Amnesty Journal August/September 2013: "Flucht nach Europa"

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das magazin fÜr die menschenrechTe

4,80 euro

amnesTY journal

fluchT nach euroPa die eu-asYlPoliTik und ihre folgen

Verheerende bilanz die türkische regierung kriminalisiert die Proteste

schmuTzige Wäsche Wie die Textilindustrie in bangladesch katastrophen produziert

arabische ikone Yasmine hamdan über revolte und Tradition

08/09

2013 augusT/ sePTember


das amnesTY journal – jeTzT auch als aPP! Mobil und multimedial, mit ausführlichen Bildstrecken und Videos, Podcasts und Online-Aktionen. Die neue Amnesty Journal App ist kostenlos. Sie finden sie im App Store unter »Amnesty Mag«.

Zeichnung: Mareike Engelke

Weitere Informationen: www.amnesty.de/app


Anton Landgraf ist Redakteur des Amnesty Journals

Foto: Mark Bollhorst / Amnesty

ediTorial

reizgas in isTanbul, WasserWerfer in são Paulo … … und Massenproteste in Kairo. Weltweit entsteht derzeit eine Bewegung der Empörten – kaum wird es in einem Land ruhiger, rühren sich in einem anderen die Unzufriedenen. Angesichts der dramatischen Entwicklung in Ägypten, der Türkei (siehe Seiten 38 und 65) und Brasilien wurden die enormen Proteste gegen die sexuelle Gewalt, die vor wenigen Monaten in Indien für großes Aufsehen sorgten, oder die großen Demonstrationen gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin in der öffentlichen Wahrnehmung schon wieder von anderen Ereignissen verdrängt. Zu schnell kocht mittlerweile an vielen Orten fast gleichzeitig die Wut gegen Diskriminierung und autoritäre Regierungen hoch. Die Anlässe sind je nach Land verschieden, auch sind die Bewegungen alles andere als homogen. Oft sind sie nur durch ganz pragmatische Ziele geeint, hinter denen sich unterschiedlichste Interessen verbergen. Manchmal sind es katastrophale Ereignisse, wie der Einsturz einer Textilfabrik in Bangladesch, die zu massenhaften Protesten führen (siehe Seite 46). Dort wurden mittlerweile einige wesentliche Forderungen der Betroffenen erfüllt. Weltweit erleben wir derzeit eine der größten zivilgesellschaftlichen Erhebungen seit dem Ende des Kalten Krieges. Welche Konsequenzen sich daraus ergeben, ist noch nicht absehbar. Sicher ist nur eines: Regierungen, die grundlegende Rechte missachten, müssen mehr denn je damit rechnen, dass sich die Bürger nicht mehr alles gefallen lassen. Auf die Vielzahl der Ereignisse können wir in dieser Ausgabe nur teilweise eingehen. Wir werden aber die weitere Entwicklung, sei es in Ägypten oder in Russland, genau verfolgen und bald wieder ausführlicher darüber berichten. Kaum eine Chance, ihren Anliegen Gehör zu verschaffen, haben vor allem jene, die wegen der bedrohlichen Menschenrechtslage oder aus wirtschaftlicher Not ihr Land verlassen mussten. Sie stranden an der EU-Außengrenze, wo mit allen Mitteln versucht wird, die Schutzsuchenden abzuweisen. Wem dennoch die Einreise in ein EU-Land gelingt, den erwarten dort katastrophale Bedingungen. Mit einem Menschenrechtscamp auf der griechischen Insel Lesbos machten Amnesty-Mitglieder kürzlich auf die schockierende Situation der Flüchtlinge aufmerksam. Mit wenigen Klicks können auch Sie die Forderungen von Amnesty unterstützen und an der Petition für Flüchtlingsrechte teilnehmen (www.amnesty.de/petition-fluechtlinge).

ediTorial

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inhalT

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Titelfoto: Flüchtlinge aus Tunesien überqueren das Mittelmeer in Richtung Lampedusa, April 2011. Foto: Giulio Piscitelli / contrasto / laif

rubriken 06 Weltkarte 07 Erfolge 10 Panorama 12 Nachrichten 13 Interview: Surya Shankar Dash 15 Kolumne: Michael Krämer 59 Rezensionen: Bücher 60 Rezensionen: Film & Musik 62 Briefe gegen das Vergessen 64 Aktiv für Amnesty 65 Selmin Çalışkan über Angst

Thema 19 Griechische Tragödie Von Anton Landgraf

20 Der einzige Weg Viele Flüchtlinge versuchen, über den gefährlichen Seeweg nach Europa zu kommen. Dabei kommt es zu zahlreichen Unglücken. Die europäische Grenzschutzagentur Frontex und die griechischen Behörden scheinen dies trotz hochmoderner Überwachungstechnik nicht verhindern zu können. Von Chrissi Wilkens

24 »Migranten sind ein leichtes Ziel« Die Athener Anwältin Marianna Tzeferakou setzt sich seit 16 Jahren für die Rechte von Flüchtlingen und Migranten in Griechenland ein.

26 Insel der Schutzlosen Die Europäische Union schottet ihre Außengrenzen ab und verstößt damit eklatant gegen Menschenrechte. Von Franziska Vilmar

29 Lost in Transit Die serbisch-ungarische Grenze ist für viele Flüchtlinge das letzte große Hindernis vor dem Schengenraum, wo es keine regulären Personenkontrollen mehr gibt. Von Merlin Nadj-Torma

32 Unberechenbar Ali ist ein Rechenkünstler. Ginge es nach ihm, könnte er bald in Deutschland Mathematik studieren. Doch dem jungen Flüchtling droht die Abschiebung nach Afghanistan – ein Land, das er nur vom Hörensagen kennt. Von Ramin M. Nowzad

Fotos oben: Stelios Kraounakis | Sarah Eick | Aytunc Akad / Panos Pictures | Nadim Asfar / Sonicbids

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berichTe

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38 Tage des Zorns

52 »Hoffnung bringt Kreativität mit sich«

Bei den Protesten in der Türkei gegen den autoritären Führungsstil von Ministerpräsident Tayyip Erdoğan wurden Tausende verletzt. Nun müssen viele inhaftierte Demonstranten mit einer Anklage rechnen. Von Sabine Küper-Büsch

41 Bei Panik Knopfdruck Amnesty entwickelt mit Menschenrechtsaktivisten und Software-Experten den »Panic Button« – eine Notfall-App für Smartphones. Gefährdete Personen sollen damit schnell und sicher einen Hilferuf abschicken können. Von Ralf Rebmann

42 Die alte neue Angst Die ungarische Regierung schürt Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus im Land. Nach den Roma fühlen sich nun auch viele jüdische Bürger nicht mehr sicher. Von Keno Verseck

46 Erst die Moral, dann die Mode Textilunternehmen in Bangladesch haben fundamentale Sicherheitsbestimmungen missachtet, um billiger produzieren zu können. Von Bernhard Hertlein

48 Besser als der Ruf Vor 50 Jahren gründeten 30 afrikanische Staaten die Organisation für Afrikanische Einheit (OAE), die Vorläuferin der Afrikanischen Union (AU). Von Franziska Ulm-Düsterhöft

inhalT

Sie gilt als Ikone der Untergrund-Musik in der arabischen Welt: Die Sängerin Yasmine Hamdan über Radikalismus, Veränderungen und musikalische Traditionen.

54 Widerstand an der Wand Wandgemälde, Graffiti, Urban Art: Ein neuer Bildband zeigt, wie politisch das Sprayen und Malen im öffentlichen Raum ist – und dass es sich um eine universelle Kunst handelt. Von Maik Söhler

56 Grausame Puppe Delaine Le Bas gehört zu den prominentesten Vertretern der zeitgenössischen Kunst der Sinti und Roma. In ihren Werken verarbeitet die Britin die Diskriminierung der größten Minderheit Europas. Von Lena Reich

58 Menschliche Trümmer Kevin Powers hat einen bedrückenden Roman über die US-Invasion im Irak geschrieben. Der Autor hat selbst als Soldat an dem Krieg teilgenommen. Von Maik Söhler

61 Der Chor vom Gezi-Park Die Protestbewegung in der Türkei hat ihren eigenen Soundtrack. Er findet sich im Internet dokumentiert. Von Daniel Bax

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libYen

liTauen

russland

Tausende Flüchtlinge sind in Libyen schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Darauf hat Amnesty International anlässlich des Weltflüchtlingstages am 20. Juni 2013 aufmerksam gemacht. Die Organisation hatte im April und Mai sieben libysche Lager besucht, in denen vor allem Flüchtlinge aus afrikanischen Ländern südlich der Sahara oft monatelang festgehalten werden, bevor man sie wieder in ihre Heimat abschiebt. Die Flüchtlinge, darunter auch Kinder, lebten in erbärmlichen Verhältnissen, medizinische Versorgung wurde ihnen vorenthalten. Zudem wurden sie in den Lagern immer wieder Opfer von Folter und Misshandlung.

Es sollte ein Fest der Toleranz werden, doch die »Baltic Pride«-Parade 2013 wurde verboten. Mit dem für den 27. Juni geplanten Straßenumzug in der litauischen Hauptstadt Vilnius wollten die Veranstalter auf die Rechte sexueller Minderheiten aufmerksam machen. Die Behörden hatten zunächst versucht, die Demonstration aus dem Stadtzentrum zu verbannen. Am 26. Juni wurde der »Baltic Pride« schließlich ganz verboten. Amnesty kritisierte die Entscheidung. Im Jahr 2010 fand der »Baltic Pride« erstmals statt. Gegendemonstranten mussten von der Polizei damals mit Tränengas auseinandergetrieben werden, nachdem sie die Teilnehmer des Umzugs mit Steinen und Flaschen beworfen hatten.

Der russische Staat setzt Schwule und Lesben mit einem neuen Gesetz weiter unter Druck: Wer sich im Beisein von Kindern positiv über gleichgeschlechtliche Liebe äußert, riskiert künftig hohe Geldstrafen. Medien, die über Homosexualität berichten, können bis zu 90 Tage lang geschlossen werden. Staatspräsident Putin hat den Gesetzestext Ende Juni unterzeichnet. Amnesty verurteilte das Gesetz und befürchtet, dass es den Hass gegen sexuelle Minderheiten weiter schüren wird. Seit 1993 ist Homosexualität in Russland nicht mehr strafbar, aber noch immer ist Homophobie weit verbreitet. Umfragen zufolge begrüßen 88 Prozent der Russen das neue Gesetz.

Ausgewählte Ereignisse vom 20. Juni bis 2. Juli 2013.

ägYPTen Die religiöse Gewalt ist auf Ägyptens Straßen erneut eskaliert: Mit Säbeln, Steinen und Molotow-Cocktails machten Ende Juni rund 3.000 Sunniten Jagd auf schiitische Dorfbewohner. Vier Angehörige der schiitischen Minderheit wurden bei dem Pogrom in der Ortschaft Abu Musallam südlich von Kairo getötet. Dutzende erlitten schwere Verletzungen. Polizisten beobachteten die Ausschreitungen, griffen aber nicht ein. Salafistische Prediger hatten zuvor monatelang gegen die rund vierzig schiitischen Familien des Dorfes gehetzt. Amnesty forderte die Behörden auf, die Tat unverzüglich aufzuklären und die schiitische Minderheit im Land vor weiteren Ausschreitungen zu schützen.

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VereinigTe arabische emiraTe 68 Regimekritiker müssen in den Vereinigten Arabischen Emiraten für mehrere Jahre ins Gefängnis. Das Oberste Bundesgericht in der Hauptstadt Abu Dhabi verurteilte die Männer am 2. Juli zu Haftstrafen zwischen zehn und 15 Jahren, 26 Mitangeklagte wurden hingegen freigesprochen. Die Richter legten den Verurteilten zur Last, Verbindungen zur verbotenen Muslimbruderschaft unterhalten und einen Staatsstreich geplant zu haben. Amnesty bezeichnete den Prozess als »unfair« und »politisch motiviert«. Die Menschenrechtsorganisation hatte zudem Hinweise erhalten, dass die Angeklagten in der Untersuchungshaft gefoltert wurden.

PakisTan In pakistanischen Gefängnissen sitzen mehr als 8.000 Häftlinge, die zum Tode verurteilt wurden. Sie müssen wieder ihre Hinrichtung fürchten. Seit 2008 hatte es in Pakistan keine Hinrichtungen mehr gegeben, Staatspräsident Asif Ali Zardari hatte nach seiner Amtseinführung angeordnet, den Vollzug sämtlicher Exekutionen auszusetzen. Am 30. Juni lief das Präsidentendekret zur Aussetzung der Todesstrafe aus. Die neue Regierung der konservativen Muslim-Liga kündigte an, das Moratorium nicht verlängern zu wollen. Amnesty nannte die Entscheidung einen »schockierenden Rückschritt«.

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Foto: Amnesty

erfolge

Erfolgreiche Kampagne. Kundgebung vor der Botschaft von El Salvador in London, 17. Mai 2013.

inTernaTionaler druck hilfT, leben zu reTTen Nach 14 qualvollen Wochen des Wartens konnte Beatriz am 3. Juni endlich operiert werden. Die 22-jährige Frau leidet an einer Krankheit, bei der das Immunsystem das eigene Gewebe angreift. Während ihrer Schwangerschaft befand sie sich daher laut ärztlicher Diagnose in Lebensgefahr. Dennoch hatte die Verfassungskammer des Obersten Gerichtshofs am 29. Mai die Bitte von Beatriz nach einem Schwangerschaftsabbruch aus medizinischen Gründen abgelehnt. Ärzte hätten sich mit einer entsprechenden Behandlung unter Umständen strafbar gemacht. Am 3. Juni griff schließlich die salvadorianische Regierung ein und rettete das Leben von Beatriz. Die junge Frau durfte einen Kaiserschnitt vornehmen lassen. Wie von den

el salVador

TodessTrafe Wird abgeschaffT

usa Maryland wird voraussichtlich der 18. Bundesstaat der USA ohne Todesstrafe und bestätigt damit den weltweiten Trend zur Abschaffung dieser grausamen Strafe. Mit der Unterzeichnung eines neuen Gesetzes durch Gouverneur Martin O’Malley Mitte Mai ist die letzte Entscheidung zur Abschaffung der Todesstrafe in Maryland gefallen. Das Parlament und der Senat des Bundesstaates hatten diesen Schritt bereits zuvor befürwortet. Allerdings besteht noch die Möglichkeit, dass Gegner des Gesetzes beantragen, die Wähler 2014 in einem Referendum darüber abstimmen zu lassen, ob die Todesstrafe beibehalten werden soll. »Mehr als ein Drittel der US-Bundesstaaten hat die Todesstrafe nun abgeschafft«, sagte Brian Evens von Amnesty Inter-

erfolge

Ärzten vorhergesagt, überlebte der Fötus nicht, da große Teile seines Schädels und Gehirns nicht ausgebildet waren. Amnesty hatte Anfang Mai eine Kampagne zugunsten von Beatriz gestartet. Die Organisation forderte den salvadorianischen Präsidenten und den Gesundheitsminister auf, den Schwangerschaftsabbruch zu erlauben. Mehr als 170.000 Unterschriften wurden weltweit gesammelt und an den Präsidenten übergeben. Die erfolgreiche Kampagne zeigt, dass internationaler Druck hilft, Leben zu retten und die Menschenrechte durchzusetzen. Beatriz und die NGO, die sie vor Ort begleitete, bedankten sich bei Amnesty für die wirkungsvolle Unterstützung.

national in den USA. »Wir fordern die restlichen 32 Staaten und den Kongress auf, diesem Trend zu folgen.« Amnesty hat Gouverneur O’Malley gebeten, die Todesstrafe der fünf Männer im Todestrakt von Maryland in Haftstrafen umzuwandeln. Nachdem der Bundesstaat die Todesstrafe abgeschafft hat, wäre es besonders grausam, diese Männer dennoch hinzurichten. In nur wenigen Jahren haben fünf Bundesstaaten die Todesstrafe abgeschafft: New Jersey (2007), New Mexiko (2009), Illinois (2011), Connecticut (2012) und nun Maryland. Dem stehen die sieben Bundesstaaten Texas, Oklahoma, Virginia, Missouri, Ohio, Alabama und Florida gegenüber, die für fast Dreiviertel der 1.000 Hinrichtungen in den USA seit 1994 verantwortlich sind.

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Foto: Seyllou / AFP / Getty Images

»Herrschaft der Angst.« Demonstration vor der Botschaft Gambias in Dakar, Senegal.

Predigen fÜr den forTschriTT Imam Baba Leigh ist wieder frei. Weil er sich für die Menschenrechte einsetzte, wurde der Geistliche im Dezember 2012 vom gambischen Geheimdienst festgenommen. Fünf Monate und sieben Tage galt er als verschwunden. Kein Lebenszeichen erreichte seine Familie, sein Aufenthaltsort war unbekannt. Weil er sich öffentlich gegen die Todesstrafe ausgesprochen hatte, wurde Baba Leigh vom gambischen Geheimdienst verschleppt. Seit dem 10. Mai ist der Imam wieder frei, begnadigt von Gambias Staatspräsident Yahya Jammeh. Baba Leighs Familie, Freunde und die Anhänger seiner Glaubensgemeinschaft freuten sich über die Nachricht. Er selbst entschuldigte sich für die Monate voller Ungewissheit und wandte sich dankend an seine Unterstützer: »Ich möchte meine tiefste und aufrichtige Wertschätzung für euer Interesse an meinem Leben und an meiner Sicherheit ausdrücken.« Amnesty International hatte sich im Dezember mit einer Eilaktion für die Freilassung des Geistlichen eingesetzt. Augenzeugen berichteten, zwei Beamte des Geheimdienstes National Intelligence Agency (NIA) seien am 3. Dezember 2012 gegen 22 Uhr am Haus von Baba Leigh aufgetaucht. Für eine Vernehmung müsse er mit in die Zentrale kommen. Den Grund dafür erfuhr er nicht. Seit diesem Abend war er verschwunden. Baba Leigh wurde weder eines Verbrechens angeklagt noch vor Gericht gestellt. Weder seiner Familie noch seinem Rechtsbeistand war es möglich, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Die NIA bestritt jede Kenntnis über Baba Leighs Aufenthaltsort. Seine Angehörigen vermuteten aber von Beginn an, dass der Geheimdienst für sein Verschwinden verantwortlich sei. Der Imam ist ein bekannter Mann in Gambia. Er predigte jeden Freitag in ei-

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ner Moschee in Kanifing im Westen des Landes. Als Berater einer Organisation, die sich vor allem für Frauen- und Kinderrechte einsetzt, wies er auf die Gefahren weiblicher Genitalverstümmelung hin. Seine fortschrittliche Interpretation des Islam und sein Einsatz für die Trennung von Kirche und Staat brachten ihm Anerkennung ein über die Grenzen seines Landes hinaus. Im September 2012 hatte er in einer Freitagspredigt die schockierende Hinrichtungspraxis der Regierung kritisiert: Einen Monat zuvor, am 23. August 2012, waren im Gefängnis »Mile 2« acht Männer und eine Frau aus ihren Todeszellen geholt und kurz darauf erschossen worden. Ihre Angehörigen wurden nicht informiert und die Betroffenen wussten bis zu diesem Zeitpunkt nichts von ihrem nahenden Tod. 30 Jahre lang waren in dem westafrikanischen Land keine Hinrichtungen vollstreckt worden. An diesem Tag starben gleich neun Gefangene. Imam Baba Leigh verurteilte die Exekutionen in seiner Predigt als unrechtmäßig und unislamisch. Drei Monate später wurde er von der NIA abgeführt. Baba Leighs Schicksal ist kein Einzelfall. »Die Behörden in Gambia gehen mit rechtswidrigen Festnahmen, Schikanen und Todesdrohungen gegen jeden vor, der es wagt, sich für die Menschenrechte einzusetzen«, sagte Lisa Sherman-Nikolaus, Westafrika-Expertin von Amnesty International. So wurde Ebrima Manneh, ein Journalist der oppositionellen Zeitung »Daily Observer«, seit 2006 nicht mehr gesehen. Regierungsbeamte hatten ihn damals festgenommen. »Viele fürchten, er sei tot, solange die Regierung nicht offenlegt, was passiert ist, werden wir nichts über sein Schicksal erfahren.« Text: Sophie Wissner

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einsaTz miT erfolg Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen mit Appellschreiben an den »Urgent Actions«, den »Briefen gegen das Vergessen« und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz drohende Menschenrechtsverletzungen verhindert und Menschen in Not hilft, zeigen diese Beispiele.

freilassung nach hungersTreik

Der Journalist und gewaltlose politische Gefangene Calixto Ramón Martínez Arias wurde nach fast sieben Monaten ohne Anklageerhebung aus dem Gefängnis entlassen. Martínez Arias trat während der Haft zweimal in den Hungerstreik, um gegen seine Inhaftierung zu protestieren, zuletzt am 8. März. Er nahm 22 Tage lang keine Nahrung zu sich, bis die kubanischen Behörden ihm zusagten, ihn freizulassen. Nach seiner Entlassung aus der Haft am 9. April bedankte sich der Reporter bei Amnesty International. Er geht davon aus, dass die internationale Unterstützung zu seiner Freilassung geführt hat.

kuba

aus der hafT enTlassen

nichT mehr in hafT

Nazrul Islam, Mitglied einer bangladeschischen Oppositionspartei, befindet sich nicht mehr in Haft. Er war Berichten zufolge am 12. April aus seinem Haus in Saheb Parha, in dem im Norden von Bangladesch gelegenen Bezirk Joypurhat entführt worden. Nazrul Islam ist in Joypurhat Bezirkssekretär von Jamaate-Islami, einer politischen Partei, die Teil eines Oppositionsbündnisses ist. Nach Angaben von Familienangehörigen und Mitgliedern von Jamaat-e-Islami waren in der Nacht vom 11. auf den 12. April Polizisten in das Haus von Nazrul Islam gekommen und hatten ihn verschleppt. Die Polizei bestritt dies jedoch. Nazrul Islam befindet sich laut Angaben seiner Familie seit kurzem wieder zu Hause. bangladesch

ende einer hexenjagd

Eine schwer verletzte Frau und ihre beiden Töchter, die der »Hexerei« bezichtigt wurden, befinden sich in Sicherheit und erhalten medizinische Behandlung. Quellen in Papua-Neuguinea gaben an, die Frau habe eine gefährliche Wunde am Hals, die von einem Angriff herrühre. Die drei Frauen wurden von Mitgliedern ihrer Gemeinde durch Straßensperren daran gehindert, ihren Wohnort zu verlassen, um dringend notPaPua-neuguinea

wendige medizinische Hilfe zu erhalten. Die örtliche Polizei unternahm zunächst nichts. Aufgrund des internationalen Drucks und der großen Aufmerksamkeit, die der Fall unter anderem durch Amnesty International erhielt, betraute die Polizei hochrangige Beamte damit, durch Verhandlungen freies Geleit für die Frauen zu erreichen. Der Ministerpräsident von Papua-Neuguinea kündigte an, er wolle den berüchtigten »Sorcery Act« abschaffen, ein Gesetz aus dem Jahr 1971, das »bösartige Hexerei« unter Strafe stellt und verringerte Haftstrafen für diejenigen vorsieht, die eine der Hexerei beschuldigte Person angreifen oder töten.

endlich Wird ermiTTelT

russische föderaTion Der Strafverteidiger Magamed Abubakarov hat sich bei allen Mitgliedern von Amnesty International für die Unterstützung durch das Eilaktionsnetzwerk bedankt. Der aus Tschetschenien stammende Strafverteidiger ist weithin bekannt für seine mutige Arbeit zu einigen der brisantesten Fälle des Nordkaukasus. Dabei geht es oft um Vorwürfe gegen Beamte wegen Entführungen, Folter und konstruierten Anklagen. Obwohl er mehrfach Morddrohungen erhielt, stellte die Polizei keine Ermittlungen an. Amnesty startete daraufhin eine Eilaktion. Abubakarov sagte Amnesty International, dass die Briefe viel bewirkt hätten und die Morddrohungen gegen ihn nun untersucht würden. Mit der Aktion hat Amnesty den russischen Behörden klar signalisiert, dass die Einschüchterung und Behinderung von Strafverteidigern im Nordkaukasus nicht hingenommen wird.

Fotos: Meridith Kohut / The New York Times / Redux / laif, privat / Amnesty

Venezuela Antonio Rivero ist wieder frei. Der pensionierte General war am 27. April festgenommen worden, nachdem Mitarbeiter des Innenministeriums ihn zu einem Verhör beim venezolanischen Geheimdienst einbestellt hatten. Zwei Tage später wurde er wegen Anstiftung zu Hass und der Verabredung zu einer strafbaren Handlung angeklagt. Nach Angaben seines Rechtsanwalts basieren die Anschuldigungen der Staatsanwaltschaft lediglich auf einer Videoaufnahme, in der

zu sehen ist, wie Rivero sich an Personen richtet, die friedlich gegen das Ergebnis der Präsidentschaftswahl in Venezuela im April demonstrieren. Antonio Rivero war zwei Wochen im Hungerstreik, um gegen seine Inhaftierung, die er als politisch motiviert betrachtet, zu protestieren.

Politisch motivierte Verhaftung. Antonio Rivero.

erfolge

Mutige Arbeit. Magamed Abubakarov.

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Panorama

Foto: Hassan Ammar / AP / pa

ägYPTen: sicherheiT aller bÜrger geWährleisTen!

Nach der Absetzung von Präsident Mohamed Mursi hat Amnesty die ägyptischen Sicherheitskräfte aufgerufen, die Menschenrechte zu schützen. »Es gibt begründete Sorge, dass es zu Repressalien und Racheakten kommt«, sagte Ägypten-Expertin Alexia Knappmann. »Militär und Polizei haben sich in der Vergangenheit immer wieder schwerer Menschenrechtsverletzungen wie Folter und exzessiver Gewalt gegen Demonstranten schuldig gemacht.« Der Staat müsse die Sicherheit aller Bürger garantieren, unabhängig davon, welchem politischen Lager sie angehören, so Knappmann weiter. Auch die Meinungsfreiheit müsse geschützt werden. Unmittelbar nach Mursis Absetzung wurden mehrere Fernsehsender abgeschaltet und Mitarbeiter festgenommen. Bereits in den Wochen zuvor hatten Amnesty-Mitarbeiter zahlreiche Menschenrechtsverletzungen dokumentiert, die sowohl von Mursi-Anhängern und Mursi-Gegnern als auch von Sicherheitskräften begangen wurden. Unter anderem kam es zu zahlreichen sexuellen Übergriffen gegen Frauen.

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brasilien: PolizeigeWalT gegen demonsTranTen

Foto: Luiz Maximiano / laif

Es war eine der größten Protestwellen in der Geschichte Brasiliens: Im Juni gingen Hunderttausende im ganzen Land auf die Straße, um gegen Korruption, Verschwendung von Steuergeldern und andere soziale Missstände zu demonstrieren. Immer wieder wurden die Kundgebungen von massiver Polizeigewalt überschattet. Allein in Rio de Janeiro beteiligten sich rund 300.000 Menschen an den Protestkundgebungen. In mehr als hundert weiteren Städten versammelten sich Zehntausende, um unter anderem für ein besseres Gesundheits- und Bildungssystem zu demonstrieren. Dabei kam es wiederholt zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Polizisten und Demonstranten. Laut Augenzeugen sollen Militärpolizisten auch friedliche Demonstranten mit Tränengas und Gummigeschossen attackiert haben, Hunderte Menschen wurden dabei verletzt. Amnesty forderte die Behörden auf, das Vorgehen der Sicherheitskräfte lückenlos aufzuklären.

Panorama

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Foto: Pete Muller / Amnesty

nachrichTen

Tagtäglich Verfolgung und Diskriminierung. Paar in Nairobi, Kenia.

liebe lässT sich nichT VerbieTen Seit einigen Jahren gibt es in vielen afrikanischen Ländern vermehrt Übergriffe auf Schwule und Lesben. Medien haben zur Hetze gegen sexuelle Minderheiten beigetragen, und Politiker versuchen in einigen Ländern, restriktive Gesetze gegen Homosexuelle weiter zu verschärfen. Am 24. April 2011 war Noxolo Nogwaza nach einem Treffen mit Freunden auf dem Weg nach Hause, als sie von einem oder mehreren Männern angegriffen wurde. Sie vergewaltigten die 24-Jährige und stachen auf sie ein – allem Anschein nach, weil sie lesbisch war. Dann warfen sie ihre Leiche in einen Graben. Noxolo Nogwaza ist kein Einzelfall. Von Juni bis November 2012 wurden in Südafrika mindestens sieben weitere Personen wegen ihrer sexuellen Orientierung getötet, obwohl das Land zu den Pionieren gehört, was den Schutz von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgendern und Intersexuellen (LGBTI) angeht. Südafrika war das erste Land der Welt, das 1996 Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung verbot und 2006 die gleichgeschlechtliche Ehe einführte. Dennoch scheint ein großer Teil der Gesellschaft diese progressive Gesetzgebung nicht

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nachvollzogen zu haben: In kaum einem anderen afrikanischen Land gibt es so viele physische Angriffe auf Lesben und Schwule. In 38 von 58 afrikanischen Ländern stehen gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen bzw. Beziehungen unter Strafe. In Mauretanien, Sudan, Nordnigeria und Südsomalia droht Homosexuellen sogar die Todesstrafe. Derzeit gibt es in einigen afrikanischen Ländern die Tendenz zu einer stärkeren Kriminalisierung von LGBTI. So haben Südsudan im Jahr 2008 und Burundi 2009 erstmals ein Verbot gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen eingeführt. In Uganda und Nigeria gibt es immer wieder Versuche, bereits bestehende gesetzliche Verbote weiter zu verschärfen. Dabei sind Angehörige sexueller Minderheiten bereits jetzt tagtäglich Verfolgung und Diskriminierung ausgesetzt. In Kamerun werden immer wieder Menschen willkürlich festgenommen und angeklagt, weil jemand vermutet, dass sie homosexuell sein könnten. Von der Polizei werden sie misshandelt und von ihrer Familie verstoßen. Von den Medien als mutmaßliche Homosexuelle denunziert, werden sie zur Zielscheibe für Übergriffe. Lesbische Frauen werden häufig schikan-

iert und vergewaltigt, um sie von ihrer Homosexualität zu »kurieren«. Dabei fühlen sich die Täter umso mehr legitimiert, je öfter über eine Verschärfung bestehender Verbote diskutiert wird. Es gibt jedoch auch positive Entwicklungen. So hat Kap Verde 2004 gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen erlaubt. Mauritius, die Seychellen und São Tomé und Príncipe haben angekündigt, Verbote aufzuheben. Einige Länder wie Mosambik und Botswana haben Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung gesetzlich verboten. Außerdem nimmt die Zahl der zivilgesellschaftlichen Akteure, die sich für die Rechte von LGBTI einsetzen, in Afrika beständig zu. Der neue Amnesty-Bericht »Making Love a Crime« stellt fest, dass gleichgeschlechtliche Liebe nicht »unafrikanisch« ist, sondern erst im Zuge der Kolonialisierung kriminalisiert wurde. Doch während die ehemaligen Kolonialmächte abzogen, blieben die Verbote bestehen. So gab es beispielsweise in Afrika mehr als 40 ethnische Gruppen, die eine Ehe zwischen zwei Frauen tolerierten. Denn Liebe lässt sich nicht verbieten. Text: Franziska Ulm-Düsterhöft

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Surya Shankar Dash, 1979 geboren, arbeitet als unabhängiger Dokumentarfilmer in Indien. In den vergangenen Jahren hat er vor allem den Kampf der Dongria Kondh gegen den Bergbaukonzern Vedanta Resources dokumentiert. Dazu stellte er der indigenen Gemeinschaft unter anderem Videokameras zur Verfügung, mit denen sie gewalttätige Übergriffe der Sicherheitskräfte dokumentieren kann. Surya Shankar Dash veröffentlicht die Videos auf seinem Blog www.videorepublic.tv. Er lebt in Bhubaneswar, der Hauptstadt des indischen Bundesstaates Odisha (ehemals Orissa).

inTerVieW

surYa shankar dash

Im indischen Bundesstaat Odisha wehrt sich die indigene Gemeinschaft der Dongria Kondh seit Jahren gegen das Bergbauunternehmen Vedanta Resources, das auf ihrem Land Bauxit abbauen will. Der indische Dokumentarfilmer Surya Shankar Dash hat den Widerstand begleitet. Im April 2013 hat der Oberste Gerichtshof in Indien entschieden, dass die Dongria Kondh selbst über die Zukunft ihres Territoriums entscheiden dürfen. Wie hat die Gemeinschaft dieses Urteil aufgenommen? Sie kritisieren das Urteil, weil es nicht eindeutig ist. Das Gericht befand, dass Dorfräte, die sogenannten »Gram Sabha«, eine Entscheidung treffen sollen. Aber die »Gram Sabha« hatten bereits zuvor entschieden. Deshalb war die Angelegenheit ja vor Gericht. Das Urteil macht die Situation noch komplizierter und bietet Unternehmen und lokalen Behörden die Möglichkeit zur Manipulation. Die Dongria Kondh sind der Meinung, dass das Urteil Unternehmen bevorzugt und haben es deshalb kritisiert. Es kam zu großen Kundgebungen, bei denen sie deutlich sagten, dass sie die Bergbauvorhaben in ihren Wäldern und an ihrem heiligen Berg nicht erlauben werden. Wie können Behörden oder Unternehmen die Entscheidung der Dorfbewohner beeinflussen? Die Dongria Kondh stehen unter großem Druck. Sie sind seit drei Jahren von Paramilitärs eingekreist und haben keine Möglichkeit, ihre Dörfer zu verlassen. Ich selbst konnte das Gebiet in den vergangenen drei Jahren nicht betreten. Es gibt jedoch Aktivisten, die es weiterhin dorthin schaffen. Die Bewohner wurden schikaniert, willkürlich festgenommen und teilweise gefoltert. Frauen wurden attackiert, um die Dorfbewohner einzuschüchtern. Wenn die Regierung eine freie und faire Entscheidung möchte, dann muss sie zuerst die Sicherheitskräfte abziehen, die weiterhin das Gebiet besetzt halten.

nachrichTen

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inTerVieW

Foto: Ralf Rebmann

»es gehT nichT nur um den heiligen berg« Was werden die Dongria Kondh angesichts des Urteils unternehmen? Die Gemeinschaft hat in der Vergangenheit versucht, die Bergbauunternehmen durch ihre physische Präsenz an der Arbeit zu hindern. Auf diese Weise wollen sie weitermachen. Trotz der Militärpräsenz der vergangenen drei Jahre haben sie es geschafft, Straßen und Baumaschinen zu blockieren. Es waren immer gewaltfreie Formen des Widerstands, wie wir sie von Gandhi und der indischen Freiheitsbewegung kennen. Sie nutzen ihren Körper als Waffe, aber friedlich und ohne Anwendung von Gewalt. Welchen Einfluss hat der Widerstand der Dongria Kondh auf andere indigene Gemeinschaften in Indien? Die Dongria Kondh haben andere Bewegungen inspiriert und diese wiederum die Dongria Kondh. Wenn man benachbarte Konflikte betrachtet, ist ihre Bewegung jedoch vergleichsweise neu. Ein anderer Konflikt spielt sich bereits seit mehr als zwanzig Jahren im benachbarten Kashipur ab, rund 50 Kilometer von den Niyamgiri-Bergen entfernt. Dort wurden 500 Personen unter falschen Anschuldigungen festgenommen. Odisha hat eine lange Geschichte des Bergbaus und gleichzeitig eine lange Geschichte des Widerstands. Aus diesem Grund gibt es viele lokale Bewegungen – die Dongria Kondh sind eine der jüngsten. Wie hat sich die Bewegung über die Jahre verändert? Die Dongria Kondh haben gemerkt, dass ihr Widerstand global wahrgenommen wird und dass er über den lokalen Konflikt hinausweist. Es geht nicht nur um ihren heiligen Berg. Die Dongria Kondh stehen für den Konflikt zwischen Wirtschaftsinteressen und Ökologie im Allgemeinen – in ihrer Region und auf der ganzen Welt. Fragen: Ralf Rebmann

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Thema: Flucht nach Europa

Der einzige Weg führt über das Mittelmeer und endet oft tödlich. Doch um nach Europa zu gelangen, bleibt Flüchtlingen keine andere Wahl. Und selbst wenn die gefährliche Reise gelingt: In Griechenland und anderen europäischen Ländern erwarten sie katastrophale Bedingungen.

S.O.S. Europa – Flüchtlingsschutz in Seenot. Amnesty-Aktion auf Lampedusa, Juli 2012. Foto: Dario Sarmadi / Amnesty

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Ăœber hundert Tote in einem Jahr. Dokument eines somalischen FlĂźchtlings am Strand von Lesbos.

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Foto: Giorgos Moutafis

Griechische Tragödie

Thema

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fluchT nach euroPa

Nach ihrem Selbstverständnis ist die Europäische Union ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Ein Versprechen, das offenbar abrupt an den Außengrenzen endet und nicht für Migranten und Flüchtlinge gilt. Denn diese werden dort behandelt, als hätten sie keine Rechte und als besäßen sie nur die Freiheit, dorthin zurückzukehren, wo sie hergekommen sind. Sie werden nicht als Schutzsuchende wahrgenommen, die vor schweren Menschenrechtsverletzungen und wirtschaftlicher Not fliehen, sondern als Sicherheitsproblem und als potenzielle Kriminelle. Mit ungeheurem Aufwand wurde deshalb in den vergangenen Jahren die griechisch-türkische Grenze abgesichert – mit Zäunen, Gräben, Hubschraubern, Spürhunden, Wärmebildkameras, Nachtsichtgeräten und anderen Sensoren. Dennoch versuchen mehrere Tausend Migranten jeden Monat diese Grenze zu passieren. Weil der Landweg mittlerweile aber fast hermetisch abgeriegelt ist, wählen sie häufig die gefährliche Route über das Mittelmeer. Mit fatalen Folgen, denn die griechische Küstenwache versucht mit allen Mitteln, die Flüchtlinge auf See abzuwehren: Sie macht Flüchtlingsboote manövrierunfähig und schiebt sie in türkische Gewässer zurück. Damit setzt sie das Leben von Männern, Frauen und Kindern aus Ländern wie Syrien und Afghanistan aufs Spiel, wie ein im Juli vorgestellter Amnesty-Bericht feststellt. Mehr als hundert Menschen sind seit August 2012 ertrunken, als sie versuchten, Griechenland zu erreichen. Amnesty hat in dem Bericht 39 Vorfälle dokumentiert, bei denen Menschen beim Versuch, die Ägäis oder den Fluss Evros zu überqueren, in die Türkei zurückgedrängt wurden. Außer den »PushBacks« und kollektiven Ausweisungen kritisiert Amnesty die lange Inhaftierung von Asylsuchenden und Migranten. Asylsuchende, die nichts getan haben, als Schutz in der EU zu suchen, werden über Monate und zum Teil Jahre in Haft gehalten, darunter auch Kinder. Oft herrschen in den griechischen Hafteinrichtungen unmenschliche Bedingungen. Flüchtlinge und Migranten sind auch von den Sparmaßnahmen infolge der Wirtschaftskrise am stärksten betroffen: Weil es keine Unterstützungsmaßnahmen mehr gibt, können viele in Griechenland nicht mehr überleben. Doch anstatt dem Land bei der Aufnahme von Flüchtlingen zu helfen, versucht die EU, die Grenzen weiter abzuschotten. Anton Landgraf ist verantwortlicher Redakteur des Amnesty Journals.

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Der einzige Weg Viele Flüchtlinge versuchen, über den gefährlichen Seeweg nach Europa zu kommen. Dabei kommt es zu zahlreichen Unglücken. Die europäische Grenzschutzagentur Frontex und die griechischen Behörden scheinen dies trotz hochmoderner Überwachungstechnik nicht verhindern zu können. Von Chrissi Wilkens (Text) und Stelios Kraounakis (Fotos)

Flucht mit dem Schlauchboot. Syrischer Flüchtling auf Lesbos.

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ch will nur den Körper meines Sohnes finden. Ich will nicht, dass die Fische im Meer ihn auffressen«, sagt Ali. Der Syrer sitzt auf dem Bett seines Hotelzimmers auf der Insel Lesbos und starrt verzweifelt aus dem Fenster. Seine Finger verkrampfen sich, während er vom letzten Gespräch mit seinem 14-jährigen Sohn erzählt. »Er rief mich an und sagte, dass sie von der Küste aufgebrochen seien und in einer halben, spätestens einer Stunde in Lesbos ankämen.« Das war in der Nacht vom 6. auf den 7. März dieses Jahres. Doch Ali wartete vergeblich auf eine weitere Nachricht seines Sohns. Schließlich fuhr er selbst nach Lesbos und auf die Nachbarinsel Chios, um dort nach ihm zu suchen. Obwohl Ali sofort die Polizei und die Küstenwache über die Vermissten auf See benachrichtigte, wurde erst Mitte März mit der Suche begonnen, als an den Küsten von Lesbos die Leichen einer Frau und zweier Kinder gefunden wurden. Ein paar Tage später wurden zwei Reisepässe und vier weitere Leichen angespült, darunter auch die von Alis Sohn. Das Schiffsunglück wurde von den griechischen Behörden nicht einmal als solches registriert. Ali ist Unternehmer und wohnt seit Jahren in Griechenland. Sein Sohn hat ihn mehrmals besucht, die Visa erhielt er von der griechischen Botschaft in Damaskus. Vor einigen Monaten, als der Krieg in Syrien eskalierte, floh sein Sohn mit seiner Groß-

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mutter und seiner Tante nach Ägypten. Ali versuchte vergeblich, bei der dortigen griechischen Botschaft ein Visum für ihn zu bekommen. Als einziger Weg nach Griechenland blieb nur die Flucht mit dem Schlauchboot. Gemeinsam mit dem Jugendlichen reiste eine Familie mit drei kleinen Kindern. Sie hatte bereits einige Jahre in Griechenland gelebt, war aber wegen der Wirtschaftskrise dort nach Syrien zurückgekehrt. Auch sie musste aufgrund des Krieges in Syrien erneut Richtung Griechenland fliehen – ohne gültige Papiere, obwohl zwei der Kinder dort geboren wurden. Ein Verwandter der Familie erzählt, sie habe zunächst versucht, über die griechisch-türkische Landesgrenze zu gelangen. Doch habe die Grenzpolizei ihr den Übertritt verweigert. So blieb der Familie nur der gefährliche Seeweg. Sie war in demselben Boot wie Alis Sohn – für alle endete die Überfahrt tödlich. Er habe erfolglos versucht, die Familie bei den Behörden als vermisst zu melden, klagt der Verwandte. Eine Suchaktion würde während der Patrouillenfahrten der Küstenwache durchgeführt, erhielt er lapidar zur Antwort. Die Gleichgültigkeit, mit der die Behörden reagierten, sei erschreckend. Was wäre wohl geschehen, wenn es sich bei den Vermissten um Touristen gehandelt hätte? Seine letzte Hoffnung sind nun die Fischer aus Lesbos. Vielleicht kann er über sie mehr Informationen über das Schicksal der Familie erhalten.

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Unter den vermutlich neun Toten des Schlauchboot-Unfalls befand sich auch ein 17-jähriges Mädchen aus Syrien, deren Mann mit Aufenthaltserlaubnis in Deutschland lebt. Da es für sie als minderjährige Ehefrau keine Möglichkeit zur Familienzusammenführung gab, flüchtete sie zusammen mit ihrem jüngeren Bruder aus Syrien. Sie ertranken ebenfalls auf See. Nur wenige Wochen später ereignete sich ein weiteres Unglück. Mitte Mai ertrank ein sechsjähriges Mädchen aus Syrien vor der Insel Leros. Sie hatte zusammen mit 21 anderen Flüchtlingen versucht, Schutz in Griechenland zu finden. Medienberichten zufolge starb das Kind, weil die Flüchtlinge aus Angst vor einer direkten Rückschiebung durch die griechische Küstenwache das Schlauchboot zerstochen hatten. Sie wollten damit erreichen, dass die Küstenwache sie als Schiffbrüchige rettet und nicht im selben Boot zurückschickt. Pro Asyl und Amnesty International beobachten die Situation syrischer Flüchtlinge seit längerem und fordern, die Hürden für den Familiennachzug zu senken. Visa-Anträge von Syrern mit Angehörigen in Deutschland werden bislang meist rigoros abgelehnt, stellen die beiden Organisationen fest. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich kündigte Ende März die Aufnahme von etwa 5.000 »besonders schutzwürdigen« Flüchtlingen aus Syrien an. Nun geht es in enger Zusammenarbeit mit dem UNHCR um die Vorbereitung der Auf-

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nahme dieser Flüchtlinge, die sich aus Menschen mit humanitären Bedürfnissen, Bezügen zu Deutschland und jenen zusammensetzen werden, die sich besonders für den Wiederaufbau Syriens qualifizieren. Inzwischen hat der Bundestag einen fraktionsübergreifenden Antrag verabschiedet, der über das Kontingent hinaus den Bundesländern erlaubt, weiteren Flüchtlingen aus der Region den Nachzug zu ihren syrischen Verwandten in Deutschland zu erleichtern. Pro Asyl fordert darüber hinaus, in Griechenland und Bulgarien gestrandeten Syrern die Weiterreise nach Deutschland zu erlauben, wenn die Betroffenen Anknüpfungspunkte in Deutschland haben. Seit vergangenem Herbst wurden allein in der Ägäis mehr als drei Schiffsunglücke und mehr als 90 tote Flüchtlinge registriert. Immer öfter suchen Flüchtlinge alternative Routen, um Grenzen zu überwinden. So feuerten in der Nacht des 22. Juni 23 Bootsflüchtlinge aus Syrien, Somalia und Ägypten östlich der Insel Kreta Leuchtsignale ab, als ihr Boot plötzlich in Flammen aufging. Acht Flüchtlinge erlitten Verbrennungen und mussten ins Krankenhaus von Heraklion transportiert und dort behandelt werden. Die heimliche Grenzüberquerung auf hoher See in überfüllten Booten ist mit vielen Gefahren verbunden. Auch die Grenzschutzmanöver der europäischen Grenzschutzagentur Frontex

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Tod auf hoher See. Beerdigung von Flüchtlingen aus Afghanistan. Lesbos, 15. Dezember 2012.

und der griechischen Küstenwache mit ihren zweifelhaften Methoden bringen die Menschen in Lebensgefahr. Flüchtlinge werfen den griechischen Behörden illegale Abwehrpraktiken auf hoher See vor, die die Überfahrt noch riskanter machen. Dies belegt auch der aktuelle Amnesty-Bericht »Frontier Europe – Human rights abuses on Greece’s border with Turkey«. Eine solche Erfahrung hat Mohamad gemacht, der im Februar mit anderen Flüchtlingen auf Lesbos ankam. Es war sein fünfter Versuch, Europa zu erreichen, erzählt er. Zuvor wurde er Opfer eines sogenannten »Push-Backs«. »Die Beamten der griechischen Küstenwache haben uns erwischt und uns den Motor weggenommen. Sie haben uns an Bord ihres Schiffes geholt und unser Schlauchboot hinten festgemacht. Kurze Zeit später haben sie uns wieder ins Schlauchboot gesetzt und uns ein Paddel gege-

ben.« Die Flüchtlinge hätten dann verstanden, dass sie wieder in türkischem Gewässer sind. »Nur mit dem Paddel und den bloßen Händen haben wir es geschafft, die türkische Küste zu erreichen«, erzählt Mohamad. Unter den dreißig Passagieren des Schlauchboots seien auch kleine Kinder und verletzte afghanische Flüchtlinge gewesen. Ähnliche Erzählungen hört man mittlerweile häufig von neu angekommenen Flüchtlingen auf Lesbos. Manchmal berichten sie von Warnschüssen der Beamten, oder gar, dass diese ihre Gewehre drohend auf die Flüchtlinge gerichtet hätten. Die griechische Küstenwache sowie das Frontex-Pressebüro in Warschau dementieren diese Vorwürfe. Menschenleben zu retten, habe immer absolute Priorität auf dem Meer, beteuert die Pressesprecherin von Frontex.

euroPäische sTandards Griechenland bekommt von der EU mehr Geld für die Verwaltung der Flüchtlings- und Migrationsströme. In den vergangenen sechs Jahren erhielt das Land 370 Millionen Euro. Für den Zeitraum von 2014 bis 2020 soll die Summe nun auf 500 Millionen Euro aufgestockt werden. NGOs kritisieren, dass diese Gelder vom Ministerium für Bürgerschutz verwaltet werden sollen, das wiederum von der Polizei kontrolliert wird. Anfang Juni wurde in Athen die neue Asylbehörde eröffnet, die nach europäischen Standards die Anträge innerhalb weniger Wochen überprüfen soll. Allerdings können die Asylsuchenden ihre Anträge nur in Athen stellen, ein Problem für alle, die sich anderswo befinden, und vor allem für die vielen Flüchtlinge in Haftlagern. Zudem werden Asylanträge, die vor Juni gestellt wurden, weiterhin durch die Ausländerpolizei bearbeitet, die dafür häufig Monate oder sogar Jahre braucht.

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Riesige Angst vor dem Meer. Flüchtlingsunterkunft auf Lesbos.

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Hinter dem Steuer des Schiffs der griechischen Küstenwache, das gerade eine weitere Patrouille in der Meerenge zwischen Lesbos und der türkischen Küste beginnt, sitzt ein kräftiger Mann in blauer Uniform. Der Kapitän zeigt stolz auf die Wärmebildkamera, die sich rechts vor seinem Sitz befindet. »Das ist unsere stärkste Waffe. Dadurch kann man sehr schnell illegale Einwanderer lokalisieren und im Falle eines Schiffsunglücks im Meer Überlebende finden. Sie kann bei idealen Bedingungen einen Bereich von drei Seemeilen abdecken, was das Radar nicht kann«, erklärt er. Seinen Namen will er nicht nennen. Am häufigsten träfen er und seine Kollegen auf hoher See zurzeit Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan an, die mit kleinen überfüllten Schlauchbooten die griechische Küste erreichen wollten, erzählt er. »Falls sie sich auf der Grenzlinie befinden, sagen wir: ›Alter your course, you are proceeding Greek territory water.‹ Man kann sie auch warnen, dass man auf sie schießen wird. Wir sagen halt das, was wir sagen müssen.« Die Beamten dürften jedoch ihre Waffen nicht einsetzen, wenn sie es mit Unbewaffneten zu tun haben, betont der Kapitän. Die Afghanen wüssten dies bereits und befolgten die Anweisungen nicht. »Die Syrer, die das noch nicht wissen, kehren zurück, wenn wir sie erschrecken«, sagt er. Ein paar Kilometer vom Hafen entfernt, im Bergdorf Agiasos, in einer Unterkunft für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge beendet ein afghanischer Jugendlicher gerade sein Fußballspiel. Er ist einer der beiden Überlebenden eines Schiffsunglücks vor der Küste von Lesbos im vergangenen Dezember. In einem Regal über seinem Bett liegen als Dekoration zwei kleine Schiffe, ein paar Plastikblumen und der Koran. Der 16-Jährige zwingt sich zum Lächeln und beschreibt das Unglück gelassen: »Wir waren auf dem Boot. Plötzlich ist Wasser eingedrungen und das Boot lief voll. Ich hatte eine Rettungsweste und zwei Taschen in den Händen. Ich sah die anderen im Wasser verschwinden.« Er lag bereits zwölf Stunden im Meer, als ihn ein FrontexSchiff fand. Später wurden die Leichen seiner Mitreisenden an die Strände der Insel gespült. Einwohner von Lesbos und Men-

Griechenland

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schenrechtsaktivsten kritisieren, dass die griechischen Behörden die Rettungsaktion nicht sofort starteten, nachdem sie einen Überlebenden gefunden hatten. Das zuständige Ministerium dementiert, verweigert jedoch genaue Angaben zur Rettungsaktion. Trotz hochmoderner Überwachungstechnik, die von der EU finanziert wird, scheinen Frontex und die griechischen Behörden nicht in der Lage zu sein, Schiffsunglücke zu verhindern oder Suchaktionen rechtzeitig durchzuführen. Der Jugendliche schaut nachdenklich eine Landkarte an, die an der Wand hängt. Er fühlt sich in Griechenland nicht sicher und will deswegen weiter nach Nordeuropa, wieder über den Seeweg, diesmal von Griechenland nach Italien. Und das, obwohl er riesige Angst vor dem Meer hat. »Ich werde dieses Ereignis nie vergessen. Es wird immer in meinen Kopf bleiben. Wenn du aber ohne Papiere nach Griechenland und Europa kommen willst, gibt es nur diesen Weg.« Die Autorin ist freie Journalistin und lebt in Athen. Diesen Artikel können Sie sich in unserer iPad-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app

Kaum Chancen auf Asyl. Inhaftierter Flüchtling auf Lesbos, April 2013.

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Der Abschottung folgt die Abschreckung. Grenzzaun in der Region um den türkisch-griechischen Grenzfluss Evros.

Insel der Schutzlosen Die Europäische Union schottet ihre Außengrenzen ab und verstößt damit eklatant gegen Menschenrechte. Da der Landweg weitgehend versperrt ist, versuchen Schutzsuchende, über den gefährlichen Seeweg nach Europa zu gelangen. Wer es bis nach Griechenland schafft, ist dort katastrophalen Bedingungen ausgeliefert. Von Franziska Vilmar

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Foto: Nikolas Giakoumidis / AP

WELTWEIT SIND HEUTE ÜBER 45 millionen MENSCHEN AUF DER FLUCHT. DAS IST DER HÖCHSTE WERT SEIT 1994. ALLEIN 2012 WURDEN 7,6 millionen MENSCHEN DURCH KONFLIKTE ODER VERFOLGUNG ZUR FLUCHT GEZWUNGEN, DAS SIND DURCHSCHNITTLICH 23.000 PERSONEN PRO TAG. 48 ProzenT DER FLÜCHTLINGE SIND FRAUEN ODER MÄDCHEN, 46 ProzenT SIND KINDER UND JUGENDLICHE UNTER 18 JAHREN. MEHR ALS 80 ProzenT VON IHNEN LEBEN IN ENTWICKLUNGSLÄNDERN. PakisTan BEHERBERGT DIE MEISTEN FLÜCHTLINGE (1,6 MILLIONEN), GEFOLGT VOM iran (868.200). ÜBER DIE HÄLFTE ALLER FLÜCHTLINGE KAMEN AUS NUR FÜNF LÄNDERN: afghanisTan, somalia, irak, sYrien und sudan. (Quelle: UNHCR Global Trends 2012)

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riechische Inseln im Sommer – für viele sind sie das ideale Ziel für den Jahresurlaub. Anders erging es den etwa 50 Mitgliedern von Amnesty International aus ganz Europa, die im Juli nach Lesbos kamen. Sie besuchten einen der Hauptschauplätze der aktuellen europäischen Flüchtlingspolitik oder besser: der europäischen Abschottungspolitik gegen Flüchtlinge. Auf der Insel haben sich die Aktivisten über die Situation von Migranten und Schutzsuchenden informiert, den Austausch mit der Inselbevölkerung gesucht und sich untereinander vernetzt. Warum hat ausgerechnet Lesbos inzwischen eine so große Bedeutung für Menschen, die in Europa Schutz vor Verfolgung oder Krieg suchen? Es ist nicht neu, dass Migranten und Asylsuchende auf seeuntauglichen Booten über das Mittelmeer kommen und versuchen, Europa zu erreichen. Oft verlieren sie dabei ihr Leben – allein für das Jahr 2011 geht das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) von mindestens 1.500 Flüchtlingen aus, die bei der Überfahrt starben. Um den gefährlichen Seeweg zu vermeiden, versuchten viele Migranten und Flüchtlinge von der Türkei aus auf dem Landweg nach Griechenland zu gelangen. Doch dann übten Österreich und Deutschland Druck auf Griechenland aus. Sie warfen dem Land vor, seine Grenzen seien »offen wie ein Scheunentor«. Mitte 2012 wurden 1.800 zusätzliche Polizisten an die griechischtürkische Grenze beordert, um »illegale Einwanderung zu verhindern«. Außerdem wurde ein mehr als zehn Kilometer langer Grenzzaun gebaut. Seither hat sich die Route der Flüchtlinge, die vor allem aus Afghanistan, Syrien, Somalia oder Eritrea kom-

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men, wieder auf den Seeweg verlagert – zumeist mit dem Ziel Lesbos, da die Insel nicht weit von der türkischen Küste entfernt liegt. Der kürzlich erschienene Amnesty-Bericht »Frontier Europe: Human Rights Abuses on Greece’s Border with Turkey« zeichnet ein sehr detailliertes Bild davon, wie hart die europäische Abschottungspolitik die Schutzsuchenden trifft: Sie werden mit ihren Booten von griechischen Grenzpolizisten auf türkisches Territorium zurückgezogen oder mit gefesselten Händen auf Inseln ausgesetzt, die im Grenzfluss Evros auf türkischer Seite liegen. Die wenigen Habseligkeiten, die sie auf ihrer strapaziösen

menschenrechTscamP auf lesbos Vom 13. bis zum 20. Juli 2013 nahm eine Gruppe von etwa 50 Amnesty-Aktivisten aus der ganzen Welt auf der griechischen Insel Lesbos am 2. Internationalen Menschenrechts-Camp teil, um sich mit der Situation der Migranten und Flüchtlinge vor Ort zu befassen. Das Camp war einer der Höhepunkte der europäischen Kampagne zu Migration und den Rechten von Flüchtlingen und Migranten. Im vergangenen Jahr fand das Camp auf der italienischen Insel Lampedusa statt. Weitere Informationen über die Kampagne und Berichte über das »Human Rights Camp« auf Lesbos unter www.whenyoudontexist.eu

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Flucht noch nicht verloren haben, werden ihnen abgenommen. Häufig ist von Misshandlungen die Rede. Und davon, dass es nie die Gelegenheit gibt, einen Asylantrag zu stellen. Doch nicht nur an der Grenze kommt es zu gravierenden Menschenrechtsverletzungen. Recherchen von Amnesty haben ergeben, dass Asylsuchende, die jahrelang in Athen gelebt hatten, von ihren Familien weggerissen und in die Türkei abgeschoben wurden, wo sie anschließend inhaftiert wurden. Solche Ausweisungen sind nach internationalem Recht verboten. Der Abschottung folgt die Abschreckung: Wer es schafft, die Grenze zu überqueren, wird häufig willkürlich inhaftiert. Für Asylsuchende darf die Haft in Griechenland seit Oktober 2012 bis zu 18 Monate dauern – ein Grund, weshalb viele ihren Asylantrag gar nicht erst stellen. So sitzen Flüchtlinge aus Somalia und Eritrea in Haftanstalten, obgleich feststeht, dass sie nicht in ihre Länder zurückgeschoben werden dürfen, weil ihnen dort Gefahren für Leib und Leben drohen. Selbst vor der regelmäßigen Inhaftierung Minderjähriger schreckt Griechenland nicht zurück. Die Bedingungen in den Gefängnissen sind katastrophal – die medizinische Versorgung ist mangelhaft, die hygienischen Bedingungen sind es ebenso. Dabei ist Griechenland nicht etwa fremdenfeindlicher als andere europäische Staaten, sondern versucht nur auszuführen, was die EU dem Land aufgetragen hat: Es muss die Außengrenzen hermetisch abriegeln, denn anderenfalls drohen EU-Mitgliedstaaten damit, die Grenzkontrollen wieder einzuführen. Während Griechenland von der EU-Kommission seit 2011 knapp 230 Millionen Euro für Abschiebungen und Außengrenzkontrollen erhielt, wurden in derselben Periode nicht einmal 20 Millionen Euro für die Verbesserung des griechischen Asylsystems zur Verfügung gestellt: Dass dieses System seit Jahren faktisch zu-

euroPäisches asYlVerfahren In der Dublin-II-Verordnung wird geregelt, welcher EU-Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens innerhalb der EU zuständig ist. Hauptkriterium dafür ist der irreguläre Grenzübertritt, das heißt derjenige EU-Mitgliedstaat ist für die Prüfung des Asylantrags zuständig, den der Schutzsuchende erstmals – fluchtbedingt überwiegend ohne Visum – betreten hat. Dadurch sind die Mitgliedstaaten an den EU-Außengrenzen schwerpunktmäßig zuständig. Dies gilt übrigens nicht nur für die Durchführung des Asylverfahrens, sondern auch für die Aufnahme des Schutzsuchenden währenddessen und danach. Sollte der Asylsuchende weiterreisen, kann ihn der aufgesuchte EU-Mitgliedstaat in den ersten EU-Mitgliedstaat wieder abschieben. Um welchen Mitgliedstaat es sich handelt, kann anhand der Trefferquote des EURODACSystems ermittelt werden. Nach der EURODAC-Verordnung müssen Drittstaatsangehörige bei der Einreise in die EU ihre Fingerabdrücke abgeben. Zum Zweck der Rücküberstellungen nach der Dublin-II-Verordnung kommt es regelmäßig zur Inhaftierung der Asylsuchenden. Amnesty fordert, dass die Interessen der Schutzsuchenden bei der Frage danach, wo sie ihren Asylantrag stellen wollen, stärker berücksichtigt werden. Außerdem muss es bei der Aufnahme von Asylsuchenden endlich mehr Solidarität unter den Mitgliedstaaten geben.

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»Allein für 2011 geht der UNHCR von mindestens 1.500 Flüchtlingen aus, die bei der Überfahrt starben.« sammengebrochen ist und es entgegen aller geltenden EURichtlinien zum Flüchtlingsschutz keinen Zugang zum Asylverfahren mehr in Griechenland gibt, scheint die EU nicht zu kümmern, die 2012 wegen ihres Einsatzes für Frieden und Menschenrechte den Friedensnobelpreis erhalten hat. Für die griechische Abschottungspolitik ist neben dem Schengen-System mit seinen freien Binnengrenzen und den gesicherten Außengrenzen auch das Dublin-Verfahren mitverantwortlich. Dies bedeutet, dass wenn Schutzsuchende als Erstes griechisches Hoheitsgebiet betreten, Griechenland auch für deren Asylverfahren und Unterbringung zuständig ist. Die Staaten in Zentraleuropa profitieren von dieser Praxis an den EU-Außengrenzen. Hier zeigt sich das schäbige Antlitz Europas. Die sogenannte »illegale Migration« wird auf eine Art und Weise bekämpft, als hätten Flüchtlinge und Migranten keine Rechte und als gäbe es kein gemeinsames europäisches Asylsystem. Dabei hat die EU ihre Asylgesetzgebung erst kürzlich reformiert. Presseerklärungen von EU-Kommission und nationalen Regierungen zufolge hat die EU die rechtlichen Grundlagen für einen gemeinsamen Raum des Flüchtlingsschutzes und der Solidarität sogar substanziell verbessert. »Mit der heute beschlossenen Weiterentwicklung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems verfügt die Europäische Union über das weltweit modernste Flüchtlingsrecht mit hohen Standards«, erklärte Bundesinnenminister Friedrich Mitte Juni, als die neuen EUNormen verabschiedet wurden. Nun komme es darauf an, »dass alle Mitgliedstaaten die festgelegten Regelungen und Verfahren zügig und möglichst einheitlich umsetzen. Die großen Unterschiede, die in der EU bei der Aufnahme von Schutzsuchenden und den Standards in der Praxis bestehen, müssen konsequent abgebaut werden.« Die dokumentierten Menschenrechtsverletzungen der griechischen Polizei im Namen und zum Nutzen der EU müssen unverzüglich gestoppt werden. Mit der aktuellen Petition (www. amnesty.de/petition-fluechtlinge) fordert Amnesty deshalb die griechische Regierung unter anderem dazu auf, Schutzsuchenden Zugang zum Asylverfahren zu gewähren, die unrechtmäßigen Rückführungen (»Push-Backs«) von Flüchtlingen an der griechisch-türkischen Grenze sofort zu beenden, menschenrechtswidrige Ausweisungen von Asylsuchenden zu untersuchen und die willkürliche Haftpraxis zu beenden. Die Autorin ist Asyl-Expertin der deutschen Amnesty-Sektion.

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Lost in Transit Die serbisch-ungarische Grenze ist für viele Flüchtlinge das letzte große Hindernis vor dem Schengenraum, wo es keine regulären Personenkontrollen mehr gibt. Manche warten unter extremen Bedingungen monatelang auf eine Gelegenheit, die EU-Außengrenze zu überqueren. Von Merlin Nadj-Torma

Verloren auf der Durchreise. Bahnstrecke im serbischen Ort Subotica, die nach Ungarn führt.

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Der Traum von einem besseren Leben. Illegales Flüchtlingscamp in Subotica, Serbien.

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ausende illegaler Migranten haben Serbien in den letzten Jahren durchquert. Sie stammen hauptsächlich aus Afghanistan, Pakistan und Ostafrika und sind auf dem Weg in die EU. 2011 haben 3.134 Personen Asyl in Serbien beantragt, das sind zehnmal so viele wie noch vor drei Jahren. Und die Zahl derer, die kein Asyl suchen, wird viel höher geschätzt. In Serbien angekommen, haben die Migranten bereits Tausende Euro an Menschenhändler bezahlt. Sie haben zu Fuß, in Booten oder versteckt in Lkws Grenzen überquert, einige wurden Opfer von Gewalttaten oder haben Freunde oder Angehörige auf der Reise verloren. Die meisten kommen über Griechenland, doch wegen der schlechten wirtschaftlichen und politischen Lage versuchen sie in die nördlichen EU-Länder zu gelangen. Einige hatten es bereits geschafft, wurden aber zurück nach Griechenland deportiert, da Flüchtlinge nach der Dublin-II-RegeUngarn lung im ersten sicheren Drittstaat Asyl beantragen müssen. Sie versuchen es erneut. Subotica Die serbisch-ungarische Grenze ist das letzte HinderSerbien nis vor dem Schengenraum, wo es keine regulären Personenkontrollen mehr gibt. Da die EU-Außengrenze aber sehr gut gesichert ist, hängen

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viele der Migranten wochen- oder gar monatelang in Serbien fest. Wer sich keine Privatunterkunft leisten kann, verbringt die Zeit des Wartens in einem illegalen Camp, dem »Jungle«. Manchmal tagelang ohne Wasser und Nahrungsmittel, leben sie dort in Zelten, die sie aus Materialien von der nahe gelegenen Müllhalde bauen. Sie müssen ständig Ausschau halten nach der Polizei, die regelmäßig Razzien durchführt und die Migranten im Anschluss nach Mazedonien deportiert. Gleichzeitig ist der »Jungle« aber auch ein Ort zum Netzwerken: Erfahrungen werden ausgetauscht und Kontakte zu Menschenhändlern geknüpft und so die weitere Reise organisiert. Die meiste Zeit aber verbringen die Migranten mit Warten. Einige versuchen sich mit täglichen Aufgaben wie Holzsammeln zu beschäftigen. So vermeiden sie die ständige Reflexion über ihre Situation: Das Leben im Freien und ihre Erfahrungen eines Europas, welches sie nicht haben möchte, kollidiert dabei mit den Wünschen und Erwartungen, die sie dazu bewegt haben, ihr Heimatland und ihre Familien zu verlassen. So ist der »Jungle« ein Ort zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit: Der Traum eines besseren Lebens in Europa und die Möglichkeit, die Familien daheim zu unterstützen, auf der einen Seite. Auf der anderen Seite eine unsichere Zukunft und eine Realität, die anders aussieht, als sie es erwartet haben. So fragen sich alle irgendwann einmal: Ist es das wert? Die Fotografin lebt in Berlin und Subotica.

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Momentaufnahmen aus dem »Jungle«. Ein Notizbuch zeigt die Reiseroute eines Migranten aus Pakistan. Ein niedergebranntes Zelt nach einer Polizeirazzia. Wer es sich leisten kann, versucht in Privatunterkünften unterzukommen. Am Abend kommen viele Migranten zusammen, manchmal wird auch getanzt oder Karten gespielt. An einem der ersten Frühlingstage lässt ein Flüchting aus Pakistan einen Drachen steigen.

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Hausnummer 22. Alis neue Heimat misst zehn Quadratmeter und ist so einladend wie eine Gef채ngniszelle.

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Unberechenbar Ali ist ein Rechenkünstler. Ginge es nach ihm, könnte er bald in Deutschland Mathematik studieren. Doch dem jungen Flüchtling droht die Abschiebung nach Afghanistan – ein Land, das er nur vom Hörensagen kennt. Von Ramin M. Nowzad (Text) und Sarah Eick (Fotos)

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or sechs Sekunden wollte der junge Ali noch an der Welt verzweifeln. Aber nun besteht die Welt nur noch aus Zahlen, Strichen und schraffierten Flächen. Zeichen türmen sich wild übereinander und formen seltsame Gebilde. –) ∑ni=1 (xi – –x) (yi – y R = –––––––––––––––––––––––1 [∑ni=1 (xi – –x)2 ∑ni=1 (yi – y– )2]–2 »Ach so?«, murmelt Ali. Die Sorge und die Wut, die sein Minenspiel eben noch beherrschten, sind aus seinem Gesicht gewichen. Ali fixiert die Formel, als könne er sie beschwören. Dann scheint es plötzlich Klick zu machen: »Ach so!«, ruft er triumphierend und klappt das Mathematikbuch mit einem lauten Rums zu. Mit Zahlen kennt Ali sich aus, sie ordnen seine Welt und sie ordnen sein Leben. Wenn man sich mit Ali unterhält, rattern Zahlen im Stakkato aus ihm heraus. – Wie alt bist Du? »Neunzehnkommafünf.« – Seit wann bist Du in Deutschland? »9.11.2010.« – Wann willst Du zu Mittag essen? »In sieben Minuten.« Ali ist ehrgeizig, zielstrebig und hochbegabt. Ginge es nach ihm, könnte er eines Tages an einer deutschen Hochschule Mathematik studieren. Doch es geht nicht nach ihm, sondern nach den bayerischen Behörden. Rund 600 afghanische Flüchtlinge leben in Bayern in der Angst, an den Hindukusch abgeschoben zu werden. Ali ist einer von ihnen. Seit zweieinhalb Jahren ist eine türkisblaue Kiste aus geriffeltem Stahlblech sein Zuhause. Ali wohnt im Container eines Nürnberger Flüchtlingsheims. Die bayerischen Beamten nennen das Heim eine »Gemeinschaftsunterkunft«. Die Bewohner nennen es schlicht »das Lager«. Alis neue Heimat ist zehn Quadratmeter groß und so einladend wie eine Gefängniszelle. Das weißgetünchte Doppelzimmer »22A« wirkt karg und heruntergekommen, als sei das Leben seiner Bewohner auf der Flucht nach Deutschland irgendwo verloren gegangen. Vier nackte Wände. Dazwischen: drei Spinde aus zerkratztem Blech, zwei Metallbetten, ein großer Spiegel und ein Holztisch, der auf wackligen Beinen steht. Nur der waldgrüne Gebetsteppich, den Ali über dem PVC-Boden ausgerollt hat, gibt dem Raum etwas Farbe. Ali teilt sich das Zimmer mit ei-

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nem Jungen, der ebenfalls aus Afghanistan stammt. Die ZehnQuadratmeter-Enge dient den beiden als Wohnzimmer, Esszimmer, Arbeitszimmer, Schlafzimmer, Gebetsraum und Abstellkammer in einem. Die wenigsten afghanischen Flüchtlinge haben in Deutschland eine Chance auf politisches Asyl, denn sie wurden in ihrer Heimat nicht politisch verfolgt, sondern bangten in dem Bürgerkriegsland schlicht ums Überleben. Auch Ali ist in Deutschland nur »geduldet«. Was das bedeutet, lässt sich in seinem provisorischen Ausweis nachlesen: »Kein Aufenthaltstitel! Der Inhaber ist ausreisepflichtig!« Ausrufezeichen können wie Hammerschläge sein. Ali ist männlich, ledig, jung. Und das ist sein Problem. Als eines der ersten Bundesländer hat Bayern damit begonnen, junge alleinstehende Männer nach Afghanistan zurückzuführen, obwohl Experten seit Jahren einen Abschiebestopp fordern. Die Sicherheitslage ist in dem Land noch immer prekär, nach Angaben der Vereinten Nationen sind allein in den ersten sechs Monaten dieses Jahres mehr als 3.000 Zivilisten getötet oder verletzt worden. »Heimkehrer sind besonders gefährdet«, sagt Tobias Klaus vom Bayerischen Flüchtlingsrat. »Ihnen drohen Entführung und Folter, weil sie von den Taliban als Spione des Westens verdächtigt werden.« Doch für Ali wäre es nicht einmal eine Heimkehr. Er muss fürchten, in ein Land ausgeflogen zu werden, das er nur vom Hörensagen kennt. In Afghanistan ist er 1994 zur Welt gekommen, mitten im blutigen Bürgerkrieg. Als er noch ein Säugling ist, töten Taliban-Kämpfer seinen Vater. Die Mutter flieht mit Ali und dessen Schwester in den benachbarten Iran. Dort entwickelt der Sprössling einen schier unstillbaren Wissensdurst. In der Schule ist er Klassenbester. Ali, das Flüchtlingskind, gibt bald sogar den Schülern der höheren Klassen Nachhilfe. Doch als Afghane wird er in der iranischen Gesellschaft nicht akzeptiert. In den Fußballverein darf er nicht eintreten, der Schachverein bleibt ihm versperrt, von der Mathematikolympiade wird er ausgeschlossen. Als ihn Polizisten grundlos misshandeln und damit drohen, ihm die Aufenthaltsgenehmigung zu entziehen, entschließt er sich zur Flucht. 150 Flüchtlinge wohnen in der Nürnberger Gemeinschaftsunterkunft. Sie kommen aus Afghanistan, Vietnam, Iran und Somalia. Aus Uganda, Russland, Aserbaidschan und dem Irak. Sie verließen ihre Heimat, um den Bomben, der Verfolgung oder dem Hunger zu entkommen. Sie alle haben es nach Deutschland

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geschafft. Aber angekommen sind sie noch lange nicht. Im Heim mahnt an der Eingangstür eines Blechcontainers ein Aufkleber zur interkulturellen Toleranz: »Alle Menschen sind Ausländer. Fast überall.« Stimmt, aber vermutlich sind sie nirgends so sehr Ausländer wie hier. Man hätte das Lager nicht weiter aus der Innenstadt verbannen können. Die Sammelunterkunft liegt am östlichsten Rand Nürnbergs, dort, wo die Wälder beginnen. Wer das Heim vom Stadtzentrum aus erreichen will, muss eine lange Fahrt mit dem Bus der Linie 44 auf sich nehmen. »Wohnheim Regensburger Str.« heißt die Haltestelle, an der man aussteigt. Und warum sollte sie auch anders heißen? Außer dem Wohnheim gibt es hier ja nichts. Das Grundstück des Heims ist umzäunt, ein rotweiß lackierter Schlagbaum versperrt die Zufahrt. Drinnen sind die Flüchtlinge, draußen ist Deutschland. Die Bundesrepublik war für Ali am schönsten, als sie noch weit weg war. Ein fernes Versprechen auf ein besseres Leben. Als er sich vor drei Jahren auf die Reise machte, wusste er kaum etwas über das Land seiner Hoffnung. Er hatte gehört, dass die Deutschen fleißig sind und gute Autos bauen. Er kannte zwei deutsche Vokabeln (»H-A-L-L-O« und »D-E-U-T-S-C-H-L-A-N-D«) und er verstand, dass das Land in seiner Geschichte zwei große Persönlichkeiten hervorgebracht hatte: Albert Einstein und Oliver Kahn. Mehr als 4.000 Kilometer legte er auf seiner Flucht zurück, gut 10.000 Euro dürfte die Reise verschlungen haben. Alis Großvater hatte seine Lebensersparnisse geopfert, um dem Enkel die Flucht zu finanzieren. Unterwegs nahm Ali Strapazen auf sich, die ihn fast das Leben gekostet hätten. Und er erlebte Dinge, über die er bis heute lieber nicht sprechen mag. Als er nach sechs Monaten endlich auf dem Münchener Hauptbahnhof angekommen war, dauerte es keine fünf Minuten, bis ihn Polizisten nach seinen Papieren fragten. »H-A-L-L-O!«, stammelte Ali. Die erste Nacht in seiner neuen Heimat verbrachte er in einer Gefängniszelle. Aha, das ist also »Deutschland«.

Vor zwei Jahren besuchte die bayerische Sozialministerin Christine Haderthauer das Nürnberger Containerdorf. Die CSUPolitikerin schüttelte ein paar Flüchtlingshände, posierte für die Fotografen und zeigte sich betroffen: »Die Situation für die Flüchtlinge ist so schon schwierig genug«, sagte die ambitionierte Ministerin damals, als sie sah, wie beengt die Menschen hier lebten. Jeder Flüchtling habe das Recht auf Privatsphäre, daher brauche auch jeder einen abgetrennten Wohnbereich. Die Worte der Ministerin blieben nicht ohne Wirkung: Für die CSU-Frau sprang am nächsten Tag eine hübsche Schlagzeile und ein großes Foto in der Lokalzeitung heraus. An der Wohnsituation im Heim hat sich indes bis heute nichts geändert. Vielleicht auch deswegen nicht, weil das Elend durchaus politisch gewollt ist. Die Unterbringung der Flüchtlinge soll die »Bereitschaft zur Rückkehr in das Heimatland fördern«, wie es im blank polierten Bürokratendeutsch der bayerischen Asyldurchführungsverordnung heißt. Mit anderen Worten: Die Flüchtlinge sollen sich hier so unwohl fühlen, dass in ihnen die Sehnsucht wächst, Deutschland zu verlassen. Darum wurden sie auch in den vergangenen Jahren finanziell so kurz wie möglich gehalten: 40,90 Euro im Monat plus Sachleistungen wie Essenspakete, soviel stand einem Flüchtling zu. Zum Vergleich: Ein alleinstehender Hartz-IV-Empfänger bekommt monatlich 382 Euro. Im vergangenen Jahr urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass auch Flüchtlinge ein Anrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum hätten. »Ein bisschen hungern, dann gehen die schon«, das könne doch wohl kaum die Maxime der deutschen Flüchtlingspolitik sein, mahnte einer der Richter. Auf dem Heimgelände schiebt ein Herr im quittengelben Kaftan einen kleinen Jungen spazieren. Der rostige Lidl-Einkaufswagen scheppert über die Pflastersteine. Seit gut einer Stunde fahren die beiden stumm im Kreis. Ein gut gelaunter Greis im Rollstuhl beobachtet sie dabei. Immer wenn die beiden

Großes Talent, großes Selbstbewusstsein. »12 Tore in 7 Spielen! Das sind 1,71 Tore pro Match!«

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Leben im Blech. 150 Flüchtlinge wohnen in den Containern der Nürnberger Gemeinschaftsunterkunft.

ihn passieren, lüpft er den Hut zum Gruß. Das sieht witzig aus, weil er gar keinen Hut trägt. Der Mann im Kaftan strahlt eine große Eleganz aus. In seinem früheren Leben mag er ein Arzt oder ein Ingenieur, ein Pianist oder ein Frauenheld gewesen sein. Hier ist er nur noch ein Asylbewerber. Das Leben hat ihm die Mundwinkel tief nach unten gezogen. Die meisten Heimbewohner sind zum Nichtstun verdammt. Einen Job dürfen sie nur antreten, wenn sich kein Deutscher für die Stelle findet. De facto ist das ein Arbeitsverbot. Die Welt ist für die Flüchtlinge zum Wartezimmer geworden. Nur wer schulpflichtig ist, hat einen strukturierten Tagesablauf. Doch weil ihnen die Abschiebung droht, können sich die jungen Afghanen im Heim kaum noch zum Lernen motivieren. Die meisten von ihnen haben ein begrenztes deutsches Vokabular, doch es gibt ein Fremdwort, das vielen erstaunlich problemlos über die Lippen gleitet: »Depressionen«. Einer der Jungs versuchte sich kürzlich mit einem Gürtel an einem Brückengeländer zu erhängen. Der Gürtel riss, der Junge überlebte. Ein anderer war plötzlich aus dem Heim verschwunden. Nach zwei Monaten tauchte er wieder auf – mit verfilztem Haar, zerschlissenen Kleidern und lang gewuchertem Bart. Er hatte wochenlang mit Pennern unter einer Brücke geschlafen. Viele im Heim sind schwer traumatisiert. Ein Anrecht auf Therapie haben sie nicht. Natürlich weiß auch Ali, wie sich schwere Depressionen anfühlen. Das Leben im Lager und die Angst vor der Abschiebung bringen das mit sich. Doch ihm scheint die Schule Halt zu geben. Auch in Deutschland ist er ein schulischer Überflieger. Wenn er einmal in Fahrt ist, referiert er über nichtlineare Integralgleichungen und elektrische Schaltsysteme, fast ohne Atem zu holen. Im Heim hat sich längst herumgesprochen, dass Ali ein Junge mit großen Begabungen ist. Wenn in ein paar Jahren in der Zeitung zu lesen wäre, dass man ihm den Nobelpreis verleihen will, würde hier wohl kaum jemand staunen. Er selbst vermutlich am wenigsten. Ali hat viele Talente, das Tiefstapeln gehört nicht dazu. Erst letzte Woche wurde ihm nach einem Fußballturnier ein kleiner Pokal überreicht. »Bester Torschüt-

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ze«, erklärt Ali stolz und streicht dabei so sanft über die Trophäe, als ob das Ding zu zerbrechen drohe. »12 Tore in 7 Spielen! Das sind 1,71 Tore pro Match!« Ali liebt die Welt der Zahlen. Vielleicht, weil er hier eine Ordnung, eine Klarheit, eine Berechenbarkeit findet, die in seinem Leben fehlt. Als er noch im Iran lebte, war seine Zukunft ungewiss. In Deutschland ist sie es auch: Wieder gibt er, das Flüchtlingskind, den einheimischen Mitschülern Nachhilfe. Wieder bleibt er ein Fremder. Wieder droht ihm die Abschiebung nach Afghanistan. Und wieder denkt er darüber nach, aus dem Land zu fliehen, in das er einst floh. Sollte er erfahren, dass die Behörden planen, ihn auszufliegen, will er sich ins Ausland absetzen. Nach London, nach Paris oder nach Stockholm. Doch noch ist Ali in Kampfeslaune, sein Ehrgeiz scheint ungebrochen. Fast so, als wolle er sich, dem Ausländeramt und ganz Deutschland beweisen, dass er einen Platz in diesem Land verdient hat. »Sein schulischer Erfolg ist außergewöhnlich«, sagt Benjamin Deinert, der die Heimbewohner als Sozialarbeiter betreut. »Wenn er sich weiterhin gut integriert, könnte Ali irgendwann ein Fall für die Härtefallkommission werden, ein Gremium, das in Einzelfällen auch abgelehnten Asylbewerbern ein Bleiberecht aussprechen kann.« Aber was, wenn die Behörden ihn doch abschieben wollen? Ali räuspert sich, sein Blick wird streng. »Dann ist das …« Er führt den Satz nicht zu Ende, setzt erneut an: »Dann ist das …« Die entscheidende Vokabel ist ihm entfallen. »Es ist ein wichtiges Wort«, zischt er. Plötzlich wirkt Ali wie elektrisiert, seine Stimme überschlägt sich fast: »Ein ganz wichtiges Wort!« Er greift zum Wörterbuch und blättert hektisch durch die Seiten. Doch noch bevor er den Eintrag gefunden hat, ist ihm die Vokabel wieder eingefallen: »Schicksal!«, ruft er triumphierend. Und schlägt das Wörterbuch mit einem lauten Rums zu. Der Autor ist Volontär des Amnesty Journals. Weitere Bilder finden Sie in unserer iPad-App: www.amnesty.de/app

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Berichte

38 Türkei: Protestbewegung gegen AKP-Regierung 41 »Panic Button«: Hilfe per Smartphone 42 Ungarn: Aufstieg der Rechtsradikalen 46 Bangladesch: Blutige Kleider 48 50 Jahre AU: Besser als der Ruf

Warten auf die Polizei. Demonstranten auf einer Barrikade am Taksim-Platz in Istanbul, 4. Juni 2013. Foto: Aytunc Akad / Panos Pictures

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Die alte neue Angst

Unheil. Demonstration gegen Antisemitismus vor dem Budapester Parlament. Auf dem Plakat Mรกrton Gyรถngyรถsi, stellvertretender Chef der rechtsextremen Jobbik

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Foto: Attila Kisbenedek / AFP / Getty Images

Die ungarische Regierung schürt Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus im Land. Nach den Roma fühlen sich nun auch viele jüdische Bürger nicht mehr sicher. Von Keno Verseck Lange Zeit spielte es für András Dés keine besondere Rolle, dass er aus einer jüdischen Familie stammt. Weder seine Eltern noch die meisten anderen seiner Angehörigen waren religiös. Seine Großeltern hatten den Holocaust in Ungarn mit gefälschten Papieren überlebt, einer seiner beiden Großväter war ein bekannter antifaschistischer Widerstandskämpfer. Er selbst fühlte sich vor allem als Bürger Ungarns und als Jazzmusiker. Er hatte früh angefangen, Schlagzeug zu spielen, hatte die Wendezeit als Teenager erlebt, dann Musik studiert. Er betrachtete es als großes Glück, dass er von seiner Arbeit als Musiker leben, durch Europa reisen und im Ausland auftreten konnte. Doch vor einigen Jahren begann sich im Lebensgefühl von András Dés etwas zu ändern. Es kam vor, dass Bekannte ihm plötzlich unvermittelt auf die Schulter klopften und sagten, sie wüssten ja, dass er Jude sei, sie hätten aber kein Problem damit. Er las, wie seine Eltern verunglimpft wurden, vor allem seine Mutter, eine bekannte Soziologin, unter deren Fotografie Betreiber rechtsextremer Internet-Seiten schrieben: »Lampenschirm«. Und er sah die alte neue Angst im Gesicht seiner Großmutter, als sie erlebte, wie in Budapest und im ganzen Land wieder paramilitärische rechtsextreme Hundertschaften aufmarschierten. »Es ist in der Öffentlichkeit wieder Thema, wenn jemand Jude ist«, sagt der 35-Jährige. »Ich persönlich fühle mich nicht in Gefahr, ich habe auch keine antisemitisch motivierten verbalen oder physischen Angriffe auf mich erlebt. Aber wenn in der Öffentlichkeit Sätze fallen, über die man weiß, wohin sie schon einmal geführt haben, wenn sie auch im Umfeld der Regierung immer öfter gesagt werden, dann erzeugt das ein sehr unangenehmes Gefühl. Manchmal frage ich mich, ob meine Kinder hier in ein paar Jahren noch in Sicherheit sind.« So wie András Dés fühlen sich seit einiger Zeit viele jüdische Ungarn. Aus gutem Grund: Wie die Umfragen ungarischer Meinungsforschungsinstitute belegen, haben Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus in den vergangenen Jahren zugenommen. Rechtsextreme Organisationen und Bürgerwehren erhalten viel Zulauf, bei den Europawahlen 2009 bekam die rechtsextreme Partei Jobbik 15 Prozent der Stimmen, bei den Parlamentswahlen im April 2010 waren es 17 Prozent. Immer wieder werden jüdische Friedhöfe, Denkmäler oder Synagogen geschändet, mehrfach wurden in den vergangenen Jahren Juden auf offener Straße zusammengeschlagen. Ende November 2012 forderte Márton Gyöngyösi, stellvertretender Chef und außenpolitischer Sprecher der Jobbik-Partei, im Parlament, ungarische Juden in Listen zu erfassen und zu prüfen, welche ungarisch-jüdischen Abgeordneten und Regierungsmitglieder ein Sicherheitsrisiko für Ungarn darstellten. An den Büros mehrerer Budapester Universitätslehrer, darunter der Philosophin Ágnes Heller, klebten im März Zettel mit der Aufschrift: »Juden! Die Universität gehört uns, nicht euch!«

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»Das doppelbödige Handeln Orbáns und seiner Fidesz-Partei wird nicht aufhören.« 44

Foto: Tamas Kovacs / MTI / AP / pa

Ungarn steht damit nicht allein in Europa. Was das Land jedoch zu einem Sonderfall macht, ist die bewusste Ambivalenz, mit der die gegenwärtige Regierungsmehrheit unter Ministerpräsident Viktor Orbán auf die antisemitischen Tendenzen reagiert. Offiziell grenzt sie sich von ihnen ab. Die Gesetzeslage, um gegen Rassismus und speziell Antisemitismus vorzugehen, ist gut. Zugleich bedient die Regierungsmehrheit gezielt antisemitische Ressentiments und betreibt eine Reinwaschung antisemitischer Persönlichkeiten der ungarischen Geschichte. Da ist zum einen die Ebene der öffentlichen Rhetorik. Der gegenwärtigen nationalistischen, antikapitalistischen und antieuropäischen Staatsideologie zufolge hat sich das »internationale Kapital« mit seinen Handlangern EU, USA und IWF gegen das kleine Ungarn verschworen, weil das Land eine »ernsthafte Abkehr vom liberalen Zwangsweg« betreibe, wie Parlamentspräsident László Kövér es ausdrückt. Viktor Orbán selbst schwört die Ungarn auf eine starke Volksgemeinschaft national gesinnter Ungarn und auf die »Ordnung der nationalen Zusammenarbeit« ein, in der »Blut und Heimat« die verbindenden Werte sind – so der Regierungschef in einer Rede im September 2012. Die EU-Kommission attackiert er als eine Art neues sowjetisches Politbüro (»Brüssel = Moskau«), einem »säkulären, internationalistischen, familienfeindlichen Europa« stellt er das »nationale, christliche Ungarn« gegenüber. »In Ungarn steht Antisemitismus nie allein, sondern ist immer auch mit Antikapitalismus und der Ablehnung der westlichen Lebensweise verbunden«, ordnet der Historiker Krisztián Ungváry diese Rhetorik ein. Er legt dabei Wert auf die Feststellung, dass Orbán und seine Regierung nicht an sich antisemitisch seien, sondern lediglich antisemitische Parolen für ihre Zwecke missbrauchten, um ihre Wählerschaft zu mobilisieren. Dabei beschränkt sich die Orbán-Regierung nicht auf Worte. So wird unter Beteiligung von Fidesz-Politikern um den Reichsverweser Miklós Horthy, Ungarns Staatsoberhaupt von 1920 bis 1940, ein regelrechter Kult betrieben, obwohl der erklärte Antisemit für die Deportation von 437.000 Juden in deutsche Vernichtungslager mitverantwortlich war. Mehrere Horthy-Statuen und -Gedenktafeln wurden im Land aufgestellt, Straßen und Plätze nach ihm benannt. Statuen und Gedenktafeln erhielten auch bekannte antisemitische Schriftsteller wie Albert Wass, József Nyírő und Dezső Szabó oder der Bischof und antisemitische Ideologe Ottokár Prohászka, der Vater des Numerus clausus, 1920 eines der ersten großen antisemitischen Gesetze in Europa, das den Zugang zu Universitäten für Juden einschränkte. Werke aller vier Personen sind auch in Ungarns Nationalem Grundlehrplan für Schulen zur Lektüre empfohlen – ohne kritische Thematisierung ihrer politischen Ansichten und Aktivitäten.

Israels Flagge in Flammen. Demonstration eines rechten Abgeordneten.

Doch damit nicht genug. Anlässlich des Nationalfeiertages am 15. März dieses Jahres ehrte die ungarische Regierung mehrere bekannte Antisemiten und Rechtsextreme mit hohen staatlichen Orden, darunter János Petrás, den Sänger der rechtsextremen Rockband »Kárpátia«, und den antisemitischen Altertumsforscher Kornél Bakay. Der Journalist Ferenc Szaniszló, der für seine antisemitischen und antiziganistischen Ausfälle bekannt ist, gab seine Auszeichnung nach Protesten wieder zurück. Kritik an derartigen Entwicklungen hört die ungarische Regierung nicht gern. Das Land werde von westlichen Politikern und Medien pauschal abgestempelt, ist zu hören, die Anstrengungen der Orbán-Regierung beim Kampf gegen Antisemitismus würden nicht gewürdigt. »Es ist nicht hilfreich, wenn man im Westen dauernd auf uns einprügelt«, klagt beispielsweise János Lázár, Orbáns mächtiger Kanzleichef im Gespräch. Er malt die düsteren Konsequenzen der vermeintlich überzogenen Kritik aus: »Wenn wir aus Europa herausgedrängt werden, dann führt das zum Chaos in Ungarn, dann kommt die radikale Rechte an die Macht. Das kann doch niemand wollen.« Für den jüdisch-ungarischen Philosophen und Religionswissenschaftler György Gábor sind das Ausflüchte. Der 59-Jährige hat erlebt, wie ernst es die Orbán-Regierung mit dem Kampf gegen Antisemitismus meint. Er war einer der Angeklagten im sogenannten »Philosophen-Prozess«: Anfang 2011 wurden mehrere namhafte ungarische Intellektuelle von der Regierung beschuldigt, Forschungsgelder veruntreut zu haben. Es handelte sich ausnahmslos um regierungskritische Intellektuelle, die meisten bekannten sich zudem offen zu ihrer jüdisch-ungarischen Identität. Die Vorwürfe wurden zunächst wochenlang von einer Rufmordkampagne regierungstreuer Medien begleitet, die einen antisemitischen Beigeschmack hatte. Die Philosophen würden das Geld »bergeweise aus dem Land karren«, hieß es etwa, und weil sie Juden seien, schlügen sie mit der Keule des Antisemitismus-Vorwurfs zurück. Später ermittelte die Polizei. Nach einigen Monaten wurden sämtliche Verfahren eingestellt, weil sich die Vorwürfe als haltlos erwiesen hatten. Doch die Betroffenen waren diskreditiert, in der Regierungspresse gab es keine Richtigstellungen, obwohl sogar einige Fidesz-nahe Intellektuelle

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Foto: Attila Kisbenedek / AFP / Getty Images

Foto: Dirk Bruniecki / laif

Doppelbödig. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán.

»Die Zukunft ist unser.« Aktivisten der rechtsradikalen Jobbik-Partei.

den Prozess als »versteckt antisemitisch« (so der konservative Philosoph Gábor Gulyás) kritisierten. Zwei Jahre nach dem Philosophenprozess zieht György Gábor eine pessimistische Bilanz. »Der Prozess diente vor allem dem Ziel, unabhängigen Intellektuellen das Fürchten zu lehren und auch das jüdische Element spielte dabei eine Rolle«, sagt Gábor. »In meiner Umgebung, unter Freunden und am Arbeitsplatz spüre ich die Existenzangst von Leuten und ich kenne auch Menschen, die nicht mehr laut sagen, dass sie Juden sind. Wenn mir jemand vor einigen Jahren erzählt hätte, dass es in Ungarn noch einmal so weit kommen würde, hätte ich das als Hirngespinst abgetan.« Tatsächlich hat Ungarn den Ruf eines osteuropäischen Musterlands verspielt. Doch schon damals, vor zwei Jahrzehnten, machten antisemitische Entwicklungen Schlagzeilen. Und es zeichnete sich ab, dass Ungarn sozial und wirtschaftlich keineswegs ein Musterland war. Ein Elitenwechsel hatte nach 1990 kaum stattgefunden. Die Bevölkerung litt unter Massenarbeitslosigkeit und Austeritätsprogrammen, während Angehörige der früheren Nomenklatura sich im Zuge eines betrügerischen Privatisierungsprozesses am ehemaligen Volkseigentum bereicherten. Keines der drastischen Sparprogramme, die seit 1990 Ungarns riesigen Schuldenberg abbauen sollten und für die die Bevölkerung anfangs noch Geduld aufbrachte, wurde konsequent zu Ende geführt. Besonders die Jahre 2002 bis 2010, in denen die wendekommunistischen Sozialisten mit den aus der ehemaligen Bürgerrechtsopposition hervorgegangenen Liberalen regierten, waren eine Zeit quälenden politisch-ökonomischen Stillstandes und zahlreicher Korruptionsaffären. Dies nährte ein Erstarken antisemitischer und antiziganistischer Tendenzen und den Aufstieg des Rechtsextremismus. Hinzu kam die tiefe politische Spaltung des Landes in ein linksliberales und ein rechtsnationales Lager. Sie lähmt nicht nur Ungarns politische Zukunft, sondern hat auch dazu geführt, dass ein erheblicher Teil der Wähler zu den Rechtsextremen abgewandert ist, darunter vor allem junge Wähler: Unter den bis zu 35-Jährigen ist Jobbik mit rund einem Drittel der Wähler die stärkste Partei – Ungarns junge Generation hat das politische Establishment satt.

Es sind genau diese Wähler, die Viktor Orbán und seine Partei mit ihrer Rhetorik erreichen wollen und wegen derer sie sich immer weiter nach rechtsaußen öffnen. Eine »Katastrophe« nennt der Historiker Krisztián Ungváry diese Entwicklung, und er glaubt nicht, dass das »doppelbödige Handeln Orbáns und seiner Fidesz-Partei in den nächsten Jahren aufhören« wird. Bei Katastrophe denkt Ungváry allerdings nicht an die Gefahr einer faschistischen Diktatur. »Dass in Budapest wieder Juden erschossen und gelyncht werden, droht nicht«, sagt Ungváry. »Es geht darum, dass in der Bevölkerung der Glaube an einen Rechtsstaat westlichen Typs mit kapitalistischen Strukturen verschwindet und die Leute ernsthaft meinen, eine Art nationalistischer Staatssozialismus, wie ihn Fidesz anstrebt, sei besser.« András Dés fühlt sich manchmal seltsam dünnhäutig. Dass seine Familie auf den Internet-Judenlisten ungarischer Rechtsextremer verzeichnet ist, daran hat er sich fast gewöhnt. Es sind bedeutsame Kleinigkeiten, die ihn aufschrecken. Etwa, wenn im Staatsfernsehen der Name des einzigen ungarischen Literaturnobelpreisträgers, des jüdisch-ungarischen Schriftstellers Imre Kertész, inzwischen genau so genannt wird und nicht Kertész Imre, wie es in der ungarischen Sprache lauten müsste. »Eigentlich müsste diese Namensumkehrung, die ja darauf abzielt, Kertész aus Ungarn und aus der ungarischen Kultur auszuschließen, zu einem riesigen Skandal führen«, sagt Dés. »Aber es ist kein Skandal.« Bis vor einigen Jahren erschien es dem 35-Jährigen, »eine wunderbare Sache, Europäer zu sein, es ist die beste Wahl, die wir in Ungarn treffen konnten. Dass Orbán Ungarn und die ungarische Kultur jetzt von Europa wegführen will, das ist für mich das Schwerwiegendste, viel schwerwiegender als all die antisemitischen Zwischenfälle. Wenn ich etwas sein möchte, dann europäischer Ungar. Ich liebe dieses Land und ich liebe es, hier zu leben. Aber die jetzigen Machthaber in Ungarn tun viel, um dieses Gefühl zu zerstören.«

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Der Autor ist Osteuropa-Korrespondent. Diesen Artikel können Sie sich in unserer iPad-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app

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Erst die Moral, dann die Mode Textilunternehmen in Bangladesch haben fundamentale Sicherheitsbestimmungen missachtet, um billiger produzieren zu können. Die Folgen sind katastrophal. Nun haben NGOs, Gewerkschaften und Parteien in Bangladesch ein Abkommen geschlossen, das solche Unglücke künftig verhindern soll. Auch westliche Konzerne wollen sich daran beteiligen. Von Bernhard Hertlein »Vor elf Jahren haben die Gewerkschaften mit der Regierung und den Unternehmern vereinbart, dass gemeinsame Komitees über die Einhaltung der Sicherheitsvorschriften in den Textilfabriken wachen«, sagte Sara Hossain, eine bekannte Rechtsanwältin und Menschenrechtsverteidigerin aus Bangladesch. Das war am 25. November 2012, einen Tag nach dem schweren Brand in der Tazreen-Textilfabrik bei Dhaka, bei dem mindestens 117 Menschen starben und mehr als 200 verletzt wurden. »Aber jetzt muss endlich etwas geschehen.« Tazreen soll unter anderem den Discounter KiK sowie C&A beliefert haben – Namen, die ebenso wie der des weltweit größten Einzelhandelskonzerns Walmart fünf Monate später wieder genannt wurden: Ende April geschah ein noch größeres Unglück im Dhakaer Stadtteil Savar. Beim Einsturz des achtstöckigen Geschäfts- und Fabrikgebäudes Rana Plaza starben mindestens 1.127 Menschen. Mehr als 2.500 wurden verletzt.

»Es handelt sich um die bislang weltweit größte Katastrophe in der Geschichte der Textilindustrie.« 46

Die bislang weltweit größte Katastrophe in der Geschichte der Textilindustrie hat unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen. Vor Ort bemühten sich neben den Rettungsdiensten Tausende freiwillige Helfer tagelang mit teilweise einfachsten Hilfsmitteln, die Trümmer beiseite zu räumen. Erschütternde Bilder gingen um die Welt und lösten in und außerhalb Bangladeschs eine große Spendenbereitschaft aus. Dem schlossen sich, nach einigen Tagen Verzögerung, auch einige Textilbetriebe an, die im Rana Plaza hatten produzieren lassen. Peinlich war allerdings das Auftreten des deutschen Discounters, der erklärte, schon lange keine Ware mehr aus der Unglücksfabrik bezogen zu haben – bis Rettungskräfte vor Ort ein T-Shirt aus der aktuellen Kollektion von KiK in die Kamera hielten. Der Besitzer des Rana Plaza hatte sich nicht nur das Gelände illegal angeeignet, sondern auch die Bauvorschriften missachtet. Unmittelbar nach der Katastrophe tauchte er ab, vermutlich mit Unterstützung einflussreicher Politiker der Regierungspartei »Awami League«, zu deren Unterstützern er gehört. In der Öffentlichkeit wurden seine Verhaftung und die Todesstrafe gefordert – ein Reflex, der in Südasien leider bei jedem großen Unrecht oder Verbrechen auftritt. Wenige Tage nach seiner Flucht wurde der Eigentümer in der Nähe der indischen Grenze verhaftet. Ebenso erging es einigen Textilfabrikanten, die ihre Arbeiterinnen und Arbeiter trotz behördlichen Verbots am Tag der Katastrophe gezwungen hatten, in dem baufälligen Gebäude zu nähen. Die Katastrophe ereignete sich zu Beginn des Wahlkampfs, bei dem sich Regierung und oppositionelle Islamisten gegenüberstanden. Gleichwohl wurden erste Maßnahmen für einen besseren Gebäudeschutz eingeleitet. Dabei herrschte weitgehende Einigkeit, dass die gesetzlichen Grundlagen ausreichten. Was bislang fehlte, war der Wille, diese zu befolgen und zu kontrollieren. Die Stimmung war äußerst angespannt, und kurze Zeit schien es, als ob die Demonstrationen nach dem Unglück in Gewalt umschlagen und so das eigentliche Thema in den Hintergrund drängen würden. Doch dann setzten sich Nichtregierungsorganisationen, die die Proteste mit organisiert hatten, mit ihren Forderungen durch. Behörden, Gewerkschaften und Unternehmen waren nun bereit, Sicherungsmechanismen festzuschreiben und gemeinsam zu überwachen. Dazu gehört nicht

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Foto: Ismail Ferdous / AP / pa

Unglück mit Ansage. Ein Frau mit dem Foto ihrer Schwester, die seit dem Einsturz des Rana Plaza vermisst wird.

nur, dass Notausgänge ausgewiesen und Feuerlöscher bereitgestellt werden müssen. Es müssen auch Rettungskräfte für den Notfall geschult werden. Etwa drei Wochen nach der Katastrophe schloss die Regierung 18 Betriebe wegen unzureichenden Gebäudeschutzes. Etwa gleichzeitig setzten in Europa mehr als 30 große Textilunternehmen, darunter H&M, Zara, Primark, Aldi, Otto, S. Oliver und sogar KiK, ihre Unterschriften unter einen von der Kampagne für Saubere Kleidung (Clean Clothes Campaign – CCC) und der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) ausgehandelten Vertrag, der sie verpflichtet, Lieferverträge mit Bangladesch von ausreichenden Sicherheitsstandards abhängig zu machen. Die Unternehmen, deren Zahl bald auf 470 anstieg, erklärten sich bereit, Investitionen in Gebäudesicherheit zu unterstützen. Obwohl nicht ganz klar ist, ob und welche Sanktionen bei Nichteinhaltung des Vertrags drohen, und obwohl sich die beiden US-Konzerne Walmart und GAP nicht daran beteiligten, ist das Abkommen ein wichtiger Schritt. Es macht klar, dass sich westliche Konzerne nicht aus der Verantwortung stehlen können, wenn sie ihre Lieferanten in Asien zwingen, immer billiger zu produzieren. Und der Vertrag bewahrt Bangladesch davor, so stigmatisiert zu werden, dass westliche Verbraucher keine Kleidung mehr kaufen wollen, die dort produziert wurde. Schließlich wäre ein Käuferboykott verheerend – nicht nur für die Unternehmen. Die Textilindustrie ist die große Chance für das Land, die Armut zu überwinden und wirtschaftlich aufzusteigen. Mehr als zehn Prozent des Bruttosozialprodukts werden in der Textilindustrie erzielt. 80 Prozent der etwa 3,5 Millionen

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Beschäftigten sind Frauen. Diese Entwicklung hat das Land verändert. Obwohl die Löhne, monatlich ab etwa 35 Euro, nicht eben üppig sind, haben sie vielen jungen Frauen geholfen, ökonomisch unabhängiger zu werden. Doch selbst wenn die Produktionsstätten sicherer werden, so sind längst nicht alle menschenrechtlichen Probleme in der Textilindustrie des Landes gelöst. Fair sind die Arbeitsbedingungen erst, wenn Betriebsräte und Gewerkschaften nicht mehr behindert werden, wenn sexuelle Übergriffe durch Vorgesetzte ausgeschlossen sind, wenn ein Mindestmaß an Kündigungsschutz garantiert ist und wenn auskömmliche Löhne pünktlich und regelmäßig ausgezahlt werden. Darauf haben auch die Verbraucher im Westen einen gewissen Einfluss. Man kann beim Kauf eines Kleidungsstücks nachfragen, unter welchen Bedingungen es produziert worden ist. Oder man kann sich an »Urgent Actions« von Amnesty International beteiligen, wenn ein Gewerkschafter oder ein Anwalt in Bangladesch zu Unrecht inhaftiert wurden. Nach der Katastrophe gingen viele Fotos um die Welt. Auf einem ist eine junge Mutter mit ihrem schlafenden Baby zu sehen. Der Vater kam beim Einsturz des Rana Plaza ums Leben. Nun muss die Mutter allein sehen, wie sie mit ihrem Säugling durchkommt. Das ist nicht leicht in einem Land wie Bangladesch. Doch sie ist optimistisch. Alif, der Name, den sie ihrem Mädchen gab, ist der erste Buchstabe des arabischen Alphabets. Mit Alif soll eine neue Zeit beginnen. Der Autor ist Sprecher der Bangladesch-Ländergruppe der deutschen Amnesty-Sektion.

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52 Interview: Yasmine Hamdan 54 Street Art: Politische Wandbilder 56 Roma-Kunst: Delaine Le Bas 58 Bücher: Von »Verbotene Kunst« bis »Europas radikale Rechte« 60 Film & Musik: Von »Das Mädchen Wadjda« bis »Der Soundtrack des türkischen Protests«

Ikone arabischer Untergrund-Musik. Die libanesische Indie-Sängerin Yasmine Hamdan. Foto: Nadim Asfar / Sonicbids

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»Hoffnung bringt Kreativität mit sich« Rekonstruierte Stadt. Beirut in der Abendsonne.

Sie gilt als Ikone der Untergrund-Musik in der arabischen Welt: Die Sängerin Yasmine Hamdan über Radikalismus, Veränderungen und musikalische Traditionen. Sie sind in Kuwait und Beirut aufgewachsen, seit sieben Jahren leben Sie in Paris. Was bedeuten Ihnen die Umbrüche in der arabischen Welt? Ich war sehr hoffnungsvoll und bin es immer noch. Aber es ist noch zu früh, um zu sagen, in welche Richtung sich die Dinge entwickeln werden. Jedes Land hat seine eigenen Probleme, Konflikte und Realitäten. Der Radikalismus macht mir Angst. Und was gerade in Syrien passiert, ist sehr schmerzhaft und beunruhigend. Ich fürchte, dass sich das auch auf den Libanon auswirken wird. Wann waren Sie zuletzt dort? Vor zwei Monaten. Der Libanon ist ein seltsamer Ort. Es liegt immer eine gewisse Spannung in der Luft, als könne jederzeit an jedem Ort etwas hochgehen. Es gibt einen großen Druck auf das Land, und die Balance im Land ist sehr fragil. Wir hatten seit den siebziger Jahren keine demographische Erhebung mehr, weil sich alles um Quoten und Konfessionen dreht, tatsächlich geht es um die Verteilung von Macht, um Geld und Korruption. Gibt es nicht trotzdem eine kulturelle Aufbruchstimmung? Im Libanon hatte ich nie das Gefühl, etwas verändern zu können. Es war, als würde man unter Besatzern leben. Zwar herrscht Meinungsfreiheit, aber es kommt immer darauf an, welche Themen man zu welchem Zeitpunkt anspricht. Es fühlt sich sehr befreiend an, jetzt eine andere Realität wahrzunehmen. Viele junge Menschen haben Hoffnung geschöpft und Hoffnung bringt Kreativität mit sich. Ich sehe mich als Teil dieser Bewegung.

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Welchen Einfluss hat die westliche Politik auf die Entwicklung in der Region? Ich möchte nicht verallgemeinern. Aber die internationale Haltung gegenüber der arabischen Welt ist manchmal unfair und verwirrend. Husni Mubarak etwa war der Nummer-EinsVerbündete des Westens. Von einem Tag auf den anderen wurde er dann zum Diktator. Gaddafi war in Paris – zwei Jahre bevor er gestürzt wurde. Ben Ali war bestens befreundet mit der Hälfte der französischen Minister. Das ist korrupt. Ich ärgere mich auch über manches, das in westlichen Medien gesagt und aus dem Kontext gerissen wird. Andererseits entwickelt sich die arabische Welt nicht so, dass wir einen Dialog auf Augenhöhe führen können. Die arabische Welt ist ein Ghetto geworden. Ist der Islamismus eine Reaktion auf die westliche Doppelmoral? Wenn dein Bruder getötet wird oder dein Bein abgeschossen wird, dann radikalisiert sich mancher. Das ist nicht richtig. Ich bin nicht gegen Religion, aber gegen religiösen Radikalismus. Und es macht mich wütend, dass diese Leute immer lauter werden – und dass sie im Westen so viel Gehör finden. Wir haben eine vielfältige, pluralistische Kultur. Aber die Wahrnehmung der arabischen Welt ist einseitig. Sie sind im Libanon mit dem Indie-Elektro-Duo Soapkills bekannt geworden. Welche Bedeutung hatte die Band? Soapkills sind ein Symbol für die Zeit nach dem Bürgerkrieg: Beirut war im Umbruch, und wir waren ein Teil davon. Ich erinnere mich an viele verrückte Konzerte – unser erster Gig in einem Pub in Damaskus oder ein Auftritt vor dem König von Jordanien. Alles war so neu und unglaublich. Einmal hatten wir in Syrien ein Konzert in einem Garten. Am Ende standen dreißig Leute auf der Bühne: Die einen tanzten traditionelle DabkeSchritte, andere HipHop-Bewegungen, dazwischen kleine Mädchen – es war fantastisch.

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Schmerz und die Hoffnungslosigkeit, die die Stadt erlitten hatte. Diese Künstler gaben mir Hoffnung.

Sie hätten als arabischer Mainstream-Popstar Karriere machen können. Ich hatte verrückte Angebote. Ägyptische Musikmanager kamen wie in einem schlechten Mafiafilm zu mir und fragten mich: »Willst du einen Scheck über 50.000 Dollar, einen Mercedes?« Es war surreal, aber auch lustig. Aber sie wollten nicht das Gleiche wie ich. Vermissen Sie das Beirut von früher? Wir haben damals an einem anderen Ort und in einer anderen Zeit gelebt. Das Stadtzentrum von Beirut war für mich mal ein magischer Ort. Im Bürgerkrieg war es die Grenze zwischen Ost und West, Schreckliches ist dort passiert, es war komplett zerstört. Wenn wir dort durch die Straßen streiften, gab es nur Hunde, Ruinen und kaputte Straßen: wie eine Fantasy-Geisterstadt, sehr mysteriös und sehr inspirierend. Vor dem Krieg waren dort die traditionellen Märkte, die Souks. Auch mein Großvater hatte dort einen Laden. Die Gegend hatte einen besonderen Charakter. Jetzt ist daraus eine Hochglanz-Shopping-Mall geworden, unser Disneyland. Man findet dort Zara und Mango und all die globalen Ketten und Cafés und alle tragen die gleichen Marken. Es ist verrückt, wie die Erinnerung ausgelöscht und durch das Gegenteil ersetzt wurde. In Ihrer Musik zitieren Sie kuwaitische Folklore, Gedichte aus den zwanziger Jahren und arabische Klassiker von Mohammed Abdel Wahab oder Umm Kulthum. Sind Sie nostalgisch? Nein, aber diese Leute sind für mich eine große Inspiration. Als ich in Beirut begann, Musik zu machen, fühlte ich mich sehr existenzialistisch, allein. Ich habe in meiner Kindheit viele Brüche erlebt. Als ich mit meiner Familie am Golf gelebt habe, war das sehr klaustrophobisch. Ich war in Kuwait, als Saddam Hussein dort einmarschierte. Und ich habe noch etwas vom Bürgerkrieg im Libanon miterlebt. Als ich in den Neunzigern nach Beirut kam, war das Land zur Hälfte zerstört, und ich fühlte den

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Yasmine hamdan

Sie verbinden arabische Poesie mit TripHop. Nicht nur. Es sind auch indische Instrumente und Texturen dabei. Ich bin nicht nur von arabischen Sängern und Komponisten, sondern auch von den Cocteau Twins, Neil Young und Arvo Pärt beeinflusst worden, oder von somalischer und chinesischer Musik. Man reist mit seinem Kopf und seinen Ohren. Wollten Sie bewusst Bauchtanz-Klischees vermeiden? Ich singe auf Arabisch und habe ein arabisches Publikum. Meine Wurzeln sind in der arabischen Welt. Das inspiriert mich, das ist mein Material. Aber ich kann damit gehen, wohin ich will. Was sagten Ihre Eltern dazu, dass Sie Sängerin geworden sind? Ich musste mich durchsetzen. Ich lebe ein anderes Leben, als es meine Mutter gelebt hat. Das hat zu Spannungen geführt. Aber als meine Eltern gesehen haben, dass alles gut läuft, haben sie sich etwas beruhigt. Ihr Mann, der palästinensische Filmemacher Elia Suleiman, stammt aus Israel. Waren Sie mal dort? Nein, ich kann da nicht hin, ich habe einen libanesischen Pass. Und umgekehrt ist es auch ein Problem. Unsere Länder sind immer noch im Krieg. Ich hoffe, dass diese Grenzen in Zukunft aufweichen werden, sie sperren jeden in ein Ghetto. Fragen: Daniel Bax

Foto: Nadim Asfar / Sonicbids

Foto: Dave Tacon / Polaris / laif

Wollen Sie Erinnerungen konservieren? Es ist Teil unserer Geschichte, dass Dinge ausgelöscht und verschwunden sind. Alles, was meine Mutter bis zu ihrem 23. Lebensjahr besaß, ist an einem Tag verbrannt. Das Haus meines Großvaters wurde nach dem Krieg komplett ausgeräumt. Aber wir entstammen einer oralen Kultur. Die Neigung, etwas zu archivieren und zu sammeln, ist uns fremd. Darum gibt es in der arabischen Welt kaum Nationalarchive. Es ist aber wichtig, Erinnerungen zu bewahren und sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen. Als Künstlerin trage ich Fragmente zusammen und stelle so ein Narrativ wieder her.

inTerVieW Yasmine hamdan Wurde 1976 im Libanon geboren und wuchs in Kuwait auf, wohin ihre Familie vor dem Bürgerkrieg geflüchtet war. Nach ihrer Rückkehr machte sie im Libanon zwischen 1998 und 2004 als Sängerin des Indie-Electro-Duos Soapkills Karriere. Der Name der Band war ein sarkastischer Kommentar zu der Art und Weise, wie die blutige Vergangenheit des Bürgerkriegs in Beirut weggewaschen wurde. Seit 2007 lebt Yasmine Hamdan mit ihrem Mann, dem palästinensischen Regisseur Elia Suleiman (»Divine Intervention«), in Paris. Dort entstand jetzt »Ya Nass«, ihr erstes Solo-Album (Crammed Discs). Im neuen Film von Jim Jarmusch, »Only Lovers Left Alive«, hat sie einen Auftritt.

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Widerstand an der Wand Wandgemälde, Graffiti, Urban Art: Ein neuer Bildband zeigt, wie politisch das Sprayen und Malen im öffentlichen Raum ist – und dass es sich um eine universelle Kunst handelt. Von Maik Söhler

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uf Wänden einmal um die Welt und durch verschiedene Epochen: »Whispering Walls«, ein neuer Bildband über politische, soziale und Alltags-Graffiti, zeigt uns, wie Wandbilder in Städten auf fast allen Kontinenten komplexe Geschichten von Unterdrückung und Befreiung, Angst und Hoffnung, Gewalt und Frieden erzählen können. Die fast 500 Fotos des Bands von Frédéric Soltan und Dominique Rabotteau hinterlassen beim Leser bleibende Eindrücke. Von Soweto in Südafrika bis Gdańsk in Polen, von Valparaíso in Chile bis San Francisco in den USA, von Bhopal in Indien bis zum von Palästinensern und Israelis beanspruchten Jerusalem – die Fotos der gemalten und gesprühten Bilder decken mit Ausnahme Australiens alle Kontinente ab. Aufnahmen aus Metropolen wie New York und Mexiko-Stadt stehen neben solchen aus Provinznestern wie Orgosolo auf Sardinien. Schnell wird deutlich, dass Graffiti und Wandgemälde, von den Autoren als »Urban Art« zusammengefasst, ein universelles Phänomen sind. Ob in Schwarz-Weiß oder in Farbe, mit Sprühdose oder Pinsel ausgeführt, mit Worten oder ohne, ob als Riesengraffito an den Wänden eines ganzen Häuserblocks oder als Mini-Gemälde auf ein paar Quadratzentimetern, ob als Slogan, Gesicht oder Abstraktion – die sozialen und politischen Aussagen sind meist einfach zu verstehen. Denn sie geben im Stadtbild Ausschnitte von Konflikten und Widersprüchen der jeweiligen Gesellschaften wieder. Das Kapitel »Social Struggles« etwa spannt einen weiten Bogen von der portugiesischen Nelkenrevolution über die Unterdrückung der Werftarbeiter im realsozialistischen Polen bis hin zur Apartheid in Südafrika. Es geht um den Tod Carlo Giulianis bei den Protesten gegen den G8-Gipfel in Genua im Jahr 2001, um Bauernwiderstand auf Sardinien und die Opposition gegen Pinochet in Chile. Weitere Beispiele für soziale Kämpfe sind die Forderungen nach Bildungsreformen in Mexiko, die Immigration in den USA oder die derzeitige Weltwirtschaftskrise. Im Kapitel »And Tomorrow« wird sichtbar, welche gemeinsamen Themen über die je spezifischen Probleme der einzelnen Städte und Gesellschaften hinausgehen. Im Vordergrund stehen dabei der Wunsch nach Frieden, die Suche nach einer Alternative zum Kapitalismus und seiner Warenwelt und die

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Hoffnung auf ein Ende von Umweltverschmutzung, Ungerechtigkeit und Unfreiheit. Die Betonung liegt dabei häufig auf Verbindendem, Utopien und Träumen. Viele Wandgemälde sind von verblüffender Naivität. Man mag darüber schmunzeln, doch macht genau dies den Charme und die Stärke dieser Wandgemälde aus. Die Kapitelaufteilung des Buches ist allerdings unglücklich. Die Unterteilung in »Fighters«, »Women«, »Violence«, »Beliefs«, »Social Struggles« und »And Tomorrow« hilft zwar bei der Orientierung. Doch trennt sie Fotos, zwischen denen durchaus fließende Übergänge bestehen, und setzt Grenzen, wo keine sind. Ergänzt werden die Bilder durch kluge, kleine Erklärtexte und gut ausgewählte Zitate von Intellektuellen und Personen des öffentlichen Lebens (alle Texte sind auf Englisch). Dem Buch liegen drei CDs mit Weltmusik bei – eine fasst Europa und Asien zusammen, eine andere Afrika und den Nahen Osten, die dritte trägt den Titel »America«. Musik und Fotos harmonieren mal besser, mal schlechter. Eine prägnante Erklärung, was das eine mit dem anderen zu tun hat, fehlt leider. Im Vorwort erzählt der Autor Rabotteau, wie sich bei ihm und dem Fotografen Soltan seit ihrer ersten Begegnung mit »Urban Art« in den siebziger Jahren eine gezielte »Jagd auf Wandgemälde« entwickelte. Über einen Zeitraum von mehreren Jahren bereisten die beiden 15 Staaten. Rabotteau schreibt, dass einige Städte Graffiti ausdrücklich fordern und fördern – wie zum Beispiel die US-Metropole Philadelphia mit ihren mindestens 3.500 Wandgemälden und dass die Tradition solcher Bilder zum Beispiel in Mexiko-Stadt bis in die zwanziger Jahre zurückreicht. Gdańsk zeige »die größte Freiluftgalerie Europas«, während in Südamerika die Dialektik demokratischer Staaten auch in den Graffiti sichtbar werde: Formal gebe es eine demokratische Teilhabe, real aber würden in Peru und Chile Teile der Bevölkerung strukturell und finanziell vom Zugang zu Schulen und Krankenhäusern ausgeschlossen. Wer die Wandgemälde in aller Welt betrachte, dem erscheine schließlich Che Guevara als universelles Symbol des »Gerechten«, so oft sei er überall auf der Welt zu sehen. Der Verlag preist »Whispering Walls« als »schönes Coffee-Table-Book« an. In Kombination mit Rabotteaus Verweis auf den kubanischen Revolutionär ergibt sich daraus ein so kaum beabsichtigtes, interessantes Paradoxon: Das Widerständige als heimische Dekoration – das haben städtische Graffiti und der Bildband wohl gemeinsam. Die politische Funktion von Graffiti zeigt sich dagegen im öffentlichen Raum und in der öffentlichen Auseinandersetzung – nicht am Kaffeetisch. Whispering Walls. Fotografie: Frédéric Soltan, Text: Dominique Rabotteau. Edel Verlag, Hamburg 2013, 220 Seiten, 500 Fotos, 3 CDs, 39,95 Euro.

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Abb. aus dem besprochenen Band

Universelles Ausdrucksmittel. Palästina, Chile, Indien, Kuba, Portugal (von links oben nach rechts unten).

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»WhisPering Walls«

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Menschliche Trümmer Kevin Powers hat einen bedrückenden Roman über die US-Invasion im Irak geschrieben. Der Autor hat selbst als Soldat an dem Krieg teilgenommen. Von Maik Söhler

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Kevin Powers: Die Sonne war der ganze Himmel. Aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens. S. Fischer, Frankfurt/Main 2013, 242 Seiten, 19,99 Euro.

Foto: Christoph Bangert / laif

urph wollte etwas Erfreuliches sehen, wollte eine schöne junge Frau betrachten, suchte nach einem Ort, an dem es noch so etwas wie Mitgefühl gab.« Diese Gedanken macht sich John Bartle, 21 Jahre alt, über seinen Freund Daniel Murphy, 18. Was nach alltäglichen Wünschen frustrierter junger Männer klingt, die überall auf der Welt leben könnten, ist einem ganz bestimmten Alltag an einem ganz bestimmten Ort entnommen: Kevin Powers’ Kriegsroman »Die Sonne war der ganze Himmel« spielt in »Al Tafar, Ninive, Irak, Oktober 2004«. John und Daniel sind als US-Soldaten in den Irak eingerückt und liefern sich nun Dauergefechte mit meist unsichtbaren Gegnern, den letzten Getreuen Saddam Husseins. Powers war von 2004 bis 2005 als Infanterist im Irak stationiert, in Mosul und Tal Afar. Aus Tal Afar wurde im Roman Al Tafar, ein Ort des Grauens, an dem sich die US-Armee und irakische Heckenschützen gegenseitig belauern und unter Beschuss nehmen. Der Ort ist fast vollständig zerstört, überall liegen Leichen herum, der Geruch nach Verwesung ist allgegenwärtig. John und Daniel sind Kriegsfreiwillige, die sich aus Mangel an Alternativen zum Irak-Einsatz gemeldet haben. Dabei hat John

Daniels Mutter das folgenreiche Versprechen gegeben, ihren Sohn wieder nach Hause zu bringen. Powers überträgt seine Kriegserfahrungen nicht einfach auf seinen Protagonisten John. Er leistet weit mehr. Mal spielen die Kapitel im Irak, mal in den USA und nahe einer US-Kaserne in Deutschland. Wir erleben den Irak-Krieg aus der Perspektive des kämpfenden Soldaten und aus der des Heimkehrers, dem die Reintegration in die US-Gesellschaft schwerfällt. Angriffe auf militärische Gegner folgen auf Angriffe, die der Ex-Soldat nach seiner Rückkehr in Richmond, Virginia, gegen sich selbst richtet. Denn er kann sein Versprechen nicht halten – Daniel stirbt in Al Tafar. Er wird zu Tode gefoltert. Das Besondere an Powers’ Roman ist die Atmosphäre. Von der ersten bis zur letzten Seite entfaltet sich eine bedrückende, allein aus Frust und Hass gespeiste Welt. Liebe, Hoffnung und Glück sind auf mehr als 200 Seiten komplett abwesend. »Um ehrlich zu sein, fühlt man sich ziemlich hilflos. Man (…) steckt plötzlich in der Scheiße, ohne irgendetwas dagegen tun zu können«, sagt Daniel Murphy im Roman, als er von einem Journalisten zu seinen Gefühlen befragt wird. Jene, die antraten, um die Streitkräfte des Irak zu zertrümmern, sind in »Die Sonne war der ganze Himmel« schon nach wenigen Seiten selbst seelische Wracks. Die USA haben den Krieg im Irak gewonnen. Doch Sieger sehen anders aus.

Auf der amerikanischen Basis Sykes Base. Tal Afar, Irak.

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Gezeichneter Schauprozess

Wer richtet wen und warum?

Die im März 2007 in Moskau gezeigte Ausstellung »Verbotene Kunst 2006« war Anlass für eine jahrelange russische Justizposse um Kunstzensur. Formal endete sie im Jahr 2010 mit der Verurteilung der Ausstellungsorganisatoren Andrej Jerofejew und Juri Samodurow zu Geldstrafen, real aber hält sie bis heute an. Denn das Urteil hatte zur Folge, dass sich viele kritische Künstler in Russland lieber selbst zensieren als sich dem Risiko eines Strafprozesses auszusetzen. Der jüngst auf Deutsch erschienene Band »Verbotene Kunst. Eine Moskauer Ausstellung« schildert den Prozess gegen Jerofejew und Samodurow und dessen Folgen – mit den Mitteln der Sprache und denen der Kunst. Das Buch der Künstlerin Wiktoria Lomasko und des Journalisten Anton Nikolajew ist eine Gerichtsreportage in Worten und Zeichnungen. Der Verlauf des von der orthodoxen Kirche angestrengten Prozesses wird in teils derben Worten beschrieben. Dazu sehen wir Zeichnungen der Zeugen, Ankläger, Angeklagten, Prozessbeobachter sowie der Richterin. Es sind überwiegend schlichte Bilder in Schwarz-Weiß, doch gelingt es ihnen, der juristischen Posse Kontur und Farbe zu geben. Ein luzides Nachwort der Kunsthistorikerin Sandra Frimmel ordnet das Geschehen schließlich politisch, künstlerisch, juristisch und kulturell ein.

Mit seinen Erklärungen und gezielten Fragen mischt William A. Schabas, Professor für internationales Recht und Menschenrechte, gezielt die Debatte um die Rolle der internationalen Strafjustiz auf. In seinem 100 Seiten starken Band »Kein Frieden ohne Gerechtigkeit?« geht der ehemalige UNO-Berater auf sämtliche Formen internationaler Strafjustiz ein – vom Nürnberger Prozess über verschiedene internationale Strafgerichtshöfe nach 1989, den seit 2002 bestehenden Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag bis zu international legitimierten Ad-hoc-Gerichtshöfen und nationalen Wahrheitskommissionen. Schabas befasst sich mit Fragen der Parteinahme, Unabhängigkeit und den Entscheidungsgrundlagen für Verfahren und Prozesse, dem Vorwurf der »Siegerjustiz« sowie den Begriffen »Schwere des Verbrechens«, »Wahrheit«, »Gerechtigkeit« und »Amnestie« und dem schwierigen Umgang damit in der juristischen Praxis. Vor allem aber befasst er sich mit der politischen Dimension der Strafjustiz, »vor der Juristen oft zurückscheuen und die sie lieber anderen Disziplinen überlassen würden«, wie er im Vorwort schreibt. Gerade hier ist Schabas’ Buch eminent politisch und von bestechender intellektueller Klarheit. William A. Schabas: Kein Frieden ohne Gerechtigkeit? Die

Wiktoria Lomasko / Anton Nikolajew: Verbotene Kunst.

Rolle der internationalen Strafjustiz. Aus dem Englischen

Eine Moskauer Ausstellung. Aus dem Russischen und mit

von Edith Nerke und Jürgen Bauer. Hamburger Edition,

einem Nachwort von Sandra Frimmel. Matthes & Seitz,

Hamburg 2013, 104 Seiten, 12 Euro.

Berlin 2013, 150 Abbildungen, 171 Seiten, 19,90 Euro.

Europa ganz rechts Mal ist es die NPD in Mecklenburg-Vorpommern, mal sind es Faschisten, die in Griechenland von der Krise profitieren, mal tauchen Nazis in Ungarn auf. Als Einzelphänomene begegnen uns Akteure der extremen Rechten in diversen europäischen Ländern. Die beiden Autoren Martin Langebach und Andreas Speit bemühen sich in ihrem neuen Buch »Europas radikale Rechte« um eine umfassende Bestandsaufnahme jenseits von Einzelphänomenen. Sie nehmen Nazis, Faschisten, konservative Islamhasser, autonome Kameradschaften, Rechtsrock-Bands und rechtsextreme Parteien, Parlamentarier und Intellektuelle in den Blick – mal im direkten Vergleich, mal in der Abgrenzung voneinander. Die Stärke des Buches besteht darin, ein internationales Netzwerk extremer Nationalisten aufzuzeigen, und die politischen Themen – von völkischer Kulturarbeit bis zum Kampf gegen die multikulturelle Gesellschaft – zu untersuchen, die lokal, national oder grenzüberschreitend bearbeitet werden. Die gründliche Recherche der Autoren führt zu neuen Erkenntnissen über große Teile der extremen Rechten in Europa. Menschenrechtler und aktive Antifaschisten können daraus wertvolle Informationen und Anregungen für Handlungsstrategien gewinnen. Die Schwäche des Buches besteht in seiner Kleinteiligkeit, die die Texte teilweise schwer lesbar macht. Eine abschließende tiefergehende Analyse wäre hilfreich gewesen. Martin Langebach / Andreas Speit: Europas radikale

Kinder im Krieg Krieg betrifft nicht nur Soldaten, Politiker und Erwachsene. Krieg betrifft und trifft immer auch Kinder und Jugendliche. Eindringlich führen Karin Gruß und Tobias Krejtschi den Betrachtern und Lesern des Bilderbuchs »Ein roter Schuh« diese Tatsache vor Augen. Und das ganz ohne Sensationslust, Überoder Untertreibung. Der Krieg im Gazastreifen ist zum Alltag geworden – sowohl für den Kriegsberichterstatter als auch für die Jungen und Mädchen, die zwischen den Ruinen der zerbombten Häuser spielen. Als ein Schulbus unter Beschuss gerät, macht sich der Fotograf ohne zu zögern auf den Weg ins Krankenhaus, um die verwundeten Kinder zu fotografieren. Das ist sein Beruf. Doch als er den roten Basketballschuh eines Jungen auf der Trage sieht, erinnert er sich an seinen Neffen: »Genau solche Schuhe hatte ich meinem Neffen zu seinem achten Geburtstag geschenkt.« Fortan kreisen seine Gedanken um die roten Schuhe, den Jungen auf der Trage und seinen Neffen daheim. Liebt der Junge die Schuhe genauso wie sein Neffe? Wo ist der zweite Schuh abgeblieben? Der neunjährige Kenan, der dort auf der Trage liegt, schwebt in Lebensgefahr: Eine Granate hat ihm das rechte Bein abgetrennt, er hat schwere Kopfverletzungen. Die Ärzte kämpfen um sein Leben, während der Fotograf seine Arbeit macht und fotografiert. Wird Kenan überleben und wieder Basketball spielen können? Der Ausgang der Geschichte ist ungewiss. Sicher ist jedoch, dass der rote Schuh den Fotografen und mit ihm Leser jeden Alters zum Nachdenken und Sprechen über den Krieg anregt.

Rechte. Bewegungen und Parteien auf Straßen und in Parlamenten. Orell Füssli Verlag, Zürich 2013, 288 Seiten,

Karin Gruß, Tobias Krejtschi (Illustrationen): Ein roter

21,95 Euro.

Schuh. Boje Verlag, Köln 2013, 32 Seiten, 12,99 Euro.

Bücher: Maik Söhler, Marlene Zöhrer kulTur

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Ein bedrückendes Meisterwerk

Entrümpelter Calypso

Sie sind nachts gekommen: In einem ungarischen Dorf wurde eine ganze Roma-Familie erschossen. Gehört hat keiner etwas – als wüsste nur die Abendbrise, wer die Menschen auf dem Gewissen hat. Passend dazu die polizeilichen Ermittlungen – nur warme Luft. »Just the Wind« heißt folgerichtig die filmische Aufarbeitung dieses grausamen Verbrechens. Ausgehend von einer realen Mordserie, der in Ungarn 2008 und 2009 acht Menschen zum Opfer fielen, schildert Regisseur Bence Fliegauf die drückende Pogromstimmung. Wie man sich wohl fühlt, wenn die Nachbarn erschossen werden – dies wollte Fliegauf nacherlebbar machen. Er stellt die Kamera nicht vor, sondern zwischen die Menschen, liefert klaustrophobische Bilder seiner Laiendarsteller. In ärmlichen Hütten leben sie, den Terror abwehren können sie kaum. Türen gibt es nicht. Die Wände – aus Pappe. Am Tag surft die Tochter in der Schule im Internet. Das Wort, das sie in die Suchmaske eingibt, lautet »Zigeunererschießungen«. Und bald ist es wieder Abend … Mit düstersten Mitteln macht hier ein Künstler auf die reale Situation einer drangsalierten Bevölkerungsgruppe aufmerksam. Herausgekommen ist ein Spielfilm ohne Fiktionen. Die Berlinale-Jury von Amnesty International des Jahres 2012 konnte gar nicht anders: Der mit 5.000 Euro dotierte Amnesty-Preis ging an »Just the Wind«. Dem Berliner Peripher-Filmverleih gebührt der Dank dafür, diesen beispiellosen Film hierzulande in die Kinos zu bringen.

Seit den großen Zeiten von Harry Belafonte in den fünfziger Jahren ist der Calypso ziemlich aus der Mode gekommen. Der Kanadier Drew Gonzales zeigt sich nun als Erneuerer. Mit seiner Band Kobo Town hat er sich aufgemacht, den karibischen Stil von Grund auf zu entrümpeln. Aufgewachsen ist Gonzales in der Hafenstadt Port of Spain, in derselben Straße wie die Calypso-Legende Lord Kitchener. Als Teenager zog er mit seiner Mutter nach Kanada, doch auch dort ließ ihn der Calypso-Groove nicht los. Mit seiner Band, die aus trinidadischen Expats besteht, dem renommierten Produzenten Ivan Duran aus Belize und der Chuzpe eines Straßenmusikers möbelt der Multiinstrumentalist seine Calypso-Kompositionen gehörig auf. Auf »Jumbie in the Jukebox« treffen beschwipste Bläser auf scheppernde Percussions, während im Hintergrund glückselige Gitarren erklingen, ganz beiläufig wagt er Seitensprünge zu Ragga, Ska und Soca. In seinen kleinen Alltagsmoritaten führt er das Genre wieder zu dessen Ursprüngen zurück, zu glossierenden Zeitkommentaren und beißender Sozialkritik. In »Kaiso Newscast« prangert er die Kriege der USA an, in »Petroleum Paradise« die Ausbeutung Trinidads durch ausländische Firmen. »Mr Monday« handelt von einem geistig behinderten Flaschensammler, der vor die Tür geworfen wird. »Postcard Poverty« erzählt von Urlaubern, die sich als Elendstouristen im Slum bewegen, und »Half of the House« von der Armutsmigration gen Norden. Selten klang Gesellschaftskritik so charmant.

»Just the Wind« (Csak a szél). HUN/D/F 2012. Regie: Bence Fliegauf. Darsteller: Lajos Sárkány, Katalin Toldi u.a. Derzeit in den Kinos

Kobo Town: »Jumbie in the Jukebox« (Cumbancha)

Fahrrad als Emanzipationsapparat

Roma Nostalgie

»Der Sohn vom Nachbarn hat sich in die Luft gesprengt. Und bumm – jetzt hat er 70 Jungfrauen!«, erzählt Abdullah. »Das mache ich auch«, antwortet die zehnjährige Wadjda. »Und bumm – dann habe ich 70 Fahrräder!« Der erste saudi-arabische Film einer Regisseurin, das war klar, wird nicht ohne gewisse sarkastische Härten auskommen. Drehbuchautorin und Filmemacherin Haifaa Al Mansour gibt ihrer kleinen Protagonistin wenigstens sprachlich eine Menge Freiheiten. Wadjda, die Schülerin aus Riad, schlawinert sich mit viel Witz durch den reaktionären Alltag ihres Heimatlandes: Frauen dürfen nicht Autofahren und keine Männer ansehen. Und Radfahren geht gar nicht. Frauen auf Drahteseln können nicht schwanger werden, erklärt die Mutter, selbst mehr oder weniger zu Hause eingesperrt. Auch für das Mädchen ist bald der Vollschleier angesagt. Der Tag, wie ihn die Mädchen und Frauen in diesem Film erleben, ist eine einzige fortgesetzte Menschenrechtsverletzung. Doch erfährt man auch etwas über Dinge, die möglich sind – Frauen gehen selbstbestimmter Arbeit nach, laufen ohne Schleier herum. Saudi-Arabien erscheint in Al Mansours Film als gespaltene Gesellschaft. Was kümmert es Wadjda. Mit Abdullah, dem gleichaltrigen Freund, will sie um die Wette radeln. Und irgendwann ist es soweit.

Es war nicht alles schlecht im Sozialismus. Zumindest nicht für die Minderheit der Roma, denen es in den Ländern des Ostblocks damals oft besser ging als heute. Im ehemaligen Jugoslawien hatten sie nicht nur Arbeit, sondern in der Öffentlichkeit auch eine Stimme. Anders als heute, wurden sie in der Zeit des Staatspräsidenten Josip Broz »Tito« (1953-1980) als offizielle Minderheit anerkannt, der Staat förderte sogar ihre Sprache und Kultur. Über Titos Allianz mit anderen »blockfreien« Staaten wie Indien kamen zudem BollywoodFilme ins Land, durch die viele Roma-Musiker eine Verbindung zu ihrer indischen Herkunft aufzunehmen glaubten. Der Sampler »Stand Up, People« entführt auf eine faszinierende Zeitreise in jene Ära, als Roma-Stars wie Esma Redžepova und Šaban Bajramović noch am Anfang ihrer Karrieren standen. Mit inbrünstigen Balladen und Hochzeitsschlagern prägten sie die Musikszene des Vielvölkerstaates. Die beiden Macher der britischen Labels Vlax Records und Asphalt Tango haben auf Flohmärkten gestöbert und sind tief ins Archiv hinabgeklettert. Die Songs, die sie gefunden haben, stammen aus Serbien, Mazedonien und dem Kosovo und atmen ein unverkennbares Sixties-Feeling, in den achtziger Jahren mischen sich Balkan-Bläser mit Synthesizern und E-Gitarren. Ein guter Grund, nostalgisch zu werden.

»Das Mädchen Wadjda«. Saudi-Arabien/D 2012. Regie: Haifaa Al Mansour. Darsteller: Waad Mohammed,

Sampler: »Stand Up, People« (Vlax Records/

Reem Abdullah. Kinostart 5. September 2013

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Film: Jürgen Kiontke | Musik: Daniel Bax 60

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Foto: Ed Ou / The New York Times / Redux / laif

Der Chor vom Gezi-Park

Klassischer Protest. Der Pianist Davide Martello spielt für die Demonstranten auf dem Taksim-Platz. Istanbul, Mitte Juni 2013.

Die Protestbewegung in der Türkei hat ihren eigenen Soundtrack. Er findet sich im Internet dokumentiert. Von Daniel Bax

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ls der Pianist Davide Martello von den Protesten in der Türkei hörte, war er gerade auf einer Konzertreise durch Osteuropa in Sofia angelangt. Kurzerhand packte der 31-jährige Musiker aus Konstanz sein Klavier in einen Transporter und machte sich auf nach Istanbul. Umringt von Hunderten von Menschen saß er wenig später an seinem roterleuchteten Piano mitten auf dem Taksim-Platz und spielte, unbeeindruckt von Polizeiaufgebot und Wasserwerfern, bekannte Lieder wie »Imagine« von John Lennon und türkische Songs, in die seine Zuhörer einstimmten. Die Bilder dieser unwirklichen Szenen gingen um die Welt und wurden tausendfach im Netz verbreitet. Auf seiner eigenen Facebook-Seite schrieb Martello, er hoffe, die Politiker mit seinen Kompositionen umstimmen zu können. Geklappt hat das nicht: Als ein Großaufgebot der Polizei am Samstag, den 15. Juni, den Gezi-Park am TaksimPlatz räumte, beschlagnahmten die Beamten auch sein Klavier, Auto und Handy. Der Pianist aus Deutschland war nicht der einzige Musiker, der in diesen bewegten Tagen im Juni auf dem Taksim-Platz, dem Zentrum der Massenproteste gegen den autoritären Regierungsstil des türkischen Premiers Erdoğan, unterwegs war. An allen Ecken des Zeltlagers im Gezi-Park ertönte abends Musik, zahlreiche Youtube-Clips dokumentieren den Soundtrack der Protestbewegung. Worum es dabei ursprünglich ging, zeigt der

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Song »Tencere Tava Havası«, das »Lied der Töpfe und Pfannen«, von Kardeş Türküler (»Lieder der Brüderlichkeit«). Darin fragt das bekannte Folk-Ensemble aus Istanbul: »Was ist mit unserer Stadt passiert?« Die Antwort gibt es selbst: »Sie haben Kinos und Plätze geschlossen, Wälder abgeholzt, die Viertel mit Shopping Malls und hässlichen Gebäuden zugepflastert.« Der Refrain lautet: »Wir haben genug, welche Arroganz! Welcher Hass!« Der Titel bezieht sich auf das Schlagen auf Töpfe und Pfannen, das jeden Abend um 21 Uhr in mehreren Stadtvierteln Istanbuls aus Protest gegen die Regierung ertönte – Gläser und Kochgeschirr geben den Rhythmus des Liedes an. Die Vielfalt der Songs, die zur Begleitmusik der Proteste wurden, zeigt die Bandbreite der Milieus, aus denen sich diese speisen. Berühmt geworden ist der Clip des Jazzchors der BoğaziçiUniversität in Istanbul, der im nächtlichen Park ein A-CapellaStändchen auf die »Çapulcus« angestimmt hat, die »Marodeure«, wie Erdoğan die Demonstranten genannt hat. Zur Hymne der Proteste aber avancierte der Rocksong »Eyvallah« der türkischen Band Duman, der von Tränengasschwaden, Schlägen ins Gesicht und trotziger Selbstbehauptung handelt. »Die Plätze gehören uns, vergiss das nicht, dieses Land ist unser«, heißt es darin voller Pathos. Die meisten Clips sind mit Bildern von den Protesten, von exzessiver Polizeigewalt und brennenden Zelten untermalt. Beim euphorischen Elektro-Track »Everyday I’m Chapulling«, das vom US-Duo LMFAO geborgt wurde, wirkt der Zusammenschnitt von klatschenden und tanzenden Demonstranten mit Gasmasken und Guy-Fawkes-Masken wie ein ekstatischer Freiluft-Rave. Selbst der Tränengasnebel und die Leuchtmunition der Polizei fügen sich darin ein.

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Foto: Pramudiya.com

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Gesicht zeigen! Mit Nofretete-Masken demonstrierten Amnesty-Mitglieder auf der Jahresversammlung für ein Ende der sexuellen Gewalt in Ägypten.

agenTen der freiheiT Die sozialen Rechte von Flüchtlingen und die Stärkung der Zivilgesellschaft gehörten zu den wichtigen Themen auf der Amnesty-Jahresversammlung in Bochum. Von Julia Naumann Das Pfingstwochenende stand bei der deutschen Amnesty-Sektion auch in diesem Jahr ganz im Zeichen der Jahresversammlung. In einem Antrag, der mit großer Mehrheit angenommen wurde, forderten die rund 430 Delegierten von der Bundesregierung, das Asylbewerberleistungsgesetz abzuschaffen. Für Alexandra Wichert, Rechtsanwältin aus München, ist das ein großer Erfolg: »Obwohl Amnesty International schon seit einiger Zeit Lobbyarbeit zu dem Thema macht, ist es das erste Mal, dass diese Forderung auf der Jahresversammlung beschlossen wurde.« Die 30-Jährige, die seit 2004 bei Amnesty aktiv ist, hat den Antrag maßgeblich mitformuliert. »Menschen, die nach Deutschland geflüchtet sind, sollten so früh wie möglich die Chance erhalten, sich in der Gesellschaft einzubringen«, sagte sie. Deshalb müsse ihnen auch zügig der uneingeschränkte Zugang zum Arbeitsmarkt gewährleistet werden. Am Samstagabend wurde die schlichte Bochumer Mehrzweckhalle festlich umdekoriert: Bereits zum achten Mal vergab Amnesty den Marler Medienpreis Menschenrechte, nur diesmal eben in Bochum. Gewinner waren TV-Produktionen der Sender ZDF, WDR, NDR und Arte. »Der Preis hilft Journalisten, auch sperrige und unbequeme Themen in den Redaktionen durchzusetzen«, sagte Organisator Rolf Opalka. So zeigt die Dokumentation »Unter Verdacht – Die elegante Lösung« nicht nur die Gefahren einer Flucht über das Mittelmeer, sondern auch die Mitwirkung deutscher Polizeibehörden bei der EU-Grenzschutzagentur Frontex.

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Den Marler-Ehrenpreis bekam in diesem Jahr der langjährige ZDF-Journalist Dirk Sager. Er trat gemeinsam mit Arsenij Roginski, dem Vorsitzenden der Internationalen Gesellschaft Memorial, in Bochum auf. Amnesty begleite ihn persönlich schon seit Ende der sechziger Jahre, sagte der russische Menschenrechtler in seiner Rede. »Wir wussten, dass das ein Verein ist, der für die Freiheit von Menschen kämpft, die aus politischen Gründen inhaftiert sind. Das war etwas, was mir sehr nahe war.« Die Amnesty-Prinzipien der Legalität und Gewaltlosigkeit hätten sich auch viele russische Menschenrechtsorganisationen auf die Fahnen geschrieben. Amnesty protestierte in Bochum scharf gegen die Verfolgung von russischen Menschenrechtsaktivisten. Das Vorgehen des russischen Staates sei eine »Umkehr von dem noch von der Sowjetunion unter den Vorzeichen von ›Glasnost‹ und ›Perestroika‹ eingeschlagenen Weg hin zu mehr Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten«, heißt es in einem Beschluss der Jahresversammlung. Turnusgemäß wählten die Delegierten auch einen neuen Vorstand für die nächsten zwei Jahre. Vorstandssprecher ist künftig Oliver Hendrich, der Sprecher der Gruppe für die Abschaffung der Todesstrafe. Weitere Mitglieder des Vorstands sind Inga Morgenstern, Ingrid Bausch-Gall, Larissa Probst, Martin Roger und Roland Vogel. Mit den Delegierten demonstrierten sie mit Nofretete-Masken für ein Ende der sexuellen Gewalt gegen Frauen und gegen Folter in Ägypten. Ein großer Erfolg war auch das Amnesty-Mobil, in dem sich die Delegierten über die Menschenrechte in Ägypten informieren konnten: Rund 300 Unterschriften für die Ägypten-Petitionen kamen dabei zusammen. Die Autorin ist Pressesprecherin der deutschen Amnesty-Sektion.

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deuTschland/usa Während Barack Obama Berlin besuchte,

forderten auf einer Protestkundgebung am Potsdamer Platz mehr als vierzig Amnesty-Aktivisten die Schließung des US-Gefangenenlagers Guantánamo auf Kuba. »Yes you can! Close Guantánamo now!«, skandierten die Demonstranten in Sichtweite des Hotels Ritz-Carlton, wo Barack Obama mit seiner Familie untergebracht war. Einige der Aktivisten waren in orangefarbene Overalls gekleidet, wie sie von den Gefangenen des US-Lagers getragen werden. Insgesamt 779 Menschen wurden seit Errichtung des Lagers in Guantánamo festgehalten, derzeit befinden sich dort noch 166 Personen. Dem Großteil konnte keine Beteiligung an terroristischen Aktivitäten nachgewiesen werden. US-Präsident Barack Obama hatte kurz nach seiner Amtseinführung im Jahr 2009 versprochen, das Lager aufzulösen. Doch bis heute hat er sein Versprechen nicht eingelöst.

akTiV fÜr amnesTY

Durch ganz unterschiedliche Veranstaltungen geben Amnesty-Mitglieder den Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme. Diese Aktionen vor Ort sind ein unentbehrlicher Teil der Arbeit von Amnesty International. Mehr Informationen darüber finden Sie auf http://blog.amnesty.de und www.amnesty.de/kalender

imPressum Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, Tel.: 030 - 42 02 48 - 0, E-Mail: info@amnesty.de, Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion Amnesty Journal, Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, E-Mail: journal@amnesty.de (für Nachrichten an die Redaktion) Redaktion: Bernd Ackehurst, Markus N. Beeko, Anton Landgraf (V.i.S.d.P.), Ramin M. Nowzad, Larissa Probst Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit Albrecht, Daniel Bax, Selmin Çalışkan, Bernhard Hertlein, Jürgen Kiontke, Daniel Kreuz, Sabine Küper-Büsch, Merlin Nadj-Torma, Julia Naumann, Ralf Rebmann, Lena Reich, Wera Reusch, Uta von Schrenk, Maik Söhler, Franziska Ulm-Düsterhöft, Keno Verseck, Franziska Vilmar, Chrissi Wilkens, Sophie Wissner, Marlene Zöhrer Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck: Hofmann Druck, Nürnberg Vertrieb: Carnivora Verlagsservice, Berlin Bankverbindung: Amnesty International, Kontonr. 80 90 100, Bank für Sozialwirtschaft (BfS), Köln, BLZ 370 205 00, BIC: BFSWDE33XXX, IBAN: DE23370205000008090100 Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und erscheint sechs Mal im Jahr. Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Nichtmitglieder können das Amnesty Journal für 30 Euro pro Jahr abonnieren. Für unverlangt eingesandte Artikel oder Fotos übernimmt die Redaktion keine Verantwortung. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder. Die Urheberrechte für Artikel und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, für die Verbreitung im Internet oder für Vervielfältigungen auf CD-Rom.

ISSN: 1433-4356

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Foto: Amnesty

»Yes You can! close guanTánamo noW!«

»Die Angst ist überwunden«, sagte mir eine Demonstrantin in Istanbul. Dabei gab es weiterhin allen Grund, Angst zu bekommen. Die Proteste in der Türkei dauerten schon drei Wochen an, als ich Mitte Juni der türkischen Amnesty-Sektion einen Solidaritätsbesuch abstattete. Zwei Tage zuvor hatte die Polizei das Protestcamp im Gezi-Park brutal geräumt und in den Straßen um das Amnesty-Büro, das in der Nähe des Parks liegt, hing noch der Geruch von Tränengas. Polizei und Gendarmerie hatten gezielt mit Tränengasgranaten auf Demonstrierende geschossen und Tausende verletzt. Mindestens vier Menschen wurden getötet. Es gab nächtliche Razzien und haarsträubende Anklagen gegen Protestierende. Ärztinnen und Ärzte wurden Handschellen angelegt, während sie Verletzte versorgten. Auch meine Amnesty-Kollegen mussten befürchten, festgenommen zu werden, weil sie Hunderte Verletzte in ihrem Büro aufgenommen hatten. Trotzdem herrschte keine Atmosphäre der Angst. Was ich in Istanbul erlebt habe, war Solidarität, Kreativität und die Entschlossenheit, weiter gewaltfrei zu protestieren. Nachdem alle Demonstrationen auf dem Taksim-Platz verboten waren, kamen immer mehr Leute einzeln zu einem stummen Protest auf den Platz: Ich sah einen Mann, der seinen kleinen Sohn mitgebracht hatte, und einen Beamten mit Anzug und Aktenkoffer. Auch zwei brasilianische Touristinnen stellten sich stundenlang still auf den Taksim. Es war ein generationen-, schichten- und länderübergreifendes Zeichen: Wir gehen nicht mehr zurück ins Privatleben! Das gleiche Signal ging auch von vielen anderen Orten in Istanbul aus. Nachdem der Gezi-Park gesperrt war, versammelten sich »Gezi-Park-Räte« in anderen Parks und diskutierten, wie der Protest weitergehen könnte. Ich hörte mir eine lebhafte Diskussion im Yoğurtcu-Park an. Es ging um praktische Fragen und um grundsätzliche: Sollen wir mit Kandidaten bei den Kommunalwahlen antreten? Sollen wir zu einem Bankenboykott aufrufen? Können wir den Straßenkindern helfen, die am Taksim leben? Amnesty beteiligt sich zwar nicht an diesen Diskussionen. Dennoch haben wir eine wichtige Aufgabe dabei: Mit dafür zu sorgen, dass alle ihre Meinung frei äußern können. Unser Ziel ist eine Türkei – und eine Welt –, in der solche Diskussionen ohne Angst geführt werden können. Selmin Çalışkan ist Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International.

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FREIHEIT IST DER WERT, DER BLEIBT

Foto: Kimimasa Mayama / Reuters

IHR TESTAMENT FÜR DIE MENSCHENRECHTE

GESTALTEN SIE DIE ZUKUNFT Gründe, warum Amnesty International bei Erbschaften bedacht wird, gibt es viele: Manchmal sind es die eigenen Erfahrungen, die man mit Unrechtsregimen gemacht hat. Oder es sind Beobachtungen auf Reisen, die eigene Überzeugung, etwas zurückgeben zu wollen. Wichtig ist der Wunsch, über das eigene Leben hinaus die Zukunft gestalten zu wollen. Eine Idee zu unterstützen, die einem am Herzen liegt: die Einhaltung der Menschenrechte. Seit 1961 setzt sich Amnesty International weltweit für Opfer von Menschenrechtsverletzungen ein. Und da Amnesty International aus Gründen der Unabhängigkeit jegliche staatlichen Mittel ablehnt, können besonders Erbschaften helfen, diese Arbeit auch in Zukunft sicher und langfristig planbar zu machen. Bedenken Sie Amnesty International in Ihrem Testament. Gestalten Sie eine Zukunft, in der jeder Mensch in Würde leben kann!

Bei weiteren Fragen steht Ihnen Dr. Manuela Schulz unter der Telefonnummer 030 - 42 02 48 354 gerne zur Verfügung. E-Mail: Manuela.Schulz@amnesty.de m Bitte schicken Sie mir die Erbschaftsbroschüre »Freiheit ist der Wert, der bleibt« kostenlos zu. m Bitte schicken Sie mir weitere Informationen über die Arbeit von Amnesty International kostenlos zu. Vorname, Name

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Bitte einsenden an Amnesty International, Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin oder faxen Sie: 030 - 42 02 48 - 488 Weitere Informationen auf www.amnesty.de/spenden


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