Amnesty Journal Ausgabe Oktober/November 2018

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DAS MAGAZIN FÜR DIE MENSCHENRECHTE

AMNESTY JOURNAL

ANDERS GEPOLT DER KAMPF DER POLNISCHEN PROTESTBEWEGUNG GEGEN DIE REGIERUNG IN WARSCHAU

ENDSTATION ELLWANGEN Geflüchtete fürchten Abschiebung nach Italien

ORTEGA SCHLÄGT ZURÜCK Nicaraguas Regierung geht hart gegen Oppositionelle vor

DYLANS ERBEN Der US-amerikanische HipHop politisiert sich

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2018 OKTOBER/ NOVEMBER


INHALT

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»Die Bevölkerung wehrt sich.« Urszula Sconecka, Vorstandsvorsitzende der polnischen Sektion von Amnesty, über den konzertierten Angriff der Regierung auf Gerichte, Medien und NGOs.

TITEL: POLENS PROTESTBEWEGUNG Interview: Urszula Sconecka, Polens AmnestyVorstandsvorsitzende

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Protestbewegung: Polen sucht die Superfrau

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Justiz: Weiße Rosen für den Rechtsstaat

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Rechtsextreme: Vorwärts in die Vergangenheit

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Robert Biedroń: Hoffnungsträger der Opposition

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Medien: Die Presse bleibt frei

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Kein Land in Sicht. Die Hoffnung, die sozialistische spanische Regierung verfolge eine humanere Flüchtlingspolitik als ihre Vorgängerin, währte nur kurz.

POLITIK & GESELLSCHAFT Spanien: Die Flüchtlingspolitik der sozialistischen Regierung 30 Deutschland: Die Angst vor Abschiebungen in Ellwangen

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Simbabwe: Die junge Generation nimmt ihr Schicksal in die Hand

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Nepal: Vom Himalaya in die Hölle

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Nicaragua: Die Opposition will eine friedliche Lösung

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Ecuador: Kliniken für Homosexuelle

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Georgien I: Der Techno-Club Bassiani

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KULTUR Georgien II: Nana Ekvtimishvili und Tamar Tandaschwili

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Georgien III: Gastland der Frankfurter Buchmesse

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Russland: Der ukrainische Regisseur Oleg Sentsov im Hungerstreik

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Pakistan: Die Illustratorin Shehzil Malik

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HipHop in den USA: Repolitisierung bis zum Mainstream

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Luke Willis Thompson: Polizeigewalt in den USA

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Nelson Mandela: Ein wehmütiger Optimist

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Spielfilm »Wackersdorf«: Nukleare Provinz

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RUBRIKEN Panorama 04 Einsatz mit Erfolg 06 Markus N. Beeko über Menschenrechte und Gerichte 07 Spotlight: Persönlichkeitsrecht 08 Interview: Vanja 09 Porträt: Colin Gonsalves, Indien 52 Dranbleiben: Namibia, Argentinien, Ägypten 53 Rezensionen: Bücher 69 Rezensionen: Film & Musik 70 Briefe gegen das Vergessen 72 Aktiv für Amnesty 74 Impressum 75

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Vom Himalaya in die Hölle. Armut und fehlende Alternativen treiben viele Nepalesen zum Arbeiten ins Ausland. Dort erwartet sie häufig Ausbeutung oder Prostitution.

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Schluss mit Bling-Bling. Der US-amerikanische HipHop durchläuft eine Repolitisierung – und kommt damit sogar im Mainstream an.

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Mit dem Hijab aufs Motorrad. Die pakistanische Illustratorin und Designerin Shehzil Malik fordert die patriarchalische Gesellschaft ihres Landes mit feministischen Grafiken heraus.

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IM OSTEN GEHT

Vorwärts in die Vergangenheit. Im Realsozialismus waren sie verboten, doch heute sind rechtsextreme Gruppierungen in Polen wieder salonfähig geworden. Mit Wohlwollen der Regierung.

Keine Tränen für das Krokodil. Die junge Generation in Simbabwe will ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Doch die alten Strukturen sind noch mächtig.

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Am Rande der Gesellschaft. Die georgischen Autorinnen Nana Ekvtimishvili und Tamar Tandaschwili richten in ihren literarischen Debüts den Blick auf Menschen mit Behinderung, Waisenkinder, rebellische Mädchen und Homosexuelle.

Titelbild: Protest gegen eine Verschärfung des Abtreibungsrechts in Warschau, Juli 2018. Foto: Jaap Arriens / NurPhoto / pa Fotos oben: Sarah Eick |  Jaap Arriens / Hollandse Hoogte / laif  |  Alexander Koerner / Getty Images Jemal Countess / UPI / laif  |  Emre Caylak  |  BlacktonImages / iStock |  Shehzil Malik |  Universal Music Foto Editorial: Sarah Eick / Amnesty

INHALT

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EDITORIAL

die Sonne auf. So 1956 in Budapest, als Hunderttausende für Meinungsfreiheit und freie Wahlen auf die Straße gingen. Auch 1968 während des Prager Frühlings sorgten freiheitliche Reformsozialisten für einen Hoffnungsschimmer im dunklen Grau des Sowjetblocks. Und, abermals zwölf Jahre später, 1980, setzten sich die streikenden Werftarbeiter der polnischen Gewerkschaft Solidarność an die Spitze der Kritik gegen die realsozialistische Diktatur in Warschau. Für ihren Mut zahlten die polnischen Freiheitskämpfer mit Verfolgung und einer gefühlten Ewigkeit im Untergrund. Doch zwischen der Ausrufung des Kriegsrechts 1981 und dem Sieg von Solidarność bei den ersten freien Wahlen 1990 lagen nur neun Jahre. Urszula Sconecka war damals noch ein Kleinkind; aufgewachsen ist die Anwältin dann in einem freien Polen. In unserem Titelinterview auf Seite 12 erzählt die Vorstandsvorsitzende der polnischen Amnesty-Sektion, wie wichtig es ist, weiter für Gleichberechtigung, Toleranz und Dialog zu werben, auch wenn die Regierung das Rad der Geschichte gerade zurückzudrehen versucht. Recht hat Sconecka. Restriktive Gesetzgebung, Überwachungsmaßnahmen und juristische Verfolgung sind nicht gottgegeben, sondern Ergebnis politischer Kämpfe – sowie sozialer Übereinkünfte. Je stärker die Zivilgesellschaft, je enger die Bündnisse zwischen progressiven Nichtregierungsorganisationen und demokratischen Kräften im Staatsapparat, umso größer die Aussicht, Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit zu verteidigen. Das gilt in Polen ebenso wie in Ungarn oder Georgien, wo autoritäre Tendenzen ebenfalls für düstere Zeiten sorgen. Auf der Buchmesse in Frankfurt am Main ist der Transformationsstaat am östlichsten Rand Europas diesen Oktober Gastland. Und auch wir widmen Georgien auf den Seiten 50 bis 59 besondere Aufmerksamkeit. Zum einen, weil Hunderttausende Binnenflüchtlinge aus Südossetien und Abchasien kaum ein Auskommen haben. Zum anderen, weil Andersdenkende, Homosexuelle und Behinderte weiter am Rande der Gesellschaft stehen. Ihren langen Kampf um Anerkennung unterstützen wir, ihnen gilt unsere Solidarität. Solidarność! Markus Bickel ist Verantwortlicher Redakteur  des  Amnesty Journals.

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PANORAMA

Foto: Omar Haj Kadour / AFP / Getty Images

SYRIEN: SCHUTZZONE IN IDLIB

Russland und die Türkei haben sich auf die Einrichtung einer Schutzzone in der nordwestsyrischen Provinz Idlib geeinigt. Bis zum 10. Oktober sollen schwere Waffen wie Panzer und Raketen aus dem Gebiet abgezogen sein, auch islamistische Milizen müssen die Zone verlassen. UN-Generalsekretär António Guterres hatte im September vor einem »humanitären Albtraum« und einem »Blutbad« in Idlib gewarnt. In der an die Türkei angrenzenden Provinz leben anderthalb Millionen Binnenflüchtlinge und Tausende Kämpfer des syrischen Al-Qaida-Ablegers Hayat Tahrir al-Sham.

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CHEMNITZ: DEMONSTRATIONEN GEGEN RECHTS

Nach den ausländerfeindlichen Ausschreitungen in Chemnitz sind im September Zehntausende gegen Rechtsextremismus auf die Straßen gegangen; zu einem Konzert gegen rechts kamen über 65.000 Menschen in die sächsische Stadt. Anhänger der rechten Alternative für Deutschland und der Pegida-Bewegung hatten dort zuvor öffentlich den Hitler-Gruß gezeigt. Gegen Menschenverachtung und Rassismus richtet sich auch eine Kundgebung am 13. Oktober in Berlin. An dem Bündnis #unteilbar beteiligt sich auch Amnesty. Foto: Dominik Butzmann / laif

PANORAMA

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EINSATZ MIT ERFOLG

USA Am 20. Juli wandelte der Gouverneur des US-Bundesstaates Ohio das Todesurteil gegen Raymond Tibbetts in eine Haftstrafe um. Damit lehnte er die Empfehlung des Begnadigungsausschusses ab, der sich gegen eine Begnadigung ausgesprochen hatte. Bereits im Februar hatte Gouverneur John Kasich einen achtmonatigen Hinrichtungsaufschub beantragt. Tibbetts war 1997 wegen des Mordes an Fred Hicks zum Tode verurteilt worden. Seitdem waren jedoch verstörende Details über die Kindheit des Mörders ans Licht gekommen, die einen Geschworenen dazu bewegten, das StrafmaÃ&#x; neu zu bewerten. í¢±

TÃœRKEI Der Ehrenvorsitzende von Amnesty in der Türkei, Taner Kılıç, ist nach über 400 Tagen in Haft endlich frei. Ein Gericht ordnete im August seine Freilassung aus der Untersuchungshaft an. Das Verfahren gegen Kılıç und zehn weitere Menschenrechtler, darunter der deutsche Trainer Peter Steudtner, ist jedoch weiterhin anhängig. Ihnen wird vorgeworfen, der Gülen-Bewegung anzugehören, obwohl es dafür keine Beweise gibt. Schon Ende Januar hatte ein Istanbuler Gericht geurteilt, dass Kılıç auf freien FuÃ&#x; kommen müsse, revidierte diese Entscheidung jedoch im letzten Moment.  í¢²

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CHILE Nach fast zwei Monaten im Hungerstreik darf Celestino Córdova, ein führender Vertreter (Machi) der indigenen Mapuche,  seinen heiligen Altar besuchen, um religiöse Zeremonien durchzuführen. Weil die chilenischen Gefängnisbehörden ihm den Zugang zum Altar verweigert hatten, war Córdova  bereits zum zweiten Mal in den Hungerstreik getreten. Er verbüÃ&#x;t seit 2014 eine 18-jährige Haftstrafe wegen Mordes im Stadtgefängnis von Temuco. 2013 war er in der Nähe des  Tatortes eines Brandanschlags festgenommen worden, bei dem zwei Personen auf ihrem  Anwesen in der Region Araucanía getötet  worden waren. 

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ANGOLA Afonso S. Muatchipuculo,  António J. Fernando und Justino H. Valente wurden am 17. Juli freigelassen. Zuvor hatte der Oberste Gerichtshof entschieden, dass keine ausreichenden Beweise dafür vorliegen, dass die drei jungen Männer während einer Demonstration Steine auf den Fahrzeugkonvoi des Vizepräsidenten geworfen hatten. Im April waren die drei Männer in einem unfairen Verfahren zu sieben Monaten Haft verurteilt worden. Valentes Schwester, Helena Mutaleno da Silva, bedankte sich bei Amnesty dafür, sich für die Freilassung der Männer eingesetzt zu haben.

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TADSCHIKISTAN Am 22. August prüfte das  Regionalgericht der Provinz Sughd den Fall des Journalisten Khairullo Mirsaidov und entschied, ihn freizulassen. Das Gericht wandelte seine zwölfjährige Haftstrafe in eine Geldstrafe und Sozialstunden um. Khairullo Mirsaidov wurde noch im Gerichtssaal freigelassen und konnte seine Familie und Freunde, die vor dem Gerichtsgebäude warteten, wieder in die Arme schlieÃ&#x;en. Er war acht Monate inhaftiert, nachdem er im November 2017 Beamten der Provinzhauptstadt Chudschand öffentlich  Korruption vorgeworfen hatte.

AMNESTY JOURNAL | 10-11/2018

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Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen an den ÂťUrgent ActionsÂŤ, den ÂťBriefen gegen das VergessenÂŤ und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz Folter verhindert, die Freilassung Gefangener bewirkt und Menschen vor unfairen Prozessen schĂźtzt, zeigt unsere Weltkarte. Siehe auch: www.amnesty.de/erfolge

EINSATZ MIT ERFOLG

MARKUS N. BEEKO ĂœBER

Foto: Bernd Hartung / Amnesty

MALAYSIA Die BehĂśrden haben im Juli alle   nklagen gegen den Karikaturisten Zulkiee A Anwar Ulhaque – genannt Zunar – fallen gelassen. Mit ihm wurden der Abgeordnete R.  Sivarasa und der BĂźrgerrechtsanwalt N.  Surendran freigesprochen. Zunar war 2015 wegen staatsgefährdender Aktivitäten angeklagt worden. Ihm drohte eine jahrzehntelange Haftstrafe, weil er sich kritisch ßber die malaysische Justiz geäuĂ&#x;ert hatte. Amnesty hatte sich im Rahmen des Briefmarathons 2015 fĂźr Zunar eingesetzt.    í˘ł

MENSCHENRECHTE UND GERICHTE Menschenrechtsstandards bekommen ihre Verbindlichkeit durch Verträge, in denen sie festgeschrieben sind, und durch Institutionen, die ihre Umsetzung garantieren. Seit 65 Jahren ist die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) HerzstĂźck eines der ältesten regionalen Menschenrechtsschutzsysteme. Ihre Einhaltung wird durch den Europäischen Gerichtshof fĂźr Menschenrechte (EGMR) Ăźberwacht, der seit seiner Reform 1998 als ständiges Gericht in StraĂ&#x;burg tagt. Seine Urteile sind wegweisend fĂźr die Durchsetzung von Menschenrechten, er gilt als etabliertes Menschenrechtsorgan. Gleichzeitig beobachten wir, dass vermehrt Institutionen im Visier von Staaten stehen, denen gemeinsame Menschenrechtsstandards offenbar lästig werden. Der Gerichtshof bleibt hiervon nicht unberĂźhrt. Alle 47 Staaten des Europarates haben die Menschenrechtskonvention unterzeichnet, die Urteile der StraĂ&#x;burger Richter sind fĂźr sie bindend. Allerdings sind es schon längst nicht mehr allein die bekannten Kritikpunkte – der Gerichtshof mĂźsse sich reformieren und effizienter werden –, die ihm zu schaffen machen. Manche Staaten wie Aserbaidschan und die TĂźrkei weigern sich konsequent, Urteile des Gerichtshofs umzusetzen. Russland befolgt Urteile der StraĂ&#x;burger Richter nur noch, wenn das nationale Verfassungsgericht zustimmt. Russland und die TĂźrkei gehĂśren auch zu den Ländern, die Beitragszahlungen an den Europarat teilweise eingestellt haben und so die Finanzierung des Gerichtshofs gefährden. Von dänischer Seite drohte jĂźngst ein Vorschlag, der das Schutzsystem infrage stellte. Im November 2017 Ăźbernahm das Land den Vorsitz im Europarat. Weit oben auf der Prioritätenliste der dänischen Regierung stand eine Reform der Europäischen Menschenrechtskonvention, die etwa vorsah, dass bestimmte Rechte nur noch fĂźr ÂťStaatsbĂźrgerÂŤ und nicht fĂźr alle Menschen gelten sollten, und die die Entscheidungsgewalt des Menschenrechtsgerichtshofs erheblich eingeschränkt hätte. Der Entwurf las sich wie ein unverhohlener Angriff auf die Universalität der Menschenrechte und die Unabhängigkeit des Gerichtshofs in StraĂ&#x;burg. Nach massiver Kritik einiger Vertragsstaaten und Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty wurde im April 2018 schlieĂ&#x;lich eine deutlich entschärfte ÂťKopenhagener DeklarationÂŤ angenommen. Wir beobachten dennoch mit Sorge den anhaltenden Druck auf universelle Menschenrechtsstandards. 1948 hat die internationale Staatengemeinschaft bei der Unterzeichnung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gemeinsam bekundet, dass alle Menschen die gleichen universellen Rechte haben. 70 Jahre später mĂźssen wir diesen Konsens wieder verteidigen und die Gerichte, die ihn garantieren. Markus N. Beeko ist Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion.

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PERSÖNLICHKEITSRECHT: MEHR ALS ZWEI GESCHLECHTER Türen auf für alle. Unisex-Toilette.

Bis Ende des Jahres hat das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber Zeit gegeben. Dann muss ein Gesetz vorliegen, dass das Urteil der höchsten Richter zum »dritten Geschlecht« umsetzt. Im Herbst 2017 hatte die Kampagne »Dritte Option« in Karlsruhe erstritten, dass intergeschlechtliche Menschen Anspruch auf einen eigenen, positiven Geschlechtseintrag haben. Ein großer Erfolg für mehr Sichtbarkeit und Akzeptanz. Schätzungen zufolge werden weltweit 1,7 Prozent der Menschen mit einer Variation der Geschlechtsmerkmale geboren – das heißt, ihre Körper lassen sich nicht der typischen Definition von weiblich oder männlich zuordnen. Das entspricht

»Das Urteil ist ein Zeichen des Respekts für intersexuelle Menschen.« VOLKER BECK, GRÜNE

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in etwa der Prozentzahl der Menschen, die rote Haare haben. Eine für viele sicherlich überraschend hohe Zahl – denn intergeschlechtliche Menschen sind in Deutschland noch immer nahezu unsichtbar. Daran etwas zu ändern, haben sich verschiedene Organisationen intergeschlechtlicher Menschen zum Ziel gemacht. Sie kämpfen für Anerkennung und für ihre Rechte auf Selbstbestimmung, körperliche Unversehrtheit und Gesundheit. Amnesty International hat dokumentiert, wie mit »uneindeutigen« Geschlechsmerkmalen geborene Kinder in Deutschland noch immer operiert oder hormonellen Behandlungen unterzogen

werden. Nicht aus medizinischen Gründen, sondern um sie zu »normalisieren«. Dabei lösen diese Behandlungen oft lebenslange körperliche und psychische Leiden aus. Die schwarz-rote Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag ein Verbot medizinischer Eingriffe an intergeschlechtlichen Kindern vorgesehen, sofern diese nicht zur Abwendung von Lebensgefahr notwendig sind. Um weiteres Leid zu verhindern und anzuerkennen, dass gesunde intergeschlechtliche Kinder nicht behandelt werden müssen, fordern intergeschlechtliche Aktive, dieses Verbot ebenfalls in einem Gesetz zu verankern.

1,7 % 1.700

DER MENSCHEN WELTWEIT WERDEN SCHÄTZUNGEN ZUFOLGE MIT EINER VARIATION DER GESCHLECHTSMERKMALE GEBOREN.

Quelle: Anne Fausto-Sterling, Sexing the Body, 2000.

INTERGESCHLECHTLICHE KINDER ZWISCHEN NULL UND NEUN JAHREN WERDEN IN DEUTSCHLAND JAHR FÜR JAHR OPERIERT. Quelle: Ulrike Klöppel, Zur Aktualität kosmetischer Operationen »uneindeutiger« Genitalien im Kindesalter, 2016.

AMNESTY JOURNAL | 10-11/2018

Foto: FrankHoermann / Sven Simon / pa [M]

SPOTLIGHT


VANJA

»DIE MEDIZIN MUSS UMDENKEN«

Interview: Maja Liebing

Warum ist das Bundesverfassungsgerichtsurteil zum dritten Geschlecht so wichtig? Es ist eine erste offizielle Anerkennung der Tatsache, dass es eben nicht nur Männer und Frauen gibt, obwohl das oft so behauptet wird. Daher ist das eine große Sache. Natürlich gibt es die Hoffnung, dass es durch das Urteil und die ganze Berichterstattung mehr Wahrnehmung und Akzeptanz gibt. Zum einen für Menschen, die intergeschlechtlich sind – also körperlich von den Chromosomen, von den Hormonen oder von der Anatomie her nicht Mann oder Frau. Aber auch für alle anderen, die außerhalb der Kategorien Frau oder Mann leben. Im August hat das Bundeskabinett einen Gesetzentwurf zur Umsetzung des Urteils vorgelegt. Sind Sie damit zufrieden? Nein. Der Entwurf ist eine Minimallösung, die dem Urteil nicht gerecht wird. Wir fordern, dass die dritte Option beim Geschlechtseintrag frei wählbar ist für alle, die sich darin wiederfinden. Jeder Mensch kann selbst über das eigene Geschlecht entscheiden – das ist nicht Aufgabe der Medizin oder Psychologie. Was spricht dagegen, für einen Antrag auf die sogenannte dritte Option ein ärztliches Attest vorzulegen? Weil dadurch viele Menschen, die keine Männer oder Frauen sind, von der dritten Option ausgeschlossen werden. Für transsexuelle Menschen, aber auch für Intersexuelle, die oft schlechte Erfahrungen mit der Medizin gemacht haben, kann so ein Attest eine unüberwindbare Hürde sein. Außerdem gibt es auch in der Medizin unterschiedliche Definitionen, wo Intersexualität anfängt.

SPOTLIGHT

Foto: privat

Im Herbst 2017 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass intergeschlechtliche Menschen neben »männlich« und »weiblich« das Recht auf einen dritten, positiven Geschlechtseintrag haben. Erstritten hat diesen Erfolg Vanja, intersexuell, begleitet von der Kampagne »Dritte Option«. Was kritisieren Sie außerdem? Auch bei der Benennung der dritten Geschlechtskategorie ist unser Vorschlag nicht im Gesetzentwurf aufgenommen worden. Der Begriff »divers« ist zwar besser als der vorherige Vorschlag »anderes« – aber besser wäre, wenn es sowohl »divers« als offenen Begriff als auch die klare Benennung von »Inter*« als Identität gegeben hätte. Am 26. Oktober wird weltweit der »Intersex Awareness Day« begangen. Was bedeutet dieser Tag für Sie? Er kann im besten Fall Sichtbarkeit schaffen und dabei helfen, dass Intersexualität weniger tabuisiert wird. Was muss noch passieren, damit intergeschlechtliche Menschen in Deutschland Anerkennung erfahren? Anerkennung braucht zuerst ein Umdenken in der Medizin. Es kann nicht sein, dass ein Kind mit Genitalien, die nicht der Norm von Mann oder Frau entsprechen, sofort als Notfall angesehen wird, der unbedingt ungefragt an eine weibliche oder männliche Norm angepasst werden muss. Es ist auch nicht nachvollziehbar, dass per Pränataldiagnostik bestimmte Formen der Intersexualität beim Embryo geprüft werden und diese Intersexualität dann ein Grund zur Abtreibung ist – obwohl es einen Kinderwunsch gibt. Was folgt daraus? Wir fordern, Operationen zu verbieten, die Kinder ohne deren Zustimmung an eine männliche oder weibliche Norm anpassen sollen. Außerdem muss das völlig veraltete Transsexuellengesetz abgeschafft werden. Eine wirkliche Anerkennung geschlechtlicher Vielfalt würde aber vor allem heißen, dass sich die Gesellschaft von dem Konzept des Zwei-Geschlechter-Systems verabschiedet. Die Realität ist sehr viel komplexer.

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TITEL

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AMNESTY JOURNAL | 10-11/2018


Polens Protestbewegung

Nicht nur die EU-Kommission geht gegen die rechte Regierung in Warschau vor – wegen Gefährdung europäischer Werte. Auch Polinnen und Polen wehren sich. Die Zivilgesellschaft stellt sich gegen die Gleichschaltung der Medien und die Entlassung unabhängiger Richter.

Schwarzer Protest. Polnische Abtreibungsbefürworterinnen in Brüssel, Oktober 2016. Foto: Wiktor Dabkowski / eyevine / laif

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»Die Bevölkerung wehrt sich« Urszula Sconecka, Vorstandsvorsitzende der polnischen Sektion von Amnesty International, über den konzertierten Angriff der Regierung auf Gerichte, Medien und NGOs.

Für gesellschaftliche Vielfalt. Urszula Sconecka im Mai 2018 auf der Jahresversammlung der deutschen Amnesty-Sektion in Papenburg.

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AMNESTY JOURNAL | 10-11/2018


Interview: Markus Bickel und Andrzej Rybak

Sie kamen ein Jahr vor dem Wahlsieg der Oppositionsbewegung Solidarność auf die Welt, als es keine Meinungsfreiheit in Polen gab. Nun ist es zum ersten Mal seit 1989 wieder so. Ich erinnere mich nicht mehr an die kommunistische Ära, an die Zeit also, als Meinungs- und Redefreiheit eingeschränkt waren. Umso schockierender finde ich es, wie diese Rechte nun erneut beschnitten werden – in Polen, aber auch in Ungarn, in der Türkei und in Russland. Nach der Wende von 1989 hätte sich niemand vorstellen können, dass man in einer so kurzen Zeit vergisst, wie wichtig diese Freiheiten sind. Sehen das viele Menschen in Polen so? Unabhängige Gerichte, unabhängige Medien, Redefreiheit sind für alle Menschen wichtig, ganz unabhängig davon, ob es sich um Konservative, Liberale oder Linke handelt. Es geht darum, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und gesellschaftliche Vielfalt zu erhalten, Dialog und Diskussion. Aber das verschwindet gerade in Polen. Die Regierung hat mit ihrer Justizreform die Europäische Union auf den Plan gerufen. Lässt sich die Gewaltenteilung in Polen noch retten? Das wird schwer. Schließlich ermöglicht es die Justizreform dem Justizminister, leitende Richter und ihre Stellvertreter im ganzen Land durch eigene Kandidaten zu ersetzen. So übernimmt die Exekutive allmählich die komplette Kontrolle über das Justizsystem. Das gilt auch für das Verfassungsgericht, was fast noch schlimmer ist für die Demokratie. Denn eigentlich ist es ja Aufgabe des Justizministers, dafür zu sorgen, dass die Gewaltenteilung aufrechterhalten wird. Das Gegenteil ist der Fall. Ist diese Entwicklung noch zu stoppen? Dass im Sommer 2017 Tausende gegen die Justizreform auf die Straße gingen, zeigt, wie groß das Bewusstsein dafür ist, dass hier Unabhängigkeit herrschen muss. Das macht Mut. Insbesondere, weil es sich dabei um sehr technische Fragen handelt. Kann man noch von einer unabhängigen Justiz sprechen? Es gibt noch viele unabhängige Richter. Richter, die keine Angst davor haben, Recht zu sprechen in Übereinstimmung mit ihrem Gewissen. Sie zu unterstützen, ist unheimlich wichtig. Denn nur unabhängige Gerichte können Grundrechte wie Versammlungsfreiheit und Meinungsfreiheit verteidigen.

Foto: Sarah Eick

Auch die staatlichen Medien stehen unter Beschuss. Noch jede Regierung hat in der Vergangenheit Entscheidungsträger in den Staatsmedien ausgetauscht. Neu sind das Ausmaß und die Offenheit, mit der das geschieht. Deshalb ist auch die Meinung in den öffentlich-rechtlichen Medien so aufgeladen und nach rechts gerutscht. Von einer pluralistischen Debatte kann keine Rede mehr sein. Würden Sie von systematischen Attacken sprechen? Attacke ist vielleicht das falsche Wort, aber das Handeln der Regierung schwächt natürlich die Fähigkeit von unabhängigen Medien, zu einer freien Meinungsbildung beizutragen. So gelingt es der Regierung, die Kontrolle darüber zu übernehmen, was die Menschen denken. Viele kommerzielle Medien, die of-

POLEN

fen liberal sind, berichten weiterhin frei über die herrschenden Verhältnisse. Und es gibt Webseiten, die darauf achten, ob Politiker mit den richtigen Fakten hantieren. Das ist sehr wichtig, Denn die Sprache in den Medien hat sich geändert – als Folge der Verrohung der Debatten im Parlament. Auch Nichtregierungsorganisationen geraten in Bedrängnis, weil ihre Finanzierung stärker kontrolliert wird. Mit der Schaffung des Nationalen Freiheitsinstituts ist es der Regierung gelungen, direkt zu kontrollieren, welche zivilgesellschaftlichen Gruppen künftig Gelder erhalten. Zwar sind im Beirat auch unabhängige Nichtregierungsorganisationen vertreten, doch die sind in der Minderheit. Dieses System sorgt dafür, dass die Finanzierung von NGOs zunehmend infrage gestellt wird. Ist Amnesty davon betroffen? Nicht direkt, aber Partnerorganisationen von uns schon. Auf Dauer können sie nicht überleben, weil das System, nach dem die Gelder verteilt werden, völlig intransparent ist. Eine der Aufgaben des Nationalen Freiheitsinstituts ist es, nationale und christliche Werte zu verteidigen – nicht aber Ideen von Gleichheit oder Nichtdiskriminierung. Das ist ein perfider Weg, die Kontrolle über die Zivilgesellschaft zu übernehmen. Insofern lässt sich von einem konzertierten Angriff auf die freie Gesellschaft sprechen? Es fällt jedenfalls sehr schwer, nicht davon auszugehen, dass die Versuche, die Versammlungsfreiheit, die Freiheit der Medien und die Unabhängigkeit der Gerichte einzuschränken, zusammengehören. Auch die Finanzierung von NGOs zu kontrollieren, passt in dieses Bild. Zugleich unterstützt die Regierung faschistische Bewegungen. So weit würde ich nicht gehen. Aber wer die Organisatoren ausländerfeindlicher und homophober Märsche gewähren lässt, signalisiert ihnen natürlich, dass sie keine Sanktionen von oben zu fürchten haben. Genau der gegenteilige Umgang, der mit der Zivilgesellschaft gepflegt wird. Mut macht das nicht. Der kommt aber von unten, aus kleineren Städten wie Konin. Sie dürfen nicht vergessen, dass es noch nicht so lange her ist, dass in Polen die ersten Pride-Paraden stattfanden. Dass es nun auch in der Provinz zu Protesten gegen Homophobie und Rassismus kommt, ist ein positives Zeichen. Die Bevölkerung wehrt sich dagegen, dass die Gesellschaft weiter nach rechts rutscht, nicht zuletzt durch das Engagement junger Leute. 쮿

»Dass es in der Provinz zu Protesten kommt, ist ein positives Zeichen.« Urszula Sconecka 13


Für faire Arbeitsbedingungen. Protest im Juli 2018 in Poznań.

Polen sucht die Superfrau Die Protestbewegung gegen die konservative Familienpolitik der Regierung in Warschau ist feministisch – und sozial. Von Hannah El-Hitami (Text) und Jarek Godlewski (Fotos), Poznań

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twa hundert Menschen drängen sich zusammen auf dem schmalen Bürgersteig vor dem Krankenhaus der Verklärung des Herrn in Poznań, fast alle sind Frauen, der Platz ist eng. Die drückende Hitze an diesem heißen Sommertag wird sich später in einem heftigen Gewitter entladen. »Wir lassen uns nicht diskriminieren«, rufen die Mitarbeiterinnen des Krankenhauses. Und: »Soll der Vorstand doch mal für 2.000 Złoty ackern!« Auf den Bannern der Demonstrierenden ist eine schwarze Katze abgebildet, die faucht, sich sträubt und einen Buckel macht – das Logo der »Gesamtpolnischen Gewerkschaft Arbeiterinitiative« (OZZIP).

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Faire Löhne, kürzere Arbeitszeiten, solche Forderungen betreffen alle Angestellten. Doch im polnischen Arbeitskampf stecken auch feministische Forderungen, sagt Beata Czajeczna, die eben bei der Kundgebung gesprochen hat. Sie trägt ein schwarzes Kleid und etwas wackelige dünne Absätze. »Zu den Aufgaben der Frau gehört es, dass sie morgens die Kinder fertig macht, sie zur Schule bringt, später abholt und sie noch zu Freizeitaktivitäten begleitet«, so die Buchhalterin, die seit dem Frühjahr die Gewerkschaftsgruppe des Krankenhauses leitet. »Für eine alleinerziehende Mutter wie mich oder einige meiner Kolleginnen ist eine unbefristete Anstellung sehr wichtig.

AMNESTY JOURNAL | 10-11/2018


Gemeinsam sind sie stark. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Krankenhauses der Verklärung des Herrn im Juli 2018 in Poznań.

Genau deshalb arbeiten wir im Krankenhaus für einen mickrigen Lohn und nicht in einer großen Firma mit unregelmäßigen Arbeitszeiten.« Czajeczna weiß, wovon sie spricht. Vor drei Jahren kam sie mit ihrem heute elfjährigen Sohn wegen der niedrigen Arbeitslosigkeit nach Poznań. Zu ihrem Ex-Mann hat sie keinen Kontakt mehr. Den Unterhalt von umgerechnet etwa 70 Euro im Monat zahle er unregelmäßig. So ist die 40-Jährige noch immer auf die Unterstützung ihrer Eltern angewiesen. Der Protest vor dem Krankenhaus ist klein und nach zwanzig Minuten vorbei. Nicht so wie der Schwarze Protest, der im Oktober 2016 und zuletzt im März 2018 Zehntausende Frauen auf den Straßen des Landes versammelt hat. Mit den Massenprotesten gegen das Abtreibungsverbot haben die Polinnen weltweit für Aufmerksamkeit gesorgt – und dafür, dass das ohnehin schon restriktive Abtreibungsgesetz ihres Landes nicht weiter verschärft wurde. »Bei dem Schwarzen Protest ging es um junge Frauen, die prekäre Arbeitsverträge haben, die seit Jahren für nichts arbeiten und die es satt haben, dass Politiker ihnen vorschreiben, Kinder zu bekommen, wenn sie sich das nicht leisten können«, sagt Agnieszka Mróz, die sich in Poznań seit zehn Jahren in der Gewerkschaft engagiert und dieser einen feministischen Anstrich verpasst hat. Wie frei Frauen über ihre Schwangerschaft entscheiden dürfen, sagt viel über ihre Stellung in einer Gesellschaft aus – und hängt für Mróz darum auch mit Niedriglöhnen und Wohnungsnot zusammen.

POLEN

»Für mich war das von Anfang an ein proletarischer Protest«, sagt sie am Abend nach der Kundgebung. Es ist inzwischen dunkel geworden, der Regen hat nachgelassen. Mróz spricht atemlos und lässt Satzenden oft in der Luft hängen, während sie nachdenkt, ob sie noch mehr sagen soll. »Ich bin seit vier Uhr morgens wach wegen meiner Schicht«, sagt sie entschuldigend. Die 34-Jährige arbeitet bei Amazon. Der Konzern betreibt ein Logistikzentrum in der Nähe von Poznań, die Arbeiterinnen und Arbeiter verdienen umgerechnet rund vier Euro pro Stunde. »Frauen sind doppelt belastet durch die unbezahlte Arbeit zu Hause und die sehr schlecht bezahlte am Arbeitsplatz«, sagt sie. »Sie haben es satt, alles in Kauf zu nehmen, nur um ein Kind zu haben.« Mróz hat ihr rotes Haar zu einem schlichten Zopf zusammengebunden und trägt eine eckige gerahmte Brille. Sie selbst hat keine Kinder. »Vielleicht wegen meines Aktivismus«,

»Die Frauen weigern sich, unter diesen Bedingungen Kinder zu bekommen.« Agnieszka Mróz 15


Feminismus im Arbeitskampf. Buchhalterin Beata Czajeczna.

Scharfe Kritik am Frauenbild. Mietrechtsaktivistin Renata Bernas.

Frauenthemen ganz vorne. Gewerkschafterin Agnieszka Mróz.

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sagt sie lachend. »Wir haben eine der niedrigsten Geburtenraten Europas, denn die Frauen weigern sich, unter diesen Bedingungen Kinder zu bekommen.« Mit dem Ende der Sozialistischen Volksrepublik 1989 ist die Zahl der öffentlichen Kindergärten in Polen dramatisch gesunken. Seit die PiS 2015 die Regierung übernahm, gibt es zwar mehr Geld vom Staat für Familien mit Kindern. Wo jedoch staatliche Einrichtungen fast vollständig fehlen, führt das dazu, dass Frauen eher zu Hause bleiben und Kinder bekommen als weiter für sehr wenig Geld und mit unsicheren Verträgen zu arbeiten. Etwa 55.000 Frauen haben sich deshalb seit Einführung der Förderprogramme 2016 vom Arbeitsmarkt zurückgezogen. Damit machen sie sich finanziell von ihren Ehemännern abhängig, was schwere Folgen haben kann. »Im Fall von Gewalt in der Ehe sind es oft die Frauen, die die Wohnungen verlassen müssen«, erklärt Renata Bernas. »Der Gewalttäter darf dort wohnen bleiben.« Bernas kennt viele solcher Fälle. Die 53-Jährige betreut in Poznań sieben Wohnungen, in denen Frauen unterkommen, die obdachlos geworden sind; sei es aufgrund einer Ehekrise oder weil sie als Rentnerinnen verarmt sind. In einem gelben Altbau nördlich des Zentrums liegt eine dieser Wohnungen. Darin wohnen drei Generationen von Frauen zusammen: zwei Rentnerinnen und eine Mutter mit ihren beiden kleinen Töchtern, die zuvor im Obdachlosenheim schlafen mussten. Drei Zimmer gehen vom Eingangsbereich ab. Hin und wieder hört man nackte Füße über den langen dunklen Flur tapsen, der zu den Gemeinschaftsräumen führt. Bronisława N.* war eine der ersten Frauen, die hier einzog. Die Rentnerin lebte zuvor in einer Wohnung mit Ratten, die so feucht war, dass die Möbel auseinanderfielen. Dafür zahlte sie umgerechnet rund 250 Euro im Monat. Nur 20 Euro ihrer Rente blieben ihr zum Leben, obwohl sie vierzig Jahre lang gearbeitet hatte. Als die Frau Schulden anhäufte und die Miete nicht mehr bezahlen konnte, wurde sie aus ihrer Wohnung geworfen. Die 79-Jährige hat dicke Tränensäcke unter den Augen. Ihr Zimmer in der Unterkunft ist schlicht eingerichtet, ein Bett, ein Tisch, ein Fernseher. Die Wände sind kahl, auf dem Fensterbrett stehen leere Bilderrahmen in Engelform. Eine Schachtel extradünner Zigaretten liegt auf der Kommode neben einem Stück Butter und einer Schale Johannisbeeren. »Wir werden so erzogen, dass wir zur kompletten Selbstaufgabe bereit sind«, sagt Renata Bernas. »Wir sollen alles für die Familie opfern, da gibt es keinen Platz für die eigenen Wünsche.« Sie weist in Richtung der Zimmer der alten Frauen. »So endet der Mythos der Matka Polka in der Praxis.« Die Matka Polka – die Mutter Polin – wird oft in Zusammenhang mit dem polnischen Frauenbild genannt, aus dem sich die Demonstrantinnen des Schwarzen Protests befreien wollen. Der Mythos der Matka Polka entstand während der 120-jährigen Teilung Polens vor dem Ersten Weltkrieg. Die Männer waren oft in Aufstände gegen die Besatzungsmächte Österreich, Preußen

Die Matka Polka – die Mutter Polin – ist immer auf dem Sprung. AMNESTY JOURNAL | 10-11/2018


Die Superfrau, die alles darf und alles muss. Wandbild des italienischen Künstlers Maupal in Poznań.

und Russland verwickelt. Die Frauen blieben zu Hause und waren allein für die Kinder und den Fortbestand der polnischen Kultur und Sprache zuständig. Das Überleben der Nation lag damit in den Händen der Frauen, die dafür »erziehen, kämpfen, sorgen, leiden, aufopfern« sollten, schreibt die Soziologin Gesine Fuchs in ihrem Buch »Die Zivilgesellschaft mitgestalten«. Im Sozialismus entwickelte sich das Bild der Matka Polka durch die Konkurrenz zwischen der katholischen Kirche und der sozialistischen Politik weiter. Das traditionelle, christliche Bild der Frau als Mutter und Haushälterin stand neben dem sozialistischen Ideal der starken Frau auf dem Arbeitsmarkt, in Berufen, die bisher Männern vorbehalten waren. Frauen, die sich beiden Wertesystemen verbunden fühlten, mutierten zu einer Art Superfrau, die zwar alles darf, aber auch alles muss. »Die Matka Polka ist eine Frau, die immer auf dem Sprung ist, die vollkommen überarbeitet ist und die für nichts anderes mehr Zeit hat als für die Arbeit, den Haushalt und die Familie«, sagt Renata Bernas, ihre Stimme ist so ruhig, dass die Schärfe der Worte überrascht. Sie kümmert sich um die Frauen, die alles verloren haben: Arbeit, Haushalt und Familie. Hier in der Unterkunft sollen sie die Ruhe bekommen, um sich zu sammeln, finanziell, aber auch psychisch. Manchmal gehen Bernas und ihre Mitstreiterinnen direkt in die Wohnungen von Frauen, denen der Rauswurf droht, und blockieren diesen mit der Macht ihrer Masse. Bernas, die Mietrechtsaktivistin, und Mróz, die Gewerkschafterin, sind nicht einfach nur Freundinnen. Für sie sind das Recht auf Wohnraum, faire Löhne und die Gleichberechtigung von Frauen ein großes gemeinsames Projekt. Bei Protesten und Blockaden unterstützen sie einander. »Wir müssen immer an die denken, die weniger Macht haben als wir selber«, sagt Mróz. Feminismus bedeute für sie, die Perspektive der Marginalisierten

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einzunehmen. »Wir sind genervt von den Feministinnen, die von Abtreibung nur im Kontext von freier Entscheidung sprechen, losgelöst vom sozialen Kontext.« 쮿 * Name von der Redaktion geändert. Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen:  www.amnesty.de/app

DIE MACHT DER STRASSE Fast jede Woche gehen Menschen in Polen auf die Straße – sei es für Frauenrechte, für die Unabhängigkeit der  Justiz oder gegen Nationalismus und Ausländerfeindlichkeit. Zum Unmut der Behörden, die mit Gewalt gegen  Demonstrierende vorgehen, Aktivistinnen überwachen und sie vor Gericht bringen. Das zeigt der Amnesty-Bericht »The power of ›the street‹ – Protecting the right to peaceful protest in Poland«, der im Juni erschienen ist. Auch Mitstreiterinnen der Mietrechtsaktivistinnen aus  Poznań werden wegen der friedlichen Teilnahme an einer Demonstration schikaniert. Sie wurden während des Schwarzen Protests im Oktober 2016 von der Polizei mit Schlag stöcken und Pfefferspray angegriffen. Gegen einige von ihnen laufen Verfahren wegen »Widerstands  gegen die Staatsgewalt«.  Der Bericht im Netz:  www.amnesty.org/en/documents/ eur37/8525/2018/en/

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Weiße Rosen für den Rechtsstaat In Polen sind die Gerichte das letzte Sicherheitsnetz gegen Machtmissbrauch der Regierung. Doch die tauscht im ganzen Land die Richter aus. Von Paul Flückiger, Warschau

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verletzungsverfahren wegen Polens Justizreformen als Papiertiger erwiesen. Die Stimme erhob Gersdorf erst, nachdem das alte Höchstrichterkolleg sich im Juni demonstrativ hinter sie stellte. »Ich bin hier und bleibe, um die Rechtsstaatlichkeit zu beschützen«, sagte sie am Tag ihrer Entlassung vor Tausenden Demonstranten gegen die PiS-Justizreform. Spätestens seit diesem Tag gilt sie der Opposition als letzte Garantin für Polens Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Denn die Regierung versucht über den Umweg des Höchstalters und einer Zwangsverrentung, die Kontrolle über das bisher noch unabhängige Oberste Gericht zu übernehmen. Die aus Altersgründen ausgeschiedenen Richter sollen durch Juristen ersetzt werden, die Kaczyńskis Parteilinie loyal befolgen. Dazu dient auch eine Aufstockung der Richterzahl von 72 auf 116, was für ein Quorum sorgt, mit dem eine neue Gerichtspräsidentin gewählt werden kann. Für Kaczyńskis Herrschaftssicherung ist das auch deshalb wichtig, weil das Verfassungsgericht neben Straf- und Zivilrechtsfällen außerdem für Disziplinarmaßnahmen gegen Richter und die Verifizierung von Wahlergebnissen verantwortlich ist. Neben den Kommunalwahlen Ende Oktober und den Europa- und Parlamentswahlen 2019 stehen 2020 Präsidentschaftswahlen an. Gegenwärtig läuft das zweite Ausschreibungsverfahren für die 44 neuen Höchstrichterstellen sowie eine neue Disziplinarkammer. Im neu geschaffenen Landesjustizrat (KRS), der über die Besetzung entscheidet, verfügen nicht wie früher die Richter, sondern seit den Wahlen vom Herbst 2015 die Parlamentarier der PiS über die Mehrheit der Stimmen, weil Kaczyńksis Partei seither mit absoluter Mehrheit im Parlament regiert. Laut Regierungsplänen soll das neue, dann mit 116 Richterstellen ausgestattete Oberste Gericht im Herbst voll besetzt sein. Dann ist mit der Wahl eines PiS-treuen Gerichtspräsidiums zu

»Ich bleibe, um die Rechtsstaatlichkeit zu beschützen.« Małgorzata Gersdorf AMNESTY JOURNAL | 10-11/2018

Foto: Jaap Arriens / Hollandse Hoogte / laif

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or der Glasfassade des Obersten Gerichts in Warschau wiederholt sich seit Juli fast jeden Morgen die gleiche Szene. Małgorzata Gersdorf kommt kurz nach acht zur Arbeit und wird von gut einem Dutzend Bürgern und Bürgerinnen mit Rufen wie »Bleiben Sie stark!« und »Verfassung! Verfassung!« begrüßt. Manchmal überreicht ihr jemand noch eine weiße Rose, das Symbol des Bürgerprotests gegen die Aushöhlung des Rechtsstaats in Polen. Im Juli war Gersdorf von der Regierung in Warschau per Gesetzesnovelle entlassen worden. So wie zehn weitere Oberste Richter von heute noch 72, die Anfang Juni das 65. Lebensjahr erreicht – und kein Arbeitsverlängerungsgesuch beim Staatspräsidenten eingereicht haben. Gersdorf indessen hat ihre Entlassung nicht anerkannt, weil das neue Gesetz gegen die polnische Verfassung verstoße. In der heißt es in Artikel 183 klipp und klar, dass die Amtszeit des Präsidenten des Obersten Gerichts sechs Jahre dauert – in Gersdorfs Fall also bis April 2020. Die Regierung in Warschau aber ignoriert das. Monatelang hatten Mitglieder von Jarosław Kaczyńskis rechtspopulistischer Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) Gersdorf zu einem Hassobjekt hochstilisiert: Sie wolle alte kommunistische Seilschaften im Justizapparat decken, so der Vorwurf. Doch die einer traditionsreichen Juristenfamilie entstammende Arbeitsrechtsexpertin wurde erst 1991, also zwei Jahre nach der Wende, ans Oberste Gericht berufen. Davor war sie – noch unter der realsozialistischen Diktatur – als Richterin tätig. Und auch der Gewerkschaft Solidarność trat sie erst 1990 bei, als diese bereits an der Regierung beteiligt war. 2014 berief sie der damalige liberale Staatspräsident Bronisław Komorowski ins Präsidium des höchsten Gerichts, was der PiS missfiel. Gersdorf eigne sich höchstens als Marktverkäuferin, bestimmt aber nicht als Richterin, höhnte Kaczyński. »Von Politik verstehe ich überhaupt nichts, von der Juristerei aber einiges«, antwortet sie ihren rechten Kritikern. In Juristenkreisen werden über alle Parteigrenzen hinweg Gersdorfs politische Unabhängigkeit und ihre große Fachkenntnis betont. Die Mittsechzigerin hatte sich in den Auseinandersetzungen um Polens Gerichte lange zurückgehalten. Interviewanfragen wies sie konsequent ab, selbst als der Streit zwischen Warschau und Brüssel über Polens rechtspopulistische Justizreform schon längst tobte: Erstmals hat die Europäische Union gegen ein EUMitglied ein Rechtsstaatsverfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags eingeleitet, das mit dem Stimmrechtsentzug Polens im EUMinisterrat enden könnte. Doch bislang hat sich das Vertrags-


rechnen. Gersdorf hat schon angekündigt, dass sie ihr Büro nicht mit Gewalt verteidigen, aber auch nicht einfach gehen wolle. Für die meisten Bürger wichtiger ist jedoch die Umgestaltung der Bezirksgerichte. Hier hat sich Justizminister Zbigniew Ziobro, der durch die Justizreform auch Polens Oberstaatsanwalt ist, per Gesetz die Macht über die Gerichtspräsidien geben lassen. Wenngleich diese Kompetenzen inzwischen etwas beschnitten wurden, um Brüssel entgegenzukommen, hat es die PiS längst geschafft, die meisten dieser Posten in den Bezirken mit eigenen Leuten zu besetzen. Die Opposition befürchtet zudem, dass Richter, die nicht im Sinne der Kaczyński-Regierung urteilen, künftig vor die neue Disziplinarkommission des Obersten Gerichts zitiert werden könnten. Auch bei der Reform der Bezirksgerichte geht es der PiS angeblich einzig um die Überwindung kommunistischer Altlasten und um mehr Bürgernähe. Begonnen hatte dieser Prozess im November 2015 mit der Blockade des Verfassungsgerichts. Erst seitdem dort die PiS die Mehrheit – und mit Julia Przylebska eine eigene Gerichtspräsidentin – stellt, kann es wieder arbeiten. Unabhängig ist es jedoch nicht mehr; wobei auch Vorgän-

gerregierungen immer wieder versucht hatten, das Verfassungsgericht – auch personell – zu beeinflussen. Eine Reihe regierungskritischer Richter hat wegen ihrer Zwangspensionierung nun Klage beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg eingereicht. Gersdorf und einige ihrer Kollegen hat das bislang davor bewahrt, vom Arbeitsort ausgesperrt oder gar gewaltsam entfernt zu werden. Zudem haben zwei prominente Bezirksrichter beim EuGH anfragen lassen, inwieweit ihre Bezirksgerichte noch als unabhängige Gerichte im EU-Sinn gelten könnten, wenn ihnen neuerdings eine PiShörige Disziplinarkommission vor die Nase gesetzt werde. Beide reichten zur Untermauerung Urteile ein, wegen derer sich die PiS nun an ihnen rächen könnte. Solche Anrufe der EU-Justiz bedeuten für viele Polen ein Licht am Ende des Tunnels. Auch noch diese Hoffnung zu zerstören, bemühte sich im August der stellvertretende Regierungschef Jarosław Gowin: »Die Regierung wird keine andere Wahl haben, als ein solches Urteil zu ignorieren«, sagte er für den Fall, dass die EuGH-Urteile zur Justizreform den Interessen der PiS zuwiderliefen. Unklar ist nur, ob Warschau wirklich so weit gehen würde. 쮿

Standhafte Richterin. Małgorzata Gersdorf im Juli 2018 in Warschau.

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Vorwärts in die Vergangenheit Im Realsozialismus waren sie verboten, doch heute sind rechtsextreme Gruppierungen in Polen wieder salonfähig. Mit Wohlwollen der Regierung. Von Andrzej Rybak, Wrocław

Rechter Block. Polnische Nationalisten im November 2017 in Warschau.

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Foto: Jaap Arriens / Hollandse Hoogte / laif

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ie junge Frau sieht zerbrechlich aus. Ihre langen dunkelblonden Haare fallen geschmeidig auf ihre Schultern, die Augenbrauen sind sorgfältig nachgezeichnet. Doch als sie die Bühne betritt, ist alles Zarte an ihr verschwunden. »Wir werden die Agenten der feindlichen Ideologie aus Polen jagen«, kreischt Justyna Helcyk ins Mikrofon. »Wir werden nicht zulassen, dass der islamische Terrorismus die polnische Nation zerstört. Hoch lebe das weiße Europa! Wrocław ohne Islam!« Mit ihrer Rede auf dem Wrocławer Marktplatz im September 2015 stieg die heute 28-jährige Absolventin eines Chemiestudiums zum Star des rechtsextremen National-Radikalen Lagers (ONR) auf. Die Staatsanwaltschaft warf ihr zunächst Verbreitung von Hasspropaganda vor, doch dann wurde das Verfahren eingestellt. Seitdem tritt die attraktive Politikerin immer wieder bei rechtsextremistischen Kundgebungen auf, gibt Interviews in konservativen Medien. Ihre Botschaft ist simpel: »Polen für die Polen!« Ihre Fans schwärmen auf Facebook für Helcyk, machen ihr Heiratsanträge, loben ihre Klugheit und ihr Charisma. Rechtsextreme Gruppierungen, die zur der Zeit des Kommunismus verboten waren, sind heute bei einigen Polen wieder en vogue. Das gilt vor allem für das National-Radikale Lager und die Allpolnische Jugend (MW), die sich beide auf gleichnamige Organisationen aus der Zeit zwischen den Weltkriegen berufen. Seit dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise im Jahr 2015 verzeichnen sie beachtliche Mitgliederzuwächse. Laut einer Umfrage des polnischen Meinungsforschungszentrums CBOS haben 17 Prozent der Befragten Sympathien für die extremen Nationalisten. In der Altersgruppe von 18 bis 24 Jahren liegt die Zustimmung sogar bei 38 Prozent. Die Rechtsradikalen organisieren in allen größeren Städten regelmäßig Demonstrationen gegen muslimische Migranten und fordern die Regierung auf, sich »dem Diktat aus Brüssel« zu widersetzen. Viele ihrer Anhänger sind Fußball-Hooligans, die in den Stadien fremdenfeindliche Aktionen organisieren. Bei den Spielen rollen sie Spruchbänder mit der Aufschrift »Stopp der Islamisierung Polens« aus. Diese Befürchtung ist maßlos übertrieben: In dem Land mit 39 Millionen Einwohnern leben Schätzungen zufolge höchstens 60.000 Muslime. »Früher waren Juden, Kommunisten oder Schwule an allem Schuld, heute sind es Muslime«, sagt Anna Tatar vom antirassistischen Verein Nigdy więcej (Nie wieder). »Früher gab es latenten Antisemitismus ohne Juden, nun breitet sich Islamophobie aus – ohne Muslime«, sagt Tatar. Seit drei Jahren gibt es einen massiven Anstieg rassistisch motivierter Vorfälle. Laut Staatsanwaltschaft wurden 2016 gut 1.700 fremdenfeindliche Straftaten registriert, was eine Verdopplung seit 2013 bedeutet. Im ersten Halbjahr 2017 stieg die Zahl sogar auf fast 950. Aber: Die Dunkelziffer ist hoch. Oft werden die Taten nicht gemeldet, weil die Opfer den Ordnungshütern nicht trauen. »Die Polizei schaut oft zu und greift nicht ein«, klagt auch Tatar. Menschen mit dunklen Haaren oder dunkler Hautfarbe leben in Polen gefährlich. Anfang Januar 2017 verwüstete ein Mob in Białystok, einer 300.000-Einwohner-Stadt im Nordosten des Landes, mehrere Kebab-Buden und schlug deren Mitarbeiter zusammen. Zuvor hatte ein tunesischer Imbissbesitzer einen jungen Polen im Streit niedergestochen, als dieser zwei Wodkaflaschen stehlen wollte. An den Unruhen beteiligten sich etwa 200 Skinheads und Rechtsradikale. Sie skandierten fremdenfeindliche Parolen und attackierten die Polizei, die 28 Personen festnahm.

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Mitverantwortlich für das Aufflammen des Rechtsextremismus ist die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS), die einen stramm nationalistischen Kurs fährt. Die von Jarosław Kaczyński geführte Partei schürte bereits während des Wahlkampfs 2015 Ängste vor Flüchtlingen. Bei den Neonazis drückt sie gern ein Auge zu. Seit ihrem Sieg zeigt der Staat zunehmend Nachsicht gegenüber den Nationalisten. Polens Intellektuelle mahnen: »Nennen wir die Sache klar beim Namen. Der Antiislamismus ist das heutige Gegenstück zum Antisemitismus der Vorkriegszeit«, schreibt der Krakauer Philosoph Jan Hartman. Die Politik säe »ohne Skrupel Angst vor Arabern, wie einst vor den Juden. Mit demselben Ziel: die Zustimmung für die Regierung zu stärken, die bereit ist, uns vor dem Feind zu beschützen.« Die Rechtsradikalen drücken inzwischen den nationalen Feiertagen ihren Stempel auf, vor allem dem Tag der Verfassung am 3. Mai und dem Unabhängigkeitstag am 11. November. Am Unabhängigkeitstag 2017 marschierten rund 70.000 Menschen durch Warschau: Viele von ihnen waren vermummt, trugen Handfackeln und warfen Feuerwerkskörper. Sie zeigten Banner mit durchgestrichenen Moscheen und der an ein Hakenkreuz erinnernden Falanga. Dabei skandierten sie Parolen wie »Reines Blut« und »Für ein weißes Europa«. Das von der Regierung kontrollierte Staatsfernsehen übersah in seinen Berichten die Neonazis und feierte einen »großen Marsch der Patrioten«.

Die Herstellung von Nazi-Symbolen und deren Verkauf sind legal. NS-Propagandaorgan »Stürmer« stammen könnten. Die polnischen Rechtsextremisten bedienen sich auch sonst gern bei den Neonazis: Da wird die Verantwortung für den Holocaust den Juden in die Schuhe geschoben, weil sie den Aufstieg Hitlers finanziert haben sollen. Bei einigen rechten Kundgebungen werden Strohpuppen verbrannt, die Juden repräsentieren sollen. Laut Gesetz ist es in Polen verboten, faschistisches Gedankengut zu verbreiten. Doch die Herstellung von Nazi-Symbolen und deren Verkauf ist legal. Das Land, das im Zweiten Weltkrieg fast sechs Millionen Bürger verloren hat, ist heute der größte europäische Produzent nachgemachter Gegenstände aus der NaziZeit. Oft handelt sich es dabei um eigentlich seriöse Unternehmen: So hat »Hero Collection« aus Poznań etwa 250 Filmproduktionen über das Dritte Reich mit NS-Uniformen ausgestattet, darunter Hollywood-Blockbuster wie »Operation Walküre«. In vielen Fällen sind es jedoch kleine Werkstätten, die T-Shirts mit Nazi-Symbolen bedrucken. Die Devotionalien werden meist auf Antik- und Trödelmärkten in Großstädten angeboten: Eiserne Kreuze und Offiziersdolche, SS-Abzeichen und Schulterklappen, Uniformen und Schriften wie Hitlers »Mein Kampf«. »Als ich noch ein Kind war, gab es so etwas nur im Untergrund«, sagt der Poznańer Basarhändler Krzysztof Milczanowski. »Jetzt sind das Militärsouvenirs wie alle anderen.« Bis vor kurzem konnte man auch auf dem Onlineportal Allegro, dem polnischen Ebay, Nazi-Symbole kaufen. Erst nach Protesten untersagte das Unternehmen in diesem Jahr den Handel damit. Vor allem auf den Märkten entlang der deutsch-polnischen Grenze lassen sich die Nazi-Symbole finden, die in Deutschland verboten sind. »Das Dritte Reich verkauft sich gut, die meisten meiner Kunden kommen aus Deutschland«, sagt Henryk Odyniecki in Küstrin an der Oder. Odyniecki hat T-Shirts mit SSTotenkopf und Musik-CDs von Neonazi-Bands wie Jungsturm, Macht und Ehre oder Division Germania im Angebot. Er sei kein Nazi, stellt der Händler klar. Die Liedertexte verstehe er nicht. Ein Foto vor seinem Stand lehnt er aber vehement ab.

Neuer Antisemitismus Es geht aber nicht nur gegen Migranten. Zu den Opfern rechtsradikaler Gewalt gehören immer öfter auch schwule und lesbische Polen, denen Verstöße gegen die christlichen Werte vorgeworfen werden. Auf vielen rechten Kundgebungen werden Regenbogenfahnen verbrannt, weil sie Symbole der Bewegung von Lesben und Schwulen sind. In nicht wenigen polnischen Städten wurden Pride-Paraden verboten – und wo sie erlaubt sind, die Teilnehmer nicht selten befürchten, von Rechtsextremen verprügelt zu werden. Neuerdings heizen Rechtsextreme auch die Stimmung gegen das »internationale Judentum« an, weil jüdische Gruppen aus den USA derzeit auf Rückgabe von illegal enteignetem Eigentum in Polen klagen. Im nationalen Milieu gilt dies als Versuch, »Polen und die polnischen Bürger zu bestehlen«. Kommentare dazu werden mit Karikaturen illustriert, die aus dem

Foto: Andrzej Rybak

Wohlwollende Regierung

Rechter Kleingeist. Robert Winnicki im Juni 2018.

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Vor allem Jugendliche sind von den Rechtsextremen fasziniert. Viele Fußballfans schwören auf einen Mix aus Skinhead-Kultur und rechtsradikalen Werten. Bei Konzerten treten regelmäßig Neonazi-Bands aus dem Ausland auf. Besonders bekannt ist das Festival Orle Gniazdo, Adlershorst, das von Neonazis aus ganz Europa besucht wird. Im Januar zeigte der polnische Sender TVN Bilder, die heimlich beim Festival aufgenommen wurden. Sie zeigen Fans in SS-Uniformen, die »Sieg Heil« brüllen. Die PiS-Regierung macht keinen Hehl aus ihren Sympathien für die rechten Nationalisten. Im polnischen Parlament, dem Sejm, sitzen viele ultrarechte Politiker der PiS und der rechts-

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Foto: Marcin Rozpedowski / Pacific Press / pa

Rechte Frontfrau. Justyna Helcyk im September 2015 in Krakau.

populistischen Kukiz-Bewegung, die Ängste vor Überfremdung schüren. Auch PiS-Chef Kaczyński mischt da gern mit: Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise warnte er vor Migranten, die »unbekannte Parasiten« einschleppen könnten. Das Ergebnis seiner Politik: Je nach Umfrage sprechen sich zwischen 75 und 90 Prozent der Polen für den sofortigen Stopp der Migration aus islamischen Ländern aus. Die Rechtsradikalen, die sich Gott und den christlichen Glauben auf ihre Banner schreiben, können außerdem auf die direkte Unterstützung des konservativen Teils der polnischen Kirche zählen. Dieser sieht Polen ebenfalls als letzte Bastion des christlichen Europas und wettert gegen Lesben und Schwule und den moralischen Verfall des Westens, der die Homo-Ehe erlaubt. Das politische Klima beflügelt die Rechtsextremen. Auch deshalb treten sie immer aggressiver und selbstsicherer auf. »Die sozialen Normen haben sich in Polen verschoben: Es ist heute gesellschaftlich durchaus akzeptabel, rassistische Ansichten zu zeigen«, sagt Rafał Pankowski, Soziologe an der privaten Warschauer Hochschule Collegium Civitas und Mitbegründer der Organisation »Nie wieder«, die sich seit 1996 gegen Fremdenhass engagiert. Mit Ruch Narodowy (RN), der Nationalen Bewegung, haben die Rechtsnationalisten inzwischen auch einen Repräsentanten im Sejm. Die 2014 gegründete Partei ist ein Bündnis des National-Radikalen Lagers, der Allpolnischen Jugend und einiger kleiner rechtsnationaler Organisationen. Bei den Parlamentswahlen im Oktober 2015 trat RN nicht eigenständig auf, ihre Politiker – wie RN-Chef Robert Winnicki – wurden aber über Listen der rechtspopulistischen Gruppierung Kukiz’15 des Rocksängers Paweł Kukiz gewählt.

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Seitdem sorgt der erst 33-jährige Winnicki landesweit für Schlagzeilen. Er ist jung, gebildet, rhetorisch versiert, tritt oft in Fernsehen und Radio auf – und macht die Rechte salonfähig. Manchmal kommt er mit seinem einjährigen Sohn zum Interview: Das gibt ihm das Image eines modernen Vaters, der sich die Kindererziehung mit seiner Frau teilt und sogar am Herd aushilft. Ruch Narodowy sieht sich als Verteidiger der abendländischen Kultur. »Wenn es um traditionelle Werte geht, ist für uns selbst der Front National von Marine Le Pen zu liberal«, sagt Winnicki. Die Partei lehnt Flüchtlinge ab, protestiert gegen Arbeitsmigranten aus der Ukraine und nennt die antisemitische ungarische Partei Jobbik als Vorbild. Winnicki wettert gegen den Neokolonialismus der großen internationalen Konzerne. »Die EU-Gelder werden oft für sinnlose Projekte ausgegeben, die kaum die Wirtschaft ankurbeln«, sagt der Rechtsnationale. Und: »Der polnische Markt muss durch Zölle geschützt werden, damit polnische Produzenten erstarken können.« Von der regierenden PiS sei die Ruch Narodowy enttäuscht, sagt Winnicki. Die Partei sei »sehr proeuropäisch« geworden. Er wolle deshalb ein Polexit-Referendum abhalten, um aus der EU auszutreten. »Die EU will ein Superstaat werden, dem können wir auf keinen Fall zustimmen«, so der Parteichef. »Wir werden Polens Souveränität bis zum Ende verteidigen.« Bei den Kommunalwahlen im Herbst will RN erstmals mit eigenen Kandidaten angreifen. Wenn sie gut abschneiden, wollen sie 2019 als selbstständige Partei zur Parlamentswahl antreten. »Wir werden von patriotischen Unternehmern unterstützt und haben viele populäre Kandidaten«, sagt Winnicki. Vielleicht gehört bald auch die Wrocławer Agitatorin Justyna Helcyk dazu. 쮿

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Gegen den Strom. Robert Biedroń im November 2017 im Rathaus von Słupsk.

Andere Männer braucht das Land Der Liberale Robert Biedroń ist Bürgermeister, bekennender Homosexueller – und einer der großen Hoffnungsträger der polnischen Opposition. Von Andrzej Rybak, Słupsk

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er Politiker, der vor fast vier Jahren zum ersten schwulen Bürgermeister einer polnischen Stadt gewählt wurde, lacht bitter. »Viele Leute glauben, Homosexualität sei eine Krankheit, und meinen, mich mit ihren Gebeten davon heilen zu müssen.« Aber Robert Biedroń ficht das nicht an: »Wir leben in einer Demokratie, da hat jeder das Recht, seine Meinung frei zu äußern.« Nach drei Jahren Regierung der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) sehen viele in Polen die Demokratie in Gefahr. Gleichschaltung der Medien, Abschaffung der Un-

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abhängigkeit der Justiz, Demontage der Zivilgesellschaft – auch Biedroń wirft der PiS und ihrem Chef Jarosław Kaczyński die Zerstörung grundlegender demokratischer Institutionen vor. »Polen braucht eine neue Öffnung, eine Bewegung, die progressiv, proeuropäisch, tolerant und sozial ist«, sagt der 42-Jährige. Deswegen hat er beschlossen, nicht mehr in der 90.000-Einwohnergemeinde Słupsk zu kandidieren, obwohl er in allen Umfragen weit vorn liegt. Biedroń will helfen, eine breite Front gegen die Regierung in Warschau aufzubauen. »Ich liebe Słupsk«, sagt er. »Aber ich kann nicht untätig mit ansehen, was in Polen

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Foto: Marcin Kalinski / laif

»Ich bin Atheist. Dazu bin ich schwul. Und obendrein ein Linker.« Robert Biedroń passiert.« Bis Februar will er nun durchs Land reisen, um die Grundlagen für eine nationale Bewegung auszuloten – ähnlich wie vor ihm in Frankreich Emmanuel Macron. Biedroń ist parteilos und für viele das Gesicht der außerparlamentarischen Opposition. Er ist nicht nur in Polen ein Unikat, sondern der einzige offen schwule Bürgermeister im gesamten postkommunistischen Europa. In den Rankings der beliebtesten polnischen Politiker belegt er seit mehr als einem Jahr den dritten Rang, hinter Präsident Andrzej Duda und EURatspräsident Donald Tusk. Biedroń kann sich vorstellen, in die nationale Politik zurückzukehren, konkreter wird er aber nicht. Die polnische Tageszeitung Rzeczpospolita nannte ihn den »Obama von Słupsk«. Für die BBC ist er der »aufsteigende Stern« des Landes. Diejenigen Polen, die sich ein weltoffenes, liberales und europäisches Land wünschen, sind von Biedroń begeistert – und wünschen, dass er 2020 bei den Präsidentschaftswahlen antritt. Auf seiner Facebook-Seite wird er mit Lob überschüttet. Dort steht: »Präsident Biedroń!«, »Solche Leute braucht unser Land« oder »Sie sind eine dufter Typ!« Die Bedeutung von Toleranz hat Biedroń früh begriffen. Er wuchs in den Vorkarpaten auf, der konservativsten Region Polens. Sein Vater trank und schlug seine Mutter. Als er sich seiner Homosexualität bewusst wurde, dachte er an Selbstmord. Seine Mutter weinte, weil sie davon überzeugt war, dass er an Aids sterben würde. Heute scherzt er über diese Zeit. »Ich bin Atheist. Dazu schwul. Und obendrein Linker«, sagt Biedroń. »Ich bin schon immer gegen den Strom geschwommen.« Viele hatten ihm von einem Coming-Out abgeraten. Doch er wollte nicht weiter schwindeln, sagt Biedroń. »Ich habe nur ein einziges Leben. Das wollte ich würdig leben, nach meinen Regeln.« Noch während des Studiums engagierte er sich für die Rechte sexueller Minderheiten. Doch bald merkte Biedroń, dass er nur in der Politik wirklich etwas ändern kann. Erst mischte er bei der linksliberalen SLD mit, doch die Partei wagte es nicht, einen Schwulen als Parlamentskandidaten aufzustellen. Also trat Biedroń 2011 der antiklerikalen Sammelbewegung von Janusz Palikot bei und wurde in den Sejm gewählt. 2014 gewann er die Stichwahl um das Bürgermeisteramt in Słupsk mit 57 Prozent der Stimmen gegen eine Koalition von Mitte-Rechts-Parteien, die von der Kirche unterstützt wurde. Schnell wurde der studierte Politikwissenschaftler zum Stadtmanager. Gleich zu Beginn seiner Amtszeit verzichtete er auf einen Dienstwagen. Biedroń fährt lieber Fahrrad. Dann führte er im Rathaus gleiche Löhne für Männer und Frauen ein, senkte die Arbeitslosigkeit und besetzte offene Stellen mit ukrainischen Migranten. Ein paar Mal eckte er auch kalkuliert an. So, als er ein Bild von Papst Johannes Paul II. aus seinem Amtszimmer verbannte und einer Kathedrale schenkte, die es neben dem Altar aufhängte. »Die Trennung von Staat und Religion ist für mich kein leeres

POLEN

Versprechen«, sagt Biedroń zur Begründung. Das hat nicht allen gefallen. »Mein Sohn, willst du die Kirche angreifen?«, fragte ihn ein Priester. Biedroń respektiert Andersdenkende, kann aber auch austeilen: »Mein Vorgänger hatte unter dem Papstbild einen Fernseher stehen und schaute vier Pornosender, die er auf Kosten der Stadt abonniert hatte.« Seine Erfolge in Słupsk sprachen sich schnell herum. Biedroń reist inzwischen viel durchs Land. Häufig tritt er in privaten Fernseh- und Radiosendern auf, während die regierungstreuen staatlichen Sender ihn weitgehend ignorieren. Biedroń ist eloquent, redet Klartext und vermeidet es, unnötig zu polarisieren: So gibt er offen zu, dass es vielen Polen nach drei Jahren PiS-Regierung ökonomisch besser geht. Dafür nehme die Regierung den Menschen aber ihre Freiheiten: »Heute werden hauptsächlich regimetreue Organisationen unterstützt«, sagt Biedroń. »Die Zivilgesellschaft wird behandelt wie in den Zeiten der früheren populistischen Regierungen: als antipolnische Verräter.« Dies hänge auch mit dem Weltbild der politischen Führung zusammen: »Jarosław Kaczyński ist vielleicht nicht xenophob«, sagt Biedroń über den PiS-Chef. »Aber Probleme wie Globalisierung, Erderwärmung oder Migration sind für ihn zumindest sehr abstrakt.« Zudem spalte er die polnische Gesellschaft. »Kaczyński kann unseren Staat für Jahrzehnte kaputt machen, wenn wir ihn nicht stoppen«, warnt Biedroń. Auch die Demontage der Justiz bereitet ihm Sorgen. Dennoch hält Biedroń die Brüsseler Pläne für falsch, Polen wegen Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien Fördermittel zu streichen. Das könnte Kaczyński in die Hand spielen und die antieuropäische Stimmung im Land anheizen, befürchtet er. Biedrońs Lösung lautet: »Statt ganz Polen die Fördermittel zu kürzen, sollte die EU das Geld direkt an die Kommunen geben. Damit würde man nur die PiS-Regierung bestrafen, nicht alle Polen.« Die Angriffe der Regierung oder der Kirche regen ihn nicht mehr auf. Vor zwölf Jahren, als die PiS zum ersten Mal an der Macht war, sei alles viel schlimmer gewesen: »Damals waren sexuelle Minderheiten der Sündenbock der Regierung«, sagt er. »Heute greift die PiS nicht die Schwulen, sondern eher die Flüchtlinge an. Die Islamophobie nimmt zu, rechtsradikale Bewegungen haben einen Riesenzulauf. Sie hetzen mit Billigung der Regierung ganz offen gegen Ausländer.« Die steigende Anzahl fremdenfeindlicher Straftaten beunruhigt ihn. »Die Polen tun so, als wären sie anders – doch diese Regierung holt leider die schlechtesten Eigenschaften aus den Menschen hervor: Sie schürt Fremdenhass und antieuropäische Stimmungen.« Biedroń ist überzeugt: Die Polen wollen mehrheitlich in einer liberalen und toleranten Gesellschaft leben, die sich nicht von Europa abwendet. »Die Generation von Kaczyński und Tusk darf den Rhythmus des politischen Lebens nicht mehr bestimmen«, sagt Biedroń. Ob und für wen er aber kandidieren will, lässt er offen. Noch. Im Herbst 2019 finden die nächsten Sejm-Wahlen statt. Bis dahin dürfte sich einiges klären. 쮿

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Die Presse bleibt frei D

ie feurigen Girls wurden ihm zum Verhängnis. Weil er die Nachwuchsband »Girls on Fire« zum altehrwürdigen Gesangsfestival »Opole 2018« eingeladen hatte, wurde Piotr Pałka im Juni fristlos entlassen. Der Unterhaltungschef des polnischen Staatsfernsehens TVP hatte offenbar übersehen, dass deren Popsong »Sila Kobiet« (Frauen-Power) als inoffizielle Hymne des sogenannten Schwarzen Protests gilt. Abtreibungsbefürworterinnen könnten via Staatsfernsehen ihre radikale, feministische und teuflische Botschaft unters Volk bringen, klagte die Abgeordnete der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS), Anna Sobecka, am Tag vor der Festivaleröffnung. Pałka müsse für diese Regelverletzung bestraft werden, forderte die rechte Politikerin. Und sie bekam Recht. Pałka ist das vorerst letzte Opfer einer Säuberungswelle bei TVP, die bisher rund 200 Journalisten den Job gekostet hat. Die meisten von ihnen verloren ihre Stelle unmittelbar nach dem Wahlsieg der PiS im Herbst 2015. Danach machte sich die rechtsnationale Partei von Jarosław Kaczyński daran, neben dem Verfassungsgericht auch die staatlichen Radio- und Fernsehanstalten mit eigenen Leuten zu besetzen. Öffentlich-rechtliche Sender wie die BBC in Großbritannien oder ARD und ZDF in Deutschland gab es in Polen allerdings noch nie. Seit der Wende von 1989 hatte jede Regierungspartei versucht, das Staatsfernsehen und -radio für eigene Zwecke zu instrumentalisieren. »Ich bin schon seit 20 Jahren dabei und habe viel gesehen; schon immer wurde bei uns mit dem Reisigbesen gekehrt, aber niemand tat dies bisher so schnell und so radikal wie die PiS«, sagt ein bekannter Fernsehmann, der nicht namentlich genannt werden will. Noch immer geht die Angst vor weiteren Entlassungen um. Auch bei der staatlichen Presseagentur PAP, die in Polen quasi eine Monopolstellung genießt und deshalb von der PiS sofort übernommen und gleichgeschaltet wurde. Zwar holte Kaczyńskis PiS sofort nach der Regierungsübernahme zu einem Kahlschlag bei den staatlichen Medien aus und brachte die Programme auf ihre rechts-konservative Parteilinie.

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Auch verbot die neue Regierung Ministerien, Ämtern und Gerichten, die Abonnements bestimmter oppositioneller Zeitungen und Magazine zu erneuern. Damit war die Pressefreiheit in Polen jedoch nicht am Ende. Denn neben den staatlichen gibt es starke private Medien, wie zum Beispiel die Boulevardzeitung Fakt, die vom schweizerisch-deutschen Verlagshaus Ringier Axel Springer (RAS) herausgegeben wird. In Polen hält RAS auch die Mehrheitsbeteiligung am größten Internetportal onet.pl sowie an der polnischen Ausgabe von Newsweek. Immer wieder macht das Massenblatt Fakt mit seinen Geschichten Politik. So berichtete die Zeitung kürzlich über Edyta M., eine hohe Beamtin im PiS-Gesundheitsministerium, die ein Korruptionsschema aufdeckte, das den Staat Millionen kostete und bestimmte Medikamente in den Apotheken – trotz Subventionen – massiv verteuerte. Als sie ihren Vorgesetzten darüber informierte, wurde die Beamtin monatelang gemobbt und schließlich entlassen. Tagelang beherrschte Edyta M. die Schlagzeilen. Und da im Oktober Lokalwahlen anstehen, sprang auch die liberale Opposition auf den Skandalzug. Prompt tauchten in vielen Städten auf großen Werbeflächen der Spruch auf: »Sie nehmen Millionen – und wir können nicht mal die Medikamente bezahlen!«. Für die PiS ist das unangenehm, trat Kaczyńskis Mannschaft 2015 doch als »Saubermannpartei« an. Dabei ist Fakt keineswegs kritischer als andere private Medien in Polen. Auch Verlage ohne ausländische Kapitalbeteili-

Verlage mit deutscher Beteiligung stehen im Fadenkreuz der Regierung. AMNESTY JOURNAL | 10-11/2018

Foto: Artur Widak / NurPhoto / pa

Polens private Medienlandschaft setzt der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit weiterhin Grenzen. Von Paul Flückiger, Warschau


Freie Presse. Leserin der Gazeta Wyborcza im Juli 2017 in Kraków.

gung setzen der Kaczyński-Regierung täglich zu. Allen voran die Tageszeitung Gazeta Wyborcza mit dem früheren Dissidenten Adam Michnik als Chefredakteur. Kaczyński betrachtet das Blatt als gefährlichen Apologeten des westlichen Liberalismus und dessen Angriffen auf die christliche Tradition, den Nationalstaat und die katholische Kirche. Die Gazeta Wyborcza ist über eine Stiftung eng mit dem Online-Portal oko.press verbunden, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Regierungspolitik und PiSWahlversprechen auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Gegen diese oppositionelle Medienmacht hat die PiS im Print- und Onlinebereich wenig zu bieten. Drei rechte Verlage kämpfen mit viel Werbeunterstützung durch Staatsfirmen um Kaczyńskis Gunst. Auch bei Radio und Fernsehen sieht es für die PiS alles andere als rosig aus. TVP kämpft nach der Entlassung ideologisch unzuverlässiger Redakteure mit schwindenden Einschaltquoten. Laut Nielsen Audience Measurement erreichten alle staatlichen TVP-Programme zusammen im April noch 25 Prozent der Zuschauer. Private Alternativen gibt es zuhauf. Marktführer ist das rein polnische Fernsehen Polsat. Stark ist auch der von einer amerikanischen Investorengruppe finanzierte Privatfernsehsender TVN. »Wir haben unser Land vom Einfluss der Oligarchen bewahrt, die Presse ist frei und pluralistisch«, sagte Ministerpräsident Mateusz Morawiecki im Sommer in einer Fragestunde des Euro-

POLEN

paparlaments. Das mag noch stimmen. Allerdings plant die PiS bereits die nächste Attacke gegen die Pressefreiheit, die nun auch die privaten Medienhäuser treffen soll. Mittels eines Gesetzes gegen Monopolbildungen, das ausländische Kapitalbeteiligungen für Medienhäuser auf 30 Prozent begrenzt, sollen Verlage mit hoher ausländischer Beteiligung dazu gezwungen werden, Anteile an den Staat zu verkaufen. Damit würde die Pressefreiheit ähnlich eingeschränkt wie im kommunistischen Polen vor 1989, kritisiert die liberale Opposition. Im Fadenkreuz der Regierung stehen dabei vor allem Verlage mit deutscher Beteiligung. Laut der Vorsitzenden des Kulturausschusses im Parlament, Elżbieta Kruk, befinden sich in Polen fast 80 Prozent der Verlagshäuer in ausländischer Hand, so viele wie nirgendwo sonst in der EU. Drei Viertel davon sollen von deutschen Verlagen dominiert sein. »Sollen ausgerechnet die Deutschen die polnische Regierung kontrollieren?«, fragt Kruk. Doch ist dieses Gesetz bereits vor ein paar Monaten wieder in den Schubladen verschwunden. Niemand weiß, wann die PiSParlamentsmehrheit es verabschieden will. Dank der absoluten Mehrheit im Sejm reicht dafür allein Kaczyńskis Wille, der seine Partei mit eiserner Hand beherrscht. Laut der politisch völlig marginalisierten liberalen Opposition verhindert dies einstweilen die Europäische Kommission in Brüssel, die wegen der Gängelung der polnischen Justiz gerade ein neues Vertragsverletzungsverfahren gegen das Land eingeleitet hat. 쮿

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INTERGESCHLECHTLICHE KINDER SCHÜTZEN!


Weltweit werden Schätzungen zufolge 1,7 Prozent der Kinder mit Geschlechtsmerkmalen geboren, die nicht mit den geltenden Normen von männlich und weiblich übereinstimmen. Man spricht von einer „Variation der Geschlechtsmerkmale“ oder in bestimmten Fällen auch von „intergeschlechtlich“. In Deutschland werden diese Kinder häu g operiert oder hormonellen Behandlungen unter­ zogen, um sie zu „normalisieren“ und ihnen ein eindeutig männliches oder weibliches Geschlecht zuzuweisen. Diese unumkehrbaren medizinischen Eingriffe können zu anhaltenden körperlichen und seelischen Schäden führen. So leiden Betroffene z. B. nach einer Sterilisation/ Kastration teils lebenslang unter Schmerzen, dem Verlust der sexuellen Emp ndsamkeit oder großen psychischen Problemen.

Die medizinischen Behandlungen werden oft ohne eine Notfallsituation durchgeführt und ohne, dass die sehr jungen Kinder dies selbst entscheiden könnten. So werden ihre Menschenrechte auf Gesundheit, körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung verletzt. Fordere, dass Kinder mit Variationen der Geschlechtsmerkmale keinen schädlichen medizinischen Behandlungen mehr unterzogen werden! Beteilige dich an unserer Online-Aktion und schreib eine E-Mail an Justizministerin Katarina Barley und an ausgewählte Abgeordnete, die bei diesem Thema großen Ein uss haben.

amnesty.de/intergeschlechtlich


POLITIK & GESELLSCHAFT

Durchgekommen. Algeciras, im August 2018.

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AMNESTY JOURNAL | 10-11/2018


Kein Land in Sicht Die Hoffnung, die sozialistische spanische Regierung verfolge eine humanere Flüchtlingspolitik als ihre Vorgängerin, währte nur kurz. Von Thomas Schmid

Foto: Alexander Koerner / Getty Images

SPANIEN

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Auf dem Landweg nach Europa Über Folter, Vergewaltigung und Versklavung von Flüchtlingen an der libyschen Küste weiß man dank Facebook, Skype und Twitter längst auch in den Staaten südlich der Sahara Bescheid. Vor allem Westafrikaner wählen deshalb nun immer öfter die Route über Marokko, um dem Terror in Libyen zu entgehen. Die meisten von ihnen überqueren in Gummibooten die Straße von

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Gibraltar. Ein kleiner Teil kommt nicht übers Meer, sondern auf dem Landweg. Denn Spanien ist der einzige Staat Europas, der eine Landgrenze zu Afrika hat – bei Ceuta und Melilla, den spanischen Exklaven im Norden Marokkos. Die beiden Städte sind mit sechs Meter hohen klingenbewehrten Doppelzäunen gesichert. Trotzdem stürmen Migranten immer wieder in großer Zahl die Grenzanlagen. Zuletzt am 22. August in Ceuta. Da rannten 256 Migranten auf den Zaun zu, 119 von ihnen schafften es – die Grenzwächter mit Fäkalien, Ätzkalk und Buttersäure angreifend –, die Sperren zu überwinden. Mit Ausnahme von zwei Kindern und einem Erwachsenen wurden alle schon am nächsten Tag wieder nach Marokko abgeschoben – gemäß einem bilateralen Abkommen von 1992, in dem sich der Maghrebstaat verpflichtete, irreguläre Migranten aus Drittstaaten, die über sein Territorium nach Spanien gelangen, wieder zurückzunehmen. Amnesty International hat wiederholt verlangt, dieses Abkommen auszusetzen, da die Gefahr besteht, dass bei seiner Anwendung das in der Europäischen Menschenrechtskonvention festgeschriebene Non-refoulement-Gebot verletzt wird, das die Rückführung von Personen in Staaten verbietet, in denen ihnen Folter oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. Das Abkommen kam allerdings bisher höchst selten zur Anwendung, da Marokko sich in der Regel schlicht weigerte, Flüchtlinge zurückzunehmen.

Konservative Sozialisten Doch manchmal gelang den Spaniern eine direkte Überstellung an der Landgrenze. Im Oktober 2017 hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Spanien schließlich dazu verurteilt, zwei westafrikanischen Flüchtlingen je 5.000 Euro Entschädigung zu bezahlen, weil die Guardia Civil die beiden, die 2014 den Zaun überwunden hatten, direkt an die marokkanischen Grenzbehörden übergeben hatte. Die konservative Regierung hatte Rechtsmittel eingelegt – mit der Begründung, die beiden seien nicht rückgeführt, sondern an der Grenze direkt abgewiesen worden. Die neue sozialistische Regierung, vom EGMR um eine Stellungnahme gebeten, übernahm Mitte August die Argumente ihrer Vorgängerin. Den beiden Flüchtlingen sei es nicht gelungen, »die Polizeilinie zu überschreiten«, und deshalb hätten sie das Gebiet »spanischer Jurisdiktion« gar nicht betreten. Im Jahr 2015 hatten die Sozialisten – damals in der Opposition – noch Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz der konservativen Regierung eingelegt, das direkte Überstellungen an der Grenze erlaubte. Als Spanien nun Ende August in Ceuta 116 am Vortag festgenommene Grenzbrecher an die marokkanischen Grenzbehörden überstellte, nachdem man sie zunächst zwecks Identifizie-

Um dem Terror in Libyen zu entgehen, fliehen Westafrikaner immer öfter über Marokko nach Europa. AMNESTY JOURNAL | 10-11/2018

Foto: Alexander Koerner / Getty Images

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s gibt viele Gründe, nach Europa zu fliehen. Armut, Krieg, der Mangel an Perspektiven, eine Arbeit zu finden, die es erlaubt, eine Familie zu gründen und sich eine Zukunft zu bauen, sind wohl die wichtigsten. Und es ist gewiss vernünftig, bei den Ursachen, die der Migration zugrunde liegen, anzusetzen. Im Rahmen von Partnerschaftsabkommen (Compacts with Africa) wird deshalb die deutsche Entwicklungshilfe zunehmend in den Dienst der Fluchtursachenbekämpfung gestellt. Doch vieles spricht dagegen, dass diese Strategie zielführend ist. Selbst wenn sie es wäre, würde sie allenfalls langfristig Früchte tragen. Das heißt, die Einwanderung aus Afrika wird Europa weiter beschäftigen. Doch die Fluchtrouten ändern sich. Von der Öffentlichkeit kaum bemerkt, landen inzwischen mehr Migranten und Flüchtlinge in Spanien als in Italien an. Sechs Tage lang irrte die »Aquarius« im Juni durchs Mittelmeer. Das Rettungsschiff, das von den Hilfsorganisationen Ärzte ohne Grenzen und SOS Méditerranée betrieben wird, hatte vor der Küste Libyens 629 Flüchtlinge aufgenommen. Italiens rechtspopulistischer Innenminister Matteo Salvini weigerte sich, es in einen italienischen Hafen einlaufen zu lassen. Auch Malta sperrte sich. Da kam Rettung aus dem fernen Madrid. Die Regierung unter dem Sozialisten Pedro Sánchez, der kurz zuvor Mariano Rajoy von der konservativen Volkspartei (PP) als Ministerpräsident abgelöst hatte, bot den Hafen Valencia an. Und die Geretteten erhielten umgehend eine Aufenthaltserlaubnis von 45 Tagen, um in aller Ruhe einen Asylantrag stellen zu können. Einen Monat später durfte die »Open Arms«, ein Schiff der gleichnamigen Hilfsorganisation, mit 60 Flüchtlingen, die ebenfalls vor der Küste Libyens gerettet worden waren, in Barcelona einlaufen. Ada Colau, die populäre Bürgermeisterin der Stadt, hatte am Rathaus ein großes Transparent anbringen lassen: »Barcelona port segur« (Barcelona sicherer Hafen). Die Flüchtlinge erhielten eine Aufenthaltserlaubnis von 30 Tagen, die verlängerbar war. Schon wähnten Optimisten, in Spanien zeichne sich eine humane Alternative zur rigiden Abschottungspolitik ab. Doch als Mitte August die »Aquarius« mit 141 Flüchtlingen an Bord wieder tagelang zwischen Libyen und Italien unterwegs war, lehnten die spanischen Behörden eine Aufnahme rundweg ab. Schließlich durften die Schiffbrüchigen nach fünftägiger Odyssee in Malta an Land gehen, nachdem sich verschiedene EU-Staaten bereit erklärt hatten, einen Teil der Geretteten zu übernehmen. Die sozialistische Regierung hatte umgesteuert – unter dem Druck der Opposition und weil sie befürchten musste, mit den Problemen, die die Massenimmigration mit sich brachte, genauso allein gelassen zu werden wie zuvor schon Italien. Immerhin kamen in Spanien laut UN-Flüchtlingshochkommissariat bis Mitte September 37.336 Migranten und Flüchtlinge an, deutlich mehr als in Italien (20.054) oder in Griechenland (20.760). Es waren doppelt so viele wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres, während sich in Italien die irreguläre Immigration auf ein Fünftel reduzierte.


Durchatmen. Algeciras, im August 2018.

rung auf Polizeistationen in der Stadt gebracht hatte, wollte man wenigstens den Anschein erwecken, das Völkerrecht zu respektieren. In aller Eile wurden Rechtsanwälte und Dolmetscher aufgetrieben. Aber es war offensichtlich eine Farce. Isabel Valriberas, Dekanin der Anwaltskammer von Ceuta, erklärte, man habe zwar den zwölf herbeigerufenen Pflichtverteidigern gesagt, dass es um die Abschiebung der 116 Personen gehe, aber nicht, dass dies – anders als üblich – sofort geschehen solle und gemäß dem Abkommen von 1992, das seit Jahren keine Anwendung mehr gefunden hatte. So hätten die Anwälte dann ihren Klienten geraten, in den nächsten Tagen gegen einen Abschiebungsbescheid Rechtsmittel einzulegen, ohne zu wissen, dass dies wegen der sofortigen Abschiebung nicht mehr möglich sein würde. Inzwischen haben die Anwälte beim Innenminister eine Dienstaufsichtsbeschwerde eingelegt und erwägen Strafanzeige wegen Verweigerung fundamentaler Rechte.

Türsteher Europas Auch Esteban Beltrán, Leiter der spanischen Sektion von Amnesty International, bezweifelte in einem Schreiben an den Innenminister, dass es möglich sei, innerhalb von nur 24 Stunden 116 Migranten individuell den gesetzlich vorgeschriebenen juristischen Beistand unter Hinzuziehung qualifizierter Dolmetscher anzubieten. Die spanische Regierung will die Ankunft von Migranten – ob auf dem See- oder dem Landweg – offenbar mit allen Mitteln erschweren. Aber weshalb spielt Marokko, dessen Grenzwächter jahrzehntelang oft beide Augen zudrückten und noch Ende Juli

SPANIEN

bei Ceuta eine Massenflucht von über 600 Personen ermöglicht hatten, nun plötzlich mit und nimmt die abgeschobenen Migranten auf? Schon in der zweiten Augustwoche wurden bei Razzien der Gendarmerie im marokkanischen Hinterland von Ceuta und Melilla sowie in der nahen Hafenstadt Tanger mehr als 1.800 Afrikaner aus Subsahara-Staaten aufgegriffen und weit ins Landesinnere und in den Süden des Landes verbracht. Natürlich werden die meisten von ihnen an die Küste zurückkehren. Aber Marokko setzte ein Zeichen. Kurz zuvor hatte Jean-Claude Juncker, der Präsident der EUKommission, Marokko Hilfsgelder für die Grenzsicherung versprochen: Zusammen mit Tunesien soll das Königreich 55 Millionen Euro erhalten. Offensichtlich will sich Marokko seinen Dienst als Türsteher Europas – ähnlich wie die Türkei, wenn auch ohne expliziten Vertrag – angemessen honorieren lassen. Aber ein heikles Problem könnte eine Einigung zwischen Marokko und der EU schon bald torpedieren: Im Juli haben die EU und der Maghreb-Staat ein neues Fischereiabkommen paraphiert, das die von Marokko besetzte Westsahara mit ihren reichen Fischgründen einschließt. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) jedoch hatte im Februar das bestehende Abkommen für ungültig erklärt, insoweit es die Westsahara, die völkerrechtlich nicht zu Marokko gehört, betrifft. Sollte die Ratifizierung des Abkommens an der notwendigen Zustimmung durch den EU-Ministerrat oder das EU-Parlament scheitern, könnte Marokko die EU mit einer Rückkehr zum permissiven Umgang bei der Flüchtlingskontrolle unter Druck setzen. 쮿

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Abgeführt. Polizeieinsatz in  Ellwangen am 3. Mai 2018.

Endstation Ellwangen In der baden-württembergischen Landeserstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge ist die Angst vor Abschiebungen allgegenwärtig. Von Markus Bickel, Ellwangen Für den leitenden Polizeidirektor Peter Hönle endete der Einsatz eine Woche nach der Razzia. Für Lamin Mboge ist er bis heute nicht vorbei. Doch der Reihe nach. Landeserstaufnahmeeinrichtung Ellwangen, kurz LEA genannt, im schwäbischen Ostalbkreis. Die heiße Sommersonne knallt auf die große Wiese unterhalb der Kantine. Auf dem Grün stehen zwei Fußballtore und ein paar Holzbänke mit Tischen. Es ist Mittagsessenszeit, das ganze Camp ist auf den Beinen. Mädchen und Jungs auf Fahrrädern, Eltern schlendern lässig hinterher. Auf einer Bank abseits des Wegs hoch zur Essensausgabe sitzt Lamin Mboge*. Der Mann aus Gambia kriegt zurzeit keinen Bissen herunter. Selbstmordgedanken plagen ihn. »Wenn ich aus der Stadt zurückkomme, die Hauptstraße entlang Richtung Camp, überlege ich manchmal, mich einfach vor ein Auto zu schmeißen«, sagt der 33-Jährige. Auf seinem Handy spielt er Szenen aus einem Flüchtlingslager im italienischen Latina vor. Lagerleiter Luca sei ein Quäler gewesen, ein Menschenverachter vor dem Herrn. Bilder von abgeführten Afrikanern flackern über den Touchscreen, Szenen einer medienwirksam inszenierten Rückführungsaktion der Regierung in Rom. Neun Monate verbrachte Mboge in Italien, ehe er sich An-

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fang des Jahres nach Deutschland durchschlug. Die meiste Zeit hatte er davor außerhalb des Lagers verbracht – so wie Tausende junge Männer und Frauen, die in Italien nach der gefährlichen Flucht über das Mittelmeer zum ersten Mal europäischen Boden betreten. Zwangsprostitution und Ausbeutung auf Obst- und Gemüseplantagen gehören dort zum Alltag. Aber vielen Afrikanerinnen und Afrikanern ist das immer noch lieber als das Leben in den schlecht versorgten italienischen Flüchtlingsunterkünften, wo jederzeit die Abschiebung drohen kann. Auch aus der LEA in Ellwangen werden regelmäßig Flüchtlinge abgeführt, im Schnitt dreimal pro Woche. Lamin Mboge kann deshalb oft nicht schlafen. Er verfügt lediglich über eine Duldung und rechnet Tag für Tag damit, dass Polizisten ihn aus seinem Zimmer holen. Weil das Dublin-System in der Mehrheit der Fälle die Aufnahme in jenem Land vorschreibt, in dem ein Geflüchteter zum ersten Mal registriert wurde, würde das die Rückkehr ins gefürchtete Italien bedeuten. Damit die Beamten ihn nicht finden können, setzt Mboge sich deshalb auch nachts oft auf eine der Holzbänke auf der Wiese unterhalb der Kantine. Hier funktioniert das WLAN gut, was hilft, die Angst zu vergessen und die Zeit totzuschlagen. »Es ist nicht einfach, glauben Sie mir«, sagt Mboge. »Wenn man mich nach Italien zurückbringt, werde ich leiden.« Die Chancen, dass es so kommt, sind groß. Denn eine Verlängerung seiner Duldung wird der junge Gambier wohl kaum erreichen können. Im Frühjahr 2017 hatte er sich auf den Weg aus seinem Heimatland Richtung Libyen aufgemacht und von dort

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Foto: Sina Schuldt / dpa / pa

Foto: Stefan Puchner / dpa / pa

Solidarität ist eine Waffe. Flüchtlinge und Unterstützer  in Ellwangen im Mai 2018.

weiter über das Mittelmeer. Der Grund für die Flucht: Familienstreitigkeiten. Die Schwiegereltern gehören einer anderen Ethnie an, was nach dem tödlichen Unfall seiner Frau zu Streit um Geld führte und ihn um sein Leben fürchten ließ. Asyl gibt es dafür nicht. Auch viele der anderen Geflüchteten sind unruhig: Mehr als 600 sind es Mitte September, die meisten aus Ghana, Gambia, Guinea, Kamerun, Nigeria, Senegal und Togo. Kaum einer der Westafrikaner wird legal in Deutschland bleiben können. Und je geringer die Bleibeperspektive ist, desto größer die Verzweiflung.

Angst und Ausweglosigkeit Für Pater Reinhard Baumann von den Comboni-Missionaren ist diese Ausweglosigkeit der Grund, weshalb sich am 30. April Dutzende LEA-Bewohner mit Yussif O. solidarisierten, einem 23-jährigen Mann aus Togo. Baumann gehört zu den Initiatoren des Ellwanger Freundeskreises Asyl, der sich schon lange vor der Eröffnung der LEA im März 2015 zusammenfand. Für den 3. Mai hatte der Freundeskreis ein Pressegespräch geplant, bei dem die Betroffenen selbst über die Lage in der LEA berichten sollten. Doch dann kam jener Polizeieinsatz, der über Jahre aufgebautes Vertrauen zerstörte – und weit über Baden-Württemberg hinaus die Frage aufwarf, ob künftig auch in anderen deutschen Aufnahmezentren mit Widerstand gegen die Staatsgewalt zu rechnen sei. Wasser auf die Mühlen jener, die seit der erfolgreichen Flucht Hunderttausender Syrer und Iraker über die Türkei,

DEUTSCHLAND

Griechenland und die Balkanroute im Sommer vor drei Jahren vor einem Zerfall von Recht und Ordnung warnen. Dabei konnte von Ausnahmezustand in der LEA keine Rede sein, sagt Pater Baumann. Nüchtern rekapituliert der katholische Geistliche, wie in den frühen Morgenstunden des 30. April vier Polizisten kamen, um Yussif O. für die Rückführung nach Italien in Gewahrsam zu nehmen. Als dem Togoer bereits Handschellen angelegt worden waren, hätten sich jedoch so viele Männer um die Doppelstreife geschart, dass die Beamten ihn wieder freiließen – und den Rückzug antraten. Baumann, der viele LEA-Bewohner kennt, weil er in der Einrichtung Deutsch unterrichtet, sagt: »Ich möchte dieses Verhalten nicht rechtfertigen, habe aber schon ein gewisses Verständnis dafür.« Berthold Weiß hat das nicht. Die Gewalt sei von den Flüchtlingen ausgegangen, sagt der Leiter der LEA in seinem Büro auf dem Gelände der ehemaligen Reinhardt-Kaserne der Bundes-

Je geringer die Bleibeperspektive, desto größer die Verzweiflung. 35


Foto: Christoph Schmidt / dpa / pa

Nah an den Menschen. Berthold Weiß in der Kantine der LEA, Mai 2018.

wehr. Ganz unabhängig davon, ob es nun fünfzig oder, wie von der Polizei behauptet, bis zu 200 Männer waren, die sich den Einsatzkräften entgegenstellten. Für Weiß, der die LEA seit ihrer Gründung vor drei Jahren führt, ist klar: »In keinem Staat der Welt lässt sich die Polizei so etwas gefallen.« Auch Monate nach dem Vorfall wirkt der 56-Jährige persönlich getroffen davon, dass seine »Gäste« einen der ihren aus dem Gewahrsam der Vollstreckungsbeamten befreiten. Dass die Polizei auf die spontane Solidarisierung mit dem Togoer reagieren musste, steht für den unter Mitarbeitern wie Flüchtlingen beliebten Verwaltungsfachmann außer Zweifel. Und das durchaus mit Härte, so Weiß, der außerdem Fraktionsvorsitzender der Grünen im Gemeinderat Ellwangens ist: »Wenn die Polizei in mehrere Gebäude gleichzeitig reingeht, dann geht’s auch mal robust zu«, sagt er. »Dann wird nicht dreimal geklopft, sondern aufgemacht.« Wovon Weiß spricht, ist der Einsatz nach der vereitelten Abschiebung von Yussif O.: Mehrere Hundertschaften in Sturmhauben und Schutzwesten rückten 72 Stunden später abermals in der LEA an. Eine Racheaktion der gedemütigten Ordnungsmacht, sagen Kritiker der Razzia, die erfolgreiche Wiederherstellung des Rechtsstaats, deren Befürworter. Vom Kontrollverlust der Staatsmacht sprechen CDU- und AfD-Abgeordnete im Landtag in Stuttgart, von einer Zäsur, die das Ende humanitärer Maßstäbe in der Flüchtlingsbetreuung bedeute, Kirchenleute und Sozialarbeiter vor Ort. Der Kampf um die Deutungshoheit über den Einsatz ist auch

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Monate später nicht beendet. »Die Stimmung ist sehr, sehr vergiftet«, konstatiert LEA-Leiter Weiß, der von einer »ambivalenten Geschichte« spricht. Und in der Aussage gegen Aussage steht: Drei Flüchtlinge berichteten Amnesty, wie sie von Polizisten aus den Betten gezerrt und zu Boden gedrückt wurden. Handys seien zerstört, Türen eingetreten worden, obwohl diese gar nicht verschlossen waren. Der LEA-Psychologe Reinhard Sellmann will nicht ausschließen, dass Dutzende Männer, die bereits in ihren Herkunftsländern oder auf der Flucht traumatisiert wurden, durch die Ereignisse eine Retraumatisierung erlitten. Die Verteidiger der Staatsgewalt ficht das nicht an. Von mehreren nach der Razzia im Mai in Untersuchungshaft genommenen LEA-Bewohnern sind inzwischen drei wegen »tätlichen Angriffs« auf Polizisten oder Widerstands gegen die Staatsgewalt verurteilt worden. Drei Männer wurden bereits abgeschoben, zwei kamen frei. Auch Yussif O. ist nach Italien rücküberstellt worden, wo er nach seiner Flucht aus dem Togo zum ersten Mal europäischen Boden betrat – so wie es die Dublin-Regeln vorsehen. Von »einem Schlag ins Gesicht der rechtstreuen Bevölkerung« hatte Bundesinnenminister Horst Seehofer am 1. Mai nach der Solidarisierungsaktion mit dem Togoer gesprochen, ehe zwei Tage später die Hundertschaften in der LEA anrückten. Mitten in der Nacht – mit dem Auftrag, diesmal nicht nur Yussif O. nicht entwischen zu lassen, sondern alle alleinstehenden Männer auf Waffen und Rauschgift hin zu kontrollieren. Dass am Ende unter 300 Untersuchten lediglich ein paar Gramm

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ten Beamten bei der Einsatzvorbereitung umfassend auf die traumatischen Verfolgungs- und Fluchthintergründe der LEABewohner hingewiesen. Als Erfolg wertet Hönle den Einsatz aber auch deshalb, weil mit der Abschiebungsvereitelung am 30. April »die Gastfreundschaft überdehnt« worden sei: »Das kann sich der Rechtsstaat nicht bieten lassen, dass er im eigenen Land vom Hof gejagt wird.« Zugleich räumt er ein, dass die Polizisten die mit solchen Einsätzen verbundenen Härten ausbaden müssten. »Die Rolle der Polizei ist schwer: Sie steht am Ende eines staatlichen Handelns, das Fragen nach Auswirkungen für die Betroffenen gar nicht erst zulässt.« Doch da die Abschiebungshaft zum »Handwerkszeug und Regelwerk« des Dublin-Systems gehöre, müsse sie auch durchgesetzt werden. Weisen die Behörden die Zuständigkeit für die Flüchtlinge von sich, geht es zurück nach Italien. In Baden-Württemberg in der Regel vom Flughafen Stuttgart aus, denn auf dem Landweg nehmen weder die Schweiz noch Österreich Flüchtlinge auf. Endstation Ellwangen, wenn man so will: Weil die Dublin-Regeln in den meisten Fällen die Aufnahme im Land der Erstregistrierung vorsehen, setzt die grün-schwarze Landesregierung in Stuttgart auf Abschiebeflüge nach Italien. Dass ein menschenwürdiges Leben für Flüchtlinge dort nicht gewährleistet ist, erfuhr Hönle eine Woche nach dem umstrittenen Großeinsatz. Der Ellwanger Bürgermeister hatte ihn und eine Delegation von LEA-Bewohnern ins Rathaus der Stadt geladen, um Verständnis auf beiden Seiten zu wecken. »Ich wusste nicht, was Italien für die vielen Männer und Frauen hier bedeutet«, sagt Hönle über das Treffen – und äußert Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Dublin-Vorgaben. »Im Rahmen meiner Beratungspflicht habe ich meine politischen Vorgesetzten darum gebeten, dieses System zu überdenken.« Auch wegen dieser Erkenntnisse habe sich das Treffen »in der guten Stube der Stadt bei einem schwäbischen Hefekranz« gelohnt, sagt der Leiter der umstrittenen Razzia: »Erst da war der Einsatz für mich vorbei.« Für Lamin Mboge hingegen kommt die Angst vor der Abschiebung jeden Abend wieder. 쮿

»Ich wusste nicht, was Italien für die Männer und Frauen bedeutet.« Einsatzleiter Peter Hönle Haschisch gefunden wurden, aber keine harten Drogen, Messer oder Pistolen, gilt Kritikern als Beleg, dass mit dem Einsatz ein politisches Exempel statuiert werden sollte. Oder, wie es der Leiter des Führungs- und Einsatzstabs im Polizeipräsidium Aalen, Peter Hönle ausdrückt: »Für uns war klar, dass wir nicht ein zweites Mal als Verlierer vom Platz gehen würden.«

»Lageangepasst und professionell« Aalen, zwanzig Kilometer südlich von Ellwangen gelegen, einen Tag nach dem Besuch in der LEA. Das Polizeipräsidium der großen Kreisstadt ist von einem hohen Baugerüst umgeben, mit zwei Mitarbeitern seines Stabs steht der leitende Polizeidirektor Rede und Antwort. Dass der Einsatz am 3. Mai weit über den schwäbischen Ostalbkreis hinaus Bedeutung hat, ist ihm bewusst. »In Zeiten von WhatsApp und Facebook bleiben solche Aktionen nicht auf einen Landkreis begrenzt.« Hunderte Einsätze hat Hönle in seiner Polizistenkarriere mitgemacht, die 1979 in der großen Kreisstadt im Osten BadenWürttembergs, unweit der bayerischen Grenze, begann. Nach dem Amoklauf von Winnenden 2009 befehligte er als Abschnittsleiter die Suche nach dem Täter und die Evakuierung der Schule, auch bei den Protesten gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21, den G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 und bei NeonaziAufmärschen in West- und Ostdeutschland war er dabei. Den Vorwurf, dass seine Beamten afrikanische Männer im Mai brutal behandelt hätten, weist der Einsatzleiter zurück – es sei stets um den Eigenschutz seiner Beamten gegangen, alles sei »lageangepasst und professionell« verlaufen. Auch Türen seien nur dann eingetreten worden, wenn sich die Klinken nicht hätten öffnen lassen. Und selbstverständlich habe man die beteilig-

* Name von der Redaktion geändert.

Verliert ungern zweimal. Polizeidirektor Peter Hönle.

DEUTSCHLAND

Foto: Markus Bickel

Foto: Stefan Puchner / dpa / pa

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Gewisses Verständnis. Pater Reinhard Baumann.

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Nach vorn schauen. Vor einem Wahlbüro in Shamva, Juli 2018.

Keine Tränen für das Krokodil Die junge Generation in Simbabwe will ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Doch die alten Strukturen sind noch mächtig. Von Elisabeth Wellershaus, Harare Das Hauptquartier der ZANU-PF liegt schon hinter uns, da dreht sich Munyaradzi Nkomo noch einmal um. Er zeigt auf das massige Hochhaus im Zentrum von Harare und auf den aufgeplusterten schwarzen Hahn, der unter dem Dach prangt. Die Zimbabwe African National Union – Patriotic Front (ZANU-PF) ist das alte und das neue Machtzentrum des Landes. Die Erleichterung in der Öffentlichkeit war groß, als der 93jährige Robert Mugabe nach 37 Jahren Herrschaft im November vergangenen Jahres endlich abtrat. Viele Simbabwer hatten

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nach den Protesten gegen den Diktator auf echten Wandel gehofft – und auf den Sieg der Oppositionspartei MDC-Alliance. Seit der Wahl im Juli 2018 sieht es aber so aus, dass die ZANU-PF weiter regiert und Emmerson Mnangagwa Staatschef bleibt. Er hatte sich nach Jahrzehnten der Zusammenarbeit gegen Mugabe gestellt und sich mit Hilfe des Militärs an die Parteispitze geputscht. Gerade jüngere Simbabwer wie Munyaradzi Nkomo sehen das kritisch. Der Gockel an der Parteizentrale ist für ihn nur noch ein veraltetes Symbol, ein Relikt des Widerstandskampfes gegen die Weißen, mit dem sich die Generation Mnangagwa lange identifizierte. »Für mich stehen ihre Heldenmythen bloß noch für das Festklammern an alten Machtstrukturen«, sagt

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Ethnische Zugehörigkeit entscheidet darüber, wer die Macht im Land hat. sche Blogs und Zeitungen. Nkomo traut weder Chamisa noch Mnangagwa. Nur verhalten träumt er von einem unabhängigen Simbabwe, einem Land, das eines Tages wieder ohne interne Machtkämpfe oder westliche Hilfe erblüht. Er rümpft die Nase, als 20 junge Polizisten neben ihm in einen Bus steigen. »Keiner von denen wird die Strecke in die Stadt bezahlen«, sagt Nkomo. Denn Staatsangestellte profitieren noch immer von den alten Gefälligkeitsstrukturen. Genau wie ethnische Zugehörigkeiten noch immer bestimmen, wer die Macht im Land hat und wer nicht. Nkomos Mutter gehört zur ethnischen Mehrheit der Shona, sein Vater zur Minderheit der Ndebele. Es ist eines der wenigen Themen, über die er ganz offen spricht: über die Massaker an den Ndebele vor zwanzig Jahren und über die Angst davor, aufgrund von Aussehen, Herkunft oder Haltung wieder in Ungnade zu fallen. Die Jugendlichen, die er auf seiner Reise über die Dörfer besucht, sprechen kaum offen über diese Angst. Einige haben in ihren Hütten Radios und empfangen Nachrichten aus Harare. Ansonsten sind sie trotz ambitionierter Stundenpläne, die in der Hauptstadt entworfen werden, vom Austausch mit der Welt relativ abgeschnitten.

Weg mit dem System An der Hotelbar flüstert Nkomo mir den Namen eines Künstlers und Dissidenten zu, der gegen das alte System ankämpft. Es dauert keine zehn Minuten, bis der Kontakt sich auf eine WhatsApp-Nachricht hin meldet. Emmanuel Nkosilathi Moyos Handy liegt fast immer griffbereit, sagt er per Skype. Er steht in ständigem Kontakt mit anderen jungen Aktivisten. Und ist getrieben von dem Gedanken, sich mit ihnen gegen die alten Männer der ZANU-PF zu wehren. 1987 wurde Moyo in der kleinen Minen-

Mangel an Vertrauen Gemüsehändler und CD-Verkäufer sitzen vor den Auslagen ihrer Waren. Häufig vergeblich. Simbabwe gehört am Ende der Ära Mugabe zu den ärmsten Ländern der Welt. Es gilt als korrupt, wirtschaftlich ruiniert und international isoliert. Die Menschen in den Dörfern warten auf Toiletten, die in ihren Hütten installiert werden sollen. In den Städten stehen sie vor Banken Schlange, in denen kaum noch Geld lagert. Etliche junge Menschen haben Simbabwe längst verlassen. Sie leben in den Nachbarländern oder in Europa. Das Geld aus der Diaspora sorgt dafür, dass ihre Familien wenigstens das Nötigste zum Leben haben. Die ZANU-PF wird sie kaum zurücklocken, selbst der junge Zweig der Partei nicht, die »Generation 40«: Viele Simbabwer im Ausland sind Anhänger der MDC-Alliance. Nur der Bruch mit der alten Politik und die Öffnung des Landes könnten sie zurückholen. Das wäre zumindest die Voraussetzung für die Wiedergesundung des Arbeitsmarktes, der Landwirtschaft und der desaströsen Staatsfinanzen. Viele bleiben skeptisch, auch Munyaradzi Nkomo. Er war noch nicht mal dabei, als im November 2017 Tausende auf den Straßen Mugabes Rücktritt forderten. Er schreibt auch keine politischen Gastbeiträge mehr für kriti-

SIMBABWE

Foto: Jemal Countess / UPI / laif

Foto: Jemal Countess / UPI / laif

Nkomo. Aber auch den jungen Oppositionsführer Nelson Chamisa findet er problematisch: Mnangagwas Widersacher legte beim Kampf um die Führung der MDC-Alliance einen brachialen Alleingang hin. Es war die Politik der alten Unabhängigkeitskämpfer, die Simbabwe in den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ruin getrieben hatte. Repression, Armut und unendliche Gewalt gegen ethnische Minderheiten, Dissidenten und weiße Farmer waren Teil von Mugabes Herrschaft und von Mnangagwa mitgetragen worden. Er war Vizepräsident, Justiz-, Verteidigungs- und Sicherheitsminister des Diktators. Auch nach den Wahlen im Juli gab es Todesopfer bei Oppositionsprotesten in Harare. Und viele bezweifeln, dass ausgerechnet der 75-jährige Mnangagwa, den sie das »Krokodil« nennen, einen Neustart hinlegen kann. Er soll das Land einen, ausländische Investoren davon überzeugen, dass Simbabwe wieder stabil ist und die eigene Jugend davon abhalten, es zu verlassen. »Mit den Jüngeren wird er die größten Probleme bekommen«, sagt Nkomo, als wir am streng bewachten Präsidentenpalast vorbeifahren. »Die alte Machtelite hat kaum noch Verbindung zu meiner Generation.« Munyaradzi Nkomo ist 38 und damit für simbabwische Verhältnisse bereits verhältnismäßig alt, denn 60 Prozent der 16 Millionen Einwohner sind jünger als 25. Doch am politischen Leben nehmen sie kaum teil. Und auch deshalb quält Nkomo sich an diesem Nachmittag durch den Feierabendverkehr in der überfüllten Hauptstadt. Der Mann, der für das internationale Kinderhilfswerk World Vision arbeitet, ist auf dem Weg in die ländlichen Provinzen, um dort Jugendliche zu motivieren, ihre Zukunft in die Hand zu nehmen. Nach dem Wirtschaftsstudium hatte Nkomo mit dem Gedanken gespielt, in die USA zu gehen. Aber das Gefühl, sein Land brauche ihn, siegte. Seit zwei Jahren fährt er deshalb für die NGO regelmäßig in den nordöstlichen Distrikt Makoni, um sich in den Dörfern mit Lehrern, Gemeindevorstehern und Schülern zu treffen. Bei seinen Besuchen will er herausfinden, wie sich das Leben von Kindern und Jugendlichen auf dem Land verbessern ließe. Ein mühsames Geschäft. An den Bäumen neben der Landstraße kleben Anzeigen für Aushilfsjobs: Hecken trimmen, Schädlinge bekämpfen, Reetdach decken.

Aufbruch. Präsidentenwahl in Shamva, Juli 2018.

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solchen Aktionen hagelt es in der Regel Todesdrohungen«, sagt Moyo, aber damit komme er klar. Die jungen Aktivisten, mit denen er arbeitet, versucht er dagegen vor Repressionen zu schützen. »Mein Ziel ist, dass sie es von hier aus in die lokale Politik und vielleicht eines Tages in die Hauptstadt schaffen«, sagt Moyo, während die Skype-Verbindung wackelt. In Berlin hat er sich mit Nachwuchspolitikern getroffen und zugehört, wie sie mit ihrem Oppositionsdasein umgehen. In Deutschland gebe es »eine Kultur der Toleranz«, schwärmt er. Und wünscht sich das gleiche für Simbabwe.

Angst vor den Milizen Doch gerade auf dem Land steckt die Angst vor den berüchtigten Jugendmilizen Mugabes noch immer vielen in den Knochen. Auf der Straße neben einer Schule in Makoni in der Provinz Manicaland im Osten Simbabwes fährt ein grüner Lastwagen vorbei, auf dem die Green Bombers, junge Männer im grünen Armeedress, sitzen. Offiziell sind sie nicht mehr aktiv. Aber es gibt sie noch. Auch Mnangagwa hat Verbündete bei den Jüngeren, seine Nähe zur Armee schafft bei vielen nicht gerade Vertrauen. Die Angst vor Repressionen weicht hier auf dem Land nur ganz langsam einer vorsichtigen Aufbruchsstimmung. Im Klassenzimmer pflegt man weiterhin die Mythen rund um den Freiheitskampf gegen die britischen Besatzer. »Gukurahundi«, das Massaker an den Ndebele, bei dem in den 80er Jahren an die 20.000 Oppositionelle getötet wurden, wird hier ebenso wenig besprochen wie die verkrusteten Strukturen im Land. Auch deshalb kommt Nkomo regelmäßig nach Makoni.

Foto: World Vision

stadt Kwekwe, westlich von Harare, geboren, im selben Jahr, als Mugabe Staatspräsident wurde. »Die Geschichten, die meine Mutter mir früher erzählt hat, hatten immer mit Politik zu tun«, sagt er. Moyo war noch ein Teenager, als Repression und Gewalt eskalierten. Er musste zusehen, wie Freunde und Bekannte von Mitgliedern der ZANU-PF zu brutalen Jugendmilizen erzogen wurden. Etwas später gründete er deshalb eine eigene Jugendorganisation, die einen Gegenentwurf darstellt. Mittlerweile hat Moyos Organisation for Youths in Politics an die 2.500 aktive Mitglieder. Er selbst ist erst kürzlich aus Deutschland nach Simbabwe zurückgekehrt. Sein Buch »Dismantling the System of Mugabeism« (»Die Demontage des Mugabe-Systems«) wurde veröffentlicht, während er ein Stipendium für geflüchtete Künstler in Berlin hatte. Doch nun ist er wieder in Kwekwe, plant ein Protestkonzert gegen Repressionen, schreibt Gedichte und motiviert vor allem Jüngere, sich politisch zu engagieren. »Seit Mugabes Rücktritt hat sich die Lage im Land angeblich verbessert«, sagt der 31-Jährige. »Aber auch diesmal waren in den Wochen um die Wahl im Juli Milizionäre unterwegs, die uns einschüchtern sollten.« Er erzählt von Minenarbeitern, die verprügelt wurden, weil sie die Korruption in der Regierungspartei kritisierten, die sich illegal am Gold der Provinzen bereichert. Und davon, wie weit er selbst geht, um etwas zu verändern. Eine Haftstrafe hat er bereits verbüßt, war mehrmals im Exil in Südafrika. Zum Beispiel, nachdem er Mugabe zum Geburtstag ein Gefängnis-Outfit mit der Aufschrift »Crimes against Humanity« (»Verbrechen gegen die Menschlichkeit«) geschickt hatte. »Nach

Neu anfangen. Munyaradzi Nkomo in Makoni, April 2018.

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»Weil Kinder und Jugendliche hier aufgeklärte Leute brauchen, mit denen sie über Vergangenheit und Zukunft reden können«, sagt er. Denn die meisten jüngeren Intellektuellen sitzen in den großen Städten.

Die Hälfte aller Simbabwer sind bei Facebook aktiv.

Eine Frau als Präsidentin Das Internet ist besonders wichtig für die Kritiker. Über die Hälfte aller Simbabwer sind bei Facebook aktiv, gut jeder Dritte bei WhatsApp, immerhin knapp 20 Prozent bei Twitter. Auch Namatai Kwekweza hat ihre Jugendorganisation We Lead vor allem online auf die Beine gestellt. Sie ist 20 Jahre alt, ihre TwitterSeite ist mit roten Herzchen versehen, bei wichtigen Treffen hat sie in der Regel ihre Mutter im Schlepptau. Zurück in Harare treffen wir sie zum Gespräch. Kwekweza liest, seitdem sie vier Jahre alt ist. Ihr Wissen über Politik, Geschichte und Management hat sie sich in Bibliotheken erarbeitet, Kontakte zu internationalen Organisationen bei Summer Schools und Konferenzen in Norwegen, Dänemark und den USA geknüpft. Rhetorische Erfahrungen hat sie im Jugendparlament gesammelt, eine natürliche Autorität scheint ihr angeboren. Mittlerweile hat sie ein Netz aus mehr als 100 lokal engagierten Studierenden aktiviert, mit denen sie Seminare für junge Menschen entwirft, bei denen es vor allem um eines gehen soll: Good Governance, das gute Regieren. Kwekweza plant, per Fernstudium Jura zu studieren, »hauptberuflich« will sie sich lieber in Sachen politische Teilhabe und Korruption engagieren. Gerade verhandelt sie mit Investoren über ein Gebäude, in das ihre Initiative einziehen soll. »Der Im-

Baut der Jugend Brücken. Nkosilathi Moyo.

SIMBABWE

Foto: privat

Foto: Raisa Galofre

mobilienmarkt ist nach Mugabes Abgang noch im Keller, die Zeit also günstig«, sagt Kwekweza. Ihr Zentrum soll nahe der Universität stehen, in einem industriellen Vorort, wo Kontakte zwischen Studierenden und möglichen Arbeitgebern leichter entstehen können. »Wir wollen eine neue Gesprächskultur etablieren, die es möglich macht, dass in ein paar Jahren eine Frau, vielleicht sogar eine zurückgekehrte Weiße, hier Präsidentin wird«, sagt sie übermütig. Spätestens seitdem Mnangagwa erklärt hat, dass er das Land in die Zukunft führen will, ist ihr Kampfgeist geweckt. Bei den übernächsten Wahlen will sie selbst als Kandidatin ins Rennen gehen. Sie spricht wohl vielen Altersgenossen aus dem Herzen, wenn sie sagt, dass sie das Land nicht der aktuellen Regierung überlassen will und sich ihre Generation ins Parlament wünscht: »Wir Jungen sind am Abend vor Mugabes Rücktritt ohne große Hoffnungen eingeschlafen«, sagt Kwekweza. »Und am nächsten Tag in einem Land voller Möglichkeiten wieder aufgewacht. Die müssen wir nutzen.« 쮿

Aufgeweckt und aufgewacht. Namatai Kwekweza in Harare.

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Vom Himalaya in die Hölle

Vor dem Sturm. Kathmandu, Mai 2018.

Armut und fehlende Alternativen treiben viele Nepalis zum Arbeiten ins Ausland. Dort erwartet sie häufig Ausbeutung oder Prostitution. Von Nicole Graaf (Text) und Emre Caylak (Fotos), Kathmandu Mal putzte er Toiletten, mal belud er LKWs: zwölf Stunden am Tag, bei 40 bis 45 Grad Hitze. Raj Kumar Kunwar schlief in engen Gemeinschaftsunterkünften und wurde alle paar Tage in einem anderen Job eingesetzt. Vier Wochen hielt der 31-jährige Bauer aus Nepal das durch. »Dubai, nie wieder«, sagt der bedächtige Mann mit den raspelkurzen Haaren heute. Nun muss Kunwar nicht nur weiterhin die umgerechnet 4.000 Euro Kredit für sein neues Haus abstottern. Er hat auch noch 400 Euro neue Schulden. Die hatte er aufgenommen, um Reisepass, Arbeitserlaubnis, Versicherung und das Flugticket an den Golf zu bezahlen. Kunwars Familie lebt in einem Dorf, das man von der Hauptstadt Kathmandu aus nach rund drei Stunden Fahrt über Bergstraßen und Buckelpisten erreicht. Die Erde hier ist rostrot und fruchtbar. Auf den eineinhalb Hektar der Kunwars gedeihen Paprika, Tomaten und Mais. Gerade genug, um die zehnköpfige Großfamilie samt Eltern und zwei Brüdern zu ernähren, aber auch nicht für mehr. Deshalb muss Kunwar sich häufig einen zusätzlichen Job suchen. Seine beiden Brüder haben auch bereits in Malaysia und Dubai gearbeitet. Sie sind keine Ausnahme: Jeder Dritte im Dorf muss auswärts Geld verdienen, damit es zu Hause reicht.

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Die Arbeitsmigranten sind extrem wichtig für das Land mit seinen fast 30 Millionen Einwohnern, das durch jahrelange Krisen, einen Bürgerkrieg und ein schweres Erdbeben vor drei Jahren völlig verarmt ist. Ihre Überweisungen machen schätzungsweise ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts aus. Am Flughafen von Kathmandu gibt es sogar ein eigenes Terminal für Gastarbeiter. Dennoch gehört das einstige Königreich zu den ärmsten Ländern der Welt. Weil Jobs rar sind, stellt die Regierung pro Jahr rund eine halbe Million Genehmigungen für Arbeitsmigranten aus. Weit mehr gehen auf inoffiziellen Wegen ins Ausland. Das Problem: Dort erwartet sie häufig Ausbeutung oder Prostitution. Die Agentur hatte Kunwar versprochen, dass er als Helfer in einem Supermarkt arbeiten würde, für umgerechnet rund 470 Euro im Monat – ein fürstlicher Lohn im Vergleich zu Nepal, wo ein Bankangestellter nicht mehr als 120 Euro im Monat verdient. Aber Kunwar bekam nichts, weil alles für Unterkunft, Verpflegung und Rückreisepapiere draufgegangen sei, wie der Agent ihm lapidar mitteilte.

Ausgeliefert ohne Pass Um die Arbeit im Ausland sicherer zu machen, brauchen die Migranten inzwischen zwar eine Genehmigung des Arbeitsministeriums, eine Gesundheitsprüfung und einen »Orientierungskurs«. Auch gibt es nun staatlich festgelegte Gebühren für die Vermittlungsagenturen – aber in der Praxis hält sich kaum jemand daran.

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Nie wieder Dubai. Raj Kumar Kunwar auf seinem Feld in Nepal.

Trotz aller Vorkehrungen treffen viele Gastarbeiter aus dem Himalaya im Ausland auf menschenunwürdige Bedingungen: Wenig Geld, unbezahlte Überstunden, Prügel, keine Krankenversicherung, viel zu kleine Unterkünfte, mickrige Verpflegung, katastrophale Sicherheitsvorkehrungen, sengende Hitze. Katar machte immer wieder Schlagzeilen, weil es auf den Baustellen für die Fußball-Weltmeisterschaft 2022 zu tödlichen Unfällen kam. Beobachter prangern immer wieder die fast »sklavenartigen Bedingungen« an: Erst Mitte August kam ein 23-jähriger Nepalese bei Bauarbeiten an einem Stadion um. In Saudi-Arabien oder den Emiraten sieht es für die Billigarbeitskräfte nicht besser aus. »Einen anderen Job vor Ort zu finden, ist so gut wie unmöglich, denn die Agentur zieht den Pass ein und gibt ihn erst bei der Rückreise heraus«, erklärt Kunwar. Die Diskriminierung hat Methode: In vielen arabischen Staaten gilt das sogenannte Kafala-System. Danach brauchen Arbeitsmigranten einen einheimischen Bürgen, ohne dessen Erlaubnis sie weder den Arbeitsplatz wechseln noch das Land verlassen dürfen.

nen brachten aber noch größere Gefahren: Um das Verbot zu umgehen, schicken Vermittlungsagenturen die Frauen nun über Indien in andere Länder. Nepalis brauchen kein Visum, um in das Nachbarland zu reisen. Doch statt in einem guten Job am Golf enden viele dort in der Prostitution. Savita Kadkar, 31, hager, eingefallene Schultern, war eine von ihnen. Ein halbes Jahr lang wurde sie von einem nepalesischen Agenten in Indien missbraucht, der sie eigentlich als Haushaltshilfe an den Golf vermitteln sollte. Sie ist Analphabetin, kannte niemanden, hatte kein Geld und wusste nicht einmal genau, in welche Stadt man sie gebracht hatte. Kadkar stammt aus sehr armen Verhältnissen aus einem Dorf im Distrikt Gorkha, etwa 150 Kilometer von Kathmandu entfernt. Dort lag das Epizentrum des Erdbebens, bei dem im April und Mai 2015 rund 9.000 Menschen starben und 800.000 Häuser zerstört wurden. Auch das ihrer Familie. Kadkar und ihre alte Mutter wohnen seitdem bei einem Nachbarn in einem winzigen Zimmer zur Miete.

In den Händen der Händler

Familien verzeihen Frauen oft nicht, wenn sie ohne Geld zurückkehren.

Vor allem Frauen enden so häufig in sklavenartigen Verhältnissen. Deshalb legte die Regierung in Kathmandu ein Mindestalter von dreißig Jahren für sie fest. Dann schloss sie Tätigkeiten in Privathaushalten für Frauen aus. Dort hatten sich die meisten Fälle körperlicher und sexueller Gewalt ereignet. Die Restriktio-

NEPAL

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Vergewaltigt und misshandelt. Savita Kadkar in Kathmandu.

Kurz nach ihrer Scheidung war sie 2016 schon einmal als Haushaltshilfe nach Kuwait gegangen. Doch der Hausherr und seine Frau schlugen sie und weigerten sich, ihr den versprochenen Lohn zu bezahlen, sodass sie nach nur zwei Monaten zurückkehrte. Mit ihrem zweiten Ehemann ging sie nach Kathmandu, um Arbeit zu suchen – erfolglos, und auch er trank und misshandelte sie. Da sie keinen anderen Ausweg wusste, entschloss sie sich, erneut ihr Glück in Dubai zu versuchen. Als Kadkar feststellte, dass sie von der Vergewaltigung schwanger war, änderte sich alles. Ihr Arbeitgeber wurde misstrauisch, fragte sie aus und schlug sie, weil sie nicht mehr so hart arbeiten konnte wie zuvor, bevor er sie nach Nepal zurückschickte. »Manche Frauen wurden getötet, als herauskam, dass sie unehelich schwanger sind«, sagt Ganesh Gurung von Pourakhi Nepal. Die Selbsthilfeorganisation kümmert sich um Frauen wie Kadkar, die während ihrer Arbeit im Ausland ausgebeutet wurden, oft ohne eine Rupie zurückgekehrt sind und sich in ihrem Dorf nicht mehr blicken lassen können. Anders als männlichen Arbeitsmigranten verzeihen es die Familien den Frauen oft nicht, wenn sich der Auslandsjob nicht gelohnt hat. Pourakhi Nepal bietet solchen Frauen eine Zeit lang eine Bleibe und versucht, Jobs für sie zu finden. »Ich hoffe, dass ich hierbleiben und arbeiten kann«, sagt Kadkar leise. Die Armut und der Mangel an Bildung vor allem auf dem Land erleichtern nicht nur unseriösen Arbeitsagenten das

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Geschäft, sondern auch Menschenhändlern. Pro Jahr registriert die Polizei rund 16.000 Verschwundene, 80 Prozent davon sind Frauen und Kinder. Die Dunkelziffer dürfte viel höher liegen. Früher lockten die Menschenhändler junge Frauen mit Heiratsversprechen aus ihren Dörfern, heute überreden sie sie mit scheinbar lukrativen Jobs im Ausland.

Flucht vor der Kinderehe Viele Opfer sind noch minderjährig. Ihre Eltern sind meist so damit beschäftigt, den Lebensunterhalt zu verdienen, dass sie sich nicht richtig um ihre Kinder kümmern können. Zudem gelten Mädchen in einigen Gegenden als Bürde, denn sie kosten eine hohe Mitgift, wenn sie heiraten. So wie Jyoti Lama. Schon mit elf Jahren lief sie von zu Hause weg, um einer traditionellen Kinderehe zu entkommen. Heute ist sie 21, trägt Jeans und Pferdeschwanz und sieht aus wie andere junge Frauen aus Kathmandu. Im Bus hatte sie eine Frau kennengelernt, die vorgab, sich um sie kümmern zu wollen. Sie lebe in einem schönen Haus in Kalkutta. Lama könne bei ihr wohnen und sich um ihre Kinder kümmern. In Indien angekommen hörte Lama eines Tages drei Männer mit ihrer Gastgeberin sprechen: »Wir können nicht länger warten«, sagten sie. Die Frau gab ihr fortan täglich eine Tablette. Angeblich, damit sie sich besser an das fremde Klima gewöhne. Nach ein paar Wochen begann sich ihr Körper zu verändern: Lama nahm zu, bekam Brüste, wurde weiblicher. Heute ist ihr

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Lama erzählt sehr distanziert. Doch dann füllen sich ihre Augen mit Tränen. klar, dass die Frau ihr Hormone gab, damit sie älter aussah. Schließlich lieferte sie sie am Stadtrand von Kalkutta in einem heruntergekommenen Hochhaus mit abgedunkelten Fenstern und vielen Zimmern ab, in denen weitere Mädchen wohnten. Nach einer halben Stunde kam der Aufseher und blaffte sie an: »Warum bist du noch nicht umgezogen?« Er hielt ihr einen aufreizenden Bikini hin. Da wurde Lama klar, dass sie in einem Bordell gelandet war. »Lieber könnt ihr mich umbringen, als dass ich so etwas tue«, sagte sie trotzig. »Das werden wir, aber es wird wehtun«, sagte der Mann kalt und zerrte sie mit sich. »Ich zeige dir, was wir mit dir machen werden.« Er brachte sie durch eine versteckte Tür in einen langen dunklen Gang, am Ende war ein Raum ohne Fenster, der von einer schummrigen roten Glühbirne erleuchtet wurde. Lama erzählt all das sehr distanziert. So als sei es nicht ihre eigene Geschichte, sondern der Plot eines Films. Sie weiß, dass sie jederzeit aufhören kann und keine Details preisgeben muss. Doch sie erzählt unbeirrt weiter. Irgendwann sprudeln die Sätze nur noch aus ihr heraus. Dann füllen sich ihre Augen mit Tränen. »Nicht wegen mir selbst, sondern weil mir diese Frau so leid tat«, sagt Lama. In einer Ecke des Raumes, sagt sie, stand eine Frau, nackt, mit einem Strick an einen Ring an der Wand gefesselt. Sie war kaum bei Bewusstsein, ihr Körper übersät mit Brandmalen von einem Bügeleisen, rot und eitrig. »So wirst du auch enden, wenn du nicht spurst«, sagt der Mann. Lama ergab sich ihrem Schicksal. Erst nach sieben Monaten wurde sie bei einer Polizeirazzia befreit und zurück nach Nepal gebracht. Heute arbeitet sie für die Selbsthilfeorganisation Shakti Samuha in Kathmandu als Rezeptionistin – und holt nebenbei die Schule nach. Fast alle Frauen hier haben ähnlich Schlimmes erlebt. Shakti Samahu unterhält ein Frauenhaus, in dem die Überlebenden, wie sie sich selbst bezeichnen, zunächst unterkommen können. Sie erhalten dort psychologische Hilfe, können sich untereinander austauschen und an Handarbeits- und Computerkursen teilnehmen.

und Mädchen landen auch in zwielichtigen Bars von Kathmandu, einer Stadt mit immerhin einer Million Einwohnern. An einem Freitagabend machen sich Ashish Dulal und zwei weitere männliche Mitarbeiter von Shakti Samuha hier bereit für eine Undercover-Aktion. Sie wollen einige Bars in einem berüchtigten Viertel Kathmandus auskundschaften. Sie geben sich als Kunden aus. Bald werden sie fündig. In einem der typischen Etablissements dauert es keine zwei Minuten, da hat jeder von ihnen ein Mädchen neben sich sitzen. Selbst dicke Schminke kann ihr Alter nicht verdecken: »Kaum älter als 13, 14 Jahre«, schätzt Dulal. Er versucht, cool zu tun und fläzt sich breitbeinig in das abgewetzte Sofa. Dann ruft Dulal ein schüchternes Mädchen mit gelbem Kleid und weißen Converse-Sneakers zu sich. Sie ist die einzige, die kein Make-up trägt und kaum einen Ton herausbringt, obwohl sie die Kunden zum Trinken animieren soll. »Sie war ganz sicher neu dort«, erklärt Dulal später. Er fragt nach ihrer Telefonnummer, auch die anderen Männer sammeln die Nummern ihrer Amüsiermädchen ein. »Wir geben unsere Informationen an die Polizei weiter und hoffen«, sagt Dulal, »dass sie bald eine Razzia organisieren.« 쮿

Zurück. Jyoti Lama in ihrem Büro in Kathmandu.

Rettung im Rotlichtviertel Rund ein halbes Dutzend Organisationen in Nepal kümmern sich inzwischen um verschleppte Frauen und Kinder sowie um Arbeitsmigranten, die ausgebeutet wurden. Maiti Nepal, die größte von ihnen, hat Checkposten entlang der Straßen nach Indien eingerichtet. Die Mitarbeiterinnen, viele davon einst selbst verschleppt, inspizieren dort die Busse nach Frauen die allein reisen, keine Papiere haben oder sich auffällig verhalten. Shakti Samuha und Maiti Nepal koordinieren auch häufig gemeinsame Rettungsaktionen in Indien. In Nepal selbst bringen sie die Behörden dazu, Razzien in den Rotlichtvierteln durchzuführen. Denn nicht wenige der verschleppten Frauen

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Hilfe leisten. Mitarbeiter von Shakti Samuha im Rotlichtviertel von Kathmandu.

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Aufstand der Kugelschreiber Daniel Ortega lässt keinen Zweifel daran, was er von seinen Gegnern hält. Iskra Malespín etwa ist für den nicaraguanischen Präsidenten eine Terroristin und Putschistin. Die Studentin ist deshalb im Sommer abgetaucht. Nur einmal hat sie sich bei ihren Eltern blicken lassen, und just in diesem Moment kamen die Häscher des Regimes. »Zwei vermummte Typen sind in unser Haus eingedrungen und haben mich gesucht«, erzählt sie. Die junge Frau konnte rechtzeitig flüchten. Ihre Geschwister haben daraufhin das Land verlassen. Für Malespín kommt das nicht infrage. Soll sie etwa ihre Freundinnen und Freunde alleinlassen? »Und wer sorgt dafür, dass die, die unsere Kommilitonen getötet haben, zur Verantwortung gezogen werden?« Mindestens 300 Menschen sind gestorben und etwa 30.000 ins Ausland geflüchtet, seit Polizisten und paramilitärische Gruppen in Nicaragua gewaltsam gegen Oppositionelle vorgehen. Staatschef Ortega von der Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN) ordnete die ersten Einsätze an, nachdem Studenten und Rentner im April gegen eine Reform demonstriert hatten, die Rentenkürzungen und höhere Beitragssätze für die Altersversorgung vorsah. Polizeibeamte, Mitglieder der sandinistischen Jugendorganisation Juventud Sandinista sowie vom Staat bezahlte Paramilitärs griffen die Demonstranten an, Scharfschützen schossen auf die Protestierenden. Ortega nahm die Reform zwar wieder zurück, doch die Proteste hatten sich längst ausgeweitet. Sie richteten sich grundsätzlich gegen das Regime des seit zwölf Jahren autoritär herrschenden Staatschefs. Studenten besetzten Universitäten; Umweltschützer und Indigene protestierten gegen die Zerstörung der Wälder. Feministinnen, Unternehmer und Bauernorganisationen schlossen sich an. Sie alle forderten Neuwahlen, um den Präsidenten abzusetzen. Innerhalb kurzer Zeit entstanden im ganzen Land Barrikaden, fast drei Viertel der Verkehrsadern waren blockiert. Immer wieder griffen maskierte Paramilitärs und Polizisten die Oppositionellen an. Ende Juli ging die Regierung dann mit einem

Daniel Ortega saß sieben Jahre aus politischen Gründen im Gefängnis. 46

Großaufgebot gegen die Straßensperren vor. Wieder kam es zu blutigen Auseinandersetzungen. Besetzte Universitäten wurden geräumt, zahlreiche Aktivisten verhaftet. Seither nehmen die Sicherheitskräfte gezielt Personen fest, die sie als Rädelsführer betrachten: studentische Aktivisten ebenso wie Mediziner, die schon während der Proteste entlassen wurden, weil sie verletzte Demonstranten behandelt hatten. »Kein Tag vergeht, an dem nicht vermummte Zivilisten in Wohnungen eindringen und vermeintlich Verdächtige verschleppen«, erklärt der Rechtsanwalt Francisco Ortega. Die meisten Festgenommenen tauchten später in einem Gefängnis wieder auf, einige gelten als verschwunden. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen warten etwa 300 Menschen auf ihre Anklage, 85 Personen werden terroristische Aktivitäten vorgeworfen. Viele säßen illegal in Haft, kritisiert der Jurist, der neben den Inhaftierten acht Familien vertritt, deren Söhne getötet wurden. In keinem der Fälle hat er eine Antwort der Behörden erhalten. »Hier kümmert sich niemand um das Recht«, sagt er. Auch eine Arbeitsgruppe des UN-Menschenrechtskommissariats, die eine Wahrheitskommission unterstützen sollte, erhob schwere Vorwürfe. In einem im August veröffentlichten Bericht ist von gezielten Tötungen, Folterungen, sexualisierter Gewalt und dem Verschwindenlassen von Menschen die Rede. Die paramilitärischen Banden müssten sofort aufgelöst und die Kriminalisierung der Oppositionellen, insbesondere unter dem Vorwurf des Terrorismus, beendet werden. »Die Gewalt und die Repression«, resümierte der damalige UN-Menschenrechtskommissar Zeid Ra’ad al Hussein, »sind das Ergebnis einer jahrelangen systematischen Erosion der Menschenrechte und verweisen auf die allgemeine Zerbrechlichkeit der Institutionen und des Rechtsstaats.« Zwei Tage nach der Veröffentlichung des Berichts verwies der Präsident die UN-Arbeitsgruppe des Landes. Nicaragua habe die Delegation nicht eingeladen, um die Menschenrechte zu beobachten, hieß es in einer Erklärung. Kurz darauf bezeichnete Ortega die UN als »Werkzeug der Mächtigen«. Hinter den internationalen Menschenrechtsorganisationen stünden die USA, die das Land zerstören wollten. »Hier wird niemand wegen seiner Ideen oder seiner politischen Aktivitäten verhaftet«, behauptete er. Ortega saß selbst sieben Jahre aus politischen Gründen im Gefängnis. Aber das ist lange her. 1974 erzwang ein FSLN-Kommando seine Freilassung, fünf Jahre später stürzten die Sandinisten den Diktator Anastasio Somoza. Danach führte Ortega jahrelang das Land, zunächst in einer Junta, später als Präsident, bis seine Partei 1990 abgewählt wurde. 2006 siegte er erneut bei den Wahlen, doch Foto: Oswaldo Rivas / Reuters

In Nicaragua setzt die Opposition gegen Daniel Ortega weiter auf eine friedliche Lösung des Konflikts. Von Wolf-Dieter Vogel, Managua

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damals hatten ihm viele seiner ehemaligen Mitstreiter längst den Rücken gekehrt, weil sie den Politiker für korrupt und diktatorisch hielten. So zum Beispiel Carlos Brenes, der einst als Guerillero an der Seite Ortegas kämpfte. Er verließ die Partei nach der Wahlniederlage 1990, weil sich damals hohe Parteikader Hotels, Fincas und zahlreiche andere staatliche Güter sicherten. Im August ließ Ortega den 63-Jährigen verhaften. Der Vorwurf: Terrorismus. Ortega und seine Frau Rosario Murillo haben indes erhebliche Reichtümer angehäuft, die Familie kontrolliert zudem die Institutionen des Landes. Den Ortegas-Murillos gehören viele Fernsehund Radiostationen, ihre Kinder verdienen an internationalen Geschäften, etwa mit Venezuela und China. Während der Staatschef die Medien scheut, ist Murillo dort fast täglich präsent. Mit esoterischem Pathos prangert die Vizepräsidentin und Regierungssprecherin die »blutrünstigen Vampire«, sprich Studenten, an und beschwört Gottes Wille gegen die »Feinde des Volkes«. Nein, mit den alten revolutionären Zielen habe das alles nichts mehr zu tun, betont dagegen Anwalt Francisco Ortega. Einst Guerillero der FSLN bezeichnet er sich weiterhin als Sandinist. »Aber nicht als Orteguist«, stellt er klar. Das trifft auf viele zu, die wie er im Kampf gegen Somoza und in den 1980er-Jah-

ren gegen die von den USA unterstützten Contras ihr Leben riskiert haben. Heute beschuldigt Präsident Ortega die Oppositionellen, einen bewaffneten Aufstand angezettelt zu haben. Die Regimekritiker weisen diesen Vorwurf von sich. »Am Anfang haben wir uns mit unseren Kugelschreibern verteidigt, später mit selbstgebauten Geschossen, die niemanden töten«, sagt die Studentin Malespín. Sie hofft auf eine friedliche Lösung des Konflikts. Dazu müsse der Dialog wieder aufgenommen werden, den das oppositionelle Bündnis Alianza Cívica im Mai mit der Regierung geführt hat und der seither ausgesetzt ist. Der Generalvikar von Managua, Carlos José Avilés, der an der Moderation des Dialogs beteiligt war, gibt dem Regime die Schuld dafür, dass die Gespräche nicht weitergehen: »Die Regierung will nicht über die anstehenden Themen sprechen: über Demokratisierung, Erneuerung der Institutionen und vorgezogene Wahlen.« Da führe kein Weg dran vorbei, ergänzt Anwalt Ortega. Er wurde dreimal verletzt, als er mit der FSLN kämpfte. Heute trägt er deshalb eine Beinprothese. Auch er hofft darauf, dass der Präsident an den Verhandlungstisch zurückkehrt. Es müsse eine friedliche Lösung geben, sagt er und betont: »Wir haben schon zu viele junge Menschen in Kriegen verloren.« 쮿

Den Opfern gedenken. Managua, August 2018..

NICARAGUA

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In Ecuador gibt es mehr als 200 Kliniken, in denen Homosexuelle »geheilt« werden sollen. Sie gleichen Gefängnissen, doch der Staat lässt die Betreiber gewähren. Von Margit Roth, Quito José packte vor dem Schlafengehen seine Reisetasche. Er wollte am nächsten Morgen wieder nach Mexiko, zurück an die Uni, als plötzlich fünf Männer in sein Zimmer stürmten. Sie waren groß, stark und trugen schwarze Masken. Sie überwältigten ihn und zerrten ihn nur mit einer Unterhose bekleidet zu einem Auto. José war damals 19 Jahre alt und seit sieben Monaten mit Oliver zusammen. Der Auftrag für die Entführung kam nicht etwa von einer kriminellen Vereinigung, sondern von seinem Vater, einem angesehenen Mann der ecuadorianischen Gesellschaft. So erzählt es Oliver heute. Seinen ganzen Namen will er nicht veröffentlicht wissen, weil das in Ecuador gefährlich ist: »Hier kannst du Drogen nehmen oder kriminell sein, aber du darfst auf keinen Fall schwul sein.« Schwule, Lesben und Transgeschlechtliche leben in Ecuador in zwei Welten: Es gibt das Gesetz – und es gibt die gesellschaftliche Realität in dem streng katholischen Land. Laut Gesetz ist Ecuador ein liberaler Staat: Seit 1997 ist Homosexualität straffrei. Zuvor drohten für gleichgeschlechtlichen Sex bis zu acht Monate Gefängnis. 1998 verabschiedete das Parlament in Quito ein Antidiskriminierungsgesetz, das Schwule, Lesben und Transgeschlechtliche schützen soll. Seit 2008 können sich schwule und lesbische Paare sogar verpartnern. Tatsächlich kann von einer Gleichstellung jedoch keine Rede sein. Viele Konservative in Ecuador halten davon gar nichts. Selbst Ex-Präsident Rafael Correa betont, dass es sich keineswegs um eine »echte« Ehe handele und Adoptionen unter keinen Umständen erlaubt werden dürften. Er brachte das Antidiskriminierungsgesetz zwar mit auf den Weg, gibt jedoch unterschwellig all denen Recht, die davon überzeugt sind, dass Schwule pädophil sind und Kinder vor Homosexuellen geschützt werden müssen. In Ecuador werden Schwule, Lesben und Transgeschlechtliche aber nicht nur diffamiert, sondern auch gefoltert. Und zwar in den etwa 200 Suchtkliniken, die von den Kirchen betrieben werden, denn in Ecuador fallen unter Suchterkrankungen neben Alkohol- und Drogenabhängigkeit auch Homo- und Transsexualität. Bei Homosexuellen wenden die Kliniken häufig die sogenannte Konversionstherapie an. Diese »Umkehrung« ist für die Betreiber ein lukratives Geschäft. Eltern zahlen zwischen

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800 und 1.200 Dollar im Monat, um ihre Kinder auf den »rechten Weg Gottes« bringen zu lassen. In eine solche Suchtklinik im Valle de los Chillos in der Nähe von Quito wurde José von seinen Entführern gebracht. Das Gebäude in den Bergen ist von einer hohen weißen Mauer mit Stacheldraht umgeben. Niemand kommt hier unerlaubt rein oder raus. Läutet man an der Glocke, öffnet sich ein kleines Guckloch. In der Klinik hängen Kreuze und Heiligenmotive an den Wänden, aber tatsächlich ist sie ein Gefängnis mit vergitterten Fenstern. Eine Heizung gibt es nicht, obwohl es nachts in den Bergen bitterkalt ist. Die ersten Wochen musste José in einem Einzelzimmer verbringen, isoliert von den anderen Patienten. Er wurde nachts immer wieder geweckt und systematisch am Schlafen gehindert. Erst als sein Widerstand gebrochen schien, durfte er in ein Zweibettzimmer umziehen. Die Tage in der Klinik sind klar strukturiert. Um 6 Uhr morgens müssen alle aufstehen und im Gruppenraum eine Stunde beten. Danach bereiten die Patienten das Frühstück zu, später spülen sie das Geschirr. Sie waschen auch ihre Wäsche und schrubben die Böden. Stundenlang. Aus »therapeutischen Gründen«, wie es heißt. Dreimal am Tag finden Gruppensitzungen statt. Im Therapieraum sind Stühle in einem Kreis aufgestellt. Die Sitzung beginnt mit einem Gebet. Dann wird ein Patient ausgewählt, der sich auf einen Stuhl in der Mitte setzen muss. »Widerstehe dem Teufel, bekenne Deine Sünden, Gott ist Dein Retter«, rufen die »Therapeuten«. Sie schreien und flüstern, manchmal schlagen sie auch zu. Renitente Patienten werden bestraft. Im Hof steht ein Becken, randvoll gefüllt mit eiskaltem Wasser. Wer sich widersetzt, kommt nackt in dieses Becken. Erst nach endlosen Minuten werden die Frierenden aus dem Becken geholt und mit Ästen eines speziellen Strauchs ausgepeitscht. Der »Giftefeu« brennt wie Feuer auf der Haut. Die Gewalt, die lesbische Frauen erfahren, geht noch einen Schritt weiter. Sie müssen sich bis ins Clowneske schminken, dürfen nur Röcke und Blusen tragen. Und sie werden von den Aufsehern vergewaltigt. Nur durch heterosexuellen Ge-

Laut Gesetz ist Ecuador ein liberaler Staat. AMNESTY JOURNAL | 10-11/2018

Foto: Paola Paredes

Folter, der Liebe wegen


Wie weiter? Aus der Fotoserie »Until You Change« von Paola Paredes, 2016.

schlechtsverkehr, so die Vorstellung der Konversionstherapie, können sie von ihrer »Perversion« geheilt werden. Die ecuadorianische Fotografin Paola Paredes hat mit vielen Frauen gesprochen, die Monate und Jahre in solchen Kliniken verbrachten. Sie erzählten, dass sie manchmal K.-o.-Tropfen bekamen, um sich an die Details ihrer Vergewaltigungen nicht erinnern zu können. Die Spuren an ihrem Körper ließen aber keinen Zweifel, was geschehen war: eingerissene, blutende Geschlechtsorgane, Blutergüsse am ganzen Körper, Sperma. Andere erzählten, dass sie bei Vergewaltigungen anderer Frauen zuschauen mussten, ohne eingreifen zu können. Die Vergewaltigungen werden nicht von den sogenannten Therapeuten, sondern von Aufsehern durchgeführt. Dabei handelt es sich häufig um Kriminelle, die zum Teil wegen Körperverletzung verurteilt wurden und sich aufgrund des Konzepts »Arbeit statt Strafe« in der Klinik befinden: Durch die »Arbeit« hier können sie eine Gefängnisstrafe umgehen. Nach einigen Wochen gelang es Oliver, herauszufinden, wohin sein Freund José verschleppt worden war. Es dauerte noch Monate, bis er mit Hilfe einer Staatsanwältin Josés Freilassung durchsetzen konnte. Vor Strafverfolgung müssen sich die

ECUADOR

Klinikbetreiber nicht fürchten, denn kein Gericht in Ecuador würde sie für ihre »Suchttherapie« verurteilen. José und Oliver gingen kurze Zeit später nach Australien. Das Trauma lässt sich aber auch in der Ferne nicht einfach abstreifen. José schreit nachts, er erträgt keine geschlossenen Räume und rastet häufig aus. Seine Symptome sind typisch für eine posttraumatische Belastungsstörung. Die Flashbacks, die Angst und das tiefe Misstrauen gegenüber anderen Menschen bedürfen einer Therapie. In Quito gibt es dafür die Psychologen der Organisation Red Psicologia Diversidades LGBTI. Der Verein wurde von schwulen und lesbischen Psychotherapeuten gegründet, um Opfern der Konversionstherapie beizustehen. José konnte diese Hilfe jedoch nicht annehmen. Sein Misstrauen gegenüber Therapeuten ist nach wie vor groß, trotz Albträumen und Panikattacken. Doch den Behörden in Australien gilt das nicht unbedingt als Asylgrund. Denn Ecuador ist, zumindest auf dem Papier, ein liberales Land. Diskriminierung von Homo- und Transgeschlechtlichen gibt es dort offiziell nicht – und damit gibt es für andere Länder auch keinen Grund, Menschen wie José Asyl zu gewähren. 쮿

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Raus aus der Blase Freitanz. Techno-Festival in Tiflis, Mai 2018.

Der Techno-Club Bassiani ist zum Zentrum der georgischen Bewegung für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgeschlechtlichen (LGBT) geworden. Von Irene Eidinger und Thorsten Mense, Tiflis Laute House-Musik wummert aus den Boxen, im Nebel der Tanzfläche knutschen zwei Männer lasziv unter einem riesigen Holzkreuz, ein paar Meter weiter tanzen drei Drag-Queens leicht bekleidet auf einem Podest. Es ist vier Uhr morgens im Tifliser Club Bassiani, dem »Berghain des Ostens«. Die Szenerie unterscheidet sich kaum von der in anderen großen Techno-Clubs europäischer Metropolen. Doch um Einlass auf die »Horoom-Night« zu bekommen, muss man sich vorab mit Namen, Ausweisnummer und Facebook-Profil anmelden. Ein Mitarbeiter sichtet die Profile, bevor Einladungen verschickt werden, und Dutzende Türsteher, die mit ihren Quarzhandschuhen nicht sonderlich queer wirken, passen in der Nacht auf, dass nur die Eingeladenen den Club betreten. Warum, weiß ein Gast Anfang 20 zu berichten: »Da draußen ist Feindesland.« Lange Zeit galt Georgien als eines der homophobsten Länder des Ostens. Noch immer hält die große Mehrheit der Bevölkerung Homosexualität für inakzeptabel. Dass sich das Ressentiment nicht nur in Umfragen äußert, zeigte sich vor fünf Jahren: Am 17. Mai 2013, dem »Internationalen Tag gegen Homophobie und Transphobie« (IDAHOT), kam es in der Innenstadt von Tiflis

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zu einer von orthodoxen Klerikern angeführten Hetzjagd Tausender Menschen gegen eine kleine Demonstration für die Rechte von Schwulen und Lesben. Die Aktivisten und Aktivistinnen wurden angeschrien, bespuckt und verprügelt. Nur mit Mühe konnte sie die Angegriffenen in Sicherheit bringen. Levan Berianidze, Geschäftsführer der Nichtregierungsorganisation Equality Now, die sich für die Rechte von LGBT einsetzt, sieht die orthodoxe Kirche als das größte Hindernis im schwierigen Kampf für mehr Toleranz gegenüber sexuellen Minderheiten. In der Bildung gebe sie den Ton an, Sexualkunde werde in den Schulen nicht gelehrt. »Die Kirche füllt seit Anfang der 1990er Jahre ein Vakuum, das mit dem Ende des Kommunismus entstanden war. Die georgische Gesellschaft versank in Chaos, Menschen hungerten, es gab keinerlei Autoritäten mehr. Die Kirche bot plötzlich Halt und Orientierung«, sagt Berianidze. Die Kirche prägt auch den Blick auf Homosexuelle, denen unterstellt wird, die traditionelle Familie zu zerstören und die christlich-nationalen Werte des »georgischen Volkes« zu zersetzen. Viele Lesben und Schwule berichten, dass sie angefeindet und angegriffen werden, wenn sie ihre sexuelle Orientierung in der Öffentlichkeit zeigen. Das Bassiani steht symbolisch für einen gesellschaftlichen Gegenentwurf und hat sich seit seiner Eröffnung 2014 zu einem wichtigen Treffpunkt nicht nur der queeren Szene, sondern einer jungen Generation entwickelt, die sich von den traditionel-

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Foto: David Klammer / laif

Queere Clubs bieten jungen Menschen Freiheit – zumindest für eine Nacht.

len und christlich-orthodoxen Werten abwendet. Die Bedeutung des Clubs und sein gesellschaftliches Konfliktpotenzial wurden im Mai dieses Jahres deutlich, als Hunderte Polizisten das Bassiani sowie einen weiteren queer-freundlichen Club, das Café Gallery, stürmten. Als Begründung gaben die Behörden an, die Clubs stünden mit Todesfällen in der Drogenszene in Verbindung. Doch am nächsten Tag versammelten sich spontan Tausende vor dem Parlamentsgebäude, um gegen den brutalen Einsatz und für eine liberalere Drogenpolitik zu demonstrieren. Im Verlauf des Tages wandelte sich die Kundgebung in einen ausgelassenen Rave, dem nur ein kleiner Block faschistischer Gruppen gegenüberstand. Der Protest zeigte Wirkung: Innenminister Giorgi Gakharia entschuldigte sich öffentlich für die Razzia, versprach Aufklärung und eine Reform der Drogenpolitik. Der Protest erregte großes internationales Aufsehen, kam aber für junge Georgierinnen und Georgier aus der Szene nicht überraschend. Denn für viele ging es bei dem Protest-Rave um mehr, als nur gegen einen rabiaten Polizeieinsatz zu demonstrieren – und bei der Razzia in den beiden Clubs ging es um mehr als die Suche nach Drogen. Die Protestierenden sehen sich als Teil einer sozialen Bewegung, die auf drei Pfeilern aufbaut: LGBT-Rechte, Feminismus und die Liberalisierung der repressiven Drogenpolitik, die noch immer dazu führt, dass Menschen wegen geringer Mengen Drogen für mehr als zehn Jahre ins Gefängnis müssen. Ihre Basis sind die progressiven Clubs, Initiati-

GEORGIEN

ven wie das White Noise Movement und verschiedene NGOs, zumeist finanziert von internationalen Geldgebern. Giorgi Kikonischwili, schwuler Aktivist und Organisator der queeren Party-Reihe »Horoom Nights«, glaubt, dass der Polizeiüberfall auf das Bassiani und auch die Vorkommnisse im Mai 2013 für die Bewegung von Vorteil waren: »Damit sind wir sichtbar geworden, die Bilder gingen um die ganze Welt. Es wurde eine Debatte über die Rechte von LGBT und eine progressivere Drogenpolitik in Gang gesetzt. Es klingt verrückt, aber im Grunde konnte uns nichts Besseres passieren.« Tatsächlich hat sich seit dem Angriff 2013 auf die LGBT-Demonstration etwas getan in der georgischen Gesellschaft. 2014 wurden, nicht zuletzt auf internationalen Druck, Antidiskriminierungsgesetze erlassen, und auch in Umfragen zeigt sich eine Verbesserung. Die offen bekundete Ablehnung von sexuellen Minderheiten nimmt ab. Ein Grund dafür könnte allerdings sein, dass es vielen als staatsbürgerliche Pflicht gilt, sich gemäßigt zu äußern. »Es verlassen immer noch jede Woche ein bis zwei queere Personen das Land, weil sie mit ihrer sexuellen Orientierung hier nicht leben können«, berichtet Berianidze. Die diesjährige IDAHOT-Demonstration wurde wegen Drohungen rechter Gruppen abgesagt. Für Kikonischwili sind die »Horoom Nights« daher auch ein politisches Projekt, das der Vernetzung und dem Aufbau einer Gemeinschaft dienen soll. Der Eintritt ist frei, und bisweilen wird gar der Darkroom zweckentfremdet, um über Politik zu diskutieren. Als safe space im Kaukasus ziehen die »Horoom Nights« schwule Gäste aus Aserbaidschan, Iran und Russland an. Es gibt aber auch Kritik, unter anderem an der restriktiven Einlasspolitik der »Horoom Nights«, die nur offensichtlich queeren Personen Zutritt gewährt: »So kommen wir aus unserer Blase nicht heraus«, kritisiert der Queeraktivist und Fotograf Lasha Tsertsvadze. Lika Jalagania, Anwältin der linken NGO Human Rights Education and Monitoring Center, hat darüber hinaus große Zweifel bezüglich der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung: »Das Bassiani gaukelt der LGBT-Community ein Stück weit eine heile Welt vor. Gesellschaftspolitisch hat der Club weniger Einfluss als westliche Medien gern glauben wollen. Mit der Lebensrealität der meisten Georgier und Georgierinnen hat das nicht viel zu tun.« Wegen der prekären wirtschaftlichen Lage sind die meisten Georgierinnen finanziell von ihren Ehemännern abhängig, ebenso queere Jugendliche von ihren Eltern; es gibt keine Strukturen, die diese auffangen können, wenn sie sich aus dem Familienumfeld lösen wollen. Die queere Clubszene bietet jedoch in einer von autoritären Verhältnissen geprägten Region jungen Menschen weit über die Grenzen Georgiens hinaus persönliche Freiheit. Wenigstens für eine Nacht. 쮿

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PORTRÄT

Foto: Daniela Klemencic

Schüler der Menschen Colin Gonsalves erstritt in Indien ein Recht auf Nahrung, das inzwischen in der Verfassung festgeschrieben ist. Von Benjamin Breitegger Colin Gonsalves Klienten können sich nicht mal ein Busticket zu seinem Büro leisten. Der indische Menschenrechtsanwalt kommt deshalb zu ihnen in die Dörfer oder in die Slums. Gonsalves vertritt die Armen und Benachteiligten: Menschen mit Behinderung, HIV-Positive, Tagelöhner, Indigene, Gefangene, Opfer von Umweltkatastrophen oder Menschenhandel. Ihnen möchte er zuhören, an ihrem »täglichen Kampf« teilhaben, wie er sagt. Colin Gonsalves, 66, weißes Haar, gewinnendes Lächeln, arbeitet seit fast zwei Jahrzehnten am Supreme Court in Delhi. Er kämpft für die muslimischen Rohingya, die die indische Regierung vertreiben möchte, und vertritt Angehörige von Opfern der indischen Armee. 2001 feierte er seinen größten Erfolg: Er setzte das Recht auf Nahrung durch. Es steht seitdem in der indischen Verfassung. Kostenloses Mittagessen für Schulkinder, subventioniertes Getreide – all das gab es damals zwar theoretisch. Doch die Regierung setzte die Programme nicht um, was Gonsalves mit Statistiken nachwies. Heute erreicht das öffentliche Vertriebssystem für Lebensmittel mehrere Hundert Millionen Menschen. Und Gonsalves arbeitet dafür, dass es so bleibt. »In dem Moment, in dem man die Konzentration verliert, wird die Regierung sich von ihren Aufgaben zurückziehen«, sagt er. Politisiert wurde Colin Gonsalves in den siebziger Jahren. Während er Bauingenieurswesen studierte, streikten die Eisenbahner landesweit für den Achtstundentag und bessere Löhne. Die damalige indische Premierministerin Indira Gandhi ließ Eisenbahner und Oppositionelle festnehmen und verhängte den Ausnahmezustand, der zwei Jahre lang andauern sollte. Indien war in Aufruhr. Colin Gonsalves engagierte sich in der Gewerkschaft. »Ich war nun Teil der Arbeiter, die rechtliche Vertretung brauchten.« Also schrieb er sich erneut an der Universität ein,

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diesmal für Jura, und arbeite schon vor Abschluss seines Studiums als Jurist. »Ich zog einen schwarzen Mantel an, band mir eine schwarze Krawatte um und argumentierte vor Arbeitsgerichten«, erzählt er lachend. »Nur weil ich einen schwarzen Mantel und eine Krawatte trug, hieß das doch nicht, dass ich mich als Anwalt ausgab.« Eine Richterin hätte ihn schließlich augenzwinkernd darauf hingewiesen, er möge doch sein Studium abschließen. Das tat er, beschäftigte sich mit Arbeitsrecht, später mit Strafrecht. 1989 gründete er das Human Rights Law Network, ein Netzwerk aus rund 150 Menschenrechtsanwälten in Indien. Es bringt Klagen im öffentlichen Interesse ein. Das Wissen der Arbeiter werde genutzt, um ihre Rechte durchzusetzen, sagt Gonsalves. Im vergangenen Jahr gewann er für sein Engagement den Right Livelihood Award, auch bekannt als Alternativer Nobelpreis. »Die Auszeichnung kommt zu einer Zeit, in der Indien durch eine dunkle Zeit geht und Menschenrechtsaktivisten unter Druck gesetzt werden«, sagte er, als er den Preis entgegennahm. Seit 2014 ist in Indien Premier Narendra Modi an der Macht. »Die Regierung glaubt an Bürger zweiter Klasse, an die Herrschaft durch Gewalt«, sagt Gonsalves. Doch er lässt sich nicht entmutigen. Klagen gegen Dammprojekte, durch die die Landbevölkerung vertrieben wird, würden er und seine Mitstreiter oft verlieren. Vergewaltigung in der Ehe ist in Indien noch immer kein Straftatbestand. Aber Gonsalves ist überzeugt: »Alle Rückschläge sind nur temporär.« Es gebe diese Vorstellung, dass Juristen den Menschen das Recht beibringen, sagt er. Das sei komplett falsch. »Ich war immer Schüler, die einfachen Menschen waren meine Lehrer.« Er betrachte seine Klienten immer als »Quelle des Wissens und der Weisheit«. 쮿

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DRANBLEIBEN

Deutschland übergibt Gebeine an Namibia Die Bundesregierung hat im August die Schädel und Knochen von 27 Menschen an Vertreter der namibischen Regierung zurückgegeben. Es handelte sich dabei um Gebeine der Volksgruppen Herero und Nama, die während der deutschen Kolonialherrschaft von 1884 bis 1915 geraubt und nach Deutschland gebracht wurden. Dort wurden sie als Forschungsobjekte genutzt, um rassistische Theorien

zu untermauern. Seit Jahren verhandeln die deutsche und die namibische Regierung über die Aufarbeitung der kolonialen Verbrechen. In Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, schlugen die deutschen Kolonialtruppen Aufstände der Herero und Nama brutal nieder. Der Vernichtungskrieg von 1904 bis 1908 gilt als erster Genozid des 20. Jahrhunderts. Die

Bundesregierung bezeichnet die Verbrechen seit 2016 zwar als Völkermord, es gab bisher aber keine offizielle Entschuldigung. Die Übergabe der Gebeine war von der Bundesregierung und der namibischen Botschaft organisiert worden; Vertreter der Herero und Nama waren nicht eingeladen. »Alles nur geklaut«,  Amnesty Journal 04-05/2018

Abtreibungen in Argentinien bleiben illegal

»Zum Gebären gezwungen«,  Amnesty Journal 04-05/2017

Foto: Jorge Saenz / AP / pa

Der Senat in Buenos Aires hat eine Gesetzesvorlage zur Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen bis zur 14. Woche im August knapp abgelehnt. Vor der Neuwahl des Parlaments im kommenden Jahr wird es keine Möglichkeit mehr geben, dieses Thema erneut zu diskutieren. Zehntausende Demonstrantinnen waren im Vorfeld der Abstimmung auf die Straße gegangen, um für die Lockerung des Abtreibungsgesetzes zu demonstrieren. Mit der Entscheidung des Senats werde »die Gewaltspirale weiter aufrechterhalten«, in die Frauen und Mädchen, die ungewollt schwanger sind, gezwungen werden, kritisierte Mariela Belski, Direktorin von Amnesty International in Argentinien. Mehr als 3.000 Frauen sind dort in den vergangenen 30 Jahren infolge von unsicheren und illegalen Abtreibungen gestorben. Schwangerschaftsabbrüche sind in den meisten lateinamerikanischen Staaten weitestgehend oder vollständig verboten. In Argentinien ist Abtreibung bislang nur im Fall von Vergewaltigung oder bei Lebensgefahr für Mutter oder Kind erlaubt. Überstimmte Mehrheit. Frauen für Abtreibung im Juni 2018 in Buenos Aires.

Sisi verschärft Kontrolle des Internets Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi lässt die sozialen Medien noch stärker überwachen. Im September unterzeichnete er ein Gesetz, das die Überwachung von Social-Media-Konten mit mehr als 5.000 Followern durch die staatliche Medienaufsicht vorsieht. Die Behörden können die Konten von Nutzern blockieren, wenn sie Falschmeldungen verbreiten. Diesen Vorwurf nutzen die ägyptischen

PORTRÄT

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DRANBLEIBEN

Behörden jedoch regelmäßig, um Regimekritiker zum Schweigen zu bringen. So wurde die Menschenrechtsverteidigerin Amal Fathy im Mai festgenommen, nachdem sie in einem Video auf ihrer Facebook-Seite sexuelle Belästigung auf Ägyptens Straßen thematisiert hatte. Gegen sie wird unter anderem wegen der »Verbreitung von Falschinformationen« ermittelt. Bereits im August hatte al-Sisi ein Gesetz

gegen »Cyberkriminalität« unterzeichnet, das den Behörden erlaubt, Webseiten zu blockieren, deren Inhalte als Bedrohung für die nationale Sicherheit oder Wirtschaft gewertet werden. Mehr als 500 Seiten sind seitdem nicht mehr aufrufbar, darunter die von Human Rights Watch und Reporter ohne Grenzen. »Repression und Sicherheit«,  Amnesty Journal 04-05/2018

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KULTUR

Georgien

Am Rande der Gesellschaft

Marginalisiert. In »Das Birnenfeld« thematisiert Nana Ekvtimishvili das Schicksal von Waisenkindern.

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Die georgischen Autorinnen Nana Ekvtimishvili und Tamar Tandaschwili richten in ihren literarischen Debüts den Blick auf Menschen mit Behinderung, Waisenkinder, rebellische Mädchen und Homosexuelle. Aus Tiflis Sarah Käsmayr

Foto: Guo Xulei / Xinhua / eyevine / laif

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GEORGIEN

usammengeflickte Wohnhäuser bestimmen die weitläufige Plattenbauwüste der durchnummerierten Mikrodistrikte in Gldani. Hierher, in diesen umgangssprachlich als »Schlafsack« bezeichneten Teil von Tiflis, kommen die Menschen in erster Linie, um sich auszuruhen; gelebt und gearbeitet wird im Zentrum. Es sind die Kinder und Jugendlichen eines Internats für kognitiv und physisch beeinträchtigte Menschen in der Kertsch-Straße, die hier am Rand der Stadt ihren Alltag verbringen. Die Erziehungsanstalt ist heute vorbildlich eingerichtet und gut ausgestattet, mit freundlichen Außenanlagen, Spielplätzen, Klassenzimmern, gemütlichen Schlaf- und Wohnbereichen, Bewegungsräumen und Therapiezimmern, in denen unter anderem Pflanzen gezüchtet und umgetopft werden. An diesen Ort, wenige Hundert Meter von der Metrostation »Gldani« entfernt, führt das Buch »Das Birnenfeld« seine Leserinnen und Leser. Die Autorin Nana Ekvtimishvili ist selbst in der Kertsch-Straße in der Nähe des Internats aufgewachsen. Die »Debilen«, wie sie in der Nachbarschaft verachtend genannt wurden, gehörten zu ihren Spielkameraden. Nana Ekvtimishvili, geboren 1978, besuchte eine Schule mit einem Film- und Fernsehschwerpunkt. So kam es, dass sie bereits als Jugendliche zusammen mit Klassenkameradinnen die Bewohner des Internats für einen Dokumentarfilm interviewte. Die Autorin, heute eine preisgekrönte Filmemacherin (»Die langen hellen Tage«, »Meine glückliche Familie«), stellte damals den Film nicht fertig. Denn die Kinder erzählten nicht nur witzige Geschichten, die Dokumentation hätte auch Tabuthemen berührt. Im Rückblick, erzählt Ekvtimishvili im Garten des Kulturzentrums Writer’s House in Tiflis, sei ihr klar geworden: »Den Film hätte damals wohl niemand gezeigt und vermutlich auch niemand sehen wollen.« Wer hätte den »Debilen« geglaubt, und wer den jugendlichen Filmemacherinnen? Inzwischen lebt die Autorin mit ihrer Familie abwechselnd in Berlin und Tiflis. Bei den Aufenthalten in Georgien reflektiert sie über ihre Vergangenheit. Die Erinnerungen an die oft grausamen Schicksale der Internatskinder ließen ihr keine Ruhe, sagt Ekvtimishvili. Erst mehr als 20 Jahre später sei ihr die Zeit reif für die Geschichte erschienen; sie schrieb den inzwischen mehrfach preisgekrönten Roman »Das Birnenfeld«, der 2015 im georgischen Original erschienen ist. Ein Anlass dafür, die Arbeit an dem Roman aufzunehmen, sei die Begegnung mit einem der ehemaligen Nachbarskinder

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aus dem Internat in Tiflis gewesen. Bettelnd stand die inzwischen erwachsene Frau an einer Ampel im Stadtzentrum. Auf die Frage Ekvtimishvilis, ob sie sie wiedererkenne, habe die Frau genickt, dann aber darauf hingewiesen, dass die Ampel eben auf Grün gesprungen sei, Ekvtimishvili also weiterfahren könne. »Wenn man als Kind mit jemandem gespielt hat und 20 Jahre später sieht, welche Kluft zwischen den jeweiligen Lebensrealitäten liegt, ist das eine schmerzhafte Erkenntnis«, sagt die Autorin. Es schmerzt auch, von den Gewalterfahrungen der Internatsbewohner, zum Großteil Waisen oder von ihren Eltern dort abgegebene Kinder, zu lesen. Umso brutaler wirken diese Szenen, wenn man die Ausweglosigkeit bedenkt, der die Kinder in dieser Einrichtung ausgeliefert waren. Symbolisch hierfür steht das Birnenfeld, das dem Roman seinen Titel gibt und das sich bis heute auf dem Schulgelände befindet. Im Buch mutet seine Beschreibung mystisch an, der Humus dort ist moorartig feucht und dadurch auch gefährlich: Man kann als Kind darin versinken und sich in den verschlungenen Wurzeln verfangen. Die »knorrigen, warzenbedeckten Stämme«, die steinharten Früchte mit wässrigem Geschmack stehen für die Verlassenheit der Bewohner: So wie sich jahrzehntelang niemand um das stehende Wasser auf dem Feld gekümmert hat, so hat sich in der Zeit nach dem Ende der Sowjetunion auch niemand um die Kinder gesorgt. Diese sind Opfer und Täter zugleich, denn neben Piesackereien und Streitigkeiten gibt es auch Vergewaltigungen untereinander. Eine Gruppe von Jugendlichen bietet weibliche Neuankömmlinge dar; weint und schreit das Mädchen, wird ihm der Mund zugehalten. Ein Entrinnen gibt es nicht. Auch der

Andersartigkeit wird in der georgischen Gesellschaft oft diskriminiert.

Foto: Nata Sopromadze / Suhrkamp Verlag

Foto: Ira Kurmaeva / Nino Isakadze / CloudStudio

Geschichtslehrer fängt die jungen Mädchen ab, führt sie in ein Klassenzimmer oder die Umkleidekabine. Die etwas Älteren lassen sich nicht selten von Geschenken und Versprechen verlocken und prostituieren sich in der Plattenbauwüste nebenan. Die Direktorin des Internats weiß davon. Ihrer Meinung nach könne man den jugendlichen Mädchen aber nicht verbieten, rauszugehen. Außerdem wollten sie es doch selbst, oder etwa nicht? »Sie sind keine Kinder mehr, sie sind neugierig …« Schließlich ist es ein ehemaliges Waisenkind, inzwischen erwachsen, das den Kindern im Roman ein wenig Schutz und Hoffnung gibt. »Das Birnenfeld« zeigt eine gnadenlose, konservative georgische Gesellschaft, die keinen Platz abseits der Norm bietet. Von der Erfahrung, dass Andersartigkeit bis zum heutigen Tag mit Diskriminierung begegnet wird, berichtet auch die Autorin Tamar Tandaschwili in einem Gespräch in ihrem Büro in Tiflis. Sie hat 2013 an einer Demonstration zum »Internationalen Tag gegen Homophobie und Transphobie« in Tiflis teilgenommen.

Schmerzvolle Erkenntnisse. Autorin Nana Ekvtimishvili.

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Wütend über Misshandlungen. Autorin Tamar Tandaschwili.

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Foto: David Mdzinarishvili / Reuters

Traditionelle Ordnung. Angriff auf eine LGBTI-Kundgebung in Tiflis, Mai 2013.

Die kleine Kundgebung wurde von mehr als 20.000 Gegendemonstranten attackiert. Der trainierten Langstreckenläuferin Tandaschwili gelang es, den Steinwürfen und Gewalttätigkeiten unversehrt zu entkommen. Nach diesem Ereignis sei der Leiter einer Organisation für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans- und Intergeschlechtliche (LGBTI) auf sie zugekommen und habe sie gebeten, für ein paar Monate als Psychotherapeutin für die Gruppe zu arbeiten. Es fehle an Therapeuten, die in Bezug auf sexuelle Orientierung und Geschlecht unvoreingenommen seien. Die Psychologin war erst kurz zuvor nach fast drei Jahren Studium in den USA nach Georgien zurückgekehrt und eigentlich mit ihrer Dissertation beschäftigt. Dennoch nahm Tandaschwili das Angebot an – und arbeitet bis heute für die Organisation. Viele ihrer Patienten, nicht nur LGBTI-Personen, sondern auch viele Heterosexuelle, sind als Kinder psychisch oder sexuell misshandelt worden. »Dass Misshandlungen strukturell eine so große Rolle spielen, hat mich sehr wütend gemacht. Ich musste etwas finden, um mit diesem Ärger umzugehen. Doch das Etwas fand mich.« Tandaschwili begann zu schreiben, zuerst in Pausen und als Ablenkung während der Arbeit an ihrer Dissertation. Sie habe sich dafür täglich eine halbe Stunde Zeit nehmen wollen, doch drei Tage später immer noch an dem Manuskript gearbeitet. Nun hat es in »Löwenzahnwirbelsturm in Orange« seine Buchform gefunden. Die im Roman beschriebenen und miteinander verwobenen Schicksale basieren auf Erfahrungen der 1973 geborenen Auto-

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rin aus ihrer Arbeit als Psychologin und Therapeutin. Tandaschwili verknüpft Unfälle, Selbstmord und Vergewaltigungen mit Poesie über Liebe, mit Träumen von Gleichberechtigung und alternativen Zukunftsvisionen. Wie kleine Inseln ragen die Szenen aus dem Meer des georgischen Patriarchats. Seit der Veröffentlichung des Buches kommen neue Patienten zu ihr, die sich von der Lektüre angesprochen fühlen. Inzwischen arbeitet Tandaschwili an einem umfassenden Beratungs- und Fortbildungskonzept für verschiedene Altersstufen und Bildungsschichten. Dafür gewinnen konnte sie eine der größten Bildungsorganisationen in der Kaukasusregion, das Center for Training and Consultancy, das unter anderem mit Regierungen, NGOs und Schulen zusammenarbeitet. Vor allem geht es um Prävention: In einem Modul werden etwa junge Mädchen darin geschult, wie sie sich vor psychischer und physischer Gewalt schützen können. Dazu gehören Aufklärung über Mobbing, Fake-Profile in sozialen Netzwerken, die Verbreitung von K.-o.-Tropfen in Clubs sowie Tipps zu Notfallnummern und Reservegeld in der Hosentasche. 쮿 Nana Ekvtimishvili: Das Birnenfeld. Aus dem Georgischen von Ekaterine Teti und Julia Dengg. Suhrkamp, Berlin 2018. 221 Seiten, 16,95 Euro. Tamar Tandaschwili: Löwenzahnwirbelsturm in Orange. Aus dem Georgischen von Natia Mikeladse-Bachsoliani. Residenz Verlag, Salzburg 2018. 136 Seiten, 18 Euro.

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Raus aus dem Gefängnis Georgien ist Gastland der Frankfurter Buchmesse. Aus diesem Anlass wurden zahlreiche Werke erstmals ins Deutsche übersetzt. Sie zeigen eine politisch engagierte Literaturszene. Von Maik Söhler

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ingeklemmt zwischen Russland im Norden und der Türkei im Südwesten liegt Georgien am Rande Europas. Die EU bemüht sich um eine vorsichtige Annäherung, die aber weder die Regionalmacht Türkei noch den Kaukasus-Hegemon Russland vergrätzen soll. Umgekehrt klemmt Georgien Abchasien und Südossetien ein, die als Teile des Landes angesehen werden, aber seit Jahren schon abtrünnig sind und von Russland in ihrem Streben nach staatlicher Unabhängigkeit unterstützt werden. Wer nun denkt, Georgien sei allein aus geopolitischen Gründen von Interesse, der kann sich auf der Frankfurter Buchmesse eines Besseren belehren lassen. Das Gastland wird sich dort vielschichtig präsentieren, wie ein Blick in die zahlreichen Neuerscheinungen aus und über Georgien zeigt. An die hundert Werke sind 2018 auf den Markt gekommen, darunter Koch- und Weinbücher, Atlanten, Reiseführer und historische Darstellungen, aber auch erstmals ins Deutsche übersetzte Literatur – Anthologien, Lyrik, Essays, Kurzgeschichten, Märchen und Kinderbücher sowie zahlreiche Klassiker.

Streben nach Unabhängigkeit Einer dieser Klassiker ist Tschabua Amiredschibis »Data Tutaschchia. Der edle Räuber vom Kaukasus«. In den frühen 1970er Jahren in der Sowjetunion erschienen und auf Anhieb bei russischen und georgischen Leserinnen und Lesern gleichermaßen beliebt, erzählt der Roman auf knapp 700 Seiten von Gerechtigkeit und Freiheit. In einer Mischung aus Robin-HoodGeschichte und traktatähnlicher Reflexion schildert er die Unabhängigkeitsbestrebungen Georgiens im Schatten des zaristischen Russlands. Hinzu kommen philosophische Diskurse um Gemeinsinn und Individualität sowie Befreiungsprosa, die sich gegen das repressive Zarenregime und sein System aus Polizei, Kosaken, Spitzeln und Tausenden Gefängnissen richtet. »Gefängnisrevolten sahen wir als unabdingbaren Teil der allgemeinen Volksbewegung an. Es ging uns darum, die Grundlage der bestehenden Rechtsordnung – die Gefängnisse – einzureißen. Können Sie sich einen Polizeistaat vorstellen, in dem die Empörung der Massen eine solche Macht gewinnt, dass sogar die Gefängnisse unter dem Druck dieser Empörung bersten?«, fragt ein Zeitgenosse des Protagonisten Data Tutaschchia. Es ist kein Zufall, dass Teile des Werkes im Gefängnis spielen, saß sein Schöpfer Amiredschibi doch zwischen 1944 und 1959 in russischer Haft. Erst nach der Entlassung und Rehabilitation in

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Anderer Blickwinkel. Oberhalb von Tiflis.

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Wer wenig Zeit hat, sich mit der georgischen Literatur zu beschäftigen, sollte zumindest Amiredschibi lesen. der Post-Stalin-Ära konnte er sich bis zu seinem Tode im Jahr 2013 dem Schreiben widmen. Wer wenig Zeit hat, sich mit der georgischen Literatur zu beschäftigen, sollte zumindest sein Werk lesen.

Foto: Fabian Weiss / laif

System Gulag und Ende der Sowjetunion

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Ebenfalls im Gefängnis spielt Lewan Berdsenischwilis Buch »Heiliges Dunkel. Die letzten Tage des Gulag«, und auch dieses Werk ist biografisch geprägt. Berdsenischwili verbrachte die Jahre 1984 bis 1987 als politischer Häftling in einem Gefangenenlager, nachdem man ihn wegen »antisowjetischer Agitation und Propaganda« verurteilt hatte. Als sich Georgien aus der untergehenden Sowjetunion befreite, wurde er Direktor der georgischen Nationalbibliothek und später auch Parlamentsabgeordneter. »Heiliges Dunkel« spielt in einem Strafgefangenenlager in der russischen Republik Mordwinien, während die Perestroika, die das Ende der Sowjetunion einleiten wird, schon in der Ferne aufscheint. Berdsenischwili tritt als Ich-Erzähler auf und schildert voller Humor die Gefängnishierarchie, die Briefzensur und seine nicht immer unproblematischen Mithäftlinge. Eine wichtige Rolle im Gefängnisalltag spielen Musik, Fußball, Philosophie, Literatur und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die er als »die Bibel der politischen Häftlinge« bezeichnet. »Heiliges Dunkel« ist ein Buch, in dem derbe Flüche und fein ziselierte Ironie harmonisch zusammenfinden. Auch Aka Morchiladzes »Der Filmvorführer« spielt überwiegend zu der Zeit, als Georgien zur Sowjetunion gehörte. Der Protagonist Beso ist dabei, erwachsen zu werden, und seine Zukunftsaussichten sind alles andere als rosig. Just in dieser Phase wird er von der Roten Armee eingezogen und nach Afghanistan geschickt. Dass er den Krieg überlebt, verdankt er seinem Freund, dem alten Filmvorführer Islam Sultanow, der ihm auch nach seiner Rückkehr in allen Lebensfragen beisteht. Wählte Morchiladze in seinem Roman

»Reise nach Karabach« (Amnesty Journal 06-07/2018) mit Gio eine Hauptfigur aus der Hauptstadt Tiflis, so begibt er sich dieses Mal aufs Land. Beso lebt im Westen Georgiens in einem Dorf, in dem familiäre und ländliche Traditionen, lange Wege und Langeweile das Dasein prägen. »Der Filmvorführer« ist ein ruhiger Roman über Liebe, Freundschaft und Nähe in einer Welt, die sich mit dem Ende der Sowjetunion rasant verändert.

Abtrünnige und Aufbrüche Die Sowjetunion hinter sich gelassen hat Gela Tschkwanawa in »Unerledigte Geschichten«, nicht aber den Einfluss Russlands. Sein Roman handelt von der Region, auf die der georgische Staat seit 1993 keinen Einfluss mehr hat und die sich, von Russland unterstützt, als »Republik Abchasien« eigenstaatlich gibt. Im Amnesty-Report 2017/18 heißt es dazu: »Die russischen Streitkräfte und die De-facto-Behörden der abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien schränkten die Bewegungsfreiheit über die Verwaltungsgrenzlinie hinweg weiterhin ein. Sie nahmen zahlreiche Personen wegen ›illegalen‹ Grenzübertritts vorübergehend fest und verurteilten sie zu Geldstrafen.« Im Zentrum des Romans steht Sochumi, die abchasische Geburtsstadt des Autors, in der 1993 Tausende Georgier von abchasischen Separatisten, russischen und tschetschenischen Kämpfern ermordet wurden. »Unerledigte Geschichten« zeigt, wie schwierig das Gedenken an jenes Massaker bis heute ist. Ganz auf die Gegenwart bezogen ist hingegen die Lyrikerin Bela Chekurishvili. Ihr Gedichtband »Barfuß« kreist um die Annäherung Georgiens an den Westen und die Visafreiheit, die Reisen in die EU vereinfacht. »Wir sind ein Teil von dieser Luft geworden, wir sind die Traumerfüller unserer Ahnen, wir selber sind der offene Raum, wir selber sind die überschrittenen Grenzen. Und freie Pässe sind wir selber auch.« In Chekurishvilis Reimen ist die Sowjetunion nur noch Erinnerung, aktuell hingegen ist der Aufbruch, die Veränderung, die Unsicherheit, das Alte zu verlassen und das Neue noch nicht erreicht zu haben. 쮿 Tschabua Amiredschibi: Data Tutaschchia. Aus dem Georgischen von Kristiane Lichtenfeld. Kröner, Stuttgart 2018. 696 Seiten, 29,90 Euro. Lewan Berdsenischwili: Heiliges Dunkel. Aus dem Georgischen von Christine Hengevoß. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2018. 264 Seiten, 25 Euro. Aka Morchiladze: Der Filmvorführer. Aus dem Georgischen von Iunona Guruli. Weidle, Bonn 2018. 136 Seiten, 19 Euro.  Gela Tschkwanawa: Unerledigte Geschichten. Aus dem Georgischen von Susanne Kihm und Nikolos Lomtadse. Voland & Quist, Dresden 2018. 240 Seiten, 20 Euro. Bela Chekurishvili: Barfuß. Aus dem Georgischen von Norbert Hummelt und Lika Kevlishvili. Wunderhorn, Heidelberg 2018. 90 Seiten, 19,80 Euro.

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Im Blick behalten. Oleg Sentsov-Plakat auf einer oppositionellen Kundgebung in Moskau, Juni 2018.

Maximaler Körpereinsatz Der ukrainische Regisseur Oleg Sentsov befindet sich seit Mai im Hungerstreik. Er fordert die Freilassung von über 60 ukrainischen Gefangenen in Russland und stellt sich damit gegen Putin. Von Barbara Oertel

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ch will kein Grab. Ich will verbrannt werden. Verbrannt und die Asche im Meer verstreut. Wenn möglich im Schwarzen Meer und im Sommer, wenn die Sonne scheint und ein frischer Wind weht«, schrieb Oleg Sentsov in seiner Kurzgeschichte »Testament«, die 2015 erschien. Zu diesem Zeitpunkt saß der ukrainische Filmemacher schon über ein Jahr in russi-

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scher Haft. Heute ist der 42-Jährige dem Tod näher als dem Leben, er hungert seit dem 14. Mai. Mit dieser Aktion will Sentsov die Freilassung von 64 ukrainischen Gefangenen erreichen – wohl wissend, dass er vielleicht nicht überleben wird. In einem offenen Brief an Sentsov schrieb der französisch-amerikanische Journalist Jonathan Littell Anfang August: »Das russische Regime versteht nur eine Sache: Macht und das Verhältnis von Macht. Das beginnt ganz oben, bei Präsident Putin, und zieht sich bis nach unten zu dem Vernehmungsoffizier des Geheimdienstes FSB, der Geständnisse erzwingt. Das haben Sie verstanden. Für mich erklärt das Ihre Geste, die Nahrung zu verweigern: Das ist eine Art, die Machtverhältnisse zu ändern, sie zu Ihren Gunsten zu verschieben und gegen Ihre Verfolger zu wenden.« Oleg Sentsov wurde am 13. Juli 1976 in Simferopol, der

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Foto: Evgeny Feldman / AP / pa

»Sollten wir diejenigen sein, die die Nägel im Sarg eines Tyrannen werden, würde ich gern so ein Nagel werden.« Oleg Sentsov Hauptstadt der ukrainischen Halbinsel Krim, geboren. In seiner Kindheit und Jugend begeisterte er sich für Filme und Computerspiele. Vier Jahre spielte er auf professionellem Niveau und wurde in dieser Zeit sogar ukrainischer Meister. Er studierte Wirtschaftswissenschaften in Kiew, belegte in Moskau Regieund Drehbuch-Kurse und eröffnete nach seiner Rückkehr nach Simferopol erst einmal einen Computerclub. Seine Geschäfte liefen immerhin so gut, dass er 20.000 US-Dollar zusammenbekam, um 2011 seinen ersten Spielfilm »The Gamer« zu produzieren. Das Stück über einen jungen Computerspieler wurde auch international, etwa beim Filmfestival in Rotterdam 2012, ein voller Erfolg. Bereits ein Jahr später begannen die Dreharbeiten für »Nashorn« über das Leben von Kindern in den 1990er Jahren. 43 Prozent des Budgets von rund einer Million US-Dollar steuerte da schon der ukrainische Staat bei. Im November 2013 unterbrach Sentsov die Arbeit an seinem Filmprojekt, um sich auf der Krim der Protestbewegung »Automaidan« – nach dem Vorbild des »Euromaidans« in Kiew – anzuschließen. »Der Maidan ist die wichtigste Sache, die ich in meinem Leben gemacht habe. Aber das bedeutet nicht, dass ich ein Radikaler bin«, sagte Sentsov später vor Gericht. Als ukrainische Truppen auf ihren Militärbasen blockiert wurden, half Sentsov bei deren Versorgung mit Nahrungsmitteln und anderen Hilfsgütern. Er engagierte sich in der Bewegung »Für eine einige Ukraine« und gab wiederholt – auch öffentlich – zu Protokoll, dass er die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland im März 2014 nicht anerkenne. Am 11. Mai 2014 wurde Sentsov vom russischen Geheimdienst FSB festgenommen – und mit ihm der Historiker Alexei Chirnigo, der Fotograf Gennadiy Afanasiev und der Aktivist Aleksandr Kolchenko. Den vier Beschuldigten wird vorgeworfen, mehrere Terroranschläge in Simferopol, Jalta und Sewastopol geplant sowie Brandsätze auf das Büro der Kreml-Partei »Einiges Russland« und das Gebäude der Organisation »Russische Gemeinschaft der Krim« geworfen zu haben. Zudem sollen sie dem nationalistischen paramilitärischen ukrainischen »Rechten Sektor« angehört haben. Die russischen Ermittler behaupten, Sentsov habe die Vorbereitung der Anschläge gestanden. Dessen Anwalt, Dmitry Dinze, bestreitet dies. Sentsov selbst sagt, er sei geschlagen und mit Vergewaltigung bedroht worden, um ihm ein Geständnis abzupressen. Ermittlungen wegen der Foltervorwürfe wurden abgelehnt. Sentsov habe sich selbst Verletzungen zugefügt, er stehe auf Masochismus, lautete die Begründung. Am 21. Juli 2015 begann in Rostow am Don der Prozess gegen Sentsov und seine Mitangeklagten, den Amnesty International als »Prozess wie zu Zeiten Josef Stalins« bezeichnete. Der Hauptbelastungszeuge der Anklage, Gennadiy Afanasiev, zog seine Aussage nach zehn Tagen zurück, da sie unter Folter zustande gekommen sei. Dennoch erging am 25. August das Urteil gegen Oleg Sentsov: Zwanzig Jahre Haft in einem Arbeitslager »mit verschärftem Regime«. Sentsov, der auch am letzten Verhand-

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lungstag ein T-Shirt mit volkstümlichen ukrainischen Motiven trug, quittierte den Schuldspruch mit einem Victory-Zeichen. In einer Szene des Dokumentarfilms »Der Prozess« von Askold Kurov sagt Sentsov im Gerichtssaal, die Stäbe eines Eisenkäfigs mit seinen Händen umklammernd: »Ich weiß nicht, was ein Glaube wert sein soll, wenn man nicht bereit ist, dafür zu leiden oder sogar zu sterben.« Im September 2017 wurde Sentsov in die sibirische Strafkolonie Labytnangi am Polarkreis verlegt – fast 5.000 Kilometer von seiner Heimatstadt Simferopol entfernt. Auch das hat in Russland nach wie vor Methode: Gefangene ihre Strafe möglichst weit entfernt von ihrem Wohnort verbüßen zu lassen, um sie zu isolieren und Kontakte zu Verwandten maximal zu erschweren. Besuche möchte Sentsov ohnehin nicht. Er habe gesehen, dass Häftlinge danach noch in viel größere Depressionen verfallen seien, sagt er. Seine Frau Anna und die beiden halbwüchsigen Kinder würden die beschwerliche Reise wohl auch kaum auf sich nehmen. 2016 erklärte Anna Sentsov Journalisten der Webseite strana.ru, die Scheidung einreichen zu wollen. Als Ehefrau eines politischen Gefangenen könne sie den Unterhalt der Familie nicht sicherstellen. Wenn es Oleg Sentsov an einem nicht mangelt, dann an Unterstützung im In- und Ausland. Neben hochrangigen Politikern wie Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sind es Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch sowie zahlreiche Film- und Kulturschaffende aus verschiedenen Ländern inklusive Russlands, die sich unermüdlich für ihn einsetzen. Aber auch ganz normale Bürger in Kiew und anderen ukrainischen bzw. europäischen Städten gehen immer wieder auf die Straße oder organisieren Mahnwachen für ihn. Peter Franck, Russland-Experte von Amnesty, sieht die beeindruckende internationale Solidarität als Antwort auf die Unnachgiebigkeit in dem Fall. »Der Umgang mit Sentsovs Schicksal zeigt, wie wenig Russlands Führung grundlegende Menschenrechte respektiert«, sagt er. Die Hoffnung im Westen ist, dass Sentsov vielleicht über einen Gefangenenaustausch freikommen könnte. Doch bislang bleibt Russlands Präsident Wladimir Putin hart. Sentsov wird als russischer Staatsbürger behandelt, und da gilt es, wie so oft im Falle von Andersdenkenden, ein Exempel zu statuieren. Derweil läuft ein Kampf gegen die Zeit. Laut seines Anwaltes Dmitry Dinze hat Sentsov seit Beginn seines Hungerstreiks fast 30 Kilogramm Körpergewicht verloren. Er trinke jeden Tag 3,5 Liter Wasser und bekomme regelmäßig Vitaminspritzen. Er habe Herzprobleme, und ein akutes Organversagen sei jederzeit möglich. Dennoch hat es nicht den Anschein, als wolle Sentsov aufgeben. In einem Brief, der 2016 aus dem Gefängnis geschmuggelt wurde, erklärte er: »Sollten wir diejenigen sein, die die Nägel im Sarg eines Tyrannen werden, würde ich gern so ein Nagel werden. Und dieser Nagel wird sich nicht verbiegen lassen.« 쮿

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Mit dem Hijab aufs Motorrad Die pakistanische Illustratorin und Designerin Shehzil Malik fordert die patriarchalische Gesellschaft ihres Landes mit feministischen Grafiken heraus. Von Elisabeth Wellershaus

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Alle Fotos: Shehzil Malik

ls sie vor vier Jahren aus den USA nach Pakistan zurückkehrte, fühlte Shehzil Malik (30) sich wie eine Außenseiterin. Zwei Jahre lang hatte sie Grafikdesign am renommierten RIT in Rochester studiert und hatte Freiheiten, die für viele junge Frauen in westlichen Ländern selbstverständlich sind. Zurück in Lahore wurde bereits der Gang durch den Park zum Problem für Malik.

In der patriarchalischen Gesellschaft ihrer Heimat gehören sexuelle Belästigungen ebenso zum Alltag wie repressive Verhaltensregeln und Dresscodes für Frauen. Unter den wachsamen Augen von Familie und Gesellschaft bewegt die junge Künstlerin sich nur noch äußerst eingeschränkt durchs Leben. Mit feministischen Comics wollte sie die Unterdrückung zunächst ganz persönlich verarbeiten. Doch Maliks Bilder von Motorradfahrerinnen im Hijab oder Punjabi-Frauen im All treffen weltweit einen Nerv. Ihr Hashtag #womeninpublicspaces wurde ein virtueller Hit, ihre Modelinie mit feministischen Grafiken Verkaufsschlager. Denn bereits lange vor der #MeToo-Bewegung suggerieren sie eines: dass Gewalt gegenüber Frauen sich nur im öffentlichen Austausch überwinden lässt. Für das Amnesty Journal kommentiert sie einige ihrer Werke. 쮿

Motorcycle Girl. »Eine Freundin hat vor einer Weile einen Fahrrad-Club für Frauen gegründet – für Lahore revolutionär. Ich hatte sie und ihre Gruppe im Kopf, als die Motorradfahrerin entstand. Wir haben das Poster während eines Fotoshootings unter einer Brücke in einem Stadtteil aufgehängt, in dem solche Bilder die Gendervorstellungen definitiv sprengen. Als ich am nächsten Tag wieder vorbeikam, war das Plakat nicht mehr da. Vielleicht hat es jemand abgerissen, der sich dadurch belästigt fühlte. Vielleicht hat es aber auch jemandem gefallen, der es bei sich zu Hause aufgehängt hat. Für mich wäre beides in Ordnung, so funktioniert Guerilla-Kunst. Ich wünsche mir nur, dass solche Bilder für unsere Töchter irgendwann selbstverständlich sind.«

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Step Out – Be You. »Dieses Bild gehört zu meinen Lieblingsmotiven aus der Zusammenarbeit mit dem pakistanischen Modelabel ›Generation‹. Unsere Kollektion soll vermitteln, dass auch Frauen in Pakistan eine Stimme haben können. Dass sie sich mit feministischen Botschaften auf den Klamotten in die Öffentlichkeit trauen dürfen – auch wenn die Männer blöd gucken. Bislang ist es noch immer fast unmöglich für unverheiratete Frauen wie mich, bei den Eltern auszuziehen, allein durch die Stadt zu fahren oder sich unabhängig von einem Ehemann zu entwickeln. Ich will dazu anregen, das alles zu hinterfragen.«

Grrrrl Power. »Wenn ich mich in Pakistan als Feministin oute, ist das Gespräch in der Regel schnell vorbei. Dabei haben die meisten hier sich nie wirklich mit dem Begriff auseinandergesetzt. Ein Buchtitel wie Chimamanda Ngozi Adichies ›We should all be feminists‹ wirkt auf viele wie eine Kampfansage. Mir war es trotzdem wichtig, ihn auf T-Shirts zu drucken und andere motivierende Botschaften damit zu kombinieren. Schon weil Frauen aus weniger wohlhabenden oder gebildeten Schichten kaum Zugang zu solchen Gedanken haben, ja noch nicht mal zum Internet oder zu den Galerien, in denen meine Bilder zu sehen sind. Kleidungsstücke aber lassen sich überall hintragen.«

Is my shirt not long enough. »Das Burkini-Verbot war in Frankreich gerade in Kraft getreten, als mein erstes feministisches Bild entstand. Auch in Pakistan beschäftigen Frauen sich täglich damit, ob ihr Aussehen den gesellschaftlichen Normen entspricht – ob Oberteile richtig sitzen, Röcke lang genug sind und das Makeup nicht zu grell ist. Ständig geht es um Verbote rund um unsere Körper. ›Is my shirt not long enough‹ war mein Versuch, mir ein Stück Selbstbestimmung zurückzuerobern. Zwar gibt es mittlerweile auch in Pakistan Debatten um Unterdrückung und sexuelle Gewalt. Die meisten hier vertreten allerdings die Meinung, dass Frauen selbst schuld seien, wenn sie Männer ›in Versuchung führten‹. Immerhin, die junge Generation sieht das kritisch und sucht nach neuen Frauenbildern.«

PAKISTAN

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Schluss mit Bling-Bling Der US-amerikanische HipHop durchläuft eine Repolitisierung – und kommt damit sogar im Mainstream an. Von Thomas Winkler

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onald Trump war noch nicht im Amt, er stand noch nicht einmal als Präsidentschaftskandidat der Republikanischen Partei fest, da kam direkt aus dem Ghetto schon eine Breitseite: »FDT« hieß der Song des kalifornischen Rappers YG, der damit »Fuck Donald Trump« abkürzte. Im dazugehörigen Video spuckten Keenan Jackson, wie YG eigentlich heißt, und seine Kumpels ihre wütenden Reime in die Kamera, während über der Szenerie ein Polizeihubschrauber kreiste. Das war im März 2016, und im Rückblick kann »FDT« vielleicht nicht als erstes Anzeichen, aber durchaus als lautester Startschuss für eine Repolitisierung des US-amerikanischen HipHop angesehen werden. Zu diesem Zeitpunkt war Rap zwar längst die kommerziell beherrschende Popmusik in den USA, er hatte während seines jahrzehntelangen Aufstiegs an die Spitze der Charts aber seine Funktion als gesellschaftspolitische Kommentarspalte zusehends aufgegeben. Die Zeiten, in denen Rap als »CNN des schwarzen Mannes« (Chuck D.) galt, schienen endgültig vorbei. Doch dann kam Trump und löste nicht nur in der liberalen Elite, nicht nur in Hollywood und unter Intellektuellen, sondern auch in den Zentren des HipHop, in den von Afroamerikanern und Latinos geprägten Vierteln der US-Metropolen eine Trotzreaktion aus. Der Posterboy dieser Entwicklung heißt Kendrick Lamar. Er war vier Jahre alt, als er 1991 im Fernsehen sah, wie der Afroamerikaner Rodney King von der Polizei misshandelt wurde. Er erlebte die Unruhen nach dem Freispruch der Polizisten direkt vor seiner Haustür in Compton, dem Stadtteil von Los Angeles, der in den 1980er Jahren auch schon die legendären Niggas With Attitude hervorgebracht hatte, die den Gangsta-Rap mit politischem Gewissen erfanden. Deren »Fuck Tha Police« war ein Meilenstein auf dem Weg zu einem neuen afroamerikanischen Selbstbewusstsein. Genau 30 Jahre später berichten HipHop-Künstler in ihren Wortkaskaden erneut, wie die alltägliche Konfrontation mit Polizeigewalt das Leben junger Schwarzer in den USA prägt. Dass Lamar in seinem Leben schon zwei Mal in den Lauf einer Polizeiwaffe starren musste und sich anschließend wie vergewaltigt fühlte, verarbeitete er in vielschichtigen Texten, für die er als erster Rapper den Pulitzer-Preis bekam und vom Kollegen Pharrell Williams als »Bob Dylan unserer Ära« bezeichnet wurde. Der 31-Jährige beschreibt das Leben in den afroamerikanischen Stadtteilen detailliert, einfühlsam und ambivalent, ohne die im

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Gangsta-Rap üblichen machistischen Klischees zu bemühen. Ihm geht es immer um Black Empowerment, so zum Beispiel in seinem Sample »Every Nigger is a Star« aus dem Soundtrack des Oscar-Gewinners »Moonlight«. Trump mag der Auslöser gewesen sein, der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, aber es waren die anhaltende Polizeibrutalität und die dagegen gerichtete »Black Lives Matter«Bewegung, die dafür sorgten, das Rapper sich wieder politischen Themen zuwenden. Altmeister Nas brachte den unzweideutigen Song »Cops Shot the Kid« heraus, und selbst die einstmalige Gute-Laune-Band Black Eyed Peas zeigte in ihrem Video zu »Get It« Polizisten, die Afroamerikaner würgen und auf Kühlerhauben drücken, während ein Trump-Double aus dem Fond seiner Limousine abschätzig auf Protestierende blickt. Mittlerweile aber hat sich der HipHop von Trump emanzipiert und den Blick geweitet: Jay-Z, der vielleicht größte Star des Genres, der im Wahlkampf für Hillary Clinton auftrat und Trump offen kritisierte, hinterfragt den immer noch grassierenden Rassismus in »The Story of O.J.«. J. Cole bestritt eine ganze Tournee in einem orangefarbenen Overall, wie ihn Häftlinge in vielen US-Gefängnissen tragen müssen. Selbst Eminem, sonst vornehmlich in der eigenen Psyche grabend, ließ seinem vielbeachteten, viereinhalb Minuten langen Freestyle-Rap »The Storm«, in dem er mit Trump abrechnete, mit »Revival« ein breiter angelegtes, gesellschaftskritisches Album folgen. Ob der neue Star Childish Gambino mit »This Is America« oder Vic Mensa mit »We Could Be Free«: In keinem dieser neuen Songs wird Trump ausdrücklich erwähnt, aber natürlich liegt dieser wie ein böser Schatten auf den Beobachtungen und Sorgen, die in diesen Stücken zu rasanten Beats formuliert werden. Es war vor allem Kendrick Lamar, der Rap den einen entscheidenden Schritt weiter führte. Zwar hatte der Gangsta-Rap, die weltweit erfolgreichste Variante von HipHop, schon gesellschaftliche Umstände beschrieben, dies aber meist aus der Ichperspektive und als Aufstiegsgeschichte: Im Mittelpunkt stand

»Wir sind es, die den Menschen eine Stimme geben müssen. Auch mein Album handelt nicht von mir, sondern von uns.« Joey Bada$$ AMNESTY JOURNAL | 10-11/2018


HIPHOP IN DEN USA

Bob Dylan des Rap. Kendrick Lamar.

Foto: Universal International Division / Universal Music

der Kleinkriminelle, der es aus dem Ghetto zu Geld und Sex im Überfluss schafft. Lamar wechselte zwar nicht das Sujet, denn er kommt selbst aus dem Ghetto. Aber er nimmt eine Beobachterposition ein, tritt einen Schritt zurück und blickt aufs große Ganze. Die soziale Beschreibung wird zum Sozialkommentar. Längst ist er nicht mehr der einzige: Joey Bada$$ rechnet ab mit dem »Land of the Free«, Logic reimt in »America« eine bestürzende Bestandsaufnahme aus schwarzer Sicht, deren Fazit Trumps Wahlslogan paraphrasiert, um die Ursache für die Spaltung des Landes offen zu legen: »Like make America great again make it hate again.« Noch einen Schritt weiter geht Vic Mensa. Im Video zu seinem Song »We Could Be Free« schlägt er eine Brücke zwischen Charlottesville, Ferguson und Palästina, er predigt aber auch die alles heilende Kraft der Liebe: »Ich glaube daran, dass ich meinen Feind als Bruder sehen kann – dann werden wir wirklich frei sein.« In diesem veränderten Klima in der HipHop-Szene ist nun auch wieder mehr Platz für Frauen wie Rapsody, Janelle Monáe, Princess Nokia oder Ill Camille, die im Gangsta-Rap bestenfalls das Objekt der Begierde geben durften. Joey Bada$$, der mit »All Amerikkan Bada$$« eine gefeierte Bestandsaufnahme der aktuellen Situation in den USA ablieferte, sprach in einem Interview von einem »tiefgreifenden Wandel« des HipHops: »Immer mehr Künstler akzeptieren ihre Verantwortung. Denn wir sind es, die den Menschen eine Stimme geben müssen. Auch mein Album handelt nicht von mir, sondern von uns.« Wirklich überraschend aber ist nicht diese Repolitisierung, sondern dass sie im Mainstream stattfindet. Als in den 1980er und 1990er Jahren Public Enemy »Fight the Power« forderten oder The Roots »What they Do« fragten, fand das jenseits des Undergrounds nur selten große Aufmerksamkeit. Stattdessen schlägt Kendrick Lamar durch die Zusammenarbeit mit U2 geschickt die Brücke zu einem weißen Mainstream-Publikum und räumt bei der Grammy-Verleihung ebenso ab wie Childish Gambino, dessen »This Is America« aus dem Stand an die Spitze der Billboard-Charts schoss. Nur ein einziger der kommerziell erfolgreichsten Rapper der vergangenen Jahre hält sich mit Kritik an Trump und den herrschenden Verhältnissen zurück: Ausgerechnet der künstlerisch wegweisende und sonst so streitbare Kanye West zeigt sich in den sozialen Medien mit einer »Make America Great Again«-Kappe und versichert seinem »Bruder« Donald, der dieselbe »Drachenenergie« wie er besitze, via Twitter seine »Liebe«. Trump war begeistert: »Vielen Dank, Kanye, sehr cool!« Tatsächlich ist es wohl umgekehrt. Der HipHop sollte dankbar sein, dass er seine gesellschaftliche Relevanz zurückgewonnen hat. Also: Thank you, Donald, very cool! 쮿

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Sehen lernen Monumental. Diamond Reynolds in »autoportrait«.

International bekannt wurde der Künstler Luke Willis Thompson mit einem Film über ein Opfer von Polizeigewalt. Nun ist er für den Turner Prize nominiert. Aus London Philipp Hindahl

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iamond Reynolds, eine junge Amerikanerin Anfang dreißig, schwarz, wurde im Sommer 2016 berühmt. Sie war mit ihrer vierjährigen Tochter und ihrem Verlobten, Philando Castile, auf einer Landstraße bei St. Paul, Minnesota, unterwegs, als der Wagen um neun Uhr abends von der Polizei angehalten wurde. Ein Polizist wollte den Führerschein sehen. Castile suchte seine Papiere, der Beamte fühlte sich bedroht. Er schoss auf den jungen Mann. Sieben Mal. »Bleibt bei mir«, bat Diamond Reynolds, nachdem sie ein Facebook-Live-Video gestartet hatte. Es wurde hundertausendfach gesehen, und in seinem Nachleben auf Youtube verbreitete sich das so flüchtige Video noch weiter. Castile verblutete, in Echtzeit gestreamt. Der Polizist wurde angeklagt. In jenem Sommer konnte Polizeigewalt gegen Afroamerikaner nicht länger mehr als Einzelfall abgetan werden, und an diesem Abend machte Reynolds ein Video von ungeheurer Macht.

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Ein Jahr später zeigte die Chisenhale Gallery im Osten Londons einen Film des Künstlers Luke Willis Thompson, der wie ein Gegenstück zu Reynolds Handyvideo funktioniert. In schwarz-weiß ist das Gesicht von Diamond Reynolds zu sehen, nichts weiter. Sie atmet ruhig, würdevoll. Sie blickt nicht in die Kamera, und nach der Hälfte des Films singt sie, so leise, dass nicht auszumachen ist, was sie singt. Während das virale Facebook-Video maximal sichtbar war, ist die künstlerische Arbeit »autoportrait« eine gezielte Verknappung und ziemlich schwer zu finden. Sie existiert nicht online. Der Film verbreitet sich langsam. Allein schon deshalb, weil er auf 35mm gefilmt ist, dem Kinoformat, das verglichen mit einem Handyvideo monumental und behäbig wirkt. Wer ihn sehen will, muss in die Galerie gehen, wer ihn zeigen will, braucht einen Filmprojektor, kurz, wer wissen will, wie der Künstler das Thema bearbeitet, muss sich der Präsenz des Films aussetzen. Wenn 2016 der Sommer von »Black Lives Matter« war, als der Rassismus in der US-Polizei breit thematisiert wurde, war 2017 der Sommer der Identitätspolitik. Ein Verdacht gegen alle Künstler, die auf rassistisch motivierte Gewalt Bezug nahmen, breitete sich aus: Es hieß, sie wollten das Leid anderer zur Ware machen, besonders, wenn sie weiße Künstler waren. Auf Podien und in Kunstmagazinen wurde diskutiert: Wer darf wessen Leid

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Foto: Kate Elliott / Courtesy of the artist

darstellen? Ist das nicht kulturelle Aneignung – oder gar Voyeurismus? In diese Debatte geriet auch Thompson. »Meine Arbeit ist in der Galerie präsent, aber ich hoffe, dass sie zugleich nicht da ist. Weil sie auch einen Platz in der echten Welt hat«, sagt er. In seiner Londoner Wohnung antwortet er ausführlich, geradezu sorgsam auf Fragen zu seiner Arbeit, wiederholt Sätze, um sie noch einmal zu präzisieren. »Ich will mich aus meiner Arbeit zurückziehen. Ein wenig wie ein Gespenst.« Man versteht die Vorsicht des Künstlers ein bisschen besser, wenn man sich an die Diskussionen des letzten Sommers erinnert. »Die Leute arbeiten sich an Identitätsfragen ab, und dabei bleiben sie stecken. Wenn es sein muss, streiche ich das aus meiner Arbeit.« Die Person des Künstlers, findet Thompson, muss gar nicht da sein, um das Werk zu verstehen. Luke Willis Thompson ist 1988 in Auckland, Neuseeland, geboren. Sein Vater stammt von den Fidschi-Inseln, deshalb spielt Migration im Südpazifik bei vielen seiner Arbeiten eine große Rolle. Thompson geht in Neuseeland zur Kunsthochschule. Eine frühe Arbeit von 2012 heißt »inthisholeonthisislandwhereiam«, und sie besteht darin, dass das Galeriepublikum mit einem Taxi abgeholt und in einen Vorort von Auckland gefahren wird. Dort steht ein Haus, das so aussieht, als wären seine Bewohner gerade zur Arbeit und in die Schule gegangen. Der Künstler ist in diesem Haus groß geworden. Eine Art Autobiografie, könnte man vermuten, aber: »Die Arbeit ist gar nicht so persönlich, wie man glauben könnte. Das Setting ist wie durch eine ästhetische Linse betrachtet, es ist eine Mythologisierung meines eigenen Lebens.« Dabei ging er hier doch ins Allerpersönlichste. »Im Haus meiner Familie leben verschiedene Generationen. Ich bin mit meiner alleinerziehenden Mutter aufgewachsen, und wir waren recht arm, hatten aber ein Dach über dem Kopf«, erzählt Thompson. »Man fühlt sich fremd, wenn man von dort in die Kunstwelt kommt. Aber umgekehrt auch. Die Armut ist etwas Fremdes.« Nach dem Abschluss in Auckland absolviert Thompson noch ein Studium an der Städelschule in Frankfurt am Main. Die bringt verlässlich Künstler hervor, die es in große internationale Galerien schaffen. Mittlerweile lebt er zwischen Neuseeland und London, hat eine Einzelausstellung in der Kunsthalle Basel, ist bei der Berlin Biennale dabei. Die Gruppenausstellungen, in denen er vertreten ist, lesen sich wie eine Liste der wichtigsten Häuser Europas. Nur seine Interviews werden weniger, als wollte er sich der Öffentlichkeit genauso entziehen wie seine Filme. »Ich habe keine Angst vorm Scheitern. Nein, das nehme ich zurück, ich habe richtig Angst. Ich glaube, mit dem Erfolg schießt das in den Himmel. Nicht weil ich Angst habe, etwas zu verlieren, sondern weil ich glaube, dass ich mehr Dinge tun kann.« Jetzt ist er für den Turner Prize nominiert, einen der wichtigsten Kunstpreise der Welt – auch wegen seines Filmes über Diamond Reynolds.

LUKE WILLIS THOMPSON

»Ich mache nicht zum ersten Mal ein Werk, das Polizeigewalt anklagt«, sagt Thompson, wie um diese Arbeit zu rechtfertigen, »bloß diesmal war es ein Fall mit großer Medienaufmerksamkeit.« Aber das Sujet lag bei seiner bisherigen Arbeit nicht unbedingt nahe. »Ich dachte über staatliche Gewalt gegen Schwarze nach. Ich war in New York, als Ferguson passierte. Dann kam die Zeit von Black Lives Matter, und ich war erstaunt, wie schnell sich die Nachrichten über die sozialen Medien verbreiteten. Das muss man den mutigen Menschen zugute halten, die diese Smartphone-Videos aufgenommen haben: Sie wurden Teil des kulturellen Bewusstseins.« Was macht ein Künstler damit? »Die Frage war: Wie macht man ein Offline-Video, um das zu unterstützen? Ich habe mich gefragt, was passiert, wenn ein Künstler auf diesen Hilferuf antwortet. Ich habe Diamond Reynolds über ihren Anwalt kontaktiert, dann haben wir über einen Film gesprochen.« Wer ein Foto macht, kann nicht ins Geschehen eingreifen, schrieb Susan Sontag einst. Thompson widerspricht dieser These. »Heute ist es schwer, Bilder zu finden, die nicht intervenieren. Ein Bild ist ein politischer Akt, es macht etwas. Wenn ich dich beobachte, verhältst du dich anders. Es ist schwer, ein Bild aufzunehmen, das nicht die Ereignisse beeinflusst.« Doch es geht aus seiner Sicht auch um die Rezeption. »Eine weitere Frage ist: Was bedeutet es auf einer ethischen Ebene, diese Bilder zu sehen? Sollten wir sie ansehen? Verbreiten wir die Gewalt, wenn wir ihnen Aufmerksamkeit geben, und ändert das etwas in uns?« Im Sommer 2017 wurde ein weiteres Video von den Schüssen auf Reynolds Verlobten öffentlich, und zwar aus dem Polizeiauto heraus gefilmt. Es zeigt die Tat in Gänze, nur zum Verstehen tragen die Bilder nichts bei. Der Journalist Jelani Cobb nannte das eine tragische Vorgeschichte zu Reynolds’ Video. Doch eine Tragödie hat ein Ende, und dann ergibt alles einen Sinn. Diamond Reynolds, Anfang dreißig, schwarz, wurde auf dieser Landstraße berühmt, nur abgeschlossen ist die Geschichte nicht. Der Polizist, der Philando Castile mit vier von seinen sieben Schüssen getötet hat, wurde im Juni 2017 freigesprochen. 쮿

»Ein Bild ist ein politischer Akt, es macht etwas. Wenn ich dich beobachte, verhältst du dich anders.« Luke Willis Thompson 67


Ein wehmütiger Optimist

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er Mann mit der Häftlingsnummer 466/64 ist erbost. Er hat Briefe geschrieben, die den Adressaten nie erreicht haben, umgekehrt sind ihm auch Briefe von Freunden und Verwandten vorenthalten worden. Und nun weist ihn auch noch ein Zensor darauf hin, dass er in einem neuen Brief an seine Ehefrau mehr geschrieben hat als das erlaubte Maximum von 500 Wörtern und gefälligst kürzen soll. Das macht Nelson Mandela dann auch, als Strafgefangener hat er wohl keine andere Wahl. Sein zu kürzender Brief an Winnie Mandela ist vom 31. August 1970, er ist schon seit fast acht Jahren in Haft, davon bereits sechs im Hochsicherheitsgefängnis Robben Island. Weitere zwölf Jahre in Robben Island werden folgen und danach acht weitere Jahre in anderen südafrikanischen Strafanstalten. Am Tag seiner Entlassung, dem 11. Februar 1990, kann er auf 10.052 Tage im Gefängnis zurückblicken. Sein Schreiben an Winnie Mandela gehört zum Fundus von mehr als 250 ausgewählten Briefen, die die Nelson Mandela Foundation jetzt international zugänglich gemacht hat. Die deutsche Ausgabe trägt den Titel »Briefe aus dem Gefängnis«. In einer Einführung und Anmerkung zum Werk erklärt die Herausgeberin Sahm Venter, Senior Researcher bei der Nelson Mandela Foundation, wie das Gefängnis- und Zensursystem im Apartheidregime Südafrikas funktionierte. Die Anzahl an Briefen war streng reglementiert, ebenso der Inhalt. In einem weiteren Vorwort betont Zamaswazi Dlamini-Mandela, eine Enkeltochter des ersten schwarzen Präsidenten Südafrikas, den »wehmütigen Optimismus« ihres Großvaters, wenn es um Familienangelegenheiten ging. Und darum ging es häufig. Seiner Frau, seinen Kindern, aber auch anderen Verwandten schrieb Mandela regelmäßig. Mal steht der schulische Werdegang im Vordergrund, mal die Inhaftierung Winnies, weswegen Briefe an andere Verwandte und Freunde folgen, ob sie sich um die Kinder kümmern können. 1968 stirbt Mandelas Mutter, ein Jahr später sein Sohn Thembi. Man merkt den Briefen jener Zeit an, dass es ihn fast zerreißt, nicht an den Bestattungen teilnehmen zu können. Und doch geht es weiter: Briefe der Anteilnahme von politischen Weggefährten und Freunden werden in einer zutiefst humanen Sprache beantwortet, stets mit einem präzisen Blick auf den Adressaten und seine spezifische Situation. Mandelas Ton ist freundlich – egal, ob er Bekannten schreibt, den Justizminister des Apartheidstaates mit Menschenrechten und Gleichberechtigung konfrontiert oder sich an die Verwaltung der University of London wendet, wo er aus der Haft heraus Jura im Fernstudium belegt. Trotz widrigster Umstände – Zwangsarbeit, eine teils miserable Versorgung mit Essen und Medikamenten, Informationszensur – bleibt diese Freundlichkeit Mandela über all die Jahre erhalten. »Zum Schluss möchte

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ich Sie bitten, dieses Schreiben als festen, warmen und herzlichen Händedruck meinerseits anzunehmen«, heißt es zum Beispiel in einem seiner ersten Briefe aus der Haft vom 6. November 1962 an den Generalsekretär von Amnesty International. Erst gegen Ende des Buches verändert sich Mandelas Ton. Aus dem »wehmütigen Optimismus«, den seine Enkelin im Vorwort beschrieb, schwindet die Wehmut, doch der Optimismus bleibt. Denn im Alter von 71 Jahren kann er seine letzte Haftanstalt, das Victor-Verster-Gefängnis, endlich als freier Mann verlassen. Nelson Mandela: Briefe aus dem Gefängnis. Aus dem  Englischen von Anna Leube und Wolf Heinrich Leube.  C.H. Beck, München 2018. 752 Seiten, 28 Euro.

Foto: Mike Hutchings / Reuters

Nelson Mandela war 10.052 Tage in Haft und schrieb Hunderte Briefe – an seine Frau, seine Kinder, den Justizminister, politische Mitstreiter und Amnesty International. Ein Buch macht sie nun zugänglich. Von Maik Söhler

Besuch der einstigen Zelle. Nelson Mandela in Robben Island, 2003.

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Wenn Recht an Politik scheitert

Neue Einblicke in die Colonia Dignidad

Carla Del Ponte rechnet ab. »Im Namen der Opfer« heißt ihr neues Buch, und es behandelt die Jahre 2011 bis 2017, als die Juristin Mitglied einer Kommission des UN-Menschenrechtsrats war, die Menschenrechtsverletzungen im Syrien-Krieg untersuchte. Ziel der Kommission war es, Verantwortliche festzustellen und sie haftbar zu machen. Dafür schien die nun 71-jährige Schweizerin gut geeignet. War sie doch von 1999 bis 2007 Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs für die Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien sowie für den Völkermord in Ruanda – ein Posten, der ihr in der Weltpolitik viele mächtige Gegner einbrachte. Folgt man ihrem neuen Sachbuch, sind auch diesmal wieder politische Feinde am Werk, die die Arbeit des UN-Menschenrechtsrats unterlaufen, sabotieren, erschweren oder sich ihr anderweitig entgegenstellen. Schließlich sei der Konflikt in Syrien nicht nur ein Bürgerkrieg, sondern ein Aufeinandertreffen regionaler Hegemonialmächte und »ein Stellvertreterkrieg« zwischen Russland und dem Westen, wie Del Ponte ausführt. Sie trifft Diplomaten, besucht Flüchtlingslager, sammelt belastende Dokumente gegen so gut wie alle kriegsbeteiligten Parteien und merkt schnell: »Wir waren schon ein zahnloser Papiertiger.« 2017 stieg sie deshalb aus der Kommission aus. Ihr Fazit: »Justiz ist nicht möglich, wenn der politische Wille fehlt.« Ihr Buch »Im Namen der Opfer« ist interessant, stellenweise aber ein wenig eitel.

Viele Aspekte der Geschichte der deutschen Siedlung Colonia Dignidad in Chile und ihre Verstrickung in die Ermordung und Folter Oppositioneller während der Diktatur Augusto Pinochets in den 1970er Jahren sind erforscht. Auch ist einiges bekannt über die Repression im Inneren der Sekte um den deutschen Evangelikalen Paul Schäfer: Vergewaltigungen und andere Formen sexueller Gewalt, Folter sowie der Einsatz von Elektroschocks und Psychopharmaka, Züchtigung und Zwangsarbeit standen auf der Tagesordnung. Und doch bleiben Lücken in der Aufklärung über die Colonia. Einige dieser Lücken schließen sich nun, weil jene, die dabei waren, als Opfer, als Mitwisserinnen und manchmal auch in beiden Rollen, in »Lasst uns reden« ihre Geschichten erzählen. Es sind ausschließlich Frauen, die in dem von Heike Rittel und Jürgen Karwelat herausgegebenen Sammelband zu Wort kommen. 16 Protokolle zeugen von einem Leben in einer totalitären Welt, in der die Einzelnen physisch und psychisch malträtiert, manipuliert, oft isoliert und oft auch von Informationen und Bildung ferngehalten wurden. Eine profunde Einleitung, eine Zeitleiste, Begriffserklärungen und ein Personenregister geben den Protokollen Struktur und helfen bei der Einordnung des Erzählten. Ein wichtiges Buch für all jene, die sich mit dem vorhandenen Wissen über die Colonia Dignidad nicht zufrieden geben wollen.

Carla Del Ponte: Im Namen der Opfer. Giger, Altendorf 2018. 200 Seiten, 22,90 Euro.

Heike Rittel/Jürgen Karwelat: Lasst uns reden. Frauenprotokolle aus der Colonia Dignidad. Schmetterling  Verlag, Stuttgart 2018. 272 Seiten, 29,80 Euro.

Peitschenhiebe mit Folgen

Aufklärung statt Gewalt

Die Geschichte Israels in einer Nussschale: Der in Tel Aviv lebende Schriftsteller Assaf Gavron hat mit »Achtzehn Hiebe« einen weit in die Vergangenheit reichenden Krimi verfasst, der dabei auch noch die Gegenwart in den Griff bekommt. Achtzehn Peitschenhiebe wurden zwei Soldaten des britischen Empire von zionistischen Widerstandskämpfern in den späten 1940er Jahren verabreicht, als Rache für die öffentliche Auspeitschung eines Juden durch die damalige Mandatsmacht in Palästina. Über 70 Jahre später wird der Taxifahrer Eitan Einach zufällig zum Detektiv in einer Mordserie in Tel Aviv, in der jene Peitschenhiebe von Bedeutung sind. Gavron unternimmt in seinem Buch eine doppelte Rundreise – durch das Israel von heute und durch seine Vergangenheit. »Krieg, Leben oder Tod, Intrigen«, so beschreibt ein Protagonist das Jahr 1946, dem nur zwei Jahre später die Staatsgründung folgte und mit ihr wiederum »Krieg, Leben oder Tod, Intrigen«. »Achtzehn Hiebe« spart nicht mit Kritik – an der britischen Mandatsmacht, an fanatischen jüdischen Nationalisten und am Nationalsozialismus, der mit seiner Vernichtungsmaschinerie Überlebende und Geflohene erst zu Fanatikern machte. Auch die aktuelle Situation in Israel wird nicht geschönt. Diese Kritik erfolgt beiläufig, elegant und humorvoll. Und, noch schöner, das Buch der Hiebe feiert die Liebe.

Beinahe täglich ist in den Medien von Extremisten oder extremistisch motivierten Taten die Rede; von Neonazis, Autonomen, Islamisten – von politischem ebenso wie von religiösem Extremismus. Was darunter zu verstehen ist, wie und warum Extremismus entsteht und was man selbst dagegen tun kann, das versucht Anja Reumschüssel zu erklären. Das schmale Sachbuch der Journalistin richtet sich an Jugendliche, ist aber auch Erwachsenen zu empfehlen. Denn dank klarer Sprache, klug gewählter und sorgfältig recherchierter Beispiele, die auch historische Hintergründe einbeziehen, bringt ihr Text ausgesprochen komplexe Zusammenhänge auf den Punkt. Der Autorin geht es um eine ebenso verständliche wie differenzierte Auseinandersetzung, die auf Bildung und Aufklärung setzt: »Extremistische Einstellungen sind das Fieberthermometer der Gesellschaft. Sie zeigen, wo die Gesellschaft krankt, wo es Probleme gibt – ohne dass man damit die Gewaltbereitschaft und den Willen, den Verfassungsstaat zu zerstören, gutheißt.« Es geht vielmehr um das Verstehen und damit um die Möglichkeit, selbst aktiv zu werden, einzugreifen, zu helfen. Wer etwa weiß, wie und wo extremistische Gruppen Jugendliche für ihre Ideen zu gewinnen versuchen, kann solche Bemühungen frühzeitig erkennen und lässt sich im besten Fall erst gar nicht darauf ein – weder in sozialen Netzwerken noch im realen Leben.

Assaf Gavron: Achtzehn Hiebe. Aus dem Hebräischen von Barbara Linner. Luchterhand, München 2018. 416 Seiten, 22 Euro.

Anja Reumschüssel: Extremismus. Reihe »Klartext«. Carlsen, Hamburg 2018. 176 Seiten, 6,99 Euro.  Ab 13 Jahren.

Bücher: Maik Söhler, Marlene Zöhrer BÜCHER

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Die gefangene Frau

Tanzbarer Protest

»Du bist nichts wert«: Marish wird übler ausgeschimpft als ein Kind, das etwas verkehrt gemacht hat. Was Abhängigkeiten anbelangt, ist die Situation der 53-Jährigen sogar noch schlimmer als die einer Minderjährigen. Marish ist Hausangestellte bei einer wohlhabenden Familie in Ungarn. Sie putzt, kocht und wäscht den ganzen Tag. Bezahlung? Nein. Nur etwas zu essen, ein Platz auf der Couch und einige Zigaretten. Regisseurin Bernadett Tuza-Ritter hat für diesen Dokumentarfilm ihre Protagonistin über ein Jahr mit der Kamera begleitet. Sie will ein Licht werfen auf die Millionen Menschen, die weltweit in moderner Sklaverei leben. Es ist ein Blick in die Finsternis: Fast durchgängig spielt ihr Interviewfilm in abgedunkelten Räumen. Selbst wenn es draußen heller Tag ist, bewegt sich Marish in der Dämmerung. Aber im Dialog mit der Regisseurin durchbricht sie den Kreislauf des totalen Ausgeliefertseins. Allmählich plant sie ihre Flucht. Marish steht stellvertretend für jene Menschen, die nicht frei über ihr Leben entscheiden können. Man findet sie in Schlachthöfen, in der Pflegebranche, auf dem Bau oder als Reinigungspersonal. Auch Gastronomie, Landwirtschaft oder Prostitution profitieren von diesen Knebelverträgen. »A Woman Captured« bietet einen nervenzehrenden Blick auf die Opfer dieser Schattenwirtschaft. Diese Strukturen durchleuchtet zu haben, ist Regisseurin wie Protagonistin gleichermaßen zu danken.

Bis 1947 konnte man noch direkt von Jerusalem nach Bagdad reisen oder mit der Bahn von Haifa nach Beirut. Die heute oft unüberwindbaren Grenzen sind ein Erbe der Kolonialzeit und des UN-Teilungsplans von 1947. Nach grenzenloser Reisefreiheit wie einst sehnen sich 47Soul, daher ihr Bandname. Die vier palästinensischen Musiker stammen aus Israel, Jordanien und den USA und haben sich über soziale Netzwerke kennengelernt. Gemeinsam haben 47Soul ein neues Genre geschaffen: Shamstep. Der Name setzt sich aus Dubstep, einer elektronischen Promenadenmischung, und Sham, der arabischen Bezeichnung für den Nahen Osten zusammen. Es ist ein unwiderstehlicher Mix aus Dabke, dem traditionellen Volkstanz-Rhythmus der Levante, arabischen Keyboard-Melodien und bollernden Club-Beats, die sofort in die Beine fahren. Dazu singen sie in Tracks wie »Moved around« oder dem wütenden »Mo Light« von Bewegungsfreiheit, Frieden und Gleichberechtigung. Es ist Protestmusik zum Tanzen. Live ist die Band ein Erlebnis. Auch der Name ihres Albums, »Balfron Promise«, ist ein Wortspiel. Er bezieht sich auf den Balfron Tower, einen markanten Hochhaus-Komplex in East London, in dem das Album entstand. Die dortigen Künstlerateliers wurden inzwischen in Eigentumswohnungen umgewandelt, die Kulturszene verdrängt. Er spielt aber auch auf die »Balfour-Erklärung« an, mit der Großbritannien 1917 den Weg für die spätere Vertreibung vieler Palästinenser bereitete. So spiegelt sich für 47Soul das Große im Kleinen.

»A Woman Captured«. Regie: Bernadett Tuza-Ritter.  Kinostart: 11. Oktober 2018

47Soul: Balfron Promise (Cooking Vinyl)

Geliebte Drohne Sehr gelungen verbindet der kanadische Regisseur Kim Nguyen die Themen Digitalisierung, Sicherheitswirtschaft, Menschenrechte und Liebe in seinem Spielfilm »Eye on Juliet«. Gordon, Angestellter einer amerikanischen Sicherheitsfirma, steuert eine veraltete Kampfdrohne, mit der er eine Pipeline in Nordafrika vor Treibstoffdiebstahl schützen soll. Gordons Leben dreht sich um Robotik-Messen, Soziales liegt ihm nicht so. Die Frauen, die er allesamt über die App Tinder kennenlernt, bleiben ihm fremd. Er ihnen auch. Bis er auf Ayusha trifft, die Tausende Kilometer entfernt lebt. Die junge Frau plant gemeinsam mit ihrem Freund die Flucht vor einer erzwungenen Hochzeit. Das Schicksal der beiden rührt Gordon, er beschließt zu helfen – seine Drohne spricht schließlich Arabisch. Es dauert nicht lange, und er rückt selbst in die Rolle des Verliebten und entkommt so seiner Einsamkeit. »Eye on Juliet« ist ein ungemein schöner und gelungener Film. Mit der Leichtigkeit eines Spaziergangs verknüpft der dichte Plot verschiedene Diskurse. Wie kontrollieren moderne Waffensysteme ganze Länder, wer macht welche Profite im Sicherheitsbusiness, wie funktionieren Migration und Liebe in Zeiten digitaler Infrastruktur? Dabei gelingen wunderbare Szenen, etwa wenn Gordons Drohne einen alten blinden Lehrer aus der Wüste führt – mit einem Generationendialog, wie es ihn in Gordons alltäglichem Leben nicht mehr gibt. Ganz großes Kino! »Eye on Juliet«. CAN 2017. Regie: Kim Nguyen,  Darsteller: Joe Cole, Lina El Arabi. DVD, ca. 14 Euro

Hypnotischer Wüstenrock Der Gitarrist Bombino, bürgerlich Omara Moctar, stammt aus dem Wüstenstaat Niger. Mit seiner Familie floh er in den 1990er Jahren vor der Tuareg-Rebellion ins Nachbarland Algerien, wo er seine erste Gitarre geschenkt bekam. Sein Spitzname leitet sich vom italienischen Wort »Bambino« für Kind ab. So wurde er gerufen, weil er einst das jüngste Mitglied seiner Band war. Heute nennt ihn die New York Times »einen der größten lebenden Blues-Gitarristen der Welt«. Aufgewachsen mit Jimi Hendrix und Ali Farka Touré, hat er seine eigene Handschrift entwickelt. Kraftvoll und rau, mit hypnotischen Grooves und virtuosem Gitarrenspiel, verleiht er seinem Wüstenrock eine Note zwischen Bluesrock, Grunge und »Tuareggae«. Mit »Deran« ist Bombino aus dem Schatten seiner prominenten Produzenten getreten, die ihm zu Weltruhm verholfen haben. Im Aufnahmeraum in Casablanca hat er Musiker aus Mauretanien und den USA um sich geschart. Die Songs tragen schlichte Titel wie »Die Bäume« (»Tehigren«), »Meine Freunde« (»Midiwan«) und »Auf dem Gipfel des Berges« (»Adouagh Chegren«), und so einprägsam klingen sie auch. Mal klingt darin der Rhythmus eines trabenden Kamels an, mal das Knistern des Lagerfeuers, ein anderes Mal das Echo eines Wüstensturms. Die Songs verströmen ein Gefühl von Weite, aber auch von Dringlichkeit. Denn die Sahara ist kein Ort mehr für reine Wüstenromantik. Bombino: Deran (Partisan Records)

Film: Jürgen Kiontke | Musik: Daniel Bax 70

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Foto: Erik Mosoni / Alamode Film

Nukleare Provinz

Protestbewegung. Szene aus dem Film »Wackersdorf«.

Der Spielfilm »Wackersdorf« erzählt von einem vergessenen Konflikt. Von Jürgen Kiontke

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s regnet ständig, Rennräder haben Gepäckträger, beim Essen wird geraucht: Mit viel Liebe zum Detail und zu Hirschhornknopfjacken lässt Regisseur Oliver Haffner in seinem Spielfilm »Wackersdorf« die 1980er Jahre aufleben. Eine Szenerie in der tiefsten Provinz, die über Jahre das Klima in Deutschland mitbestimmen wird: Die bayerische Landesregierung plant, in der strukturschwachen Oberpfalz eine Wiederaufarbeitungsanlage für nukleare Brennstoffe zu bauen. Ein riesiger Komplex, Ministerpräsident Franz-Josef Strauß und seine Kabinettskollegen sprechen von 30.000 Arbeitsplätzen. Das gefällt zunächst auch dem SPD-Landrat Hans Schuierer (Johannes Zeiler). Dem wäre es natürlich höchst willkommen, zeichnete er für den wirtschaftlichen Aufschwung der maroden Region mitverantwortlich, auch wenn er vom politischen Gegner kommt. Aber bald regt sich Widerstand gegen das ambitionierte Projekt – allen voran beim Physiklehrer des Gymnasiums, Karl Gegenfurtner (Andreas Bittl). Schließlich hat der vor Ort die meiste Ahnung von der Materie. Die Anlage wird 1995 fertig sein? Na klar, da läuft der Atomwaffensperrvertrag aus. Deutschland strebt nach eigenen Atomwaffen, so seine Analyse. Außerdem gefährdet die zu erwartende Radioaktivität Mensch und Tier. Landrat Schuierer gerät bald zwischen die Fronten: Weil er irgendwann selbst zu viele kritische Fragen stellt, kündigen ihm die Parteifreunde die Gefolgschaft. In der Familie dagegen muss er sich den Vorwurf gefallen lassen, gefährliche Technologien über die Leute zu bringen.

FILM & MUSIK

Als die Regierung mit Gewalt gegen die Proteste der Bürgerinitiative um die Alternative Monika Gegenfurtner (Anna Maria Sturm) vorgeht, schlägt sich Schuierer auf ihre Seite und legt sich mit der mächtigen Strauß-Regierung an. »Wackersdorf« ist eine Sorte Kino, die nicht allzu oft in Deutschland produziert wird. Mit den Stilmitteln eines alten »Tatorts« zeigt der Regisseur, wie Macht en détail funktioniert: Wenn Schuierer, zu Hause eine Autorität, in den Münchner Regierungsgebäuden verloren auf seine Gesprächspartner wartet oder die Exekutive in wackligen Helikoptern umherschwirrt, gelingt ihm nebenher eine bildhafte Kritik an den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen. Weitere Szenen werden zu Symbolen von Herrschaft und Knechtschaft, etwa wenn um das Gelände ein Bauzaun gezogen wird, der alsbald zum Selbstzweck wird – und nebenbei zwölf Millionen Mark an Steuergeldern verschlingt. Die ganze Region wird alsdann zum Kampfgebiet erklärt. Politiker, die schon zu Zeiten des Nationalsozialismus eine rege Vita hatten, tauchen auf einmal auf – mit dem Bauprojekt, dem Atomstaat, muss sich eine Gesellschaft ihrer Vergangenheit stellen. Mit viel Spannung und überzeugenden Schauspielern stellt der Film die damaligen Kämpfe nach. Das Gefühl, dass die Darsteller ihren Stoff leben, kommt nicht von ungefähr: So verkörpert etwa Schauspielerin Anna Maria Sturm als Monika Gegenfurtner gar die Rolle ihrer eigenen Mutter Irene, die eine führende Figur des WAA-Widerstands war. Zudem beleben etliche Statisten aus der Region die Kulissen. »Wackersdorf« – ein Meisterstück des historisch-politischen Kinos. »Wackersdorf«. D 2018. Regie: Oliver Haffner; Darsteller: Johannes Zeiler, Anna Maria Sturm. Jetzt im Kino

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MACH MIT: BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt, oder man lässt sie verschwinden. AMNESTY INTERNATIONAL veröffentlicht regelmäßig an dieser Stelle drei Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden.

Foto: privat

Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes.

CHINA DONG GUANGPING Am 13. Juli 2018 wurde Dong Guangping zu 42 Monaten Haft verurteilt. Weder seine Familie noch die von seiner Familie beauftragten Rechtsbeistände erhielten Informationen über das Verfahren oder das Urteil. Bereits ein Jahr vor der Urteilsverkündung war Dong Guangping wegen »Anstiftung zum Umsturz« und »illegaler Überquerung der Staatsgrenze« für schuldig befunden worden. Staatlichen Medienberichten zufolge basierte sein Schuldspruch wegen »Anstiftung zum Umsturz« auf seiner Teilnahme an zwei Versammlungen in Thailand, die nach Ansicht der chinesischen Regierung auf die »Untergrabung der Staatsmacht« und den »Sturz des sozialistischen Systems« abzielten. Nicht offen genannte Quellen teilten seiner Familie mit, dass Dong Guangping auf nicht schuldig plädierte und Rechtsmittel gegen das Urteil eingelegt hat. Seit seiner Festnahme gibt

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es keine offiziellen Informationen über seinen Verbleib oder seinen Gesundheitszustand. Dong Guangping wird ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten, ihm drohen Folter und andere Misshandlungen. Dong Guangping war Polizist. 1999 wurde er aus dem Polizeidienst entlassen, nachdem er einen öffentlichen Brief unterzeichnet und Artikel verbreitet hatte, in denen des 10. Jahrestags der Niederschlagung der Proteste auf dem Tiananmen-Platz in Peking gedacht wurde. Bereits zuvor war er aufgrund seines friedlichen Aktivismus mehrmals in China inhaftiert worden. Um den Drangsalierungen zu entgehen, floh er im September 2015 zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter nach Thailand. Von dort wurde er im November 2015 abgeschoben. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Oberstaatsanwalt der Volksstaatsanwaltschaft im Bezirk Chongquing und bitten Sie ihn darum, dass Dong Guangping umgehend freigelassen oder in einem fairen, internationalen Standards entsprechenden Verfahren verur-

teilt wird. Bitten Sie ihn außerdem darum, sicherzustellen, dass Dong Guangping nicht wegen der friedlichen Wahrnehmung seiner Menschenrechte festgehalten wird. Schreiben Sie in gutem Chinesisch, Englisch oder auf Deutsch an: Oberstaatsanwalt der Volksstaatanwaltschaft im Bezirk Chongqing He Hengyang Jianchazhang Chongqing Shi Renmin Jianchayuan 270 Jinlong Lu Longxi Yubei Qu Chongqing Shi 400020 VOLKSREPUBLIK CHINA (Anrede: Dear Chief Procurator / Sehr geehrter Herr Oberstaatsanwalt) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,90 €)

Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Volksrepublik China S. E. Herrn Mingde Shi Märkisches Ufer 54, 10179 Berlin Fax: 030 - 27 58 82 21 E-Mail: de@mofcom.gov.cn (Standardbrief: 0,70 €)

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Foto: privat

im Iran an Amnesty International. Seit einem 71-tägigen Hungerstreik leidet Arash Sadeghi an zahlreichen Erkrankungen. Als er im Mai 2018 endlich im Krankenhaus untersucht wurde, stellten die Ärzt_innen einen Knochentumor fest. Einen Antrag auf Verlegung in ein Krankenhaus, das auf die Behandlung von Krebserkrankungen spezialisiert ist, lehnten die Behörden jedoch ab.

IRAN ARASH SADEGHI Der iranische Menschenrechtsverteidiger und gewaltlose politische Gefangene Arash Sadeghi befindet sich seit über zwei Jahren im Gefängnis und verbüßt dort zwei Haftstrafen von insgesamt 19 Jahren. Er wurde allein wegen seiner friedlichen Menschenrechtsarbeit für schuldig befunden, unter anderem in Zusammenhang mit der Weiterleitung von Informationen zur Menschenrechtslage

Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Generalstaatsanwalt von Teheran und bitten Sie ihn darum, Arash Sadeghi umgehend und bedingungslos freizulassen, da er sich nur in Haft befindet, weil er friedlich von seinen Rechten auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit Gebrauch gemacht hat. Bitten Sie ihn außerdem darum, sicherzustellen, dass Arash Sadeghi Zugang zu dringend benötigter fachärztlicher Behandlung erhält. Fordern Sie zudem, dass er vor weiterer Folter und anderer Misshandlung – dazu zählt auch

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Briefentwürfe auf Englisch und Deutsch finden Sie unter www.amnesty.de/briefe. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie sie bitte an: info@amnesty.de

BURKINA FASO FRÜHVERHEIRATETE MÄDCHEN Tausende Mädchen in ganz Burkina Faso werden früh verheiratet, viele sind zum Zeitpunkt ihrer Hochzeit gerade einmal elf oder zwölf Jahre alt. Ein Grund für die Frühverheiratung ist der Brautpreis, den die Eltern des Mädchens erhalten. Die sexuellen und reproduktiven Rechte der Mädchen werden immer wieder verletzt. Nur die wenigsten Mädchen dürfen eine Schule besuchen. Trotz enormem Drucks seitens der Familien und der Gesellschaft weigern sich viele Mädchen, eine solche Ehe einzugehen und versuchen zu fliehen.

BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN

die Verweigerung einer angemessenen medizinischen Behandlung – geschützt ist und dass Ermittlungen gegen diejenigen eingeleitet werden, die ihm die medizinische Behandlung verweigern. Schreiben Sie in gutem Persisch, Englisch oder auf Deutsch an: Generalstaatsanwalt von Teheran Abbas Ja’fari Dolat Abadi Office of the Prosecutor Corner (Nabsh-e) of 15 Khordad Square Tehran, IRAN (Anrede: Dear Prosecutor General / Sehr geehrter Herr Generalstaatsanwalt) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,90 €)

Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Islamischen Republik Iran S. E. Herrn Ali Majedi Podbielskiallee 65–67, 14195 Berlin Fax: 030 - 84 35 31 33 E-Mail: info@iranbotschaft.de (Standardbrief: 0,70 €)

AMNESTY INTERNATIONAL Zinnowitzer Straße 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0, Fax: 030 - 42 02 48 - 488 E-Mail: info@amnesty.de, www.amnesty.de

Amnesty International hat mehrere Einrichtungen in Burkina Faso besucht, in denen Mädchen Zuflucht gefunden haben, darunter Maria (nicht ihr richtiger Name), die erzählte, mit 13 Jahren von ihrem Vater gezwungen worden zu sein, einen 70-jährigen Mann zu heiraten. Er habe ihr sogar gedroht, sie zu töten, wenn sie den Mann nicht heirate. Die Regierung hat erste Schritte unternommen, um Frühehen zu verbieten, und dabei auch einige der Empfehlungen von Amnesty International berücksichtigt. Doch es muss noch mehr getan werden. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Minister für Justiz und Menschenrechte und bitten Sie ihn, alle Gesetze zum Verbot von Zwangs- und Frühehen durchzusetzen und zu stärken. Darunter fallen sollte auch die Festlegung des Heiratsalters für Mädchen und Jungen auf 18 Jahre, entsprechend der Afrikanischen Charta für die Rechte und das

Wohlergehen des Kindes. Bitten Sie ihn auch darum, sicherzustellen, dass die von Frühehen Betroffenen Gerechtigkeit erfahren und dass diejenigen, die für die Schließung von Frühehen verantwortlich sind, zur Rechenschaft gezogen werden. Schreiben Sie in gutem Französisch, Englisch oder auf Deutsch an: René Bagoro Ministre de la justice Avenue de l’Indépendance Ouagadougou 01 BP 526, BURKINA FASO (Anrede: Your Excellency / Exzellenz) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,90 €)

Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft von Burkina Faso S.E. Herrn Simplice Honore Guibila Karolingerplatz 10/11, 14052 Berlin E-Mail: office@ambaburkina.de Fax: 030 - 301 05 99 20 (Standardbrief: 0,70 €)

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Foto: Jehan Abushihab

AKTIV FÜR AMNESTY

Schreibt mit. Julia Schrick im September in ihrem Klassenzimmer in Düsseldorf.

»JEDER MENSCH HAT DAS RECHT AUF RESPEKT« Julia Schrick (21) lebt seit drei Jahren in Deutschland und macht fast ebenso lange beim Briefmarathon an Schulen mit. Dieses Jahr ist die Abiturientin des Leo-Statz-Berufskollegs in Düsseldorf zum dritten Mal dabei. Interview: Hannah El-Hitami

Warum machst du beim Briefmarathon mit? Weil es viele Leute gibt, die unsere Hilfe brauchen – auch im eigenen Umfeld. Wenn Menschen in unserer Klasse gemobbt werden, weil sie schwul sind, dann finde ich das nicht gut. Jeder Mensch hat das Recht auf Respekt. Wie kam die Idee auf, beim Briefmarathon mitzumachen? Der Vorschlag kam von unserer Lehrerin. Ich kannte Amnesty International vorher aus dem Fernsehen und hatte schon oft Plakate in der Altstadt gesehen, wusste aber nicht, was das eigentlich ist. Wir haben drei Fälle ausgewählt: Sakris Kupila, der sich in Finnland für Transgender-Rechte einsetzt, die in der Türkei inhaftierten Istanbul10 und Shackelia Jackson, deren Bruder in Jamaika von Polizisten erschossen wurde. Wer hat mitgemacht? Fast alle hatten Lust. Wir waren eine internationale Klasse und wussten, wie sich Rassismus und Diskriminierung anfühlen. Darum haben wir uns gleich für Amnesty interessiert. Bei dem Fall der inhaftierten Menschenrechtler in der Türkei haben wir uns etwas Sorgen gemacht, weil viele Schüler Türken sind, und wir nicht wussten, was sie davon halten würden. Aber unsere Klassenlehrerin hat uns alle sehr gut betreut, und

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so haben letztendlich 20 von 24 Leuten aus der Klasse mitgemacht. Wie lief das Briefeschreiben ab? Wir haben uns einen Monat lang darauf vorbereitet. Wir haben ein kleines Video gedreht, in dem wir erklären, was Amnesty International und was der Briefmarathon ist. Am 15. Dezember haben wir dann verschiedene Klassen in die Aula eingeladen und ihnen die Fälle präsentiert. Es gab leere Blätter zum Briefeschreiben. Und wer nicht schreiben wollte, der konnte eine Postkarte schicken oder einen Vordruck unterschreiben. Was gab es noch für Aktionen? Wir haben eine Umfrage an der Schule gemacht, in der wir die Schülerinnen und Schüler zu ihrer Meinung über die Briefmarathon-Fälle befragt haben. Manche sahen den TransgenderFall aus Finnland kritisch, aber die allermeisten haben sich für die Menschenrechte ausgesprochen. Welcher Fall hat dich am meisten bewegt? Der von Shackelia Jackson. Ihr Bruder wurde von Polizisten getötet, nur weil er die gleiche Frisur hatte wie ein Verdächtiger. Das ist ungerecht und kein Einzelfall. Wir haben erfahren, dass auf Jamaika regelmäßig Menschen von der Polizei erschossen werden. Machst du dieses Jahr wieder mit? Ich bin jetzt in einer neuen Klasse und bisher die einzige, die den Briefmarathon kennt. Ich werde aber noch mehr Leute motivieren mitzumachen, denn gemeinsam bringt das ja viel mehr.

AMNESTY JOURNAL | 10-11/2018


AUS DER SCHULE IN DIE WELT Briefeschreiben kann Leben retten – das zeigt der weltweite Briefmarathon, den Amnesty International jedes Jahr rund um den Tag der Menschenrechte am 10. Dezember veranstaltet. Dabei fordern Millionen Menschen in aller Welt Regierungen auf, politische Gefangene freizulassen und Unrecht zu beenden. Außerdem schicken sie Solidaritätsbotschaften an Menschen, deren Rechte verletzt wurden, um ihnen und ihren Angehörigen Mut zu machen. Im vergangenen Jahr schrieben Menschen aus nahezu allen Ländern der Erde mehr als 5,5 Millionen Briefe – so viele wie nie zuvor. Allein aus Deutschland wurden 250.000 Appelle und Solidaritätsschreiben verschickt. Auch Schulen können sich am Briefmarathon beteiligen. Amnesty stellt Lehrerinnen und Lehrern Unterrichtsmaterial für die Jahrgangsstufen 7 bis 13 zur Ver-

fügung, die sich für die Fächer Deutsch, Englisch, Französisch, Geschichte, Ethik, Religion oder Gemeinschafts-/Sozialkunde eignen. Die Materialien umfassen Informationen zu den Menschen, für die wir uns beim Briefmarathon einsetzen, Hintergrundinformationen zum jeweiligen Land und Thema, Briefvorlagen und Tipps zur Formulierung individueller Briefe sowie Unterrichtsvorschläge zu Menschenrechtsthemen wie Flucht, Meinungsfreiheit oder Todesstrafe. Der Briefmarathon an Schulen bietet aber noch sehr viel mehr Möglichkeiten. Für Schülerinnen und Schüler, die gern schreiben, kann er ein Anlass sein, um einen Beitrag für die Schülerzeitung oder die Internetseite der Schule zu verfassen. Sie können sich auch an lokale Magazine und Tageszeitungen wenden oder ihren Artikel an Amnesty schicken: briefmara-

thon-schule@amnesty.de. Der Kunstunterricht eignet sich, um eine begleitende Ausstellung in der Schule zu präsentieren. Schülerinnen und Schüler können zu den einzelnen Fällen, Ländern und Themen Zeichnungen oder Comics anfertigen. Auch große Ankündigungsplakate zum Briefmarathon bieten Raum für kreative Ideen. Weitere Informationen und Erfolgsgeschichten zum Briefmarathon unter:  www.amnesty.de/briefmarathon-schulen-2016unterrichtsvorschlaege-und-materialien

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Sie haben das Amnesty Journal zufällig in die Hände bekommen und Lust auf weitere Ausgaben? Das Journal landet alle zwei Monate bei all jenen im Briefkasten, die die Arbeit von Amnesty International mit mindestens 5 Euro pro Monat oder als Mitglied unterstützen. Mehr Infos unter: www.amnesty.de/foerdererwerden und www.amnesty.de/mitglied-werden

Foto: Sarah Eick / Amnesty

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Mitglieder von Amnesty International versuchen auf vielfältige Art und Weise, Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme zu geben. Dazu zählen Aktionen und Veranstaltungen in vielen deutschen Städten. Wenn Sie mehr darüber erfahren oder selbst aktiv werden wollen: http://blog.amnesty.de www.amnesty.de/kalender

Amnesty macht Schule. Schülerinnen der Da-Vinci-Gesamtschule Potsdam, November 2017.

IMPRESSUM Amnesty International e.V. Zinnowitzer Str. 8 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 E-Mail: info@amnesty.de Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redak tion Amnesty Journal Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin E-Mail: journal@amnesty.de  Adressänderungen bitte an:  info@amnesty.de Redaktion: Markus Bickel (V.i.S.d.P.), Jessica Böhner,  Hannah El-Hitami,  Anton Landgraf,  Katrin Schwarz

AKTIV FÜR AMNESTY

Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit   lbrecht, Daniel Bax, Markus N. Beeko, A Benjamin Breitegger, Irene Eidinger, Paul Flückiger, Nicole Graaf, Philipp Hindahl, Sarah Käsmayr, Jürgen  Kiontke, Maja Liebing, Thorsten Mense, Barbara Oertel, Wera Reusch, Margit Roth, Andrzej Rybak, Thomas Schmid, Uta von Schrenk, Maik Söhler, Wolf Dieter Vogel, Elisabeth Wellershaus, Thomas Winkler, Marlene Zöhrer Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck und Verlag: Hofmann Druck, Nürnberg GmbH & Co. KG

Bankverbindung: Amnesty International Bank für Sozialwirtschaft  IBAN: DE23 3702 0500 0008 0901 00 BIC: BFS WDE 33XXX  (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00) Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und  erscheint sechs Mal im Jahr.  Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.

und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, für die  Verbreitung im Internet oder für Vervielfältigungen auf CD-Rom.

ISSN: 2199-4587

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Gerhart Baum für Amnesty International

DEIN RECHT AUF EIN FAIRES GERICHTSVERFAHREN WIRD 70. ABER WILLKÜR GEHT DURCH ALLE INSTANZEN.

Foto: Heiko Richard

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