Klasse und Schule hinausgehen. Schließlich haben die meisten Menschenrechtsverletzungen nicht erfahren. Aber sie kennen das Gefühl, gestört zu werden bei dem, was für sie wichtig ist. Dadurch gelingt der Transfer sehr gut. Wie lässt sich dieser Transfer unterstützen? Viele Schülerinnen und Schüler sind von Nachrichten gesättigt, und es ist mitunter schwierig, ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen. Allerdings ändert sich das schlagartig, wenn es um einzelne konkrete Fälle geht, um Personen mit individuellen Lebensgeschichten. Diese Einzelfälle, wie etwa der des saudiarabischen Bloggers Raif Badawi, der zu Stockhieben verurteilt wurde, sind viel greifbarer als abstrakte Themen wie Meinungsfreiheit oder Demonstrationsrecht. Die Schüler rüttelt das sehr auf. Der Fall von Raif Badawi war auch Teil des Amnesty-Briefmarathons. Für mich als Lehrerin ist der Briefmarathon eine riesige Chance, um zu zeigen, welche Menschenrechtsverletzungen auf der Welt passieren: Viele der Fälle lassen sich – ähnlich wie
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die tagespolitische Agenda – in den Unterricht integrieren, und Amnesty liefert dazu viele passende Unterrichtsmaterialien. Ich lasse im Unterricht zunächst Raum, um Empfindungen auszudrücken und Position zu beziehen. Der Briefmarathon bietet dann die Option, aktiv zu werden – durch Protestbriefe an die Verantwortlichen. Neben der Wissensebene kommt damit auch eine Bewusstseins- und Handlungsebene ins Spiel, die für Menschenrechtsbildung konzeptuell von elementarer Bedeutung ist. Sie sind Politiklehrerin. In welchen anderen Fächern könnten Menschenrechte ein Thema sein? Die Themen Datenschutz und Recht auf Privatsphäre könnten sich gut für den EDV-Unterricht eignen. Die Frage, was es bedeutet, wenn der Staat tötet, bietet sich im Philosophieunterricht oder auch in den Fächern Religion und Geschichte an. Anknüpfungspunkte gibt es viele bis hin zum Fach Personalwirtschaft, in dem es möglich ist, sich mit dem Recht auf Arbeit zu beschäftigen. Warum ist Menschenrechtsbildung an Schulen wichtig? Jeder ist verpflichtet, die Würde und die Rechte anderer Personen zu achten. Gleichzeitig sollte er oder sie die eigenen Rechte auch wahrnehmen – und zwar ohne die Rechte anderer zu beschneiden. Das gilt für das Schulleben wie für den gesellschaftlichen Alltag. Heranwachsende dahingehend zu sensibilisieren, ist wichtig, damit sie sich am politischen Geschehen adäquat beteiligen können. Jehan Abushihab unterrichtet am Düsseldorfer Leo-Statz-Berufskolleg die Fächer Politik, Wirtschaftswissenschaften und Personalwirtschaft. Jedes Jahr beteiligen sich dort mehr als 500 Schülerinnen und Schüler am Amnesty-Briefmarathon. Die Fragen stellte Andreas Koob.
AMNESTY JOURNAL | 10-11/2017
AMNESTY MACHT SCHULE Briefeschreiben kann Leben retten – das zeigt der weltweite Briefmarathon, den Amnesty International jedes Jahr rund um den Tag der Menschenrechte am 10. Dezember veranstaltet. Dabei fordern Millionen Menschen in aller Welt Regierungen auf, politische Gefangene freizulassen und Unrecht zu beenden. Und sie schicken Solidaritätsbotschaften an Menschen, deren Rechte verletzt wurden. Im vergangenen Jahr schrieben Menschen aus nahezu allen Ländern der Erde mehr als 4,6 Millionen Briefe – so viele wie nie zuvor. Allein aus Deutschland wurden 331.395 Appelle und Solidaritätsschreiben verschickt.
Auch Schulen können sich am Briefmarathon beteiligen. Amnesty stellt Lehrerinnen und Lehrern Unterrichtsvorschläge für die Jahrgangsstufen 7 bis 13 zur Verfügung, die sich für die Fächer Deutsch, Englisch, Französisch, Geschichte, Ethik, Religion oder Gemeinschafts-/Sozialkunde eignen. Die Materialien umfassen Informationen zu den Menschen, für die wir uns beim Briefmarathon einsetzen, Hintergrundinformationen zum jeweiligen Land und Thema, Briefvorlagen und Tipps zur Formulierung individueller Briefe sowie Unterrichtsvorschläge zu Menschenrechtsthemen wie Flucht, Asyl oder Todesstrafe. Der Briefmarathon an Schulen bietet aber noch sehr viel mehr Möglichkeiten. Für Schülerinnen und Schüler, die gern schreiben, kann er ein Anlass sein, um einen Beitrag für die Schülerzeitung oder
die Internetseite der Schule zu verfassen. Sie können sich auch an lokale Magazine und Tageszeitungen wenden oder ihren Artikel an Amnesty schicken: briefmarathon-schule@amnesty.de. Der Kunstunterricht eignet sich, um eine begleitende Ausstellung in der Schule zu präsentieren. Schülerinnen und Schüler können zu den einzelnen Fällen, Ländern und Themen Zeichnungen oder Comics anfertigen. Auch auf Adventsfeiern oder Tagen der offenen Tür können Aktionen stattfinden. Weitere Informationen und Erfolgsgeschichten zum Briefmarathon unter: www.amnesty.de/schule
HER MIT DEM HEFT!
Sie haben das Amnesty Journal zufällig in die Hände bekommen und Lust auf weitere Ausgaben? Das Journal landet alle zwei Monate bei all jenen im Briefkasten, die die Arbeit von Amnesty International mit mindestens 5 Euro pro Monat oder als Mitglied unterstützen. Mehr Infos unter: www.amnesty.de/foerdererwerden und www.amnesty.de/mitglied-werden
Foto: Jarek Godlewski / Amnesty
AKTIV FÜR AMNESTY
Durch ganz unterschiedliche Veranstaltungen geben AmnestyMitglieder den Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme. Diese Aktionen vor Ort sind ein unentbehrlicher Teil der Arbeit von Amnesty International. Mehr Informationen darüber finden Sie auf http://blog.amnesty.de und www.amnesty.de/kalender
Schärft das Bewusstsein. Menschenrechtsthemen im Unterricht in Winsen-Roydorf, Juni 2017.
IMPRESSUM Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V. Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 E-Mail: info@amnesty.de Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redak tion Amnesty Journal Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin E-Mail: journal@amnesty.de Adressänderungen bitte an: info@amnesty.de Redaktion: Markus Bickel (V.i.S.d.P.), Jessica Böhner, Hannah El-Hitami, Anton Landgraf, Katrin Schwarz
AKTIV FÜR AMNESTY
Mitarbeit an dieser Ausgabe: Jehan bushihab, Birgit Albrecht, Daniel Bax, A Markus N. Beeko, Alexander Bühler, Roman Filipović, Jeba Habib, Bernhard Hertlein, Astrid Kaminski, Jürgen Kiontke, Nicoló Lanfranchi, Gregor Mayer, Arndt Peltner, Gemma Pörzgen, Simon Ramirez-Voltaire, Ralf Rebmann, Wera Reusch, Andrzej Rybak, Uta von Schrenk, Maik Söhler, Sebastian Sons, Karl Tachser, Wolf-Dieter Vogel, Marlene Zöhrer Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck und Verlag: Hofmann Druck, Nürnberg GmbH & Co. KG
Bankverbindung: Amnesty International Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE23 3702 0500 0008 0901 00 BIC: BFS WDE 33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00) Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und erscheint sechs Mal im Jahr. Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.
und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, für die Verbreitung im Internet oder für Vervielfältigungen auf CD-Rom.
ISSN: 2199-4587
Für unverlangt eingesandte Artikel oder Fotos übernimmt die Redaktion keine Verantwortung. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder. Die Urheberrechte für Artikel
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ES GIBT MENSCHEN, DIE STERBEN FÜR BÜCHER. In vielen Ländern werden Schriftsteller verfolgt, gefoltert oder mit dem Tode bedroht. Jetzt mit 5 Euro die Menschenrechte unterstützen! SMS mit Kennwort Amnesty an 81190* senden. * von den 5 Euro gehen 4,83 Euro direkt an Amnesty, Kosten zzgl. einer Standard-SMS.