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dAs mAgAzin fÜr die menschenrechTe
4,80 euro
AmnesTy journAl die KunsT der reBellion zWei jAhre nAch dem umsTurz in ägypTen
sTAdT im Krieg Wie die menschen in Aleppo zu überleben versuchen
eine frAge des glAuBens religion als instrument des Terrors in nigeria
BomBenerfolg »The rocket« erhält den Amnesty-filmpreis
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2013 April/ mAi
dAs AmnesTy journAl – jeTzT Auch Als App! Mobil und multimedial, mit ausführlichen Bildstrecken und Videos, Podcasts und Online-Aktionen. Die neue Amnesty Journal App ist kostenlos. Sie finden sie im App Store unter »Amnesty Mag«.
Zeichnung: Mareike Engelke
Weitere Informationen: www.amnesty.de/app
Anton Landgraf ist Redakteur des Amnesty Journals
Foto: Mark Bollhorst / Amnesty
ediToriAl
häufig enTscheiden sich ereignisse … … über die wir informieren, erst, nachdem das Amnesty Journal bereits erschienen ist. So auch bei den Verhandlungen der UNO über einen Waffenhandelskontrollvertrag (»Arms Trade Treaty« – ATT), die bis Ende März in New York stattfanden. Eine Amnesty-Mitarbeiterin war vor Ort und beobachtete die Konferenz. Über die Entscheidung und die damit verbundenen Folgen berichten wir ausführlich in der kommenden Ausgabe. Viele Leser haben sich an der Petition beteiligt, die der vergangenen Ausgabe beilag. Dafür danken wir herzlich. Die Unterschriftenlisten wurden im März der US-Botschaft in Berlin übergeben, um Präsident Barack Obama von der Dringlichkeit zu überzeugen, ein entsprechendes Abkommen zu unterzeichnen. Andere Nachrichten kamen ebenfalls zu spät, um sie noch in das Heft zu nehmen – wie die jüngsten Informationen über Kriegsverbrechen in Syrien. Nach Recherchen von Amnesty setzten die Regierungstruppen bei ihren Luftangriffen auch Streubomben ein. Ganze Familien wurden ausgelöscht. Unter den Opfern sind viele Kinder. Aber auch oppositionelle Gruppen machen sich schwerer Menschenrechtsverletzungen schuldig. Die Meldung bestätigt, was Carsten Stromer in seiner Reportage in dieser Ausgabe beschreibt (Seite 54). Der Journalist hat in den vergangenen Monaten mehrfach die heftig umkämpfte Stadt Aleppo besucht und zeichnet ein erschütterndes Bild von der dortigen Situation. Dramatisch ist auch die Entwicklung in Ägypten, und noch ist nicht abzusehen, wohin sie führen wird. Doch existiert eine aktive Zivilgesellschaft, die unter anderem mit künstlerischen Mitteln eine friedliche Veränderung erreichen will. Einige Aktivistinnen und Aktivisten stellen wir in diesem Journal vor (Seite 22). Bekannt wurden vor allem die Graffiti in der Mohamed-Mahmoud-Straße nahe des Tahrir-Platzes in Kairo. Dort wurden viele Szenen aus der Zeit nach dem Sturz der Regierung Mubarak 2011 festgehalten. Eine Auswahl dieser Wandgemälde haben wir in dieser Ausgabe abgebildet, weit mehr sind demnächst bundesweit an zahlreichen Orten in einer Ausstellung zu sehen (www.amnesty.de/aegypten). Wer sich jetzt schon einen umfassenderen Eindruck verschaffen möchte, kann auf der Journal-App zusätzliche Bilder sehen. Dort sind auch weitere audiovisuelle Medien wie Videos und Podcasts zu erhalten. Klicken Sie einfach in den App-Store unter Amnesty Mag.
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Titelfoto: Graffito an einer Kairoer Hauswand. Der Künstler El-Zeft schreibt über seine Nofretete mit der Gasmaske: »Ein Tribut an alle Frauen, die an unserer geliebten Revolution teilnehmen. Ohne euch hätten wir es niemals so weit gebracht.« Foto: Amnesty
ThemA 21 Verlorenes Vertrauen Von Ruth Jüttner
22 Einladung zur Veränderung Zwei Jahre nach Mubarak treiben ägyptische Aktivisten die Revolution voran – im öffentlichen wie im virtuellen Raum. Von Anne Françoise Weber
28 Leere Worte
ruBriKen 06 Weltkarte 07 Erfolge 10 Panorama 12 Nachrichten 13 Porträt: Sombath Somphone 15 Interview: Günter Wallraff 17 Kolumne: Petra Welzel 77 Rezensionen: Bücher 78 Rezensionen: Film & Musik 80 Briefe gegen das Vergessen 82 Aktiv für Amnesty
Ägyptens Präsident Mursi war mit dem Versprechen angetreten, die schweren Menschenrechtsverletzungen durch die Sicherheitskräfte aufzuklären. An dem brutalen Vorgehen von Polizei und Militär hat sich seither nichts geändert. Von Ruth Jüttner und Claudia Jach
32 »Wenn Graffiti übermalt werden, ist es ein Erfolg« Graffiti-Künstler in Ägypten fordern mit Spraydose und Schablone die Regierung heraus. Die Bloggerin Soraya Morayef hat viele Künstler begleitet und deren Werke auf der Website »Suzee in the City« dokumentiert.
36 Brot bedeutet Leben Die gesellschaftlichen Umbrüche in Ägypten haben vor allem soziale und ökonomische Ursachen. Die islamistische Muslimbruderschaft reagiert auf die Konflikte mit politischer Repression und religiöser Rhetorik. Von Hannes Bode
83 Selmin Çalışkan über Amnesty International
Fotos oben: Katharina Eglau | Andy Spyra | Carsten Stormer | Laurent Denimal
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BerichTe
KulTur
42 Tödlicher Glaube
66 »Unseren Traum können die Muslimbrüder niemals zerstören«
In Nigeria geht die islamistische Terrorgruppe Boko Haram gewaltsam gegen Andersgläubige vor. Von Cigdem Akyol
46 Verlorenes Vorbild Mali befindet sich in der schlimmsten Krise seit der Unabhängigkeit. Von Franziska Ulm-Düsterhöft und Fabienne Dietzsch
48 Agenten und Spione Der Spielraum wird immer enger: Die russische Regierung verschärft die Gesetzgebung für Nichtregierungsorganisationen drastisch. Von Peter Franck
50 Unter Beobachtung Die Regierung in Aserbaidschan versucht mit viel Aufwand, ihr Image in Europa zu verbessern. Von Marie von Möllendorff
52 Digitale Waffen Deutsche Technologieunternehmen liefern Spionagesoftware. Von Wolf-Dieter Vogel
54 Eine Stadt im Krieg Im Juli 2012 kam der Krieg nach Aleppo. Der Journalist Carsten Stormer hat die Stadt in den vergangenen Monaten mehrmals besucht.
58 »Amnesty lebt von den Aktivisten« Seit dem 1. März 2013 führt Selmin Çalışkan die deutsche Sektion von Amnesty International.
60 Noch lange nicht genug Nach 33 Jahren scheidet Wolfgang Grenz als hauptamtlicher Mitarbeiter der deutschen Sektion von Amnesty International aus.
inhAlT
Ein Gespräch mit der ägyptischen Schriftstellerin Salwa Bakr über die Lage der Frauen, ihre Kritik an den Muslimbrüdern – und warum sie noch breitere Proteste befürchtet.
68 Ein Bombenerfolg »The Rocket« von Kim Mordaunt ist der Gewinner des diesjährigen Amnesty-Filmpreises auf der Berlinale. Von Jürgen Kiontke
70 Folter als Federstrich Die Graphic Novel »Berichte aus Russland – Der vergessene Krieg im Kaukasus« schildert das alltägliche Grauen in Tschetschenien. Von Maik Söhler
72 Innere Stimme Autonomie für Tibet wünscht sich die Sängerin Soname Yangchen, die in den Medien als »Stimme Tibets« gehandelt wird. Von Daniel Bax
74 Rote Jahre In »Unter den Augen des Löwen« beschreibt die äthiopische Autorin Maaza Mengiste die radikalen Umbrüche in ihrer Heimat. Von Tanja Dückers
76 Krieger sehen dich an »Die französische Kunst des Krieges« von Alexis Jenni ist ein literarisches Meisterwerk. Von Maik Söhler
79 Musikalischer Frieden Vierzig der bekanntesten Musiker Malis haben sich zusammengetan, um auf einer CD den Frieden im Land zu beschwören. Von Daniel Bax
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hAiTi
ÖsTerreich
nordKoreA
Vor mehr als 25 Jahren wurde er gestürzt, nun droht ihm der Prozess: Jean-Claude Duvalier, der ehemalige Diktator Haitis, wird sich womöglich bald wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen juristisch verantworten müssen. Anfang März erschien er in Port-au-Prince erstmals vor Gericht. In der Anhörung ging es um die Frage, ob die Verbrechen seiner Amtszeit verjährt sind. Eine Entscheidung steht noch aus. Amnesty International mahnte, dass Duvaliers Schreckensregime nicht ungesühnt bleiben dürfe. Unter seiner Herrschaft sollen Tausende Menschen gefoltert und getötet worden sein.
Eine lesbische Frau wollte den leiblichen Sohn ihrer Lebensgefährtin adoptieren, die österreichischen Behörden stellten sich quer. Doch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat der Frau nun Recht gegeben: Die Straßburger Richter urteilten Ende Februar, dass es auch innerhalb gleichgeschlechtlicher Beziehungen möglich sein müsse, Stiefkinder zu adoptieren. Dem Urteil müsse eine umfassende Gesetzesreform in Österreich folgen, forderte Amnesty International. Experten der Organisation waren am Verfahren beteiligt.
Die berüchtigten nordkoreanischen Straflager schließen immer mehr umliegende Dörfer ein. Dies zeigen neue Satellitenbilder, die Amnesty analysiert hat. Auf den Bildern ist zu sehen, dass mittlerweile ein Kontrollzaun im Umkreis von rund 20 Kilometern um das Ch’oma-Bong-Tal und dessen Bewohner gezogen wurde. In nordkoreanischen Lagern sind Gefangene, darunter auch Kinder, schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Dazu gehören Zwangsarbeit und Nahrungsentzug als Strafe. In den Lagern, die zum Teil ganze Dörfer umfassen, sind nach Schätzungen 150.000 bis 200.000 Menschen gefangen.
Ausgewählte Ereignisse vom 19. Februar bis 18. März 2013.
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guATemAlA
simBABWe
Wegen eines Massakers an Ureinwohnern muss sich in Guatemala der ehemalige Diktator des Landes Efraín Ríos Montt ab März vor Gericht verantworten. Dem heute 86Jährigen wird vorgeworfen, während des Bürgerkriegs 1983 ein Massaker im Norden Guatemalas befohlen zu haben, bei dem mehr als 1.700 Maya zu Tode kamen. Amnesty International begrüßte den Prozess, forderte die Behörden aber zugleich auf, die Opfer und ihre Angehörigen zu entschädigen. Insgesamt wurden im guatemaltekischen Bürgerkrieg von 1960 bis 1996 rund 200.000 Menschen getötet.
Nachdem vor sieben Jahren der einzige Henker des Landes in Rente gegangen war, gab es in Simbabwe keine Hinrichtungen mehr. Amnesty International befürchtet, dass sich dies bald ändern könnte: Wie staatliche Medien berichten, ist der Posten des einzigen Scharfrichters des Landes Anfang Februar neu besetzt worden. Die Behörden hatten lange Zeit vergeblich per Zeitungsanzeige nach einem passenden Bewerber gesucht. Siebzig zum Tode Verurteilte befinden sich derzeit in Simbabwes Gefängnissen, manche sitzen seit mehr als 14 Jahren in der Todeszelle.
jApAn Die japanischen Behörden haben Ende Februar drei zum Tode verurteilte Mörder gehenkt. Es waren die ersten Hinrichtungen in Japan, seitdem Ministerpräsident Shinzō Abe im Amt ist. Amnesty International zeigte sich besorgt, dass unter der seit Dezember amtierenden konservativen Regierung die Zahl der Hinrichtungen in dem asiatischen Inselstaat zunehmen könnte. Japan ist neben den USA die einzige demokratische Industrienation, die noch immer Todesurteile vollstreckt. Todeskandidaten verbringen in Japan oft Jahre in Einzelhaft und erfahren erst wenige Minuten vor der Vollstreckung, dass sie hingerichtet werden.
AmnesTy journAl | 04-05/2013
Foto: Adalberto Roque / AFP / Getty Images
erfolge
Gepackter Koffer. Die kubanische Bloggerin Yoani Sánchez wartet auf dem Flughafen in Havanna auf ihren Flug nach Brasilien.
»nun muss ich nur noch ABheBen :-)« Als es endlich soweit war, lasen Tausende auf Twitter mit: »Ich habe es durch die Passkontrolle geschafft. Nun muss ich nur noch das Flugzeug betreten und abheben :-)« Die kubanische Internetaktivistin Yoani Sánchez durfte Ende Februar zum ersten Mal seit Jahren ihr Heimatland verlassen. Die 37-Jährige gilt als eine der bekanntesten Bloggerinnen der Welt, allein auf Twitter folgen ihr mehr als 400.000 Nutzer. In ihrer Heimat ist sie hingegen weitgehend unbekannt, schließlich sind Internetanschlüsse auf Kuba rar. Seit fünf Jahren hatte sie sich um eine Ausreise bemüht, doch die kubanische Regierung lehnte zwanzig Anträge in Folge ab. Amnesty International hat dagegen wiederholt protestiert. Nun profitierte Yoani Sánchez von einem neuen Migrationsgesetz, das Mitte Januar auf Kuba in Kraft trat: Die Regierung des kommunistischen Inselstaats gewährte
KuBA
irAnischer filmemAcher in freiheiT
Amnesty kämpfte gemeinsam mit Hollywood-Stars um seine Freiheit: Der iranische Filmemacher Behrouz Ghobadi ist seit Ende Januar wieder auf freiem Fuß. Iranische Sicherheitskräfte hatten ihn Anfang November festgenommen und zweieinhalb Monate an einem geheimen Ort in Isolationshaft gehalten. Die Behörden warfen Ghobadi vor, in »Aktivitäten gegen die nationale Sicherheit« verstrickt zu sein. Weder seine Anwälte, noch seine Familie durften mit ihm Kontakt aufnehmen. Behrouz Ghobadi ist der jüngere Bruder des auch international bekannten, regimekritischen Filmemachers Bahman Ghobadi, der inzwischen im Exil lebt. Amnesty hatte sich mit einer globalen
irAn
erfolge
den Bürgern erstmals weitgehende Reisefreiheit. Kubaner, die ihr Land verlassen wollen, benötigen fortan keine Sondergenehmigungen mehr, sondern nur noch einen gültigen Pass und ein Visum des Ziellandes. Ein Massenexodus ist allerdings nicht zu erwarten: Wer einen Reisepass beantragt, muss 100 US-Dollar zahlen – für die meisten Kubaner eine unerschwingliche Summe. Dass ihre Ausreise nun einen weltweiten Medienrummel auslöste, hat für Yoani Sánchez daher auch einen bitteren Beigeschmack: »Eine Person besitzt einen Reisepass und betritt ein Flugzeug – eigentlich sollte das keine Nachricht wert sein«, sagte sie. In den kommenden drei Monaten will sie zwölf Länder besuchen, darunter Brasilien, Mexiko, die USA, Spanien, Italien und Polen. Auch ein Besuch in Deutschland ist geplant.
Kampagne für die Freilassung Behrouz Ghobadis eingesetzt und konnte dabei auf prominente Unterstützer zählen: HollywoodStars wie Martin Scorsese, Liam Neeson, Paul Haggis, James Franco und Mila Kunis schlossen sich der Amnesty-Kampagne an. »Wir sind glücklich, dass Behrouz Ghobadi wieder bei seiner Familie ist, vor allem bei seinem neugeborenen Sohn Harmang«, so die Künstler in einer gemeinsamen Erklärung. »Wir wollen allen Menschen danken, die sich mit Amnesty International für seine Freiheit eingesetzt haben. Wenn wir gemeinsam unsere Stimme erheben, kann der Protest beizeiten so laut werden, dass ihn auch die Mächtigen nicht ignorieren können.«
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Foto: Ryad Kramdi / Polaris / laif
irAK: folTer WeiTerhin AllTäglich
Auch zehn Jahre nach dem Sturz Saddam Husseins werden im Irak noch immer Menschen in Foltergefängnissen gequält. Dies zeigt ein neuer Bericht von Amnesty International. Insbesondere Gefangene, die im Verdacht stehen, Terrorakte geplant zu haben, sind betroffen. Irakische Sicherheitskräfte foltern Terrorverdächtige routinemäßig, um Geständnisse zu erpressen. Zu den Foltermethoden gehören Elektroschocks an Genitalien, Schläge sowie der Entzug von Wasser, Essen und Schlaf. Außerdem wird den Gefangenen häufig damit gedroht, dass weibliche Verwandte inhaftiert und vergewaltigt werden könnten. Weibliche Gefangene sind im Irak besonders gefährdet: Mehrere Frauen haben angegeben, in der Haft sexuelle Gewalt erlitten zu haben. Amnesty-Experte Carsten Jürgensen sagte: »Weder die irakische Regierung noch die ehemaligen Besatzungsmächte haben sich in der vergangenen zehn Jahren an grundlegende Menschenrechtsstandards gehalten. Und die Menschen im Irak zahlen für dieses Versagen einen hohen Preis.«
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Tunesien: mord An opposiTionspoliTiKer choKri BelAïd
Amnesty International hat die tunesischen Behörden aufgefordert, den Tod des Oppositionspolitikers Chokri Belaïd, der am 6. Februar vor seinem Haus erschossen wurde, gründlich, unabhängig und unparteiisch zu untersuchen. Belaïd war Generalsekretär der Partei der Demokratischen Patrioten und ein vehementer Kritiker der Regierung. Er verurteilte politische Gewalt und setzte sich für demokratische Werte in Tunesien ein. In den vergangenen Monaten gab es mehrere gewaltsame Angriffe gegen politische Aktivisten, Parteigebäude und Veranstaltungen. »Die tunesischen Behörden sollten sich nicht der Illusion hingeben, dass sie lediglich die Tötung verurteilen und dann weitermachen können wie bisher«, erklärte Hassiba Hadj Sahraoui, die stellvertretende Direktorin für Nordafrika und den Nahen Osten bei Amnesty. »Nur eine vollständige, unabhängige und transparente Untersuchung kann dabei helfen, Licht in die Umstände des Todes von Chokri Belaïd zu bringen.«
Foto: Karim Kadim / AP / pa
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Foto: Marten van Dijl / EPA / pa
nAchrichTen
Schwarzes Gold, schwarzes Gift. Der Fischer Eric Dooh verklagte den Shell-Konzern in Den Haag. Erdöl verseuchte seinen nigerianischen Heimatort.
neue hoffnung im nigerdelTA Seit mehr als fünfzig Jahren laufen in Nigeria täglich Tausende Liter Erdöl aus Pipelines des Shell-Konzerns aus. Jetzt wurde Shell von vier nigerianischen Fischern vor ein Gericht in Den Haag gebracht. Das Urteil: Der Konzern muss in einem der Fälle Schadenersatz leisten. Eric Dooh wollte es nicht stillschweigend ertragen. Das Erdöl hatte seinem Heimatdorf Goi keine Chance gelassen: Nachdem 2004 in einer Shell-Pipeline ein Leck aufgetreten war, hatte sich das Dorf im Nigerdelta in einen Geisterort verwandelt. Zuerst verschwanden die Fische und später die Menschen, die von der Fischerei gelebt hatten. Dooh und drei weitere Fischer, deren Heimatdörfer ebenfalls von Verschmutzungen betroffen sind, reichten bei einem Gericht in Den Haag Klage gegen Shell ein. Sie forderten von dem Konzern, die Verschmutzungen zu beseitigen, Schadenersatz zu zahlen und die Pipelines in Zukunft besser zu warten. Dass es überhaupt zu dem Prozess kam, ist bereits eine kleine Sensation: Es war das erste Mal, dass sich ein großer Konzern wegen Umweltschäden in einem Entwicklungsland vor einem europäischen Gericht verantworten musste.
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Doch Shell wies die Verantwortung für die Schäden zurück. Der niederländischbritische Ölkonzern erklärte, in den meisten Fällen seien nicht Wartungsmängel, sondern Sabotageakte durch Rebellen oder Öldiebe für die Lecks verantwortlich. Die Kläger und NGOs sehen das anders. Zwar ist Sabotage einer der Gründe dafür, dass so häufig Öl ausläuft, aber wohl nicht die Hauptursache. Nach Erkenntnissen von Amnesty führen vor allem veraltete Rohre, die schlecht gewartet werden, immer wieder zu katastrophalen Verschmutzungen in der Region. Die Folge: Tiere verenden, Felder und Bäume werden zerstört, und die Menschen erkranken an Ekzemen oder Krebs. »Wir wollen, dass die bei uns ordentlich sauber machen«, sagte Eric Dooh vor der Urteilsverkündung. Doch dazu wird es erst einmal nicht kommen. Das Gericht sprach Ende Januar den Mutterkonzern frei. Allerdings wurde die nigerianische Tochtergesellschaft von Shell in einem der Fälle verurteilt, Schadenersatz zu zahlen. In den anderen Fällen sah das Gericht Sabotage als Ursache für die Öllecks. Nach nigerianischem Recht haften Ölunternehmen in solchen Fällen nicht. Den Klägern fehlten einfach die Mittel,
um zu beweisen, dass nicht etwa Sabotage, sondern mangelnde Instandhaltung der Pipelines zum Ölaustritt führte. Unabhängige Untersuchungen vor Ort gibt es in solchen Fällen fast nie. Die Gemeinden erhalten keinen Einblick in die Akten des Konzerns. So musste sich das Gericht schließlich auf die Beweisführung Shells verlassen. Dennoch gibt das Urteil Hoffnung für die Zukunft. Dass zumindest einer der Kläger Recht bekam, könnte dazu führen, dass auch viele andere Betroffene in der Region zukünftig gegen Ölkonzerne vor Gericht ziehen. Außerdem hat die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft kürzlich festgestellt, Nigeria unternehme nicht genug gegen die negativen Auswirkungen der Ölförderung. Daher könnte es bald zu strengeren Gesetzen in diesem Bereich kommen. Somit wird Shell möglicherweise zukünftig auch für Schäden, die durch Sabotage der Pipelines entstehen, haften. Eric Dooh und die anderen beiden Nigerianer, deren Klage abgewiesen wurde, wollen in Berufung gehen. Das Urteil war ein kleiner Schritt nach vorn, ein größerer könnte bald folgen. Text: Heiko Keil
AmnesTy journAl | 04-05/2013
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Foto: Gilles Sabrie / International Herald Tribune / Redux / laif
Wo ist Sombath Somphone? Selten wurde eine Verschleppung so eindeutig dokumentiert: Eine Überwachungskamera fing ein, wie der 61-Jährige in Laos entführt wurde.
somBATh somphone
menschenrAuB Als man ihn verschleppte, lief die Kamera mit: Ein YouTubeVideo zeigt, wie der Entwicklungshelfer Sombath Somphone an einem Polizeiposten in Laos entführt wurde. Noch immer ist er verschollen. Seine Kritik am »Landraub«, der Enteignung von Bauern, könnte ihm zum Verhängnis geworden sein. Sie sah ihren Ehemann das letzte Mal im Rückspiegel. Die beiden schlängelten sich nach Feierabend durch den Großstadtverkehr. Er saß am Steuer seines rostigen Jeeps, sie lenkte den Wagen vor ihm. Als sie nach einer Weile erneut in den Rückspiegel blickte, war das Auto ihres Mannes verschwunden. Die kleine Volksrepublik Laos schafft es im Ausland nur selten in die Abendnachrichten. Doch seitdem Sombath Somphone vermisst wird, macht das südostasiatische Land weltweit Schlagzeilen. Die »New York Times« berichtete, die Europäische Union zeigte sich besorgt, selbst Hillary Clinton meldete sich zu Wort. Soviel ist gewiss: Der Entwicklungshelfer Sombath Somphone wurde am Abend des 15. Dezembers in Vientiane, der Hauptstadt des Landes, auf seinem Heimweg entführt. Und es gibt den Verdacht, die kommunistische Regierung könnte in den Fall verstrickt sein. Dabei ist der 61-Jährige nicht unbedingt das, was man sich unter einem Staatsfeind vorstellt. Als »sanftmütig« und »eher unpolitisch« beschreiben ihn Freunde und Weggefährten. »Er ist weder Dissident, noch Aktivist«, betont auch seine Ehefrau. In seiner Heimat ist er ein beliebter Mann. Seit Jahren setzte er sich für die Landbewohner ein, kämpfte gegen Armut und für Bildung. Auch international hat er sich damit einen Namen gemacht: Im Jahr 2005 erhielt er den Ramon-Magsaysay-Preis, der jährlich auf den Philippinen vergeben wird und der auch als »asiatischer Friedensnobelpreis« bezeichnet wird. Die staatlich gelenkten Medien in Laos mutmaßen, Sombath Somphone sei entführt worden, weil er sich im Geschäftsleben Feinde gemacht habe. Doch ein verwackeltes Video, das mittler-
nAchrichTen
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porTräT
weile im Internet kursiert, legt einen anderen Verdacht nahe. Es ist schon eine bittere Ironie: Ausgerechnet eine Überwachungskamera der Polizei dokumentiert, dass Polizisten den Kidnappern offenbar behilflich waren. Die knapp siebenminütige Aufnahme enthüllt, was am Abend des Verschwindens passierte: Sombath Somphone war auf der Heimfahrt in eine Polizeikontrolle geraten. An dem Polizeiposten hatte er es zunächst mit uniformierten Beamten zu tun. Aber nach wenigen Minuten tauchten Männer in Zivil auf, die ihm zunächst seinen Jeep entwendeten und ihn anschließend in einen weißen Pick-up verfrachteten. Die Polizeibeamten, die während der Entführung vor Ort waren, unternahmen offenbar nichts, um die Verschleppung zu verhindern. Amnesty International kritisiert, dass die Behörden seither kein Interesse an der Aufklärung des Falls zeigten. Alles deutet darauf hin, dass Staatsorgane für Sombath Somphones Verschwinden verantwortlich sind. Doch warum? Kenner des Landes verweisen auf eine Konferenz in Laos, die Sombath Somphone im vergangenen Oktober mitorganisierte: Entwicklungshelfer und Landwirte trafen sich in Laos’ Hauptstadt zum Gedankenaustausch. Dabei kaum auch ein heikles Thema zur Sprache: der Landraub. Seit Jahren werden laotische Bauern von ihren Äckern vertrieben, weil die Regierung den Boden an ausländische Investoren verpachtet. Vor allem die benachbarte Volksrepublik China hat in Laos riesige Kautschukplantagen angelegt. China ist seit Jahren der weltweit größte Verbraucher von Kautschuk, doch das Land hat selbst nicht genug Anbauflächen. Dass in Laos Kritik an der Verpachtungspolitik tabu ist, zeigt unter anderem der Fall des Unternehmers Sompawn Khantisouk. Er hatte es 2007 gewagt, die Existenz chinesischer Plantagen im Norden Laos’ zu kritisieren. Kurz darauf wurde er von Sicherheitskräften verschleppt. Bis heute wird er vermisst. Text: Ramin M. Nowzad
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noBelpreisTräger fordern freiheiT fÜr liu XiAoBo
Als der Brief auf seinen Schreibtisch flatterte, dürfte Chinas neuer starker Mann wenig erfreut gewesen sein: In einem gemeinsamen Schreiben an den frisch gekürten Generalsekretär der Kommunistischen Partei, Xi Jinping, haben mehr als 130 Nobelpreisträger aus aller Welt die Freilassung des chinesischen Schriftstellers Liu Xiaobo gefordert. Liu Xiaobo ist weltweit der einzige Nobelpreisträger in Haft. Der heute 56-
chinA
Jährige wurde 2009 zu einer elfjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, weil er es wagte, in seiner Heimat tiefgreifende politische Reformen einzufordern. Im Jahr 2010 wurde er in Oslo in Abwesenheit mit dem Friedensnobelpreis geehrt. Das Schreiben an Parteichef Xi Jinping wurde von dem südafrikanischen Bischof und Menschenrechtsaktivisten Desmond Tutu initiiert, der 1984 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden
unTer mächTigen: AmnesTy-generAlseKreTär sAlil sheTTy in dAvos Der Kaffeegigant Starbucks macht in Deutschland seit Jahren Millionenumsätze. Und zahlte bisher keinen Cent Steuern. Ein Fall für Amnesty International? Ja, meint Salil Shetty, der Generalsekretär der Organisation. Der gebürtige Inder besuchte im Januar das »Weltwirtschaftsforum« im Schweizer Alpendorf Davos, um die dort versammelten Manager und Politiker für Menschenrechtsfragen zu sensibilisieren. Auf seiner
Agenda stand unter anderem das Thema »Steuergerechtigkeit«. Gerade in Zeiten, in denen Regierungen Sozialausgaben rigoros kürzten, sei es besonders verwerflich, dass es großen Konzernen gelinge, Millionen am Fiskus vorbeizuschleusen. Auch die weltweit wachsende Kluft zwischen Arm und Reich mahnte Shetty in Davos an. »Sicherlich gibt es kein Menschenrecht auf gleichen Wohlstand für alle«, sagte Shetty. »Aber es gibt interna-
Foto: Irene Hell News
schWeiz
»An Verantwortung erinnern.« Shetty (rechts) und Mexikos Ex-Präsident Felipe Calderón in Davos.
heXenjAgd in pApuA-neuguineA
pApuA-neuguineA Sie starb auf dem Scheiterhaufen, weil man sie für eine Hexe hielt: Ein aufgebrachter Mob hat Anfang Februar in Papua-Neuguinea eine 20-jährige Frau wegen »Hexerei« öffentlich gefoltert und lebendig verbrannt. Hunderte Schaulustige beobachteten die Tat in der Provinzhauptstadt Mount Hatten, darunter auch Schulkinder. Die Menge beschuldigte die Frau, einen Achtjährigen »verhext« und dadurch dessen Tod verur-
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sacht zu haben. Der Glaube an schwarze Magie ist in dem pazifischen Inselstaat weit verbreitet. Hunderte fallen ihm jedes Jahr zum Opfer, zumeist alleinstehende Frauen, die am Rande der Gesellschaft leben. Die vermeintlichen Hexen werden für Unfälle, Krankheiten, Missernten oder Todesfälle verantwortlich gemacht. Amnesty International hat die Behörden Papua-Neuguineas wiederholt aufgefordert, effektive Maßnahmen zu ergreifen, um
war. Auch Amnesty International unterzeichnete den Brief. Die Menschenrechtsorganisation hatte 1977 den Friedensnobelpreis erhalten. Weltweit schlossen sich inzwischen mehr als 450.000 Menschen der Petition an, die auch die Freilassung von Liu Xiaobos Ehefrau fordert: Liu Xia steht seit mehr als zwei Jahren unter Hausarrest, ohne dass gegen sie je ein Prozess geführt worden wäre.
tional gültige Normen, die jedem Menschen das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard zusichern, einschließlich angemessener Ernährung, Wasser und Obdach.« Salil Shetty besuchte das »Weltwirtschaftsforum« bereits zum dritten Mal. Das Forum ist mittlerweile ein Pflichttermin für die Mächtigen der Welt: Zu Beginn eines jeden Jahres treffen sich im verschneiten Wintersportort Davos Manager und Spitzenpolitiker, um Vorträgen zu lauschen, Ideen auszutauschen und Geschäfte anzuleiern. Nicht nur die Chefs der Weltkonzerne sind vertreten, sondern auch Dutzende Staatspräsidenten und Premierminister stehen auf der Gästeliste. »Natürlich beschleicht mich ein etwas merkwürdiges Gefühl, als Amnesty-Generalsekretär das ›Weltwirtschaftsforum‹ zu besuchen«, sagt Shetty, der die Menschenrechtsorganisation seit 2010 leitet. »Schließlich sitze ich in Davos mit Menschen aus Politik und Wirtschaft an einem Tisch, die Amnesty immer wieder scharf kritisiert. Aber es ist wichtig, die globalen Entscheidungsträger an ihre Verantwortung zu erinnern.«
derartige Gewaltakte zu unterbinden (siehe auch Amnesty Journal, 01/2012). Nur eine Woche nach der Tat ereignete sich in Mount Hatten ein weiterer Vorfall: Polizisten konnten eine wütende Menschenmenge in letzter Minute daran hindern, zwei Frauen anzuzünden, die man ebenfalls der Hexerei bezichtigte. Man warf ihnen vor, mit schwarzer Magie den Tod eines achtjährigen Mädchens herbeigeführt zu haben.
AmnesTy journAl | 04-05/2013
»Ich musste an Kafka denken.« Günter Wallraff kennt die türkische Menschenrechtsaktivistin Pınar Selek seit vielen Jahren. Das Urteil gegen sie hält er für einen Skandal.
gÜnTer WAllrAff
Foto: Hermann Bredehorst / Polaris / laif
inTervieW
»der prozess WAr gespensTisch« Mit diesem Urteil hatte kaum jemand gerechnet: Die im französischen Exil lebende Feministin Pınar Selek soll in ihrer Heimat lebenslang ins Gefängnis. Der Autor Günter Wallraff hat den Prozess in Istanbul beobachtet.
hatte. Man nahm sie im Juli 1998 fest und folterte sie. Doch sie blieb standhaft und gab keine Namen preis. Zwei Wochen später erfuhr sie im Gefängnis zufällig aus dem Fernsehen, dass man sie für die Explosion auf dem Basar verantwortlich machte.
Herr Wallraff, die türkische Justiz sagt, die Soziologin Pınar Selek sei eine Bombenlegerin. Glauben Sie das auch? Wer Pınar Selek kennt, weiß, wie absurd der Vorwurf ist. Man ist ja von der Türkei einiges gewohnt, aber dies ist selbst für türkische Verhältnisse eine Singularität. Man wirft Pınar Selek seit 15 Jahren vor, sie habe auf dem Gewürzbasar in Istanbul eine Bombe gezündet, die sieben Menschen in den Tod riss. Doch es gibt nicht die Spur eines Beweises. Die Anklage stützt sich auf das »Geständnis« eines angeblichen Komplizen. Aber der hat längst erklärt, dass seine Aussage durch Folter erpresst worden sei und er Pınar Selek gar nicht gekannt habe. Außerdem kamen Gutachter zu dem Schluss, dass nicht Sprengstoff, sondern eine defekte Gasflasche die Explosion auslöste.
Sie saßen nun während des jüngsten Prozesses im Gerichtssaal. Welchen Eindruck hatten Sie? Es war gespenstisch. Ich musste an Kafkas »Der Prozess« denken. Die ganze Verhandlung wurde flüsternd geführt, sozusagen hinter vorgehaltenen Aktendeckeln. Mehrfach wurde der Prozess unterbrochen. Man gewann den Eindruck: Die Richter telefonieren in den Pausen mit Ankara, um sich das Urteil von höchster Stelle diktieren zu lassen.
Pınar Selek wurde ja auch dreimal freigesprochen. Aber jedes Mal hob der Oberste Gerichtshof das Urteil wieder auf. Warum ließ die Justiz nicht locker? Es scheint so, als sei Pınar Seleks Verurteilung von allerhöchster Stelle angeordnet worden. Als unabhängige Soziologin hat sie sich viele Feinde gemacht. Ihre Studien über den Männlichkeitswahn der Armee düpierten die alten Militärs. Ihr Einsatz für die Rechte der Frauen und sexueller Minderheiten ist den Islamisten ein Dorn im Auge. Im Hass gegen Pınar Selek sind die alten und die neuen Mächte der Türkei vereint. Wie kam es überhaupt zu der Anklage? Pınar Selek forschte in den Neunzigern zur Kurdenfrage und recherchierte dabei auch im Umfeld der verbotenen PKK. Die Polizei erfuhr davon und wollte wissen, mit wem sie gesprochen
nAchrichTen
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inTervieW
Nach der Urteilsverkündung wirkte Pınar Selek wie unter Schock. Sie stand unter Schock! Sie ist in ihrem Land für viele Menschen eine Hoffnungsträgerin und wird dort gebraucht. Sie lebt ja nun schon seit Jahren im Exil. Nach dem letzten Freispruch im Jahr 2011 war Pınar Selek euphorisch. Sie saß schon auf gepackten Koffern und wollte sofort in die Türkei zurückkehren. Zum Glück hat sie dann doch noch ein paar Tage abgewartet, denn das Urteil wurde ja sofort wieder kassiert. Pınar Selek hat in Frankreich nun politisches Asyl beantragt. Die Türkei hat sie derweil bei Interpol zur Fahndung ausgeschrieben. Das ist der Gipfel der Unverfrorenheit. Man hat den Eindruck, die Türkei habe gar kein Interesse mehr, der EU beizutreten. Ich nannte das Land früher eine »Militär-Demokratur«: Trotz Wahlen behielten die Militärs die Zügel in der Hand. Nun entwickelt sich die Türkei zunehmend zu einer »Islamokratur«. Ich bin mir sicher: Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wird das Urteil keinen Bestand haben. Fragen: Ramin M. Nowzad
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AmnesTy journAl | 04-05/2013
Thema: Ägypten
Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit hießen die Forderungen, die zum Sturz des früheren Präsidenten Mubarak führten. Mehr als zwei Jahre später haben sich diese Hoffnungen noch lange nicht erfüllt. Im Gegenteil. Die islamistischen Muslimbrüder reagieren mit Gewalt und religiöser Rhetorik auf die Proteste der unzufriedenen Bevölkerung.
Ernüchterung zum Jahrestag. Auf dem Tahrir-Platz in Kairo, 25. Januar 2013. Foto: Xinhua News Agency / Polaris / laif
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Zwei Seiten des Aufbegehrens. Graffito an einer Wand in Kairo.
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AmnesTy journAl | 04-05/2013
Foto: Amnesty
Verlorenes Vertrauen
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Zum sechsten Mal innerhalb von zwei Jahren sollte das ägyptische Volk an die Urnen gerufen werden – dieses Mal zur Neuwahl des im Juni 2012 aufgelösten Parlaments. Doch Teile der säkularen und linksliberalen Opposition haben aus Protest gegen das Wahlgesetz zum Boykott der Parlamentswahlen aufgerufen. Zudem erklärte ein Kairoer Verwaltungsgericht die Pläne Anfang März wegen formaler Fehler für ungültig. Nun muss über einen neuen Termin entschieden werden. In den ersten Monaten nach dem erzwungenen Rücktritt von Präsident Mubarak war die Hoffnung auf einen demokratischen Wandel in Ägypten groß, was sich auch in einer hohen Wahlbeteiligung bei den ersten Parlamentswahlen vor rund zwei Jahren niederschlug. Doch von der euphorischen Stimmung, die zu Beginn der »Revolution des 25. Januar« herrschte, ist nicht mehr viel übrig geblieben. Bei der letzten Wahl – dem Referendum über den umstrittenen Verfassungsentwurf im Dezember 2012 – ging nur noch ein Drittel der Wahlberechtigten an die Urnen. Das ägyptische Volk ist zu Recht enttäuscht. Notwendige Initiativen, um die Armut zu bekämpfen, lassen auf sich warten. Für viele ist der tägliche Kampf ums Überleben härter geworden. Die berechtigte Forderung der Demonstranten nach einem Leben in Würde ist drängender denn je. Auch im Sicherheitsapparat hat sich nichts Grundlegendes geändert. Weder Präsident Mursi noch die verantwortlichen Minister haben sich bislang öffentlich für eine ernsthafte Polizeireform ausgesprochen. Im Gegenteil: Wenn Fälle von exzessiver Polizeigewalt gegen Protestierende oder Fälle von Folter in Haft anhand unwiderlegbarer Beweise wie Videoaufnahmen öffentlich werden, dann heißt es von offizieller Seite, »es handelt sich um isolierte Einzelfälle«. Ein Mantra, das schon während der Mubarak-Herrschaft regelmäßig bemüht wurde. Eine Abkehr von den tief verwurzelten Menschenrechtsverletzungen ist nicht zu erkennen. Ägyptische Menschenrechtsorganisationen warnen, dass Berichte über Misshandlung und Folter in den vergangenen Monaten zugenommen haben. Verantwortliche für Menschenrechtsverletzungen können sich sicher sein, straffrei davonzukommen. Lediglich eine Handvoll Polizisten und Soldaten verbüßt Haftstrafen wegen ihrer Beteiligung an der Tötung oder Verletzung von Demonstrierenden. Nicht ein weiterer Urnengang ist notwendig, um das Vertrauen der Ägypter in die staatlichen Institutionen wiederherzustellen, sondern ernsthafte und grundlegende Reformen. Das sollten sich die Kandidaten für das ägyptische Parlament auf ihre Fahnen schreiben. Ruth Jüttner ist Fachreferentin für den Nahen und Mittleren Osten der deutschen Amnesty-Sektion.
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Brot bedeutet
Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit. Demonstration in Kairo, Februar 2011.
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Die gesellschaftlichen Umbrüche in Ägypten haben vor allem soziale und ökonomische Ursachen. Die islamistische Muslimbruderschaft reagiert auf die Konflikte mit politischer Repression und religiöser Rhetorik. Von Hannes Bode
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Foto: Ed Ou / The New York Times / Redux / laif
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enn in den vergangenen Monaten über Ägypten berichtet wurde, standen zumeist Demonstrationen und Ausschreitungen im Fokus. Anlass der aufgeheizten Lage sei die Auseinandersetzung zwischen »den herrschenden islamistischen Muslimbrüdern und der säkularen Opposition«, heißt es regelmäßig in den Medien. Auch wenn diese Darstellung etwa in der Verfassungsfrage durchaus einen wahren Kern hat, verkennt sie die tatsächlichen Ursachen der gesellschaftlichen Krise in Ägypten. Denn die »kritische Masse«, die den Sturz Mubaraks erzwang, war nicht bei Facebook vernetzt und identifizierte sich nicht mit politischen Programmen – auf die Straße brachte sie schlicht die Verzweiflung angesichts sozialer Not und völliger Perspektivlosigkeit. Die Parole »Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit« war der kleinste gemeinsame Nenner von Millionen Ägyptern. Dass Brot im ägyptischen Dialekt »Leben« (’eesh) heißt, ist für sie mehr als nur eine sprachliche Pointe. Die Verwerfungen und Auseinandersetzungen der vergangenen Jahre kann man daher nur verstehen, wenn man sich die zugrunde liegenden sozioökonomischen und politischen Entwicklungen ins Gedächtnis ruft. Unter der Ägide des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank liberalisierte der damalige Präsident Anwar Sadat Ende der siebziger Jahre den Binnenmarkt und holte mit seiner Politik der »offenen Tür« ausländische Investitionen ins Land. Die Staatsverschuldung stieg rapide an, während zugleich die unter der vorherigen Regierung Nasser durchgeführten Landreformen rückgängig gemacht und staatliche Subventionen gestrichen wurden. Umfangreiche Importe etablierten die »Weizenabhängigkeit« des Landes. Inflation und Teuerung führten zu Protesten, die in den »Brotunruhen« kulminierten, bei denen Dutzende Menschen starben. In den neunziger Jahren erhielt Ägypten zwar weiterhin umfangreiche Kredite aus dem Westen, musste aber dafür seine Wirtschaft noch stärker deregulieren. Insbesondere die Kleinbauern bekamen dies zu spüren: Während sich die ägyptischen Großgrundbesitzerfamilien weite Teile verstaatlichten Besitzes und neuen wertvollen Boden- und Immobilienbesitz wieder aneignen konnten, stiegen die Pachtzinsen für die Kleinbauern dramatisch. Hunderttausende Familien verloren ihr Land, Hunderte Bauern starben bei kollektiven Protestaktionen gegen Räumungen, Tausende wurden verhaftet. Millionen von besitz- und arbeitslosen Landbewohnern sind seitdem in die ägyptischen Großstädte migriert, wo die massive Landflucht zur Entstehung gigantischer Slums beitrug. Auch die ägyptische Arbeiterschaft wurde von den ökonomischen Reformen schwer getroffen. Die vom IWF und der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung empfohlene und forcierte Privatisierung ehemaliger Staatsbetriebe führte zu Massenentlassungen. Wegen der hohen Inflation schrumpften die Reallöhne, die Preise insbesondere von Nahrungsmitteln stiegen jedoch deutlich an. Mittlerweile ist selbst nach offiziellen Angaben jeder zehnte Ägypter arbeitslos, unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen liegt die Arbeitslosenquote
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demnach gar bei mehr als 25 Prozent. Etwa die Hälfte der ägyptischen Erwerbspersonen ist in der Schattenwirtschaft, also informell, beschäftigt. Industriearbeiter, Angestellte oder Universitätsdozenten in Ägypten verdienen umgerechnet rund 300 Euro im Monat, die Bezahlung im Privatsektor und in der Schattenwirtschaft liegt oft weit darunter. Währenddessen kostet ein Kilo Fleisch bis zu neun Euro, die Energiepreise sind enorm gestiegen. So ist es nicht verwunderlich, dass die Mittelschicht in den vergangenen Jahrzehnten geschrumpft, die Armutsrate hingegen gestiegen ist. Während selbst nach Zahlen der Weltbank über die Hälfte der Bevölkerung an oder unter der Armutsgrenze lebt, gehen andere Beobachter davon aus, dass die Quote noch höher liegt. Viele Ägypter können sich täglich nur noch zwei Mahlzeiten mit Weizenfladen, etwas Salat und Öl leisten. In den Konflikten um bessere Arbeitsbedingungen, feste Verträge und höheren Lohn ist der Ursprung des »Arabischen Frühlings« zu sehen. Seit 2006 kam es jährlich zu mehr als 600 lokalen und wilden Streiks. Im September 2011 von Menschenrechtlern erhobene Daten zeigen, dass die nach dem Sturz Mubaraks erreichten größeren Freiheiten die Proteste beflügelten. In nur zwei Wochen fanden damals bereits 300 Protestaktionen statt, darunter 61 von Arbeitern, 56 von Lehrern und Universitätsmitarbeitern und 38 von Regierungsangestellten. Auch Ärzte, Reiseführer, Imame oder Fischer protestierten. Die Zahl unabhängiger Gewerkschaften geht mittlerweile in die Hunderte, viele sind in der Föderation unabhängiger Gewerkschaften (EFITU) organisiert. Der offizielle ägyptische Gewerkschaftsverband versuchte erfolglos, dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Aber auch die Muslimbrüder haben sich wirtschaftspolitisch im »nach-revolutionären« Ägypten bereits eindeutig positioniert. Das zentrale Programm der Muslimbrüder, »nahda« (Renaissance), kündigt die Schaffung einer »Wirtschaft mit hoher Wertschöpfung« und die Ausrichtung des Ausbildungssystems auf den Arbeitskräftebedarf an. Geht es um soziale Gerechtigkeit, bringen sie ein umfassendes Almosensystem und gemeinschaftliche Verantwortung für den Nächsten ins Spiel – und nicht etwa die Tariflohn- oder Eigentumsfrage. Sie kritisieren daher auch die Arbeitsniederlegungen und Protestaktionen. Führende Muslimbrüder bezeichneten streikende Arbeiter sogar als Kriminelle oder »Konterrevolutionäre«. Die grundsätzliche Gegnerschaft der Muslimbrüder gegenüber politischer Organisierung der Arbeiterschaft ist dabei nichts Neues. Schon in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts intervenierten sie teils mit Gewalt auf Seiten der Regierung und der Unternehmer gegen streikende Arbeiter in der Textilindustrie. Unter Präsident Sadat kooperierte die Regierung in den siebziger Jahren mit den eigentlich verbotenen Muslim-
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brüdern. Um seine Repressionsmaßnahmen gegen linke Oppositionelle abzusichern, machte Sadat den Islamisten Zugeständnisse. Sie mussten sich aus der Politik heraushalten und konnten dafür mehr oder weniger offen ein enormes Netzwerk religiöser und sozialer Einrichtungen aufbauen. Der Staat wurde dadurch im sozialen Bereich entlastet, während die Muslimbrüder neue Anhänger gewannen. Über Jahrzehnte etablierte die streng hierarchische Vereinigung eine eigene Predigt-, Sozial-, Finanz- und Sicherheitsstruktur. Organisatorisch wie ideologisch ausgehend vom Einzelnen und der Familie als erster Zelle der Gesellschaft, verfügt diese über eine komplexe Hierarchie regionaler und nationaler Einheiten, die einem Leitungsgremium unter dem obersten Führer (murshid al-’amm) zu striktem Gehorsam verpflichtet sind. In den Syndikaten des Landes, in Universitäten, in Gerichten wie in der öffentlichen Verwaltung sind Muslimbrüder aktiv. Das über Jahrzehnte etablierte Netzwerk von Moscheen, Schulen und Sozialeinrichtungen und die resultierende feste Verankerung der Muslimbrüder in der Gesellschaft waren die Grundlage für ihre Wahlerfolge, ebenso wie ihre finanzielle Macht. Ein bedeutender Teil der milliardenschweren ägyptischen Unternehmerelite wird von Muslimbrüdern gestellt. Dass die Muslimbrüder nun gegen Streiks vorgehen und die zügige und konsequente Fortführung der von westlichen Kreditgebern »empfohlenen« Reformen ankündigen, verwundert daher nur auf den zweiten Blick. Ein von Mursi erlassenes Gesetz »zum Schutz der Revolution«, das er nach seiner vorübergehenden vollkommenen Selbstermächtigung unter Ausschaltung der Judikative durchsetzte, ordnet die Strafverfolgung von Streikenden und Streikorganisatoren an. Mit einem weiteren Dekret beschloss er die vorübergehende Neubesetzung leitender Positionen im offiziellen Gewerkschaftsverband – bis zu 150 Anhänger oder Sympathisanten der Muslimbrüder könnten so auf zentrale Positionen gelangen. Ein kürzlich von den Muslimbrüdern vorbereitetes Gesetz, das ironischerweise auf einer Vorlage aus Kolonialzeiten beruht, schränkt zudem das Demonstrationsund Streikrecht massiv ein. Und auch die unter Ausschaltung der Kontrollinstanz der Judikative durchgesetzte Verfassung beschränkt die unabhängigen Gewerkschaften und ermöglicht es, sie durch Gerichtsbeschluss aufzulösen. Doch es greift zu kurz, nur auf die Wirtschaftspolitik einzugehen und den ideologischen Hintergrund der Muslimbrüder und des Verfassungstextes zu missachten. Das wird deutlich, wenn man auch andere Bereiche im Verfassungstext betrachtet, in dem sich neoliberale Marktorientierung, postrevolutionäre Rhetorik und islamistische Ideologie treffen. Die »im Namen Gottes und mit seiner Hilfe« gegebene Verfassung beruht auf einem Gemeinschaftsverständnis, das ein nationalistisches Kollektiv der Ägypter und ein religiöses Kollektiv der Muslime (umma) konstruiert und zusammenführt. Kern der Gemeinschaft ist die Familie, die wiederum auf »Patriotismus, den ägyptischen Sitten und der Religion« beruhe. Denn solche vagen Konzepte werden von denjenigen mit Bedeutung gefüllt, die die politische Macht, die Diskursmacht innehaben – momentan eben den Islamisten. Es ist daher über alle Maßen problematisch, dass die in der Verfassung verbrieften Grund- und Bürgerrechte dahingehend eingeschränkt wurden, dass sie in diesen »Grundwerten« ihre Grenze finden. Kritik an der Regierung, einer Religion oder ihren Vertretern könnte damit ebenso kriminalisiert werden, wie jegliches individuelle Verhalten, das in den Augen staatlicher Organe oder einflussreicher Gruppen aus ver-
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Fotos: Massimiliano Clausi / laif
»Dass Brot im ägyptischen Dialekt ›Leben‹ heißt, ist mehr als nur eine sprachliche Pointe.«
Zwei Mahlzeiten am Tag. Eine von vielen Elendssiedlungen in Kairo.
schiedensten Gründen »ägyptischen Sitten« widerspricht. Dass die Auslegung von Gesetzen mit Bezug zur Scharia nun nicht länger der Judikative obliegt, sondern einer religiösen Institution, ist ein weiterer Kernbestandteil der Islamisierung der Verfassung im Sinne der Ideologie des politischen Islam. Dessen Vertreter übergehen damit die eigentliche Komplexität des Schariarechts und die Tradition eines pluralen Auslegungsdiskurses der Rechtsgelehrten. Eine versteckte Klausel revolutioniert zudem das gesamte Rechtssystem. Galt bislang der Grundsatz, dass Strafe auf Gesetzestext beruhen muss, wurde dieser Passus nun durch das Wort Verfassungstext ergänzt. Damit wird eine Strafverfolgung von Andersdenkenden und jeglichem »divergentem Verhalten« ermöglicht, ohne dass das kodifizierte ägyptische Recht noch berücksichtigt werden muss. Konkreten Interessensgegensätzen stellen die Muslimbrüder eine nationalreligiöse Solidargemeinschaft entgegen. Da die Regierung und der Präsident nun in den Augen mancher Islamisten die Verwirklichung dieser Gemeinschaft betreiben, handeln ihre Gegner, von denen sich viele als gläubige Muslime sehen, in der Konsequenz unislamisch, können sogar zu Ungläubigen erklärt werden (takfir). Manchen Islamisten aus den Reihen der sogenannten Salafisten sind dabei selbst Mursi und die Muslimbrüder zu unislamisch – da sie die Macht über Wahlen ergriffen haben und nun für Strukturen verantwortlich sind, die religiösen Geboten widersprechen. Die Opposition, die sich in der »Nationalen Rettungsfront« organisiert hat, hat die islamistische Verfassung scharf kritisiert und die Legitimität und Legalität des verfassungsgebenden Pro-
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zesses in Frage gestellt. Unterstützten diese Kritik anfänglich noch Hunderttausende, so hat die Mobilisierungskraft der Opposition in den vergangenen Monaten stark abgenommen. Gleichzeitig ist die soziale Misere, die für die Mehrheit der Bevölkerung alltägliche Konsequenzen hat, aus dem Fokus der politischen Akteure geraten. Keinen Einfluss haben sie auf die fast täglichen spontanen Unruhen in vielen ägyptischen Städten, die sich meist gegen Symbole des Staates wie Verwaltungsgebäude und insbesondere Polizeiwachen richten. Es kommt zu brutalen Gewaltakten im ganzen Land, da die Auflösungserscheinungen des Staates immer mehr Aggressionen freisetzen – Folgen der Sozialisation in autoritären und gewalttätigen Strukturen und anhaltender Frustrationserfahrungen. Vielerorts befinden sich zudem Arbeiter und Angestellte in wilden Streiks. Gleichzeitig halten Inflation und Teuerung an. Die Regierung bangt hingegen um umfangreiche Kredittranchen, die sie nur erhalten wird, wenn sie Sparmaßnahmen nachweist. So sollen die Steuern erhöht, weitere Staatsunternehmen privatisiert und Subventionen im Energiebereich gekürzt werden. Die Arbeitslosen- und die Armutsquote werden weiter zunehmen und damit auch soziale Unruhen. Symbolisiert wird die Misere von einem Arbeiterprotest in Kairo. Als ihrer Fabrik nach der Privatisierung des Unternehmens der Abriss drohte, da der Investor schlicht das Bauland für Luxusimmobilien verkaufen wollte, riefen sie genauso entschlossen wie verzweifelt: »Wer schreit, stirbt nicht!« Der Autor ist Islamwissenschaftler und Historiker und lebt in Halle.
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Berichte
42 Nigeria: Kreislauf der Gewalt 46 Mali: Verlorenes Vorbild 48 Russland: NGOs im Visier 50 Aserbaidschan: Unter Beobachtung 52 Digitale Waffen: Spionagesoftware aus Deutschland 54 Syrien: Krieg in Aleppo 58 Interview: Selmin Çalıs¸kan 60 Zum Abschied: Wolfgang Grenz
Der größte christlich-islamische Staat der Welt. Bewohner eines nigerianischen Dorfes, in dem im August 2012 acht Menschen bei einem Anschlag der islamistischen Sekte Boko Haram getötet wurden. Foto: Andy Spyra
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Eine Stadt im Krieg »Sie haben den Tod verdient.« Im Viertel Tarik al-Bab in Aleppo, das von den Rebellen kontrolliert wird.
Im Juli 2012 kam der Krieg nach Aleppo und die Stadt im Norden Syriens wurde zum Schlachtfeld. Von der Euphorie, die den Aufstand gegen das Regime von Präsident al-Assad anfangs kennzeichnete, ist nicht mehr viel zu spüren. Die Menschen versuchen, irgendwie zu überleben. Der Journalist Carsten Stormer hat Aleppo in den vergangenen Monaten mehrmals besucht. Als ich Syriens größte Stadt im Juli 2012 das erste Mal besuche, bereiten Oppositionelle und Rebellen in konspirativen Wohnungen den Sturz des Regimes vor. Wochenlang haben die Aufständischen den Angriff auf Aleppo geplant. Bis dahin war die Stadt von Kämpfen weitestgehend verschont geblieben. Nur in manchen Stadtteilen, wie Salah Eddine, kommt es während meines Besuches täglich zu Massendemonstrationen und Zusammenstößen zwischen Regierungsanhängern und Opposition. Es ist eine Mischung aus Anwälten, Journalisten, Studenten, Kaufleuten und Rebellen, die sich jede Nacht heimlich treffen. Tagsüber schlafen sie, die Nacht gehört der Revolution. Sie alle werden von der Polizei gesucht, stehen auf Fahndungslisten des Geheimdienstes, können sich nie länger als wenige Stunden an einem Ort aufhalten, meiden ihr Zuhause, um ihre Familien nicht zu gefährden und wechseln täglich den Schlafplatz. Zur gleichen Zeit sickern Tausende Kämpfer, unbemerkt von den Spitzeln und Soldaten des Regimes, in die Stadt ein. In den Außenbezir-
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Fotos: Carsten Stormer
ken Aleppos nehmen Rebelleneinheiten die Waffen in Empfang und verteilen sie auf die Stadtviertel. Im Zick-Zack fahren mich die Rebellen von Versteck zu Versteck, umkurven Checkpoints, nehmen kilometerlange Umwege in Kauf, wechseln mehrfach die Autos. Auf der Dachterrasse eines unscheinbaren Mietshauses treffen sich an einem Abend Mitte Juli ein Dutzend Aktivisten mit Kämpfern der FSA. »Wir werden Aleppo bald befreien«, sagt Abu Hamid, ein 36-jähriger Anwalt mit Stirnglatze und rotblondem Kraushaar. Wie alle hier hat auch er Freunde verloren, die unter Folter in Gefängnissen gestorben sind oder weil Polizisten und Schabiha-Milizionäre in Demonstrationen schossen. Mobiltelefone wandern von Hand zu Hand, darin die Bilder der Getöteten. Abu Kassim, ein 19-jähriger FSA-Kämpfer, zeigt Videos, die er auf seinem Telefon gespeichert hat. Auf einem schneiden Rebellen zwei jungen Männern bei lebendigem Leib die Köpfe ab und legen sie wie Trophäen einer Großwildjagd auf die Körper der Toten. Die Opfer sollen der Schabiha-Miliz angehört haben und mehrere Menschen getötet haben. Der Richter der Männer ist gleichzeitig ihr Henker. Ein anderes Video zeigt die entstellten Leichen von 25 Männern. Auch sie sollen der Schabiha angehört haben. »Wir haben sie getötet. Ich war dabei. Sie haben den Tod verdient«, sagt Abu Kassim und zündet sich eine Zigarette an. »Aber wir sollten ihnen nicht die Köpfe abschneiden. Das macht nur Al-Qaida und mit diesen Leuten wollen wir nichts zu tun haben.«
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Schleichwege. Jeder Gang birgt ein unkalkulierbares Risiko.
Lange war es ruhig in diesem Teil Syriens, nur zwanzig Kilometer von der türkischen Grenze entfernt. Die Nachrichten aus den Rebellenhochburgen Homs, Hama, Damaskus und Daraa kamen hier nur als Schauergeschichten an. Die Revolution erreichte Aleppo erst spät. Auch hier begann der Aufstand gegen das Regime mit Demonstrationen. Erst waren es nur ein paar Dutzend Menschen, die sich auf die Straßen trauten, dann Hunderte und schließlich Tausende, die mehr Freiheit und Reformen verlangten. Nach und nach verjagten die Menschen die Handlanger der Machthaber: die Bürgermeister, die Polizisten und die Schabiha, die Spitzel und Henker des Regimes. Dann war der Weg nach Aleppo frei – die Stadt, von der viele glaubten, dass sie entscheidend sei für den Sturz des Regimes. Doch diejenigen, die glaubten, einen schnellen Sieg zu erringen, täuschten sich. *** Ende Oktober 2012 besuche ich Aleppo zum zweiten Mal. Der Krieg hat sich inzwischen längst festgebissen wie ein Pitbull, und das Leben atmet nur noch schwach in der Stadt: Die Händler, die Gewürze, Zuckergebäck, Datteln und Stoffe anbieten, sind aus den Bazaren verschwunden. In den alten verwinkelten Gassen der historischen Altstadt tobt jetzt ein grausamer Häuserkampf. Die Menschen sind zwischen verirrten Kugeln, Rake-
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ten und Granaten eingeschlossen. Gemeinsam mit Zivilisten renne ich über Straßen, an deren Ende Scharfschützen auf jeden schießen, der sich auf die andere Seite wagt, und krieche durch in Wände geschlagene Löcher von Haus zu Haus. In vielen haben sich Rebellen verschanzt und in einem werde ich Zeuge, wie ein regierungstreuer Scharfschütze einen Scharfschützen der Rebellen erschießt. Seitdem die Rebellen den Krieg nach Aleppo getragen haben, hat sich die Stadt in eine Hochburg des Widerstands verwandelt. Die aufständischen Viertel werden von den Regierungstruppen ununterbrochen beschossen, dabei kommen Artillerie, Panzer, Kampfflugzeuge und Hubschrauber zum Einsatz. Die Zivilisten sind dabei zwischen die Fronten geraten, sie sind Bauernopfer in einem brutalen Schachspiel, das derzeit keine Seite gewinnen kann. Der Tod kommt willkürlich und überall. Jede Besorgung, jede Fahrt ins nächste Stadtviertel birgt ein unkalkulierbares Risiko und kann tödlich enden. Die Bewohner sind es leid, ihre Angehörigen zu begraben. Sie sind es leid, dass sie aus Angst vor Scharfschützen ihre Häuser nicht mehr verlassen können. Wer kann, flieht aus der Stadt. Wer Arbeit hat, arbeitet. Wer keine hat, sucht nach Informationen, die Leben retten können: Wo haben sich die Scharfschützen eingenistet, welche Straße ist sicher, wo gibt es Brot? Doch selbst der Gang zum Bäcker ist lebensgefährlich. Seitdem sich Aleppo im Belagerungszustand befindet, ist Brot knapp geworden. Ich laufe stundenlang durch die Stadt, besuche Krankenhäuser, Leichenhallen, Bäckereien, Ärzte, werde von wildfremden Menschen auf eine Tasse Tee eingeladen. Als ich eines nachmittags durch die Straßen des Shaar-Viertels laufe, donnert ein Kampfflugzeug über die Straße und feuert zwei Raketen auf ein Wohnhaus ab. Die Welt versinkt in Dunkelheit. Dann sickert die Sonne wieder langsam hindurch. Ein fahler Strahl, der durch die Wolke aus Staub und Schutt einen Weg sucht. Mauerstücke und Möbel fallen vom Himmel, verkrüppelter Stahl hängt in Fetzen von Häuserfassaden. Eine schwere Stille hängt über der Straße wie ein Laken. Gestalten entsteigen diesem Inferno, wankende und hustende Schatten. Niemand spricht. Unglaube und Angst stehen in ihren Gesichtern. Die Augen weit aufgerissen, erstaunt, noch am Leben zu sein. Der Staub verklebt Haare, er verkrustet auf schweißnasser Haut und streicht die Menschen grau. Die Bewohner dieser Straße wurden binnen eines Wimpernschlags aus dem Leben gerissen, mit der Wucht zweier Raketen, abgefeuert aus einem Kampfflugzeug der syrischen Armee. Sie trafen das oberste Stockwerk eines Mietshauses, aus dem fünften Stock schlagen Flammen. Die Explosion hat Balkone abgerissen, Scheiben zerspringen lassen, Mauern geknackt. Als sich der Staub legt und sich das Ausmaß der Zerstörung aus dem Dunst schält, beginnen die Menschen ihr Leben in den Trümmern zu sortieren. Sie blicken aus Löchern, die herumfliegende Trümmer in die Wände getrieben haben, schütteln Staub aus ihren Haaren. Sie rufen sich gegenseitig zu, ob jemand verletzt oder getötet wurde, schreien um Hilfe. Menschen laufen panisch durcheinander, als am Himmel wieder ein Kampfflugzeug auftaucht – wie ein Raubvogel auf der Suche nach Beute. »Ja, es gab Tote«, sagt ein Mann und zeigt auf eine Wohnung, aus der Rauch aufsteigt. Ibrahim stand im Flur, als die Rakete das Wohnzimmer traf, in dem seine Eltern vor dem Fernseher saßen. Die Explosion schleuderte ihn gegen die Wand, doch er blieb unverletzt. Er steht im fünften Stock des brennenden Hauses, Rauch quillt durch das Treppenhaus, Freunde und Nachbarn hetzen die Trep-
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pen hinauf und hinunter, in den Händen Eimer und Behälter gefüllt mit Wasser, in dem vergeblichen Versuch, die Flammen zu löschen. Nebenan im Wohnzimmer verbrennen Ibrahims Vater und Mutter, der Geruch von verbranntem Fleisch hängt in der Wohnung. Ein junger Mann übergibt sich im Treppenhaus. »War mein Vater ein Terrorist? War meine Mutter eine Terroristin?«, ruft Ibrahim und beginnt zu weinen. »Baschar al-Assad hat meine Eltern getötet! Wofür? Wofür!« Dann lehnt er sich an die verrußte Wand, schlägt die Hände vors Gesicht und rutscht langsam in die Hocke. Freunde knien neben ihm, um zu trösten, nehmen ihn in den Arm, schwören Rache. Nach einer Stunde ist das Feuer so weit unter Kontrolle, dass ein paar Männer über die Reste des Balkonsimses in das Wohnzimmer klettern können. Sie ziehen einen verkohlten Körper unter einem Tisch hervor, wickeln ihn in eine Plüschdecke und rufen: »Allahu Akbar, Allahu Akbar!« Gott ist groß. Rauch quillt aus dem kokelnden Leichnam unter der Decke hervor. Ibrahim soll die Körper identifizieren, aber sie sind so entstellt, dass er nicht sagen kann, wer Mutter, wer Vater ist. »Baba? Mama?«, flüstert er fassungslos. Für einen würdevollen Abschied von den Toten bleibt in diesem Krieg kaum Zeit. Die verbrannten Leichen von Ibrahims Eltern liegen keine zwei Stunden nach dem Angriff auf der Ladefläche eines weißen Kleinlasters, der hupend durch die Straßen Aleppos rast. Auf dem Märtyrer-Friedhof, am Stadtrand von Aleppo, bereiten Totengräber in Schichtarbeit die Gräber zukünftiger Toter vor. Es muss schnell gehen, zu oft schon wurden Beerdigungen mit Granaten beschossen. In der Ferne fliegen Hubschrauber und Kampfflugzeuge über Aleppo, schwarze Rauchsäulen steigen in den Himmel, als man Ibrahims Eltern in einem Grab aus Baustoffziegeln ablegt. Ein Verwandter spricht ein kurzes Gebet. »Ich habe die Hoffnung aufgegeben, dass uns jemand zu Hilfe kommt. Amerika, Europa, die Türkei, die Arabische Liga, die sehen alle zu und tun nichts«, sagt Ibrahim, als er sich von seinen Eltern verabschiedet hat. Dann fährt er zurück nach Aleppo, zu den Bomben und Scharfschützen. Eine Stadt wie er selbst: obdachlos und Vollwaise.
Im Februar 2013 ist aus dem arabischen Frühling ein syrischer Winter geworden. Von der anfänglichen Euphorie des Aufstands ist nicht mehr viel zu spüren. Die Hoffnung auf einen Neuanfang ist Verzweiflung gewichen. Seit Wochen ist Aleppo von der Strom- und Wasserversorgung abgeschnitten. Hungrige Menschen ziehen bettelnd durch die Straßen. Menschliches Treibgut des Krieges, das niemand haben möchte, angeschwemmt aus den umkämpften Vierteln Aleppos und anderen Teilen Syriens; aus Azaz, Marea, Idlib, Atarib. Bäckereien sind oft geschlossen, weil es kaum noch Mehl gibt. Ein Kilo Brot kostet inzwischen fünfmal so viel wie noch vor sechs Monaten. Unerschwinglich für viele Menschen, die in einer Stadt ohne Arbeit und Einkommen leben. Die Temperaturen fallen auf null Grad und in den Häusern frieren diejenigen, die nicht wissen, wohin sie fliehen sollen. Um der Kälte zu trotzen, verbrennen Anwohner Müll in ihren Wohnungen oder fällen die Bäume der Stadt. Und ein Ende des Leidens ist nicht in Sicht. An dem Tag, an dem die Rebellen der Freien Syrischen Armee Luftwaffenstützpunkte und Aleppos internationalen Flughafen angreifen und die Regierungssoldaten immer weiter zurückdrängen, schlägt das Regime mit Kampfhubschraubern und Flugzeugen zurück. Wie wütende Insekten kreisen sie am Himmel, schießen wild auf Stellungen der Rebellen und treffen meist doch nur Wohngebiete und töten Zivilisten. Am Morgen explodiert eine Granate in einem Straßenzug und tötet neun spielende Kinder. Nachmittags schlägt eine Rakete neben einem Kebab-Stand im Viertel Tarik al-Bab ein. Nachts rollt das Donnern der Panzergranaten über die Stadt, ununterbrochen. Und in der Innenstadt ist ein Krieg der Scharfschützen entbrannt. Das Viertel Karm el-Jebel, unweit der historischen Altstadt, wird seit Monaten verbissen von halbwüchsigen Rebellen gehalten, oft mit nicht mehr als ein paar Patronen in den Magazinen ihrer Kalschnikows. »Wir können nicht mehr angreifen, weil wir kaum noch Munition haben«, sagt Ahmed, ein 22-jähriger Scharfschütze, der sich in einem Zimmer im fünften Stock einer Ruine verschanzt hat und durch ein Loch in der Wand auf Stellun-
Brot ist knapp. Bäckerei in Aleppo.
»Warum hilft uns niemand?« Krankenhaus in einem Hinterhof.
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Häuserkampf. Ein Scharfschütze zielt auf Regierungssoldaten.
»Die Welt hat uns vergessen.« Demonstration nach dem Freitagsgebet.
gen der Regierung schießt, keine dreißig Meter von seinem Versteck entfernt. »Wir müssen Munition sparen, falls uns die Regierung angreift.« Karm el-Jebel ist nach sechs Monaten Häuserkampf eine Ruinenlandschaft, in der mal die Rebellen ein paar Meter gewinnen, mal die Regierungssoldaten. Zerschossene Fassaden, gespickt mit Einschusslöchern. Eingestürzte Stockwerke, Schuttberge, ausgebrannte Geschäfte, entvölkertes Niemandsland. Ständig explodieren Granaten und in den ausgebombten Straßenzügen rosten Panzerwracks und liegen Tote, die niemand bergen kann. Noch immer desertieren Regierungssoldaten und schließen sich der Freien Syrischen Armee an. Als ein junger Mann in Uniform über eine Straße läuft, durchschlägt eine Kugel seine Wade. Er krümmt sich am Boden, ein Rebell zieht ihn aus der Schusslinie. »Allahu Akbar«, ruft der Mann im Schock. »Hätte er mich doch nur im Kopf getroffen. Dann wäre alles vorbei.«
Alltag in Aleppo, während Syrien längst zum Spielball in einem globalen Machtkampf geworden ist: Russland, China, Iran und die libanesische Hisbollah auf der einen Seite, Europa, die USA, Katar, die Türkei und Saudi-Arabien auf der anderen. Die Menschen fühlen sich im Stich gelassen, in die Verzweiflung mischt sich Hoffnungslosigkeit und Wut über die Gleichgültigkeit. »Die arabische Welt hat uns verraten, dem Westen sind wir gleichgültig, und die Welt hat uns vergessen«, sagt Doktor Abdul, ein erschöpfter junger Kinderarzt mit müden Augen und buschigem roten Bart. Er steht im Erdgeschoss einer kleinen Einkaufspassage, die jetzt als notdürftiges Krankenhaus herhält. Doktor Abdul ist einer von sechs Ärzten, die nicht aus Aleppo geflohen sind, neben ihm liegt ein toter Mann mit offenem Schädel und abgerissenem Unterschenkel auf einer Trage. Doktor Abdul steht in einer Blutlache, seine Jeans ist mit Blut befleckt. »Warum hilft uns niemand?«, fragt er verzweifelt, beschimpft das Regime, klagt Europa und Amerika an, dem Morden tatenlos zuzusehen. »Indem die Welt zusieht, hilft sie dem Regime, uns zu töten!« Dann schimpft er auf die Dschihadisten und Islamisten, die der Westen als Terroristen ansieht und die immer mehr an Einfluss gewinnen. »Das sind Verrückte, die die Revolution und den Islam verraten. Wir teilen deren Auffassung des Islam nicht, aber wir können es uns nicht leisten, wählerisch zu sein. Wir müssen die akzeptieren, die uns helfen wollen, weil es sonst niemand tut«, sagt er und fügt hinzu, dass das syrische Volk nicht die Diktatur Assads gegen eine islamistische austauschen möchte. »Dafür kämpfen und sterben wir nicht.« Während er spricht explodiert eine Granate im Viertel Hanao und kurz darauf werden Menschen mit abgetrennten Gliedmaßen und klaffenden Wunden auf Bahren in die Einkaufspassage gebracht, in die die Einwohner Aleppos nur noch zum Sterben kommen. Der Autor ist Journalist und lebt in Manila.
Hoffnunglosigkeit und Wut. Beerdigung eines Rebellen.
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Foto: Christian Ditsch / Amnesty
Sinn für Ungerechtigkeiten. Selmin Çalışkan.
»Amnesty lebt von den Aktivisten« Seit dem 1. März 2013 führt Selmin Çalıs¸kan die deutsche Sektion von Amnesty International. Was hat Sie dazu gebracht, sich für Menschenrechte einzusetzen? Meine Erfahrung als Tochter türkischer Einwanderer hat da sicher eine große Rolle gespielt. Ich habe die Ablehnung von uns »Gastarbeitern«, wie wir damals bezeichnet wurden, gespürt. Zum Beispiel habe ich mitbekommen, wie mein Vater grundlos beschimpft wurde oder sein Ausweis auf der Straße einfach so kontrolliert wurde – zu einer Zeit als wir schon 30 Jahre in Düren lebten. Gleichzeitig wollte ich mich auch nicht mit der Rolle von Mädchen und Frauen in einer traditionellen türkischen Familie abfinden. Ich habe mich früh gegen beides aufgelehnt, und einige Lehrerinnen und Lehrer haben mich in meinem Sinn für Ungerechtigkeiten bestärkt.
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Wie kamen Sie von dieser Erfahrung zum politischen Engagement? Mit 16 hatte ich schon Freundinnen und Freunde, die sich für politische Gefangene in der Türkei eingesetzt haben. In dem Zusammenhang habe ich auch die Arbeit von Amnesty International kennengelernt. Den Namen »Amnesty« habe ich zuerst auf Türkisch gehört. Als 20-Jährige begann ich dann in Bonn selbst als Beraterin für Migranten und Flüchtlinge zu arbeiten. Mich für Menschenrechte einzusetzen, das war seit meinen Jugendjahren eine Herzensangelegenheit für mich. Sie haben in den vergangenen Jahren für die Frauenrechtsorganisation »Medica Mondiale« in Afghanistan, in der Demokratischen Republik Kongo und in Liberia gearbeitet, später für die »European Women’s Lobby« in Brüssel. Dabei stand der Einsatz für Frauenrechte im Vordergrund. Als Generalsekretä-
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rin von Amnesty Deutschland müssen Sie Ihren Blick erweitern … Ich habe die Frauenrechte nie isoliert betrachtet. Ich habe mich zuerst mit der Gesamtlage befasst und dann gefragt: Wie sind hier die Frauen besonders betroffen? Warum entscheiden hier die Frauen nicht gleichberechtigt mit? Deshalb bin ich in viele Themen, die auch für Amnesty wichtig sind, bereits eingearbeitet, wie z.B. notwendige Reformen der Sicherheitskräfte, bewaffnete Konflikte, Zwangsräumungen oder die Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofs. Auch bei der Beratung von Flüchtlingen und Migranten gibt es viele Überschneidungen zur Arbeit der Asylgruppen von Amnesty. Gibt es Themen oder Anliegen, die Sie bei Amnesty stärker vertreten wollen? Ich fände es schlicht arrogant, nach ein paar Tagen im Amt zu sagen: Das und das muss sich ändern oder das und das hätte ich gern umgesetzt. Was ich aber schon sagen kann: Ich möchte mithelfen, dass sich auch mehr Menschen aus Einwandererfamilien bei Amnesty engagieren. Vielleicht kann ich da eine Art Vorbild sein. Im Sommer wird der Internationale Rat von Amnesty in Berlin tagen … Darauf freue ich mich sehr. Mehr als 500 Amnesty-Delegierte aus mehr als 80 Ländern, die über die Grundlagen unserer Arbeit diskutieren und entscheiden. Eine gute Gelegenheit für mich, die internationale Amnesty-Bewegung genauer kennenzulernen, aber auch eine gute Gelegenheit, den internationalen Charakter unserer Organisation zu zeigen. Vielleicht können wir ja gemeinsam vor das Brandenburger Tor ziehen, um dort lautstark unsere Forderungen an die deutsche Politik zu formulieren.
»Die Botschaft von Amnesty ist doch: Jeder kann mitmachen und gemeinsam können wir etwas ändern .« Ist das nicht ein ermüdendes Geschäft? Ja, es kostet Kraft. Aber der Einsatz gibt auch Kraft – gerade wenn wir Menschen unterstützen können, die in schwierigeren Situationen als wir für ihre Rechte kämpfen. An wen denken Sie da? In den Eilaktionen von Amnesty finden sich viele Beispiele. Eines ist die iranische Rechtsanwältin Shadi Sadr, die eine Kampagne gegen Steinigungen in Iran gestartet hat. Als sie 2009 in Teheran in ein Auto gezerrt, festgenommen und misshandelt wurde, hat Amnesty sofort eine Eilaktion für ihre Freilassung gestartet. Sie kam frei. Inzwischen musste sie ins Exil gehen, setzt sich aber weiter für Menschenrechte ein und steht immer noch in Kontakt mit Amnesty. Zu wissen, dass wir solchen Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidigern auf der ganzen Welt den Rücken stärken können, das gibt Kraft. Fragen: Uta von Schrenk
Kommt da die Aktivistin durch? Warum auch nicht? Amnesty lebt von den Aktivisten, die Briefe schreiben, aber auch auf die Straße gehen. Die Botschaft von Amnesty ist doch: Jeder kann mitmachen und gemeinsam können wir etwas ändern. Aber ich war, bevor ich zu Amnesty kam, nicht nur Aktivistin, sondern auch Lobbyistin. Vor diesem Hintergrund freue ich mich ungemein, wenn ich künftig beim Außenminister sitzen werde und weiß: Ich sitze hier nicht allein, Millionen Amnesty-Unterstützer sitzen sozusagen mit am Tisch, wenn ich unsere Anliegen vortrage. Eines dieser Anliegen ist die Verhinderung von Waffenlieferungen, die zu Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen beitragen. Im März wurde in New York das Internationale Waffenhandelsabkommen verhandelt. Was verändert so ein Abkommen, wenn es in Kraft tritt? Das ist ein großer Schritt, auch wenn es natürlich nicht sofort alle unverantwortlichen Rüstungslieferungen stoppt. So ein rechtsverbindliches Abkommen schafft einen Maßstab, an dem wir die Staaten messen können. Wir können dann leichter öffentlichen Druck aufbauen und in Lobbygesprächen darauf pochen, dass keine Waffen geliefert werden, mit denen anschließend auf friedliche Demonstranten geschossen wird oder die einen Krieg wie im Kongo am Laufen halten, in dem täglich Frauen vergewaltigt werden. Für uns hört die Arbeit auf dem Gebiet also nicht auf, wenn ein solcher Vertrag in Kraft getreten ist. Es geht um das Bohren dicker Bretter.
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selmin ÇAlişKAn
inTervieW selmin ÇAlişKAn Selmin Çalışkan wurde am 5. Januar 1967 in Düren (Nordrhein-Westfalen) geboren und hat eine Tochter. Ihre beruflichen Erfahrungen reichen von Flüchtlingsberatung über Arbeit mit Frauenrechtsorganisationen in Afghanistan bis zur Lobbyarbeit in Brüssel. Zuletzt war Çalışkan für die »European Women’s Lobby« in Brüssel tätig und arbeitete entscheidend am Aufbau eines europäischen Netzwerks für Migrantinnen (»European Network of Migrant Women«) mit. Von 2003 bis 2010 arbeitete Çalışkan bei der Frauenrechtsorganisation »Medica Mondiale«. Für die Organisation war sie regelmäßig in Liberia, in der Demokratischen Republik Kongo und in Afghanistan, beriet dort Frauenorganisationen und schulte Mitarbeiterinnen in politischer Einflussnahme und ziviler Konfliktbearbeitung. Sie baute für »Medica Mondiale« maßgeblich den Bereich Menschenrechte und Politik auf und leitete diesen. In dieser Funktion vertrat sie die politischen Ziele der NGO auf deutscher, europäischer und internationaler Ebene. Im Anschluss arbeitete sie 2010 in Kabul für die »Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit« und als Beraterin für »Care International«.
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Kultur
66 Interview: Salwa Bakr 68 Amnesty-Filmpreis: »The Rocket« 70 Graphic Novel: Igort 72 Porträt: Soname Yangchen 74 Literatur aus Äthiopien: »Unter den Augen des Löwen« 76 Bücher: Von »Öl auf Wasser« bis »Die französische Kunst des Krieges« 78 Film & Musik: Von »Mitternachtskinder« bis »Mali-Ko«
Kritischer Blick auf den »Arabischen Frühling«. Die ägyptische Schriftstellerin Salwa Bakr. Foto: Laurent Denimal
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Laotische Verhältnisse. Szene aus »The Rocket«.
Ein Bombenerfolg »The Rocket« von Kim Mordaunt ist der Gewinner des diesjährigen Amnesty-Filmpreises auf der Berlinale – ein ungemein intelligenter Spielfilm über die Hinterlassenschaften von Kriegen. Von Jürgen Kiontke
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aum ist Ahlo auf der Welt, da verlässt er sie beinahe schon wieder. Denn bei seiner Geburt kommt nicht nur er, sondern auch sein Zwillingsbruder auf die Welt. »Die bringen Unglück«, sagt die überaus weise Großmutter. »Wir müssen sie umbringen.« Aber Ahlos Bruder ist bei der Geburt bereits gestorben. »Also das sind ja nun keine wirklichen Zwillinge«, bringt seine völlig fertige Mutter vor. »Den können wir leben lassen.« Was für ein Anfang, denkt man, und atmet erstmal durch: Kim Mordaunts Film »The Rocket« (AUS 2012) beginnt überaus
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drastisch und Szenen wie diese bleiben kein Einzelfall. Tod und Leben können im selben Moment auftreten, ja sogar in ein und derselben Sache verborgen sein. Mordaunt hat dieses Leitmotiv unglaublich konzentriert und kunstvoll in die Geschichten des Films verwoben. Auch in der Struktur bildet sich dies ab: rasche Schnitte, schnelle Wendungen, ungewöhnliche Ein- und Ausstiege bietet das Spielfilm-Debüt des australischen Regisseurs. Seine Kernthemen machen ihn zum idealen Gewinner des diesjährigen Amnesty-Filmpreises, der am 16. Februar 2013 bei den Berliner Filmfestspielen vergeben wurde. »Wir haben uns verzaubern lassen von der Magie und Heiterkeit, mit der der Film von einer scheinbar verlorenen Welt erzählt. Die vor Lebendigkeit sprühenden Bilder ziehen uns in einen Kosmos hinein, den wir noch nie zuvor gesehen haben«, heißt es in der von Katja Riemann vorgetragenen Laudatio. Die prominente Schauspielerin bildete dieses Jahr gemeinsam mit der Regisseurin Aelrun Goette und Markus Beeko, der bei Am-
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Foto: Tom Greenwood / Berlinale
nesty International die Abteilung Kampagnen und Kommunikation leitet, die Jury. »The Rocket« spielt in Laos, jenem Land, in dessen Erde die meisten Bomben weltweit stecken. Sie stammen noch aus der Zeit des Indochina-Kriegs – zwei Millionen Tonnen Sprengstoff warfen US-Piloten in den siebziger Jahren dort ab, etwa 30 Prozent davon waren Blindgänger. Noch heute werden nach Informationen von Amnesty International jährlich 120 Zwischenfälle mit Blindgängern gemeldet. Ein Viertel davon verläuft tödlich, die meisten Opfer sind spielende Kinder. Laos heute: ein Land, reich an Bodenschätzen. Die Industrialisierung beginnt, Staudammprojekte sollen für die nötige Elektrifizierung sorgen. Die Bevölkerung wird unter halbseidenen Versprechungen zum Umzug überredet. Viele enden arbeitslos in den Vorstädten. Kim Mordaunts Film reflektiert all dies: Ahlo ist das Kind von Fischern, die einem Staudamm weichen müssen. Man bringt sie zu halbfertigen Wohnungen, Hauptsache, sie sind aus dem Weg. Der Wald liegt voller Bomben, den »schlafenden Tigern«, wie es im Film heißt. Die Menschen stehen an der Schwelle zwischen Aberglauben und Moderne. Und ist es nicht wirklich so, dass Ahlo nur Unglück bringt? Ist er nicht von Grund auf schlecht? Als er mit seiner Mutter das Familienboot durch den Wald schleppt, rutscht er ab, das schwere Gefährt erschlägt die Mutter. »Man hätte ihn gleich töten sollen«, sagt die Oma. Dass die Familie mittellos, entwurzelt und beschädigt ist, das alles soll die Schuld eines kleinen Jungen sein. Ahlo reagiert mit unbändigem Überlebenswillen. Als er von einem Raketenwettbewerb erfährt, wittert er seine Chance. Es ist Trockenzeit: Der, dessen Projektil den Regen bringt, den erwartet ein hohes Preisgeld. Größe, Ladung und Design der Feuerwerkskörper kennen keine Grenzen. Da schießen doch tatsächlich Mönche Penisraketen in den, wie sie es nennen, »Hintern Gottes« ab. Die Casting-Show als Erzählstruktur; der Wettbewerb, das immerwährende moderne Format. Was liegt näher, als den Tiger aufzuwecken? Ahlo macht sich daran, aus altem Kriegsgerät ein denkwürdiges Geschoss zu bauen. Unerwartete Hilfe bekommt er von Uncle Purple, dem Vater seiner Freundin Kia. Denn der James-Brown-Fan hat eine besonders unrühmliche Vergangenheit als Kollaborateur. Deswegen weiß er auch, wie man Sprengstoff richtig einsetzt. Die Natur hilft mit: Für den Antrieb nimmt man Fledermausmist! Die Menschen in »The Rocket« finden sich in einer verrückten Szenerie wieder – und sie behelfen sich mit Schlagfertigkeit, Spontaneität, Tempo, mit viel Humor und Herz. Mordaunt gelingt es, Komplexität als Leichtigkeit auf die Leinwand zu bringen. Billy Wilder trifft Menschenrechtskino: Was Berlinale-Filmen oft fehlt, das gibt es hier: gelungene künstlerische Verdichtung. Schauspieler wurden auf der Straße gecastet, zum Beispiel der Darsteller des Ahlo, Sitthiphon Disamoe, sagte Regisseur Kim Mordaunt dem Amnesty Journal. Das ist durchaus wörtlich gemeint: Der Darsteller hatte gerade zwei Jahre als Straßenkind verlebt. Andere spielen in einer thailändischen Sitcom, was eine gewisse, wenn nicht gehörige Tendenz zu Situationskomik mit sich bringt. Keine schlechte Mischung, und die beste unter vielen guten: »Wir haben wahnsinnig gute Filme gesehen«, sagte Katja Riemann dem Amnesty Journal. 17 Filme waren nominiert, da seien viele Türen aufgegangen, so die Schauspielerin, die sich sichtlich angetan zeigte von der Bandbreite der Auswahl. Die Beiträ-
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AmnesTy-filmpreis
»The Rocket« sticht heraus. Das liegt an der Fülle von Themen – Vertreibung, Armut, Umweltprobleme und Landverminung. ge stammten aus den Berlinale-Sektionen »Wettbewerb«, »Panorama« und »Forum«. Seit dem vergangenen Jahr sichten die Juroren auch Filme der Kinder- und Jugendfilmsektion »Generation« – und die stellte mit »The Rocket« dieses Jahr prompt den Gewinner. Zur Auswahl standen ambitionierte Werke wie Danis Tanovic’ Dokufiction-Film »An Episode in the Life of an Iron Picker« (BSN 2013) – eine Roma-Familie in Bosnien spielt Szenen aus ihrem eigenen Alltag, und auch »Narco Cultura« (USA 2012) von Shaul Schwarz, ein Film der unglaubliche Einblicke in das Leben mit und in den Drogenkartellen Mexikos ermöglicht. Nicht zu vergessen jener Film, der an sich schon ein Politikum ist: »Pardé/Closed Curtain« (IRN 2013) von Jafar Panahi. Der iranische Regisseur hatte zwar einen Beitrag im Wettbewerb, jedoch keine Reiseerlaubnis erhalten. Derzeit ist er mit Berufsverbot belegt, ihm droht eine jahrelange Haftstrafe. Dennoch konnte er »Pardé« nach Berlin schicken – das Protokoll eines Nichtfilms: Wie schon in »This ist not a Film« erzählt Panahi seine Geschichte in der abgeschlossenen Szenerie einer Wohnung. Die Fenster sind verhängt, Figuren tauchen auf und ab, ganz wie sie aus dem Drehbuch gestrichen werden müssen. Tiere übernehmen Rollen, so ist es ein kleiner Hund, der sich im Fernsehen Nachrichten darüber anschaut, wie Hunde verfolgt werden. »The Rocket« stach dennoch heraus. Das liege an der Fülle von Themen – Vertreibung, Armut, Umweltprobleme und Landverminung –, die mit den Mitteln des Märchens erzählt würden, so Riemann: »Manche Filme verblassen nach einer Zeit, andere gehen immer mehr auf. ›The Rocket‹ funkelt in der Erinnerung. Ein ungemein schlauer und unprätentiöser Film.« »Wir wollten eine persönliche Geschichte erzählen, mit all den Themen, mit denen Menschen zu kämpfen haben. Gleichzeitig wollten wir das Publikum ins Geschehen hineinziehen«, sagt Mordaunt. Kriegshinterlassenschaften sind das prägende Motiv in der Arbeit des 47-jährigen Australiers: Die Idee zu »The Rocket« sei ihm bei den Arbeiten zu seinem Dokumentarfilm »Bomb Harvest« über Aufräumarbeiten in Laos gekommen. Der Regisseur, der auch den Preis für den besten Erstlingsfilm der Berlinale erhielt, hofft nun, dass der Amnesty-Preis »The Rocket« zu Aufmerksamkeit verhilft. Hoffentlich gibt es bald einen Start in deutschen Kinos. Der Autor ist Filmkritiker des Amnesty Journals.
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Innere Stimme
Fotos: Marion Hölczl / Soname
Autonomie für Tibet wünscht sich die Sängerin Soname Yangchen, die in den Medien als »Stimme Tibets« gehandelt wird. Ihr Erfolg war nur in der Diaspora möglich. Von Daniel Bax
Unabhängig. Die tibetische Sängerin Soname Yangchen.
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ch glaube, dass viele Leute nicht wegen mir zu meinen Konzerten kommen«, sagt Soname Yangchen. »Sie wollen Tibet unterstützen oder verehren den Dalai Lama.« Was aus dem Mund einer anderen Person resigniert oder zynisch klingen würde, scheint die 39-jährige Sängerin aus Tibet aber nicht zu stören. Sie belächelt den Kult um das eigene Ego, wie er im Westen ihrer Meinung nach betrieben wird. Als »Stimme Tibets«, wie sie von Medien gern tituliert wird, versteht sie sich selbst nicht, das erscheint ihr vermessen. »Es gibt andere Sänger, die traditionelle Lieder singen«, sagt sie. »Ich schreibe mei-
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ne eigenen Lieder, denn ich möchte dem Publikum etwas Neues zu hören geben.« Soname Yangchen strahlt eine bemerkenswerte Ruhe aus, während sie in einem Berliner Hotelzimmer Interviews gibt. Ihr Vorname bedeutet so viel wie »Glück«. Und Glück sollte Soname Yangchen in ihrem Leben haben, auch wenn es zunächst nicht danach aussah. Geboren wurde sie im Frühjahr 1973 in Tibet – in der Endphase der Kulturrevolution, von der dieser Teil Chinas ganz besonders stark betroffen war. Fast alle verbliebenen Klöster und Baudenkmäler wurden in jener Zeit zerstört, die geistige
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Elite des Landes wurde ausgelöscht oder zur Flucht gezwungen. Soname Yangchen kam mit sechs Jahren in die Obhut einer Familie in Lhasa, für die sie jahrelang wie eine Sklavin schuften musste. Mit 16 Jahren entschloss sie sich zur Flucht und gelangte mit einer Gruppe von Mönchen zu Fuß über den Himalaya nach Dharamsala, dem Regierungssitz des Dalai Lama in Indien und Fluchtpunkt vieler Exilanten aus Tibet. »Ich kann mich glücklich schätzen, dass meine Hände und Füße nicht erfroren sind«, sagt sie rückblickend. »Aber ich habe einen starken Willen, denn ich habe eine Menge durchgemacht in meiner Kindheit.« Dharamsala entpuppte sich nicht als die erhoffte Erlösung aus Armut und Elend. Sie wurde vergewaltigt und musste ihre Tochter nach Tibet zurückschicken, weil sie nicht für sie sorgen konnte. Erst vor fünf Jahren gelang es ihr, sie zu sich nach Europa zu holen. Dorthin kam Soname Yangchen über Delhi, wo sie von einem reichen Inder als Haushaltshilfe eingestellt wurde, und mit Hilfe einer französischen Familie, die ihr half, Mitte der neunziger Jahre nach England überzusiedeln. Dort jobbte sie zuerst als Putzfrau, etwa auf einer Polizeiwache in Brighton. Eine märchenhafte Wendung nahm ihr Leben, als sie 1998 bei einer Hochzeitsfeier ein spontanes Ständchen für die Brautleute sang und ein anwesender Musikproduzent auf sie aufmerksam wurde. Erste Aufnahmen entstanden, doch es sollte noch ein paar Jahre dauern, bevor sie bei einer Tibet-Solidaritätsgala im Royal Opera House in London 2003 ihr erstes SoloKonzert gab. Dann ging alles Schlag auf Schlag: Aufgrund eines Zeitungsartikels, der ihrem Auftritt voranging, meldete sich eine Agentin, die ihre Lebensgeschichte als Buch veröffentlichen wollte. »Eine Freundin half mir, meine Geschichte aufzuschreiben«, sagt Soname Yangchen. 2005 erschien ihre Autobiografie »Wolkenkind«, die in mehrere Sprachen übersetzt wurde und auch in Deutschland ein Bestseller war. »Bücher über Tibet handelten bis dahin meist von dessen Geschichte und Religion, nie von individuellen Schicksalen«, erklärt sie den Erfolg des Buches. Im Jahr darauf brachte Soname Yangchen ihr Debütalbum »Unforgettable Land« heraus und 2009 das Nachfolgealbum »Plateau«, beides Produktionen, die ihren spröden, von Oberton-Modulationen gefärbten Gesang in dezente und gefällige Arrangements kleideten. In jenen Jahren gab sie viele Konzerte, sang auf Festivals und war ein gern gesehener Gast bei den »Cinema for Peace«-Galas der Berlinale, wo sie an der Seite von Hollywood-Stars wie Richard Gere auftrat. Inzwischen verbringt sie viel Zeit in Berlin, wo sie Freunde hat und eine Wohnung unterhält. Hier ist auch ihr neues Album »Natural Mind« entstanden. Nicht um religiöse Themen, sondern um Naturmotive und innere Zustände drehen sich die meisten Lieder, deren Stil sie den Bauern und Hirten der tibetischen Hochebene abgelauscht hat. Zu den Melodien, die sie teils spontan auf ein Aufnahmegerät singt, das sie immer bei sich trägt, entwickelte sie mit ihrer Band atmosphärisch stimmige Kompositionen. »Es ist großartig, mit diesen Musikern zusammenzuarbeiten«, sagt sie über diese Teamarbeit. »Es ist kein Ego-Ding. Denn ohne sie bin ich nichts – genauso wie ohne Publikum oder ohne die Journalisten, die über mich schreiben.« Das meditative Album wirkt wie ein musikalischer Beruhigungstee. Diese Ruhe korrespondiert mit ihrem Lebensstil. »Ich gehe nicht in Clubs oder ins Kino«, sagt Soname Yangchen über sich. »Ich meditiere lieber, lese buddhistische Texte oder schreibe Songs. Daraus ziehe ich mehr Gewinn.« Sie hofft, dass andere Tibeter in der Diaspora es ähnlich halten wie sie. »Wenn wir Ti-
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sonAme yAngchen
»Wann immer ein Land seine Bürger foltert, müssen wir etwas dagegen machen.« beter jeden Tag beten, dann gibt es nichts, wovor wir uns fürchten müssen«, sagt sie. »Wir tragen Tibet in uns.« Was die Zukunft ihrer Region angeht, so hofft sie auf einen inneren Wandel in China. »Wir Tibeter wollen keinen eigenen Staat, Autonomie wäre uns genug«, betont sie. »Immer mehr junge Chinesen studieren im Ausland und sehen, was Freiheit ist. China wird sich verändern und verändert sich schon jetzt«, ist sich Soname Yangchen sicher. Dass derzeit immer mehr Mönche in Tibet zum drastischen Mittel der Selbstverbrennung greifen, hält sie für einen Akt der Verzweiflung. Und dass der gegenwärtige Dalai Lama im vergangenen Jahr von seinen politischen Ämtern zurücktrat und seither der neue Ministerpräsident der tibetischen Exil-Regierung, der Jurist Lobsang Sangay, dessen Aufgaben übernimmt, macht für sie keinen großen Unterschied. »In spirituellen Fragen stützen wir uns ja weiter auf ihn. Der Dalai Lama hält die tibetische Kultur zusammen.« Eines ist ihr aber besonders wichtig. »Das tibetische Problem ist ein globales Problem«, findet sie. »Wann immer ein Land seine Bürger foltert, müssen wir gemeinsam zusammenstehen und etwas dagegen machen. Darum beten wir für die Welt, nicht nur für Tibet.« Der Autor ist Musikkritiker des Amnesty Journals. Soname Yangchen: Natural Mind (Enja)
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Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt oder man lässt sie »verschwinden«. AmnesTy inTernATionAl veröffentlicht regelmäßig an dieser Stelle drei Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden. Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie bitte eine digitale Kopie an AmnesTy inTernATionAl.
AmnesTy inTernATionAl Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 Fax: 030 - 42 02 48 - 488 E-Mail: info@amnesty.de, www.amnesty.de Spendenkonto Bank für Sozialwirtschaft (BfS), Köln Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00 oder Postbank Köln Konto: 22 40 46 - 502, BLZ: 370 100 50 BIC: BFSWDE33XXX IBAN: DE23370205000008090100
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Fotos: privat
Briefe gegen dAs vergessen
jApAn hAKAmAdA iWAo und oKunishi mAsAru Hakamada Iwao befindet sich seit 1968 im Todestrakt. Er war in einem unfairen Verfahren wegen des Mordes an seinem Vorgesetzten sowie dessen Frau und ihren beiden Kindern verurteilt worden. Hakamada Iwao »gestand« nach 20-tägiger Befragung durch die Polizei. Im Laufe des Verfahrens zog er sein Geständnis zurück und erklärte dem Gericht, die Polizei habe ihn während der täglichen Verhöre, die mehr als zwölf Stunden andauerten, geschlagen und bedroht. Dennoch wurde er für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. Okunishi Masaru sitzt seit 1969 im Todestrakt ein. Er wurde für den Mord an fünf Frauen zum Tode verurteilt. Er »gestand« das Verbrechen, nachdem ihn die Polizei über fünf Tage hinweg stundenlang verhört hatte. In seinem ersten Verfahren widerrief er das Geständnis und sagte aus, man habe ihn dazu gezwungen. Er wurde aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Ein höheres Gericht hob das Urteil auf und verurteilte ihn zum Tode. Kaum ein Häftling in Japan sitzt bereits so lange im Todestrakt ein wie Okunishi Masaru und Hakamada Iwao. Das Verfahren von Okunishi Masaru wurde 2005 wieder aufgenommen, dann aber auf Einwände der Staatsanwaltschaft hin wieder eingestellt, obwohl neue Beweise für seine Unschuld vorlagen. Mithilfe neuer forensischer Untersuchungen sollen die Verurteilungen der beiden Männer angefochten werden. In Japan erfolgen Hinrichtungen durch Erhängen und werden üblicherweise im Geheimen durchgeführt. Häftlinge erfahren von ihrer Hinrichtung erst am Morgen desselben Tages. Schreiben Sie bitte höflich formulierte Briefe und Faxe an den japanischen Justizminister, in denen Sie Ihre Sorge darüber ausdrücken, dass Hakamada Iwao und Okunishi Masaru auf Grundlage erzwungener Geständnisse verurteilt wurden. Fordern Sie die Behörden auf, einen Hinrichtungsstopp für die beiden Männer und ein allgemeines Hinrichtungsmoratorium in Japan zu verhängen. Bitten Sie die Behörden, sicherzustellen, dass Anträge auf Wiederaufnahme von Verfahren nicht von der Staatsanwaltschaft behindert werden. Bitten Sie außerdem darum, dass Häftlinge in den Todeszellen eine bessere Behandlung erfahren und unter anderem nicht mehr in Einzelhaft gehalten werden. Schreiben Sie in gutem Japanisch, Englisch oder auf Deutsch an: Justizminister Sadakazu Tanigaki 1-1-1 Kasumigaseki Chiyoda-ku Tokyo 100-8977, JAPAN (Anrede: Dear Minister / Sehr geehrter Herr Minister) Fax: 0081 - 3 - 55 11 72 00 (Standardbrief Luftpost bis 20g € 0,75) Senden Sie bitte eine Kopie des Schreibens an: Botschaft von Japan S. E. Herrn Takeshi Nakane Hiroshimastraße 6, 10785 Berlin Fax: 030 - 21 09 42 22 E-Mail: info@bo.mofa.go.jp
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Foto: ByMedia.net
BelArus zmiTser dAshKevich Zmitser Dashkevich ist ein bekannter Aktivist und führendes Mitglied der demokratischen Jugendorganisation »Malady Front« (Junge Front). Er wurde am 24. März 2011 zu zwei Jahren Arbeitslager verurteilt. Ihm werden Tätlichkeiten am Tag vor den belarussischen Präsidentschaftswahlen im Dezember 2010 zur Last gelegt. Ursprünglich sollte er im Dezember 2012 entlassen werden. Stattdessen verurteilte man ihn im August 2012 zu einem weiteren Jahr in Haft, da er gegen Gefängnisregeln verstoßen haben soll. Amnesty betrachtet ihn als gewaltlosen politischen Gefangenen und geht davon aus, dass die Anklagepunkte konstruiert wurden, um ihn abzuhalten, weiterhin an Demonstrationen gegen mutmaßliche Wahlmanipulationen teilzunehmen. Zmitser Dashkevich wurde zusammen mit einem weiteren Mitglied der »Malady Front«, Eduard Lobau, festgenommen. Beide Männer beharren darauf, dass die Sicherheitskräfte die Umstände, die zu der Festnahme führten, provoziert hatten. Ein dritter Aktivist sagte aus, vier Männer hätten Dashkevich und Lobau nach dem Weg gefragt und sie dann geschlagen. Die Polizei erschien wenige Minuten später und nahm die beiden Aktivisten und zwei der Angreifer fest. Dashkevich und Lobau wurden auf Grundlage der Aussagen ihrer Angreifer verurteilt. Seit seiner Verurteilung wurde Zmitser Dashkevich mindestens achtmal in eine sogenannte Strafzelle verlegt. In diesen Zellen erhalten die Häftlinge keine Bettwäsche, auch im Winter nicht, und es wird ihnen sowohl Besuch als auch Schriftverkehr verwehrt. Im September 2011 wies Zmitser Dashkevich ein Angebot zurück, im Gegenzug für ein Schuldeingeständnis beim Präsidenten ein Gnadengesuch einreichen zu dürfen. Schreiben Sie bitte höflich formulierte Briefe an die Behörden und fordern Sie die unverzügliche und bedingungslose Freilassung von Zmitser Dashkevich und allen weiteren Personen, die in Zusammenhang mit den Demonstrationen gegen die Wahlen im Dezember 2010 inhaftiert wurden. Appellieren Sie an die Behörden, Aktivisten, die sich direkt oder indirekt für die Förderung oder Verteidigung der Menschenrechte in Belarus einsetzen, nicht zu behindern, zu schikanieren oder einzuschüchtern. Schreiben Sie in gutem Belarussisch, Russisch, Englisch oder auf Deutsch an: Präsident Alyaksandr Lukashenka ul. Karla Marxa 38 220016 Minsk, BELARUS Fax: 003 75 - 172 - 26 06 10 (Anrede: Dear President Lukashenka / Sehr geehrter Herr Präsident Lukaschenko) (Standardbrief Luftpost bis 20g € 0,75) Senden Sie bitte eine Kopie des Schreibens an: Botschaft der Republik Belarus S. E. Herrn Andrei Giro Am Treptower Park 32, 12435 Berlin Fax: 030 - 53 63 59 23 E-Mail: berlin@belembassy.org
Briefe gegen dAs vergessen
usA BAld 500. hinrichTung in TeXAs Im US-Bundesstaat Texas soll bald die 500. Hinrichtung seit der Wiederaufnahme von Hinrichtungen im Jahr 1982 vollzogen werden. Seit 2007 haben vier Staaten – New Jersey, New Mexico, Illinois und Connecticut – gesetzliche Regelungen zur Abschaffung der Todesstrafe getroffen. In Texas hingegen gehen die Hinrichtungen unvermindert weiter. Mehr als 250 Hinrichtungen haben seit Amtsantritt des derzeitigen Gouverneurs Rick Perry im Dezember 2000 bereits stattgefunden. Die Zahl der Hinrichtungen während der fünfjährigen Amtszeit seines Vorgängers George W. Bush beläuft sich auf 152. In den vergangenen drei Jahrzehnten hat Texas mit seinen Hinrichtungen regelmäßig gegen internationale Schutzmaßnahmen verstoßen. Beispielsweise wurden Personen hingerichtet, deren Schuld nicht einwandfrei bewiesen war, sowie geistig schwerbehinderte Menschen, Angeklagte, denen ein angemessener Rechtsbeistand verwehrt wurde, und Personen mit ausländischer Staatsbürgerschaft, denen ihre konsularischen Rechte vorenthalten wurden. Bevor der Oberste Gerichtshof 2002 die Hinrichtung von Straftätern mit »geistiger Behinderung« und 2005 das Hinrichten von Personen, die zum Tatzeitpunkt unter 18 Jahre alt waren, verbot, verzeichnete Texas mehr dieser Hinrichtungen als jeder andere Bundesstaat. Studien zeigen durchgehend, dass die Hautfarbe, insbesondere die des Opfers, in den USA bei der Verhängung der Todesstrafe eine entscheidende Rolle spielt. In 70 Prozent der Fälle, in denen der Täter in Texas wegen Mordes verurteilt und hingerichtet wurde, waren Weiße unter den Opfern, in 13 Prozent der Fälle gab es auch schwarze Opfer. Drei Weiße erhielten die Todesstrafe für die Ermordung ausschließlich schwarzer Opfer, während umgekehrt 100 Schwarze für Straftaten hingerichtet wurden, bei denen die Opfer ausschließlich weiß waren. Schreiben Sie bitte höflich formulierte Briefe an Gouverneur Perry und fordern Sie ihn auf, sich für die Abschaffung der Todesstrafe einzusetzen und hinsichtlich der jeweiligen Einzelfälle mit dem texanischen Begnadigungsausschuss zusammenzuarbeiten, um Hinrichtungen zu verhindern. Schreiben Sie in gutem Englisch oder auf Deutsch an: Gouverneur von Texas, Rick Perry Office of the Governor PO Box 12428, Austin Texas 78711-2428, USA (Anrede: Dear Governor / Sehr geehrter Herr Gouverneur) Fax: 001 - 512 - 463 18 49 (Standardbrief Luftpost bis 20g € 0,75) Senden Sie bitte eine Kopie des Schreibens an: Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika S. E. Herrn Philip Dunton Murphy Pariser Platz 2, 10117 Berlin Fax: 030 - 83 05 10 50 E-Mail: über Kontaktformular: http://germany.usembassy.de/email/feedback.htm
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Foto: Amnesty / Ralf Rebmann
AKTiv fÜr AmnesTy
Großer Widerhall bis nach Ägypten. Amnesty-Kundgebung vor dem Kanzleramt in Berlin, 30. Januar 2013.
miT nofreTeTe gegen polizeigeWAlT! »Mursi – Polizeigewalt stoppen!« Dies war die Forderung von etwa vierzig Amnesty-Aktivisten, die sich am 30. Januar vor dem Bundeskanzleramt in Berlin versammelten. Anlass war der Staatsbesuch des ägyptischen Präsidenten Mohamed Mursi, der an diesem Tag von Bundeskanzlerin Angela Merkel empfangen wurde. Schon im Vorfeld hatten 9.300 Menschen bei einer Online-Aktion von Amnesty der Bundeskanzlerin per E-Mail geschrieben, was sie mit Mursi besprechen solle: die Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und Militär und Militärgerichtsverfahren gegen Zivilisten. Diese Forderungen wurden nun noch einmal laut- und bildstark vor Ort unterstrichen. Mit zwei überdimensionalen Nofretete-Figuren, die eine Gasmaske und einen blutigen Kopfver-
band trugen, entsprechenden Masken sowie Bannern und Schildern auf Arabisch und Deutsch unterstrichen die Aktivsten ihre Forderungen nach Gerechtigkeit für die Opfer von Polizei- und Militärgewalt. Als Mursi vor dem Kanzleramt den roten Teppich abschritt, verschafften sich die Demonstranten trotz einiger Entfernung per Megafon und lautstarkem Rufen Gehör. Den größten Widerhall fand die Aktion jedoch in den Medien. In vielen Nachrichtensendungen des Fernsehens wurde darüber berichtet. Der Sprecher der Ägypten-Kopgruppe Henning Franzmeier wurde interviewt und auf unzähligen NewsPortalen im Internet sowie in einigen Zeitungen gab es Fotos, Videos und Berichte. Auch ägyptische Medien berichteten über die Aktion.
Ein krummes Ding ist seine Obsession: Seit 27 Jahren sprüht Thomas Baumgärtel knallgelbe Bananen an öffentliche Wände. Seine Werke zieren die Eingangstüren der bekanntesten Museen und Galerien der Welt. Am 9. März hat der Bananen-Sprayer die Kölner Amnesty-Gruppe unterstützt. Amnesty sammelte in der Kölner Innenstadt Unterschriften für einen starken internationalen Waffenkontrollvertrag und machte dabei erneut darauf aufmerksam, dass es mehr Regeln für den Bananenhandel als für den Waffenhandel gibt. Baumgärtel ließ sich vor Ort zu einem Kunstwerk inspirieren. Er griff zu Schablone und Sprühdose und variierte sein künstlerisches Markenzeichen: Er sprühte einen Revolver mit krummem Bananen-Lauf.
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Foto: Amnesty
WAffenhAndel: voll BAnAne!
Herr der krummen Dinger. Thomas Baumgärtel mit seinem Kunstwerk.
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Die Politpunk-Band Anti-Flag hat für Amnesty den Song »Toast to Freedom« neu aufgenommen. Unterstützt wurden die vier US-Amerikaner von Musikern der Bands Donots, Beatsteaks und Billy Talent. Die Originalversion des Songs war veröffentlicht worden, um den fünfzigsten Geburtstag von Amnesty im Jahr 2011 zu feiern. Für AntiFlag war der Anlass für die Aufnahme das Schicksal der Musikerinnen der russischen Band Pussy Riot. Wegen eines »Punk-Gebets« in einer Moskauer Kathedrale waren zwei der Künstlerinnen zu Haftstrafen im Straflager verurteilt worden. Die Coverversion von Anti-Flag ist unter anderem bei iTunes und Amazon erhältlich. Alle Erlöse aus den Downloads sowie dem Verkauf der limitierten 7’’-Vinyl-Scheibe kommen Amnesty zugute.
AKTiv fÜr AmnesTy
Durch ganz unterschiedliche Veranstaltungen geben Amnesty-Mitglieder den Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme. Diese Aktionen vor Ort sind ein unentbehrlicher Teil der Arbeit von Amnesty International. Mehr Informationen darüber finden Sie auf http://blog.amnesty.de und www.amnesty.de/kalender
impressum Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, Tel.: 030 - 42 02 48 - 0, E-Mail: info@amnesty.de, Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion Amnesty Journal, Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, E-Mail: journal@amnesty.de (für Nachrichten an die Redaktion) Redaktion: Bernd Ackehurst, Markus N. Beeko, Anton Landgraf (V.i.S.d.P.), Ramin M. Nowzad, Larissa Probst Mitarbeit an dieser Ausgabe: Cigdem Akyol, Birgit Albrecht, Daniel Bax, Hannes Bode, Selmin Çalışkan, Fabienne Dietzsch, Tanja Dückers, Peter Franck, Wolfgang Grenz, Claudia Jach, Ruth Jüttner, Heiko Keil, Jürgen Kiontke, Ulrike Maiwald, Claudia Mende, Maria von Möllendorff, Ralf Rebmann, Wera Reusch, Uta von Schrenk, Maik Söhler, Carsten Stormer, Franziska Ulm-Düsterhöft, Wolf-Dieter Vogel, Anne Françoise Weber, Petra Welzel, Sarah Wildeisen Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck: Hofmann Druck, Nürnberg Vertrieb: Carnivora Verlagsservice, Berlin Bankverbindung: Amnesty International, Kontonr. 80 90 100, Bank für Sozialwirtschaft (BfS), Köln, BLZ 370 205 00, BIC: BFSWDE33XXX, IBAN: DE23370205000008090100 Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und erscheint sechs Mal im Jahr. Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Nichtmitglieder können das Amnesty Journal für 30 Euro pro Jahr abonnieren. Für unverlangt eingesandte Artikel oder Fotos übernimmt die Redaktion keine Verantwortung. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder. Die Urheberrechte für Artikel und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, für die Verbreitung im Internet oder für Vervielfältigungen auf CD-Rom.
ISSN: 1433-4356
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selmin ÇAlişKAn ÜBer
AmnesTy inTernATionAl
Zeichnung: Oliver Grajewski
jeTzT Wird’s lAuT!
Ich bin zwar erst seit kurzem die neue Generalsekretärin, aber mit Amnesty schon seit Jahren, ja Jahrzehnten, verbunden. Als junge Frau, als ich noch aufs Gymnasium im nordrhein-westfälischen Düren ging, traf ich mich öfters mit Freunden in der Kneipe. Sie waren selbst politisch Verfolgte aus der Türkei und halfen anderen, in Deutschland Fuß zu fassen. In dieser Zeit habe ich Amnesty International durch die kurdisch-türkische Community als eine große, verlässliche Organisation kennengelernt, die in vielen Fällen konkrete Hilfe versprach. Meine Freunde und viele andere ehrenamtliche Amnesty-Aktivisten unterstützten seit den achtziger Jahren bis heute wohl Hunderte politisch Verfolgte aus der Türkei: Sie sichteten Akten und schrieben Gutachten für die Gerichte. Viele der Flüchtlinge waren in der Türkei gefoltert worden und kamen traumatisiert nach Deutschland. In dieser Zeit hatte ich schon angefangen, als Beraterin für Flüchtlinge zu arbeiten, vor allem für Frauen. Später habe ich einen Migrantentreff mit aufgebaut, wo wir zum Beispiel Computer- und Deutschkurse angeboten haben. Vor ein paar Jahren lernte ich dann Doğan Akhanlı kennen, einen bekannten türkischen Schriftsteller. Nach dem Militärputsch in der Türkei war Doğan 1980 in den Untergrund gegangen. Er saß später als politischer Häftling im Militärgefängnis von Istanbul und wurde gefoltert. 1991 floh er nach Deutschland. Als Doğan 2010 seinen Vater in der Türkei besuchen wollte, wurde er festgenommen. Als es später zum Gerichtstermin kam, waren ehrenamtliche Mitarbeiter von Amnesty aus Deutschland als Prozessbeobachter vor Ort. Sie waren hochmotiviert, weil sie Doğan seit Jahren von politischen und kulturellen Veranstaltungen sowie persönlichen Begegnungen kannten. Mich hat die Beharrlichkeit der Aktivisten und Aktivistinnen sehr fasziniert, sich über Jahre hinweg kontinuierlich für politisch verfolgte Menschen einzusetzen. Sie bleiben bei jedem Einzelfall immer am Ball. Für mich war und ist Amnesty International immer ein verlässlicher Partner der Menschenrechtsverteidiger und Menschenrechtsverteidigerinnen. Daher freue ich mich jetzt sehr, dass ich mich in die weltweite Amnesty-Bewegung einreihen kann. Selmin Çalışkan ist Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International.
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MENSCHENRECHTE BRAUCHEN AUSDAUER Sie möchten Ihre sportlichen Aktivitäten mit einem guten Zweck verbinden? Dann bitten Sie doch Verwandte und Bekannte bei Ihrem nächsten Wettkampf um eine Spende zugunsten von Amnesty International. www.amnesty-in-bewegung.de