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DAs mAgAZin fÜr Die menschenrechte
Amnesty joUrnAl
Unter DrUck inDiens menschenrechtsverteiDiger kämpfen gegen repressionen
Der krieg nebenAn kämpfe in der türkei und das schweigen der eU
gefährliche flUcht Über die mittelmeerroute nach europa
roger Willemsen sein einsatz für Amnesty international
04/05
2016 April/ mAi
INHALT
titel: inDien Heiße Themen: Die NGO »People’s Watch« kämpft für ein gerechteres Indien und gegen Schikanen der Regierung
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Gute NGOs, böse NGOs: Zivilgesellschaft unter Beschuss
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»Die Gesellschaft ist polarisiert«: Ein Gespräch mit Vinuta Gopal von Greenpeace in Indien
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Start-up der Menschenrechte: Das Büro von Amnesty in Bangalore platzt aus allen Nähten
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»Der Druck wächst«: Ein Gespräch mit Aakar Patel von Amnesty International in Indien
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Gefährliche Provinz: Repression und Gewalt im Bundesstaat Chhattisgarh
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Hindu-Nationalismus: Ideologie der Intoleranz
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Aktivismus in Indien: »Der Kampf muss weitergehen«
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16 Brisante Ermittlungen: Die indische Nichtregierungsorganisation »People’s Watch« wagt sich an heiße Themen – und gerät damit ins Visier der Behörden.
themen Türkei: Der Krieg nebenan
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Nordirak: Kriegsverbrechen der kurdischen Peschmerga
44
Chile: Aufarbeitung der »Colonia Dignidad«
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Kolumbien: FARC-Rebellen und Regierung verhandeln über den Frieden
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Ägypten: Flucht übers Mittelmeer
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DR Kongo: Der globale Kobalthandel
54
38 Scharfschützen in Wohngebieten: Der türkische Staat kämpft wieder gegen kurdische Rebellen – erstmals auch in Großstädten. Die EU schweigt.
kUltUr Polen: Angriff auf die Medienfreiheit
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Berlinale 2016: Der Amnesty-Filmpreis geht an zwei Dokumentarfilme
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Roger Willemsen: Intellektueller mit Haltung
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Hongkong: Verschleppte Verlagsmitarbeiter
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Situation von Flüchtlingen: Drei Bücher geben Einblicke
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Kamel Daoud: »Der Fall Meursault«
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»Pre’volution«: Der Rapper Smockey aus Burkina Faso
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rUbriken Weltkarte 04 Good News: Hoffnung für Mädchen in Burkina Faso 05 Panorama 06 Interview: Justine Ijeoma 08 Nachrichten 09 Kolumne: Alexandra Karle 11 Einsatz mit Erfolg 12 Selmin Çalışkan über Sexualität als Fluchtgrund 13 Rezensionen: Bücher 69 Rezensionen: Film & Musik 70 Briefe gegen das Vergessen 72 Aktiv für Amnesty 75 Impressum 75
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Putsch gegen die Medienfreiheit: Polens Regierung hat den öffentlich-rechtlichen Rundfunk unter ihre Kontrolle gebracht. Katarzyna Janowska, ehemalige Chefredakteurin des Senders »TVP Kultura«, im Interview.
Amnesty joUrnAl | 04-05/2016
erinnern sie sich …
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… noch daran, wie die Demokratie einmal unbesiegbar erschien? Es war das Jahr 1989: Die Berliner Mauer war gefallen und friedliche Demonstranten zwangen das sowjetische Weltreich in die Knie. Viele glaubten damals an den Anbruch einer goldenen Epoche: Friede, Freiheit und Menschenrechte für alle. Ein junger Denker aus Chicago wurde zum Philosophen der Stunde. Francis Fukuyama rief 1989 das »Ende der Geschichte« aus und prophezeite der Menschheit »Jahrhunderte der Langeweile«. Die Zeit der Ideologien, Kriege und Diktaturen sei vorbei. Die liberale Demokratie hatte gesiegt. Es schien wie ein Triumph für die Ewigkeit. Die Weltgeschichte ging dann doch noch weiter. Putin und Erdoğan entpuppten sich als lupenreine Autokraten (zur Lage im Südosten der Türkei S. 38). In der arabischen Welt ist der demokratische Aufbruch blutig gescheitert. Nach Ungarn hat sich in der EU nun Polen daran gemacht, Gewaltenteilung und Medienfreiheit auszuhebeln (S. 56). Und auch im Westen sind Antidemokraten im historischen Aufwind: Trump, AfD und Co. schüren Hass gegen »das System«. Je vulgärer sie auftreten, desto spektakulärer ihre Wahlerfolge.
Grüne Staatsfeinde: Wer sich in Indien für Umweltschutz einsetzt, gilt als Nestbeschmutzer. Denn die Regierung will Wirtschaftswachstum um jeden Preis. Ein Gespräch mit Vinuta Gopal von Greenpeace in Indien.
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Fatale Alternative: Die sogenannte zentrale Mittelmeerroute gilt als der gefährlichste Fluchtweg der Welt. Werden Balkanroute und Ägäis dichtgemacht, werden mehr Flüchtlinge aus Ägypten und Libyen Richtung Europa in See stechen, ohne zu wissen, ob sie überleben.
Doch Indiens Freiheiten sind in Gefahr. Seit dem Amtsantritt von Premier Modi ist auch dort der nationalistische Populismus auf dem Vormarsch (S. 31). Die Regierung will Wirtschaftswachstum um jeden Preis – auch auf Kosten der Menschenrechte (S. 28). Wer Kritik übt, lebt gefährlich: Allein im vergangenen Jahr wurden zehn Aktivisten umgebracht. Umweltschützer und Journalisten werden schikaniert und festgenommen (S. 34), Nichtregierungsorganisationen wie Greenpeace bangen um ihre Existenz (S. 22).
Titelbild: Henri Tiphagne von der indischen Organisation »People’s Watch« erhält den Menschenrechtspreis 2016 von Amnesty International. Foto: Oliver Wolff Fotos oben: Oliver Wolff (2) | Sertac Kayar / Reuters | Albert Zawada / Agencja Gazeta | Stanislav Krupar / laif Foto Editorial: Sarah Eick
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eDitoriAl
Amnesty verleiht den Menschenrechtspreis 2016 an den indischen Aktivisten Henri Tiphagne (S. 16). Indien ist stolz darauf, unter allen Demokratien der Welt die größte zu sein – ein multikultureller Schmelztiegel mit rund 815 Millionen Wahlberechtigten, einer lebendigen Zivilgesellschaft und lauten öffentlichen Debatten.
Zum Schluss noch ein Hinweis in eigener Sache: Der ARD-Themenabend »Tödliche Exporte« über schmutzige Waffendeals des schwäbischen Konzerns Heckler & Koch hat den Grimme-Preis erhalten. Die Fernsehproduktion basierte maßgeblich auf Recherchen des Autors Wolf-Dieter Vogel für das Amnesty Journal. Ramin M. Nowzad ist Redakteur des Amnesty Journals.
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WELTKARTE
frAnkreich Im FlĂźchtlingslager von Calais, dem sogenannten Dschungel, hat sich die Lage dramatisch zugespitzt. Nachdem das Verwaltungsgericht in Lille eine Teilräumung genehmigt hatte, rĂźckten Ende Februar Hundertschaften der Polizei mit Bulldozern an und zerstĂśrten provisorische UnterkĂźnfte. Dabei kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Polizisten und FlĂźchtlingen, Tränengas wurde eingesetzt. Acht FlĂźchtlinge nähten sich aus Protest gegen das Vorgehen den Mund zu. John Dalhuisen, Programmleiter von Amnesty International fĂźr Europa und Zentralasien, forderte die BehĂśrden auf, die Menschenrechte der FlĂźchtlinge zu respektieren. Zwangsräumungen seien keine LĂśsung fĂźr ein Problem, vor dem Frankreich und GroĂ&#x;britannien seit Jahren die Augen verschlossen hätten.  í˘ą
ägypten Die Menschenrechtslage in Ägypten hat sich weiter verschlechtert. Am 17. Februar betraten Sicherheitskräfte das El Nadeem Center for Victims of Violence und präsentierten eine Anweisung zur SchlieĂ&#x;ung der Einrichtung. GrĂźnde dafĂźr wurden nicht genannt. Das Zentrum wurde 1993 erĂśffnet und bietet Gewalt- und Folteropfern und AngehĂśrigen von Âťverschwundenen Personen psychologische Beratung und Rechtsbeistand (siehe auch Amnesty Journal Februar/März 2016). Allein im vergangenen Jahr dokumentierte das Zentrum 640 Fälle von Folter in Gefängnissen und 137 Todesfälle unter Häftlingen. Amnesty International fordert die BehĂśrden auf, den Beschluss zur SchlieĂ&#x;ung auszusetzen und dem El Nadeem Center die MĂśglichkeit zu geben, die Entscheidung vor Gericht anzufechten.  í˘˛
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nicArAgUA Dieses Projekt kÜnnte ein Land zerteilen und Zehntausende Menschen aus ihren Wohngebieten vertreiben: der NicaraguaKanal. Das ehrgeizige, milliardenschwere Bauvorhaben, mit dem ein Konsortium aus Hongkong betraut ist, soll den Atlantik mit dem  Pazifik verbinden. Leidtragende wären die Kommunen entlang der geplanten Route des Kanals mit ihren indigenen und afro-karibischen Einwohnern. Drei der betroffenen Gemeinden haben nun Anfang Februar vor dem hÜchsten Gericht des Landes Beschwerde eingelegt. Sie beklagen, dass sie gedrängt worden seien, dem Projekt zuzustimmen, ohne dass sie  darßber informiert worden seien, welche  Auswirkungen der Bau des Kanals auf ihre  Lebensgrundlage und Kultur habe. 
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perU Seit zwei Jahrzehnten kämpfen Tausende indigene Frauen in Peru um GehÜr und um Gerechtigkeit. In den neunziger Jahren wurden mehr als 270.000 Peruanerinnen im Rahmen eines staatlichen Gesundheitsprogramms sterilisiert, die meisten waren Indigene und arme Bäuerinnen. In Tausenden Fällen geschahen die Eingriffe ohne das Wissen der Frauen oder sogar gegen ihren Willen. Verurteilungen von Tätern gab es bislang praktisch keine. Bis heute ist nicht einmal die genaue Zahl dieser Verbrechen erfasst. Dies soll sich nun ändern: Die Regierung hat ein zentrales Register der Zwangssterilisation eingerichtet. Amnesty International hatte sich mit einer  Petition dafßr eingesetzt. 
nigeriA Erneut haben zwei nigerianische Kommunen vor dem High Court in London Klage gegen den Ölkonzern Shell eingereicht. Es geht dabei um Umweltverschmutzungen durch Öl, das aus Pipelines im Niger-Delta ausgelaufen ist. Shells mangelhafte Wartung der Pipelines kĂśnnte noch zu weiteren Klagen nigerianischer Kommunen fĂźhren. Im Januar 2015 war der Konzern bereits zu Schadenersatzzahlungen an mehr als 15.000 Bauern und Fischern im Bezirk Bodo in HĂśhe von umgerechnet rund 70 Millionen Euro verurteilt worden. Amnesty International kritisiert den Umgang des Unternehmens mit dem Problem der Ölverschmutzungen in der Region und wirft ihm eine Taktik der Verschleierung und Desinformation vor, was deren AusmaĂ&#x; betrifft. 
Amnesty joUrnAl | 04-05/2016
GOOD NEWS
Foto: Amnesty 
norDkoreA Das Regime in PjĂśngjang hat  seine Kontrollen der grenzĂźberschreitenden Kommunikation verschärft. Es ist nicht mĂśglich, aus dem Netz des grĂśĂ&#x;ten nordkoreanischen Mobilfunkanbieters ins Ausland zu telefonieren, und der Zugang zum Internet ist nur ausgewählten BĂźrgern und Ausländern vorbehalten. Das zeigt ein aktueller Bericht von Amnesty International. Dieâ€‚ĂœberwachungsmaĂ&#x;nahmen treffen vor allem auch diejenigen hart, die AngehĂśrige haben, die aus Nordkorea geflohen sind. Wenn sie telefonisch mit ihnen Kontakt aufnehmen wollen, etwa ßber ins Land geschmuggelte chinesische Handys und SIM-Karten, laufen sie Gefahr, dafĂźr im Gefängnis oder im Straflager zu landen. Viele Familien leiden unter der Ungewissheit, ob ihre Verwandten noch leben.      í˘ł
Nein zur Kinderehe. Wandgemälde in der Stadt Bobo-Dioulasso.
hoffnUng fĂœr mäDchen
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Ausgewählte Ereignisse vom  9. Februar bis 9. März 2016
WeltkArte
bUrkinA fAso Diese Nachricht kĂśnnte einen groĂ&#x;en Fortschritt fĂźr die Rechte von Mädchen und jungen Frauen in Burkina Faso bedeuten: Ende Februar erklärte das Justizministerium des westafrikanischen Landes, es beabsichtige, das gesetzliche Mindestalter fĂźr EheschlieĂ&#x;ungen auf 18 Jahre anzuheben und gleichzeitig Zwangsverheiratung klarer als bisher als Straftat im Gesetzbuch zu definieren. In einem Land, in dem Zwangsverheiratungen laut Verfassung verboten seien, sei die anhaltende Praxis ÂťinakzeptabelÂŤ. Man werde das entsprechende Gesetz Ăźberarbeiten, um dieses Vergehen wirksamer bestrafen zu kĂśnnen, und die Präventionsarbeit verstärken. Woher die plĂśtzliche Entschlossenheit? Das Ministerium räumte ein, dass in jĂźngster Zeit zahlreiche Menschen aus aller Welt ihre Besorgnis Ăźber die Zwangsverheiratungen in Burkina Faso zum Ausdruck gebracht hätten – in Briefen, E-Mails oder Ăźber soziale Netzwerke. Ein Erfolg fĂźr die Arbeit von Amnesty, denn beim Briefmarathon 2015 wurde auf die schwierige Lage junger Frauen in dem Land aufmerksam gemacht und dazu aufgefordert, sich in Schreiben an die Regierung zu wenden. Amnesty verlangt von den Verantwortlichen die Durchsetzung der nationalen Gesetze und der internationalen Rechtsnormen zum Verbot der Zwangsheirat, einen besseren Opferschutz und eine Aufklärungskampagne. Tatsächlich sind FrĂźh- und Zwangsverheiratungen in Burkina Faso bereits jetzt verboten. Doch die BehĂśrden gehen nur selten gegen GesetzesverstĂśĂ&#x;e vor. Schätzungen zufolge wird ein Drittel der jungen Frauen in dem Land vor dem 18. Geburtstag zur Ehe gezwungen, manche schon im Alter von elf Jahren. Dies verstĂśĂ&#x;t nicht nur gegen das Selbstbestimmungsrecht der Mädchen, sondern gefährdet auch ihr Leben und ihre Gesundheit. Die Mädchen mĂźssen von frĂźh bis spät im Haushalt und auf dem Feld arbeiten und so viele Kinder zur Welt bringen, wie ihr Ehemann es wĂźnscht. Eine Schule besuchen nur die wenigsten. Trotz der erfreulichen Mitteilung des Justizministeriums wird Amnesty die weitere Entwicklung beobachten und den Druck auf die Regierung von Burkina Faso aufrechterhalten, damit den Worten auch entsprechende Taten folgen.
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Foto: Eldar Emric / AP / pa
griechenlAnD UnD mAZeDonien: WillkÜrliche grenZschliessUngen
Über Wochen hinweg schutzlos der Witterung ausgesetzt, teils ohne Essen und Trinken, ohne Sanitäreinrichtungen: Die Lage der mindestens 10.000 Asylsuchenden an der griechisch-mazedonischen Grenze rund um den kleinen Ort Idomeni spitzt sich mehr und mehr zu, seit es Richtung Norden kein Weiterkommen gibt. Mazedonien lässt seit Mitte Februar ausschließlich syrische und irakische Flüchtlinge ins Land und auch sie dürfen nur sporadisch die Grenze passieren. Um Asylsuchende zurückzudrängen, hatten mazedonische Sicherheitskräfte auch Tränengas eingesetzt. Auch die entlang der Balkanroute nördlich von Mazedonien gelegenen Länder erließen zuvor Tagesobergrenzen für die Einreise von Asylsuchenden. Unterdessen erreichen nach wie vor täglich etwa 1.900 Schutzsuchende die griechischen Inseln.
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Amnesty joUrnAl | 04-05/2016
PANORAMA
tÜrkei: krieg gegen Die pressefreiheit
Die türkische Regierung hat das Oppositionsblatt »Zaman«, die auflagenstärkste Zeitung des Landes, unter ihre Kontrolle gebracht. Polizisten stürmten am 4. März die Redaktionsräume und gingen vor dem Gebäude mit Wasserwerfern und Tränengas gegen Protestierende vor. Inzwischen wurde auch die der Zeitung nahestehende Nachrichtenagentur »Cihan« unter staatliche Kontrolle gestellt. Im Oktober hatte die Staatsanwaltschaft den Medienkonzern »Koza Ipek« unter staatliche Zwangsaufsicht gestellt, einen Monat später kamen der Chefredakteur der regierungskritischen Zeitung »Cumhuriyet« sowie deren Hauptstadtbüroleiter in Untersuchungshaft. Inzwischen sind sie wieder auf freiem Fuß, doch noch immer drohen ihnen lebenslange Haftstrafen wegen »Spionage« und »Terrorismus«. Foto: Emrah Gurel / AP / pa
pAnorAmA
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INTERVIEW JUSTINE IJEOMA
Foto: Gustav Pursche / jib collective
gen, die wir kennen, registrieren wir. Sie bekommen von uns eine Menschenrechtserklärung, in die wir ein Foto von ihnen kleben und ihren Namen schreiben, daneben notiere ich dann die Telefonnummer unserer Organisation. Sie tragen das Dokument bei sich und sollten sie in Gewahrsam landen, haben sie es parat, um uns zu kontaktieren. Die Idee ist denkbar einfach, aber es hat vielfach funktioniert, sie damit vor Willkür zu schützen. Die Behörden nennen mich inzwischen »Vater der Straßenkinder«.
»Die poliZei knöpft Den kinDern DAs gelD Ab« Folter durch Sicherheitskräfte ist weit verbreitet in Nigeria. Vor allem Kinder sind betroffen, sagt der Menschenrechtsverteidiger Justine Ijeoma. Er kämpft dagegen an – mit Erfolg. Interview: Andreas Koob
Sie setzen sich mit Ihrer NGO vor allem für verurteilte Minderjährige ein. Warum? Das liegt am nigerianischen Justizsystem und dem oft sehr problematischen Verhalten der Polizei. Viele Personen – besonders junge, arme, marginalisierte – werden in Gewahrsam gefoltert, bis sie ein Geständnis machen. Gerichte erkennen diese unter Folter erpressten Geständnisse an und verurteilen die Beschuldigten zu Haft oder sogar zum Tode – das erbost mich ungemein. Deshalb sammeln und beobachten wir die Fälle Jugendlicher, insbesondere obdachloser Jugendlicher. Wie ist die Lage obdachloser Kinder? Viele auf der Straße lebende Kinder erleben bereits mehrmals Folter und landen auch wiederholt vor Gericht. Wir versuchen, uns um sie zu kümmern und sie zu schützen. Diejeni-
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Das klingt, als hätten es die Behörden gezielt auf obdachlose Kinder abgesehen … Sie haben kein Zuhause und tragen deshalb all ihr Geld bei sich. Geld, das sie sich manchmal über Jahre erarbeitet haben, bei vielen kleinen, oft schlecht bezahlten Jobs. Wenn die Polizei sie festnimmt, knöpft sie ihnen dieses Geld ab und drängt auch ihre Freunde, Geld aufzutreiben, um die Inhaftierten freizukaufen. Viele Festnahmen obdachloser Kinder zielen einzig darauf ab – die Korruption bei der Polizei hat ein alarmierendes Ausmaß. Kinder sind wirklich verletzlich. Wir haben zwar seit 2003 ein Kinderschutzgesetz, es wird aber nur in zwölf von 36 Bundesstaaten umgesetzt und dessen sind sich die Sicherheitskräfte durchaus bewusst. Im Nordosten Nigerias hat die Terrormiliz Boko Haram wiederholt gezielt Kinder verschleppt, zur Heirat gezwungen oder zwangsrekrutiert, um Selbstmordanschläge zu verüben. Warum sind auch hier Minderjährige Zielscheibe der Gewalt? Aus ganz ähnlichen Gründen. Die Regierung und die Behörden schützen die Bevölkerung nicht ausreichend, dies gilt insbesondere für Kinder. Außerdem spielen auch im Kampf gegen Boko Haram Korruption und Willkür eine wesentliche Rolle. Das ist fatal für Kinder, die der Terrorgewalt schutzlos ausgeliefert sind. Deshalb hören wir derzeit von vielen sehr, sehr jungen Kindern, die mit Bomben losgeschickt werden, um sich in die Luft zu sprengen. Sie haben sich auch für Moses Akatugba eingesetzt, der wegen eines gestohlenen Handys festgenommen und später zum Tode verurteilt wurde. Seine Freilassung gehört zu den größten Erfolgen der Stop Folter-Kampagne von Amnesty. Was war das für ein Gefühl, als der junge, zum Tode verurteilte Mann plötzlich frei war? Das hat mich sehr bewegt, wie auch alle anderen, die sich gemeinsam angestrengt hatten. Ich war überglücklich. Es war ein tolles Resultat: All die Anstrengung, all die Briefe, all das hat Sinn gemacht. Der weltweite Einsatz hatte massiven Einfluss auf den Verlauf des Falls, das war kolossal.
Amnesty joUrnAl | 04-05/2016
»Sie drohten mir, mich mit einer Flasche zu vergewaltigen. Sie haben mir mit Stricken auf die Fußsohlen geschlagen, während ich in der ›Brathähnchen-Position‹ aufgehängt war. Dann haben sie mir ein Handtuch in den Mund gestopft und erst Wasser, später Urin in die Nase gegossen, bis ich keine Luft mehr bekam.« MOHAMED ALI SAIDI WAR BEI PROTESTEN IN DER WESTSAHARA IM MAI 2013 FESTGENOMMEN WORDEN.
mit sicherheit Diskriminiert Mit dem vom Deutschen Bundestag verabschiedeten »Asylpaket 2« stimmten die Abgeordneten dafür, dass Algerien, Marokko und Tunesien als sichere Herkunftsstaaten gelten sollen. Stimmt der Bundesrat zu, durchlaufen Flüchtlinge aus diesen Ländern künftig ein beschleunigtes Asylverfahren und können im Falle einer Ablehnung schneller abgeschoben werden. Fragwürdig ist das Vorhaben nicht zuletzt wegen der Situation von Lesben, Schwulen, Transgender und Intersexuellen (LGBTI) in jenen Ländern. Sie leiden ebenso wie Frauen unter diskriminierenden Gesetzen. In Tunesien wurden im Dezember sechs Männer bei einer Party in der Stadt Kairouan abgeführt und wegen »homosexueller Handlungen« inhaftiert. Sie wurden zu einer dreijährigen Haftstrafe und einer fünfjährigen Verbannung aus der Stadt verurteilt – der Höchststrafe für den »Straftatbestand« der Homosexua-
lität. Während der Haft wurden sie Analuntersuchungen unterzogen. Anfang Januar kamen die Männer zunächst gegen Kaution frei, bevor ein Berufungsgericht Anfang März ihre Strafe auf einen Monat Haft herabsetzte, den Schuldspruch aber bestätigte. Der Fall ist exemplarisch für die gesetzliche und alltägliche Diskriminierung in Tunesien. Neben Anklagen und Haftstrafen sind gewaltsame Übergriffe an der Tagesordnung. Die Diskriminierung von Frauen ist in den Maghreb-Staaten ebenfalls weit verbreitet: In Algerien bleiben Männer, die minderjährige Mädchen vergewaltigen, straffrei, wenn sie ihr Opfer heiraten. In Marokko waren im Sommer 2015 zwei Frauen wegen »Erregung öffentlichen Ärgernisses« angeklagt, weil sie vermeintlich zu kurze Röcke getragen hatten. Erst nach massiver Kritik aus dem In- und Ausland wurde die Anklage fallen gelassen.
AMNESTY HAT ZWISCHEN 2010 UND 2014 IN mArokko
173 fälle VON folter UnD AnDeren misshAnDlUngen DURCH SICHERHEITSKRÄFTE DOKUMENTIERT.
schlechte trADition
Foto: Mawjoudin / Amnesty
Ghana und der Senegal sind seit Langem als sichere Herkunftsländer eingestuft. Auch hier steht gleichgeschlechtlicher Sex unter Strafe. 2015 nahmen senegalesische Behörden mindestens 22 LGBTI fest, sieben Männer wurden wegen »widernatürlicher Handlungen« zu einem halben Jahr Haft verurteilt. Auch die Balkanstaaten gelten seit 2015 als »sicher« – trotz der Diskriminierung von LGBTI und Roma. Eine mazedonische Romni erkämpfte im Oktober 2015 vor einem Oldenburger Gericht die Anerkennung ihrer politischen Verfolgung. Verbotene Liebe. In Tunesien steht gleichgeschlechtlicher Sex unter Strafe.
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nAchrichten
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Foto: Ammar Abdullah / Reuters
rUssische bomben AUf krAnkenhäUser
Suche nach Überlebenden. Zerbombtes Krankenhaus in der syrischen Stadt Maarat an-Numan. syrien Russische Kampfjets und Assads
Luftwaffe bombardieren in Syrien immer wieder Krankenhäuser. Amnesty hat nun Beweise gesammelt, dass es sich dabei weder um Kollateralschäden noch um Einzelfälle handelt. Die Amnesty-Recherchen legen vielmehr den Schluss nahe,
dass hinter den Angriffen eine bewusste Kriegsstrategie steckt: Zivilisten sollen aus den umkämpften Rebellengebieten vertrieben werden, um den Vormarsch der syrischen Armee zu erleichtern. Amnesty konnte bei mindestens sechs Angriffen auf Krankenhäuser und Feldlazarette
nördlich von Aleppo nachweisen, dass die Ziele mit Absicht bombardiert wurden. Allein bei diesen Angriffen wurden drei Zivilisten getötet und 44 weitere verletzt. Amnesty International hat mit Ärzten und Krankenpflegern der sechs betroffenen Krankenhäuser gesprochen. »Alle Augenzeugen, die Amnesty befragt hat, versicherten, dass sich keinerlei Militärfahrzeuge, Checkpoints oder Fronten in der Nähe der Krankenhäuser befunden haben«, sagt Tirana Hassan, die Direktorin des Krisenreaktionsteams von Amnesty International. »Syrische und russische Streitkräfte haben die Gebäude absichtlich angegriffen und damit eklatant gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen. Es ist ungeheuerlich, dass das Zerstören von Krankenhäusern mittlerweile Teil ihrer Militärstrategie zu sein scheint.« Nach internationalem Recht genießen Krankenhäuser im Kriegsfall besonderen Schutz. Bewusste Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen gelten als Kriegsverbrechen. Die Organisation »Ärzte ohne Grenzen« hat für das Jahr 2015 rund 100 Angriffe auf syrische Krankenhäuser dokumentiert. Bereits im Dezember hat Amnesty International nachgewiesen, dass bei Angriffen der russischen Luftwaffe in Syrien Hunderte Zivilisten getötet wurden (siehe Amnesty Journal 02-03/2016). Russland kämpft seit September 2015 im syrischen Bürgerkrieg an der Seite der Streitkräfte Assads.
honDUrAs Ihr Kampf für den Umweltschutz machte sie weltweit bekannt: Die honduranische Aktivistin Berta Cáceres ist am 3. März in ihrem Haus in La Esperanza von Unbekannten erschossen worden. Nach dem gewaltsamen Tod der 43-Jährigen gingen in Honduras Tausende auf die Straße, um ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen und die Aufklärung der Tat zu fordern. »Es war eine angekündigte Tragödie«, sagte Erika Guevara Rosas, Lateinamerika-Expertin von Amnesty International. »Über Jahre hinweg war Berta Cáceres das Opfer einer Einschüchterungskampagne, um sie daran zu hindern, die Rechte der indigenen Gemeinschaften zu verteidigen. Der Mord hätte womöglich verhindert werden können.« Mit ihrer Organisation COPINH kämpfte Cáceres zuletzt gegen den Bau eines Staudamms in der Region Rio Blanco. Laut einem COPINH-Sprecher erhielten Cáceres und andere Mitglieder der Organisation Morddrohungen von Männern, die nach eigenen Angaben im Auftrag des Konzerns Desa handelten, der den Staudamm errichtete. Berta Cáceres war die bekannteste Aktivistin von Honduras. Im vergangenen Jahr hatte sie den renommierten »Goldman Environmental Prize« erhalten, der auch als »Nobelpreis für Umweltschutz« bekannt ist.
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Foto: Jorge Cabrera / Reuters
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Tod einer Ikone. Tauermarsch in La Esperanza.
Amnesty joUrnAl | 04-05/2016
kolUmne AlexAnDrA kArle
Ja, am 28. Februar war ich stolz auf »meine« Schweiz. Seit fast sechs Jahren lebe ich jetzt schon hier und gehöre somit zu den 25 Prozent, die im Land ansässig sind, aber keinen Schweizer Pass besitzen. Kampagnen der rechtskonservativen Schweizer Volkspartei (SVP) gegen Ausländerinnen und Ausländer habe ich mittlerweile schon einige miterlebt. Immer wird die Angst vor dem Fremden geschürt, immer geht es angeblich um Sicherheit, immer wird mit jenen Scharfmacher-Plakaten geworben, die uns Deutsche erschauern lassen, weil sie uns an die Nazizeit erinnern.
Zeichnung: Oliver Grajewski
Gleich eine der ersten Abstimmungen, die ich persönlich in der Schweiz miterlebt habe, war die sogenannte Ausschaffungsinitiative: In der Schweiz lebende Ausländerinnen und Ausländer sollen ausgeschafft (abgeschoben) werden, wenn sie rechtskräftig wegen eines schweren Deliktes verurteilt werden. Die Initiative wurde im Herbst 2010 mit 52,3 Prozent der Stimmen angenommen.
sieg Der vernUnft
Um genau diese Initiative ging es auch bei der Abstimmung im Februar. Die SVP fürchtete nämlich, Regierung und Parlament würden diese Volksinitiative nicht streng genug umsetzen. Mit der noch viel schärfer formulierten Durchsetzungsinitiative wollte sie jetzt in der Verfassung festschreiben, dass Ausländerinnen und Ausländer auch bei geringfügigen Vergehen automatisch abgeschoben werden können, ohne Einzelfallprüfung und Ermessensspielraum für einen Richter. Doch diesmal haben die Schweizerinnen und Schweizer »nein« gesagt. Und das deutlich, mit einer Mehrheit von fast 60 Prozent. Sie sind der Polemik der SVP nicht auf den Leim gegangen, trotz der aufgeheizten Stimmung wegen der Flüchtlingsfrage, trotz der Ereignisse in Köln und trotz des hohen Ausländeranteils, der vielerorts für Unwohlsein sorgt. Noch im Dezember zeichneten Umfragen ein ganz anderes Bild. Sie sagten einen klaren Sieg für die SVP voraus. Doch dann passierte das Unglaubliche: Die Zivilgesellschaft hat sich mobilisiert. Junge und Alte, Politische und sonst Unpolitische, Konservative und Linke haben sich vernetzt, organisiert, Geld aufgetrieben und diverse Gegenkampagnen gestartet. Die sozialen Medien haben dabei eine große Rolle gespielt, aber es gab auch Plakate, Flyer, Zeitungsartikel, Interviews. Es war ein leidenschaftlicher Abstimmungskampf, in dem die Vernunft letztendlich gesiegt hat. Gefeiert wird jetzt in den Medien vor allem die 25-jährige Freiburger Geschichtsstudentin Flavia Kleiner von der liberalen, aber parteiunabhängigen Organisation »Operation Libero«. Sie ist zur Symbolfigur geworden für eine Bewegung »von unten« gegen die etablierte und finanzstarke SVP. Zurecht, denn sowohl sie als auch die Organisation haben Großes geleistet. Aber beteiligt waren auch viele andere: Privatpersonen, Politiker, Journalistinnen, Geschäftsleute, Studentinnen, Professoren, Kirchen oder Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International. Bei allem Jubel: Die Schweiz bleibt ein polarisiertes Land. Die direkte Demokratie wird immer wieder zur Konfrontation führen, bei der es statt um Fakten um Polemik geht. Die Ausschaffungsinitiative beziehungsweise das von der Regierung verabschiedete Gesetz zur Umsetzung tritt nun in Kraft. Der nächste Angriff der SVP auf die Europäische Menschenrechtskonvention, die Selbstbestimmungsinitiative, ist schon in Sichtweite. Dennoch hat die Schweiz am 28. Februar ein deutliches Zeichen gesetzt. Sie hat gezeigt, dass sie streitbar ist, dass auch junge Menschen noch enormes Interesse an Politik haben und sich mobilisieren lassen, dass Bürgerinnen über alle ideologischen und sozio-ökonomischen Grenzen hinweg zusammenarbeiten können, wenn es um die Verteidigung des Rechtsstaates geht. Das ist die Schweiz, in der ich gerne lebe, arbeite und mich engagiere. Alexandra Karle leitet die Abteilung »Kommunikation« der Schweizer Amnesty-Sektion.
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kolUmne
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Foto: AI USA / Jasmine Heiss
frei nAch 44 jAhren einsAmkeit
Längste Isolationshaft in der US-Geschichte. Albert Woodfox ist endlich frei.
Es ist ein grausamer Rekord: Der USAmerikaner Albert Woodfox hat zwei Drittel seines Lebens in Isolationshaft verbracht, er war 44 Jahre lang nahezu völlig allein. An seinem 69. Geburtstag kam er endlich frei. Tausende Briefe gingen zuletzt beim Justizminister des US-Bundesstaates Louisiana ein, in denen Menschen auf der ganzen Welt die Freilassung von Albert Woodfox forderten. Insgesamt mehr als 650.000 Appelle sammelte Amnesty während der vergangenen Jahre für den Inhaftierten, allein im Rahmen des Briefmarathons im Dezember 2015 waren es mehr als 241.000 Nachrichten.
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Zu diesem Zeitpunkt saß Albert Woodfox bereits 44 Jahre im Gefängnis, die längste Zeit davon im berüchtigten »Louisiana State Penitentiary«, auch bekannt als das »Angola«-Gefängnis. Er war isoliert von den anderen Mitgefangenen, eingesperrt in eine kleine Zelle, und das 23 Stunden täglich. Die Tortur begann 1972, nachdem Woodfox und der Mitangeklagte Herman Wallace wegen Mordes für schuldig befunden wurden. Die beiden Afroamerikaner sollen während eines Gefangenenaufstandes einen Wärter der Haftanstalt ermordet haben – wobei die Beweise dafür von Anfang an zweifelhaft erschienen. Auch Robert King, der zum Zeitpunkt des
Mordes gar nicht anwesend war, wurde wegen des Vorfalls verurteilt. Die Staatsanwaltschaft berief sich auf widersprüchliche Aussagen dreier Mithäftlinge, denen für ihre Angaben im Gegenzug Zugeständnisse gemacht wurden. Ihre unmittelbar nach dem Mord gemachten Aussagen deckten sich zudem nicht mit ihren späteren Aussagen vor Gericht. Die Jury, die ausschließlich aus Weißen bestand, befand Woodfox und Wallace schließlich für schuldig. Der Fall schlug hohe Wellen. Woodfox, Wallace und King wurden als die sogenannten »Angola 3« bekannt, viele fragten sich, ob bei ihrer Behandlung durch die Behörden Rassismus im Spiel war. Der Schuldspruch gegen Woodfox wurde im Laufe von vier Jahrzehnten dreimal aufgehoben, was zeigt, wie zweifelhaft die Verurteilung der beiden Männer tatsächlich war. Doch wurde die Entscheidung jedes Mal wieder rückgängig gemacht und auch an den Haftbedingungen änderte sich bis 2010 nichts. Die verschärfte Einzelhaft, der Woodfox ausgesetzt war, wird in den USA zwar regelmäßig angewandt, sie gehört jedoch zu den menschenunwürdigsten Strafen, die gesetzlich erlaubt sind. Ein Alltag nahezu vollständig isoliert von jeglichen äußeren Einflüssen und Reizen kann Gefangene innerlich zerstören: Angstzustände, Depressionen, Paranoia, Wahnvorstellungen und Psychosen sind einige der nachgewiesenen langanhaltenden Folgen. Juan Mendez, UNO-Sonderberichterstatter über Folter, prangerte eine unbefristete Einzelhaft, wie sie Woodfox auferlegt wurde, sogar als »eindeutige Folter an, die sofort wieder aufgehoben werden muss«. Für viele Beobachter waren der vage fundierte Schuldspruch, die extremen Haftbedingungen und das sture Aufrechterhalten der Verurteilung kein Zufall, sondern eine Reaktion darauf, dass Woodfox sich politisch engagiert hatte. »Er war mit Haut und Haar Mitglied der Black Panther Party«, sagt sein langjähriger Zellennachbar Robert King. Nichts habe Woodfox stärker beeindruckt als diese Bewegung: »Unbeugsame schwarze Menschen, die stolz auf ihre Identität waren.« King setzte sich ebenfalls für die Freilassung von Woodfox ein, die jetzt endlich erfolgte. Woodfox selbst hatte einmal gesagt: »Meinen Geist werden sie niemals einsperren.« Jetzt ist er wirklich frei, als letzter der »Angola 3«. Leila Josua
Amnesty joUrnAl | 04-05/2016
Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen mit Appellschreiben an den »Urgent Actions«, den »Briefen gegen das Vergessen« und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz drohende Menschenrechtsverletzungen verhindert und Menschen in Not hilft, zeigen diese Beispiele.
irAn lässt Us-reporter frei
Mehr als 500 Tage saß der US-Journalist Jason Rezaian in einem iranischen Gefängnis. Nun ist der »Washington Post«-Reporter gemeinsam mit drei weiteren US-Bürgern aus der Haft entlassen worden. Rezaian war im Juli 2014 in Teheran festgenommen worden, im Oktober 2015 verurteilte ihn ein Gericht in einem geheimen Verfahren wegen »Spionage«. Dass er wieder in Freiheit ist, ist einem Gefangenenaustausch zu verdanken, über den Teheran und Washington monatelang verhandelten. Die USA ließen im Gegenzug sieben Iraner frei, die in US-Gefängnissen saßen, weil sie gegen die Iran-Sanktionen verstoßen haben sollen.
irAn
verschleppter joUrnAlist in freiheit
Der Journalist Joseph Afandi ist wieder frei. Der Mitarbeiter der Tageszeitung »El Tabeer« war am 29. Dezember 2015 vom südsudanesischen Geheimdienst NSS verschleppt und inhaftiert worden. Vermutlich war er ins Visier der Behörden geraten, weil er die Regierungspartei SPLM kritisiert hatte. Afandi durfte in der Haft weder Kontakt zu seiner Familie noch zu einem Rechtsanwalt aufnehmen. Am 19. Februar kam er ohne Anklage wieder frei. Amnesty hat wiederholt dokumentiert, dass der Geheimdienst NSS Journalisten einschüchtert und willkürlich festnimmt.
sÜDsUDAn
lebenslAnge hAft fÜr sexsklAverei
gUAtemAlA Zwei ehemalige hochrangige Militärs sind in Gua-
temala zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt worden, weil sie während des Bürgerkriegs (1960–1996) indigene Frauen des Maya-Volks verschleppten und als Arbeits- und Sexsklavinnen missbrauchten. Das Gericht verurteilte den 59-jährigen Esteelmer Reyes zu 120 Jahren Haft, weil ihm nachgewiesen werden konnte, eine Maya-Frau und ihre beiden Töchter versklavt und umgebracht zu haben. Sein 74-jähriger Mitangeklagter Heriberto Valdez wurde wegen Verschleppung von mindestens sieben Frauen zu 240 Jahren Haft verurteilt.
schWeDischer menschenrechtler frei
chinA Der schwedische Menschenrechtsaktivist Peter Dahlin und seine chinesische Freundin sind wieder in Freiheit. Der NGO-Mitarbeiter war am 3. Januar auf dem Weg zum Flughafen in Peking verschwunden. Seine Organisation »Chinese Urgent Action Working Group« bildet unter anderem Menschenrechtsanwälte aus. Rund zwei Wochen später strahlte die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua ein Video aus, in dem Peter Dahlin ein möglicherweise erzwungenes »Geständnis« ablegte. Er bezichtigte sich darin selbst der »Aktivitäten gegen chinesisches Recht«. Der Menschenrechtsaktivist wurde 22 Tage festgehalten, ohne Familie oder Anwälte kontaktieren zu dürfen.
erfolge
selmin ÇAlişkAn Über
sexUAlität Als flUchtgrUnD
Foto: Amnesty
einsAtZ mit erfolg
Ob in Ägypten oder Tunesien, Syrien oder Uganda: Manche Menschen müssen ihre Identität verbergen, um überleben zu können. Sie fliehen nach Europa, weil sie von der Gesellschaft in ihrem Heimatland nicht akzeptiert werden, weil sie »anders« lieben. Ich spreche von Menschen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung und Identität verfolgt und kriminalisiert werden. Zum Beispiel in Tunesien: Dort wurden im Dezember sechs Männer wegen »homosexueller Handlungen« zu drei Jahren Haft verurteilt. Auch Länder wie Uganda oder Kamerun stellen Homosexualität unter Strafe. Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Intersexuelle (LGBTI) werden bedroht und schikaniert. Deswegen entscheiden sie sich oft für die gefährliche Flucht nach Europa. Wenn sie in einem EU-Mitgliedstaat wie Deutschland ankommen, stehen sie vor einem Dilemma: Wem können sie sich anvertrauen? Um Asyl zu erhalten, müssen sie ihre Situation »glaubhaft« vermitteln. Doch viele LGBTI haben Angst, sich zu outen. Sie sind traumatisiert, weil sie extreme Gewalt erlebt haben. Andere wissen gar nicht, dass Homosexualität ein Asylgrund ist. Ohne eine vertrauensvolle Atmosphäre und geschulte Anhörer und Dolmetscher ist eine faire Anhörung ihrer Asylgründe nicht möglich und die Gefahr groß, dass sie in die Verfolgung abgeschoben werden. Welchen Weg geht die deutsche Bundesregierung? Anstatt anzuerkennen, dass in Marokko, Tunesien und Algerien Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind, sollen diese Länder als »sichere Herkunftsstaaten« deklariert werden. Die Leidtragenden sind Schutzsuchende wie LGBTI und andere Flüchtlinge, die im Zuge einer Gesetzesverschärfung eine schnellere Abschiebung befürchten müssen. Was wir derzeit erleben, ist eine Aushöhlung des Asylrechts. Sollten LGBTI in ihren angeblich »sicheren Herkunftsstaaten« keinen Schutz erhalten, ist es die menschenrechtliche Pflicht der deutschen Bundesregierung, ihn zu gewährleisten. Daran werden wir sie erinnern. Selmin Çalışkan ist Generalsekretärin der deutschen Amnesty-Sektion.
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TITEL
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Indien
Indien ringt um seine Freiheiten: Immer wieder versucht die Regierung, ihre Kritiker mundtot zu machen. NGOs geraten ebenso unter Druck wie Journalisten und Menschenrechtsverteidiger. Auch Henri Tiphagne und seine Organisation »People’s Watch« nahmen die Behörden ins Visier. Die deutsche Amnesty-Sektion verleiht ihm für seinen Einsatz den Menschenrechtspreis 2016.
Menschenrechtspreisträger Henri Tiphagne. »Wir haben Fälle übernommen, an die sich niemand wagte.« Foto: Oliver Wolff
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»Wir müssen mit neuen Attacken rechnen.« Henri Tiphagne während eines Menschenrechtstrainings für Lehrerinnen und Lehrer in Madurai.
Heiße Themen Die Nichtregierungsorganisation »People’s Watch« begann vor mehr als zwei Jahrzehnten, gegen Willkür und Misshandlungen in Indien aktiv zu werden. Heute gehört sie zu den wichtigsten Menschenrechtsorganisationen des Landes und hat auch international viel Aufmerksamkeit erfahren. Doch der Erfolg kommt nicht überall gut an: Die Behörden versuchen immer wieder, ihre Arbeit zu behindern. Von Andrzej Rybak (Text) und Oliver Wolff (Fotos)
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s geschah am Morgen des 7. April 2015. Polizisten aus Andra Pradesh überraschten eine Räuberbande, die illegal Sandelholzbäume fällte. So schildert es der Polizeibericht. Als die Banditen die Polizisten mit Steinen, Äxten und Eisenstangen angriffen, eröffneten diese das Feuer und töteten 20 Männer – zur Selbstverteidigung. »Wir haben noch am selben Tag eine Erkundungsmission nach Chittoor geschickt, alles erfahrene Menschenrechtler, Forensiker und Justizmitarbeiter«, erzählt Henri Tiphagne, der Direktor der Menschenrechtsorganisation »People’s Watch« im südindischen Madurai. »Sie stellten fest, dass die Toten arme Tagelöhner waren und aus nächster Nähe hingerichtet wurden. Die Leichen zeigten Spuren von Folter.« Die Sandelholzstämme, die neben den Toten lagen, waren nicht soeben gefällt worden, sondern trugen Stempel der Waldbehörde. Zwei Zeugen berich-
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teten, die Tagelöhner seien einen Tag zuvor ohne Grund festgenommen, auf der Polizeistation misshandelt und erschossen worden. »Wir haben unseren Bericht an die Nationale Menschenrechtskommission und ans Justizministerium geschickt«, berichtet Tiphagne. Bisher sei niemand belangt worden. Ist er deswegen nicht frustriert? »Bei der Menschenrechtsarbeit ist eine gelungene Beweisführung bereits ein Erfolg«, sagt Tiphagne. »Erst die Summe unzähliger Bemühungen führt zu einem substanziellen Fortschritt.« Der Menschenrechtler sitzt im Büro von »People’s Watch« in Madurai, einer Stadt mit 1,2 Millionen Einwohnern im Bundesstaat Tamil Nadu. Auf seinem riesigen Schreibtisch, der mit bunten indischen Tüchern mit Elefantenmotiven bedeckt ist, stapeln sich Bücher und Dokumente. Zwischen den Bücherregalen hängen Urkunden und Fotos, in jeder Nische stehen Andenken – kleine Holzschnitzereien neben Plastikfiguren. Tiphagne teilt sich das Büro mit Cynthia, seiner Frau und wichtigsten Mitarbeiterin, deren Schreibtisch allerdings viel kleiner ist. »In den 20 Jahren hat sich einiges an Andenken angesammelt«, sagt Tiphagne, der »People’s Watch« zusammen mit dem katholischen Priester Alexis Diamondraj im Dezember 1995 gegründet hat. Die »Catholic Organisation für Relief and Development Aid« aus Holland finanzierte die ersten Projekte der Menschenrechtsorganisation, die sofort damit begann, in den entferntesten Regionen des Landes Unrecht zu bekämpfen. Mitarbeiter von »People’s Watch« spürten Verschwundene auf, registrierten Polizeiübergriffe und Tötungen, dokumentierten Folter in Gefängnissen und auf Polizeistationen, verteidigten Aktivisten, die auf Grundlage konstruierter Anklagen vor Gericht standen. In kürzester Zeit erwarb sich »People’s Watch« Respekt und zählt heute zu den wichtigsten indischen Menschenrechtsorganisationen. »Wir haben Fälle übernommen, an die sich niemand wagte«, erzählt Tiphagne. Dabei hat die Organisation nicht nur Mut, sondern auch Integrität bewiesen. Sie deckte viele von der Polizei verübte Gräueltaten auf und zwang den Staat, die Opfer zu entschädigen. So dokumentierte »People’s Watch« 2001 die Verbrechen der Polizei in Sankaralingapuram, einem kleinen Ort in Tamil Nadu, wo bei Protesten der »Unberührbaren«, der Dalits, ein Polizist durch einen Steinwurf getötet wurde. Seine Kollegen übten furchtbare Rache, schlugen Dutzende Leute krankenhausreif, zerstörten Häuser der Dalits und vernichteten ihre Ernten. »People’s Watch« organisierte eine öffentliche Anhörung, bei der mehrere Zeugen aussagten. Die Resonanz war riesig, die Ministerpräsidentin von Tamil Nadu sah sich gezwungen, das Dorf zu besuchen und den Opfern eine Entschädigung zu zahlen. Daraufhin wurden 169 Mordanklagen gegen unschuldige Bewohner fallen gelassen. Zu den Angeklagten gehörte auch Prabakar, dem damals die Flucht aus Sankaralingapuram gelungen war. Er wurde von »People’s Watch« aufgenommen und zur Schule geschickt. Heute steht er vor seiner Zulassung als Rechtsanwalt und arbeitet für die NGO. Die Menschenrechtler um Tiphagne setzten sich auch für die Opfer der Polizeigewalt in den Bergen von Sathyamangalam ein. Dort hatte der Sandelholzschmuggler und Räuber Veerappan jahrelang sein Unwesen getrieben. Auf der Suche nach Veerappan gingen Polizeieinheiten mit Gewalt gegen die Dorfbevölkerung vor. Wer im Verdacht stand, dem Räuber zu helfen, wurde entführt und gefoltert. »Wir konnten mehr als 2.000 Fälle von Folter dokumentieren«, berichtet Cynthia Tiphagne. Dutzende Frauen wurden von Polizisten vergewaltigt, Männer und Kinder geschlagen und mit Elektroschocks gefoltert. Viele Menschen büßten ihre Gesundheit ein und konnten nicht mehr ar-
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beiten. Solche Einsätze machten »People’s Watch« international bekannt. Vertreter der UNO und der EU suchten die Menschenrechtler auf, um gemeinsam Projekte anzuschieben. Jahrelang dokumentierten die Mitarbeiter der Organisation Fälle von Folter in Gefängnissen und auf Polizeistationen in neun indischen Bundesstaaten. »Die Regierung hatte immer behauptet, dass es keine Polizeifolter in Indien gibt«, sagt Tiphagne. »Wir haben die Wahrheit aufgedeckt.« Die Menschenrechtler besuchten auch Dutzende Häftlinge, die in Untersuchungshaft saßen. Sie fanden Personen, die wegen Bagatelldelikten viele Jahre ohne Gerichtsverhandlung in Untersuchungshaft verbrachten, weil man sie schlicht vergessen hatte. »Die Lage hat sich seitdem deutlich verbessert«, sagt Tiphagne. »Heute haftet der Gefängnisdirektor, wenn so etwas passiert.« »People’s Watch« leistete von Anfang an auch Basisarbeit in den Gemeinden von Tamil Nadu. 1997 gründete Tiphagne das Institut für Menschenrechtsbildung, das Fortbildungen für Lehrer organisierte und Menschenrechtsunterricht an Schulen startete. Ab 2005 dehnte »People’s Watch« seine Bildungsprogramme auf 18 indische Bundesstaaten aus, finanziell unterstützt von Misereor, Brot für die Welt und der Ford-Foundation. Bis heute haben zahlreiche Schüler der Klassenstufen 6, 7 und 8 an diesem Menschenrechtsunterricht teilgenommen, 6.000 Lehrer absolvierten ein spezielles Trainingsprogramm. Mit den vielen Aufgaben wuchs auch die Zahl der Mitarbeiter. Anfang 2012 hatte »People’s Watch« bereits rund 170 feste Mitarbeiter, die von einem Heer freiwilliger Helfer unterstützt wurden. Kein Thema war der NGO zu heiß. Als 2011 die UNO-Sonderberichterstatterin für Menschenrechtsverteidiger, Margaret Sekaggya, nach Indien kam, führte Tiphagne sie elf Tage lang durch das Land. Er organisierte Treffen mit Menschenrechtsverteidigern, die über ihre prekäre Lage berichteten und die Nationale Menschenrechtskommission (NHRC) der Untätigkeit bezichtigten. Kurz darauf veröffentlichte »People’s Watch« einen Bericht über die NHRC, der einige Fälle dokumentierte, in denen die Kommission den Menschenrechtsverteidigern die notwendige Unterstützung und den Rechtsbeistand verweigert hatte. Der Bericht wurde an die UNO-Menschenrechtskommission in Genf gesandt. »Diese Studie hat uns dann die Lizenz gekostet«, erzählt Tiphagne. Im Sommer 2012 ordnete die Regierung von Manmohan Singh eine Finanzprüfung von »People’s Watch« an. Tagelang wurden die Bücher der Organisation geprüft, ohne dass irgendwelche Verstöße ans Licht kamen. Dennoch wurde die Zulassung unter Berufung auf ein Gesetz, das aus dem Ausland finanzierte Organisationen stark reglementiert, für sechs Monate suspendiert und die Bankkonten eingefroren.
menschenrechtspreis 2016 Henri Tiphagne hat sein Leben dem Kampf für ein gerechteres Indien gewidmet und erhält dafür in diesem Jahr den Menschenrechtspreis von Amnesty International. Mit dem Preis will die deutsche Amnesty-Sektion Tiphagnes Einsatz würdigen und ihn in seiner Arbeit unterstützen. Seit 1998 zeichnet Amnesty Persönlichkeiten aus, die sich unter schwierigen Bedingungen für die Menschenrechte einsetzen. Mit der Preisverleihung will Amnesty wichtige Problemfelder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rücken und Menschen anregen, selbst aktiv zu werden.
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Menschenrechte in die Schulen tragen. Indische Schüler während eines
»Die Regierung benutzt das Gesetz, um unbequeme Organisationen zum Schweigen zu bringen, auch uns hat man absurde Dinge vorgeworfen«, sagt Tiphagne. »Wir sollen irgendwelche Bücher doppelt bezahlt und so die Geldgeber betrogen haben. Und wir sollen gegen nationale Interessen verstoßen haben, weil ich Atomkraftgegner bei ihrem Hungerstreik besuchte.« Auf ihre Einsprüche bekam die Organisation keine Antwort. Anfang 2013 wurde die Zulassung für weitere sechs Monate suspendiert, aus neuen nichtigen Gründen. Nach der dritten Suspendierung im Oktober 2013 klagte Tiphagne vor Gericht. Als es zur Verhandlung kam, war die Suspendierung bereits abgelaufen. Das Gericht befahl nur, das eingefrorene Bankkonto wieder freizugeben. »Seitdem herrscht Ruhe«, sagt Tiphagne. »Wir müssen aber mit neuen Attacken rechnen.« Die indische Zivilgesellschaft steht seit einigen Jahren massiv unter Druck. Seit dem Amtsantritt von Premierminister Narendra Modi im Mai 2014 hat sich die Situation weiter verschärft. »Die Regierung wirft den NGOs vor, sie würden das Wirtschaftswachstum bremsen, wenn sie gegen Atomkraft oder neue Kohlebergwerke protestieren«, schimpft Tiphagne. »Sie will der Welt ein modernes Land präsentieren, da gilt jeder, der Kritik übt, als Nestbeschmutzer.« Aufgrund der Angriffe der Regierung hat »People’s Watch« mehr als 100 Mitarbeiter verloren, denn die Organisation konnte 20 Monate lang keine Gehälter zahlen. Außerdem musste sie das Sudhantra-Rehabilitationszentrum für Gewaltopfer schließen, in dem traumatisierte Frauen psychologisch betreut wurden. »Wir betreiben noch die Hotline, bei der sich die Opfer melden können«, sagt Cynthia Tiphagne. »Doch wir müssen die Leute auf andere Einrichtungen verteilen.« Das Kernteam von »People’s Watch« ist enger zusammengerückt. Für einige Mit-
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Bildungskurses von »People’s Watch«.
arbeiter, die einst selbst Opfer der Staatsgewalt wurden, kam eine Kündigung nicht in Frage. Sie wurden als Jugendliche von Cynthia und Henri Tiphagne aufgenommen und gingen in Madurai zur Schule. »Die Organisation ist meine zweite Familie«, sagt Prabakar. »Cynthia und Henri sind meine Ersatzeltern.« Heute arbeiten 62 Menschen für »People’s Watch«, die Hälfte davon in Madurai. Weitere Büros gibt es noch in Chennai, der Hauptstadt von Tamil Nadu, und in Neu Delhi. Das Hauptquartier befindet sich in einem zweistöckigen Haus aus den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, das in einem ruhigen Wohnviertel von Madurai steht und von einem Garten umgeben ist. Das Büro des Direktors liegt gleich neben dem Eingang, von dort führen schmale Korridore zu den Arbeitsräumen der Mitarbeiter, die dicht gedrängt an ihren Computern sitzen. In Madurai werden alle Berichte und Publikationen vorbereitet, die dann im ganzen Land verteilt werden. »Alles wird erst in Tamil geschrieben und dann ins Englische übersetzt«, sagt die Übersetzerin Sabitha. »Die Übersetzungen aus dem Englischen in andere Sprachen wie Bengali oder Gujarati übernehmen unsere Mitarbeiter in Kolkata und Ahmedabad. Wenn wir alle Texte haben, gehen die Bücher in den Druck.« Im ersten Stock befindet sich eine kleine Bibliothek, in der Zeitschriften und Bücher zum Thema Menschenrechte archiviert sind. Sie sind für die Öffentlichkeit jederzeit zugänglich. Unter dem Dach wurde ein Konferenzraum eingerichtet, in dem ein Mal im Monat Vorträge und Diskussionen organisiert werden. Täglich um 13.30 Uhr versammeln sich alle Mitarbeiter im Hof und tauschen sich kurz über ihre Arbeit aus. Den Rückschlag durch die Suspendierung hat »People’s Watch« zwar gut verkraftet, dennoch muss die Organisation
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Kampfgefährtin. Henri Tiphagnes Ehefrau Cynthia.
heute Prioritäten setzen. »Es gibt in Indien inzwischen mehrere Organisationen, die Menschenrechtsverstöße dokumentieren können«, sagt Tiphagne. »Aus diesem Bereich können wir uns zurückziehen.« Der Schwerpunkt liegt nun auf der Bildungsarbeit und der Unterstützung von Menschenrechtsverteidigern im ganzen Land. »Die Menschenrechtsaktivisten werden bedroht«, sagt Tiphagne. »2015 wurden zehn Aktivisten ermordet, das ist deutlich mehr als im Jahr zuvor.« Vor allem in den Bundesstaaten Jharkhand, Chhattisgarh und Odisha, wo Menschenrechtler gegen Umsiedlungen kämpfen, die von Bergbauunternehmen verursacht sind, stehen sie auf der Abschussliste. Außerdem plant »People’s Watch« einen Strategiewechsel. »Wir haben aus der Suspendierung unsere Lehren gezogen«, sagt Tiphagne. »Wir müssen die Strukturen weiter dezentralisieren, um die Arbeit fortsetzen zu können, sollte die Regierung auf die Idee kommen, uns doch noch zu verbieten.« Tiphagne hat die Bewegung »Citizens for Human Rights in Tamil Nadu« ins Leben gerufen, in der 1.500 örtliche Menschenrechtsgruppen vernetzt sind. Er initiierte außerdem die Plattform »Human Rights Defenders – Alert India«, die über die Situation der Menschenrechtsverteidiger berichtet – unabhängig von »People’s Watch«. Auch die Bildungsprogramme können von den Partnern in den jeweiligen Regionen fortgeführt werden. »Wenn wir nicht mehr da sind, wird die Arbeit fortgeführt«, sagt Tiphagne, »solange es Menschenrechtsverstöße gibt.« Der Autor ist freier Journalist und lebt in Hamburg. Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app
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Gute NGOs, böse NGOs Nicht nur in Indien ist die Zivilgesellschaft unter Beschuss. Weltweit wächst der Druck auf Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Menschenrechtsverteidiger. Auch Deutschland bleibt von dem Trend nicht verschont. Von Andrea Berg
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ndien ist die bevölkerungsreichste Demokratie der Welt – in Sachen Zivilgesellschaft geht das Land jedoch mit schlechtem Beispiel voran. Im April 2015 hat die Regierung auf einen Schlag fast 9.000 NGOs die Lizenzen für die Entgegennahme ausländischer Spenden entzogen und versucht systematisch, die Arbeit von Menschenrechtsverteidigern zu kriminalisieren. Jedoch nicht nur in Indien sind repressive Maßnahmen gegen die Zivilgesellschaft an der Tagesordnung. Es handelt sich um einen weltweiten Trend, der seit mehreren Jahren anhält und sich zunehmend verschärft. Dabei lassen sich verschiedene Muster erkennen. Muster Nummer 1: Immer wieder kommt es im Vorfeld von Wahlen zu massiven Einschränkungen der Presse- und Meinungsfreiheit. Das südostasiatische Land Myanmar ist ein Beispiel dafür. Vor den Parlamentswahlen im November 2015 standen dort Menschenrechtsverteidiger massiv unter Druck, regelmäßig wurden Demonstrationen verboten und die Zahl der gewaltlosen politischen Gefangenen stieg stark an. Auch Journalisten, die kritisch berichteten, mussten mit drastischen Folgen bis hin zu mehrjährigen Haftstrafen rechnen. Auch in Äthiopien gingen die Behörden vor der Parlamentswahl im Mai 2015 gegen unabhängige Medien vor, Mitglieder oppositioneller Parteien sowie friedliche Protestierende wurden massenhaft festgenommen. Mehrere Versuche von Oppositionsparteien, Demonstrationen durchzuführen, wurden von den Behörden verhindert. Muster Nummer 2: Häufig kommen Einschränkungen der Zivilgesellschaft auch als »Antiterrormaßnahmen« daher. Ein Beispiel dafür ist Saudi-Arabien, wo unter Rückgriff auf das verschärfte Antiterrorgesetz vom Februar 2014 friedliche Aktivitäten als »Terrorismus« definiert werden und Behörden weitreichende Befugnisse im »Kampf gegen den Terror« erhielten. So wurde der Rechtsanwalt Waleed Abu al-Khair, der Verteidiger des prominenten Bloggers Raif Badawi, wegen seiner Menschen-
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rechtsaktivitäten nach dem Antiterrorgesetz zu 15 Jahren Haft verurteilt. Im Dezember 2014 erließ die kenianische Regierung überhastet und ohne ausreichende Einbeziehung der Öffentlichkeit ein neues Sicherheitsgesetz, durch das zahlreiche Bestimmungen in 22 existierenden Gesetzen mit weitreichenden Auswirkungen auf die Menschenrechte abgeändert wurden. Muster Nummer 3: Der Handlungsspielraum von NGOs wird rechtlich eingeschränkt. Prominentestes Beispiel dafür ist sicher Russland, wo bereits seit 2012 ein Gesetz in Kraft ist, das vom Ausland finanzierte Nichtregierungsorganisationen als »Auslandsagenten« einstuft. Im Sommer 2015 folgte dann ein Gesetz gegen unerwünschte, ausländische Organisationen, das die Arbeit vieler zivilgesellschaftlicher Organisationen massiv bedroht. Erst vor wenigen Wochen hat das Kabinett in Israel ein Gesetz zu NGOs gebilligt, die aus dem Ausland finanziert werden. Sie müssen künftig ihre Finanzquellen offenlegen, wenn sie sich überwiegend aus Mitteln ausländischer Regierungen finanzieren. Betroffen sind vor allem regierungskritische NGOs. Muster Nummer 4: Wer Missstände aufdeckt, Kritik an der Regierung oder staatlichen Institutionen übt oder die Deutungshoheit über gesellschaftliche Entwicklungen in Frage stellt, muss mit Verfolgung rechnen. Ein typisches Beispiel dafür ist die Türkei, wo immer wieder Regierungskritiker wegen konstruierter Anschuldigungen vor Gericht stehen. Beliebt sind dabei beispielsweise Anklagen wegen »Beleidigung des Präsidenten« oder »Beleidigung der türkischen Nation« oder auch Anklagen unter vage formulierten Antiterrorgesetzen. All diesen Maßnahmen ist gemein, dass ein durch die jeweilige Regierung wahrgenommener Anstieg von Kritik und damit eine potenzielle Gefährdung der politischen und wirtschaftlichen Macht und Deutungshoheit zu einem parallelen Anstieg der Unterdrückung führt. Im Fokus der Maßnahmen stehen vor allem kritische zivilgesellschaftliche Akteure. De facto findet
Amnesty joUrnAl | 04-05/2016
Weltweit schreitet die Depolitisierung von NGOs voran. eingeschränkt. So kritisierte der UNO-Sonderberichterstatter für Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Maina Kiai, im Oktober 2014, dass Einflussnahme durch einzelne Staaten die Beteiligung der Zivilgesellschaft auch bei den Vereinten Nationen behindert hat. Beispielsweise verschob oder verschleppte der UNO-Ausschuss für nichtstaatliche Organisationen im Widerspruch zu seinem eigentlichen Arbeitsauftrag die Anträge Dutzender NGOs auf beratenden Status. Der Blick auf die zunehmende Beschränkung des Freiraums für zivilgesellschaftliche Akteure macht deutlich, dass nicht zuletzt Menschenrechtsorganisationen und Menschenrechtsverteidiger massiv betroffen sind. Vor diesem Hintergrund ist es fast schon zwingend, dass Amnesty International in Zukunft verstärkt zu diesem Thema arbeiten wird und im kommenden Jahr eine globale Kampagne dazu starten wird. Die Autorin leitet die Abteilung »Länder, Themen und Asyl« der deutschen Sektion von Amnesty International.
Foto: Altaf Qadri / AP / pa
eine Aufspaltung in »gute« (serviceorientierte) und »böse« (politische) NGOs statt. Die Depolitisierung von NGOs schreitet auf diese Weise weltweit voran. In Deutschland rückte diese Entwicklung schlagartig ins Licht der Öffentlichkeit, als das Finanzamt Frankfurt im April 2014 dem globalisierungskritischen Verein »Attac« den Status der Gemeinnützigkeit und damit faktisch den finanziellen Boden entzog, mit der Begründung, die Arbeit der Organisation sei zu politisch. Eine Vielzahl von Vereinen und Stiftungen, die sich von der Entscheidung gegen Attac bedroht fühlen, haben sich in der Allianz »Rechtssicherheit für politische Willensbildung« zusammengeschlossen. Sie fordern, dass der Schutz der Menschenrechte, das Engagement gegen Diskriminierung und für soziale Gerechtigkeit genauso gemeinnützig sein soll wie der Umweltschutz. Deutschland ist keine Ausnahme. Auch in anderen Ländern des globalen Nordens stehen kritische zivilgesellschaftliche Organisationen immer mehr unter Druck. Die Arbeit von NGOs wird auch auf internationaler Ebene
Im Visier der Behörden. Greenpeace-Demonstration vor dem indischen Kohleministerium.
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»Die Gesellschaft ist polarisiert«
Foto: Oliver Wolff
Wer die indische Wirtschaftspolitik wegen ihrer ökologischen Folgen kritisiert, gilt schnell als Nestbeschmutzer. Viele NGOs müssen deswegen vor Gericht um ihre Zulassung kämpfen. Ein Gespräch mit Vinuta Gopal, der Programmdirektorin von Greenpeace in Indien.
»Meinungsfreiheit in Gefahr.« Vinuta Gopal in der indischen Greenpeace-Zentrale in Bangalore.
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Interview: Andrzej Rybak
Die indische Regierung versuchte im vergangenen Jahr, Greenpeace in Indien die Zulassung zu entziehen. Sie warf der Organisation vor, mit ausländischen Mitteln die Sicherheit des Landes zu gefährden. Was war passiert? Die Vorwürfe waren absurd. Der Geheimdienst warf Greenpeace und anderen NGOs vor, das Wirtschaftswachstum des Landes zu bremsen, und zwar um gleich drei Prozent pro Jahr. Selbst regierungstreue Ökonomen haben sich über diese Behauptung lustig gemacht. Man warf uns zudem Betrug vor, weil wir angeblich gegen ein Gesetz verstoßen haben, das regelt, wie Spenden aus dem Ausland eingesetzt werden dürfen. Man sperrte uns daraufhin alle unsere Bankkonten, selbst die, auf die indische Spenden geflossen waren. Unsere Mitarbeiter haben monatelang ohne Gehalt gearbeitet. Warum geht die Regierung gegen Greenpeace vor? Die Regierung will Wirtschaftswachstum um jeden Preis. Jeder, der zum Beispiel aus Gründen des Umweltschutzes Einwände gegen ihre Projekte erhebt, gilt als Feind. Die Angriffe begannen schon unter der vorherigen Regierung, seit dem Amtsantritt von Premierminister Modi haben sie sich allerdings verstärkt. Der Raum für demokratische Proteste ist zuletzt dramatisch geschrumpft. In den vergangenen zwei Jahren mussten wir sechs Mal vor Gericht ziehen – und haben sechs Mal gewonnen. Die Regierung kann uns nicht schließen, also versucht sie, uns die Luft abzuschneiden. Sie will uns offenbar in juristische Auseinandersetzungen verwickeln, um uns auf diese Weise von unseren Umweltanliegen abzuhalten. Ist die Sache inzwischen ausgestanden? Wir haben wieder eine Zulassung, arbeiten allerdings nur noch mit indischen Spenden, die etwa zwei Drittel unseres früheren Etats ausmachen. Die Regierung setzt ihre Verleumdungskampagnen gegen uns in den staatlichen Medien fort. Manche Mitarbeiter haben Angst – sie können den Druck nicht länger ertragen und kündigen. Wir haben bereits mehr als 100 Mitarbeiter verloren, derzeit sind nur noch 170 Personen bei uns. Werden Sie wieder Mittel aus dem Ausland erhalten dürfen? Greenpeace hat immer völlig transparent gearbeitet und alle indischen Gesetze peinlich genau befolgt. Die Details unserer Finanzierung sind im Internet zugänglich. Wir haben auch nicht gegen das Gesetz verstoßen, das sehr strenge Richtlinien für die Arbeit mit ausländischen Spenden festlegt. Das Gesetz wird aber von der Regierung missbraucht, um gegen bestimmte Organisationen vorzugehen, die kritische Meinungen vertreten. Die Meinungsfreiheit ist in Gefahr. Wandelt Premierminister Narendra Modi auf den Spuren des russischen Präsidenten Wladimir Putin? Die Lage in Russland ist viel schlimmer, denn dort sind die Medien gleichgeschaltet. In Indien haben wir zum Glück eine sehr große Vielfalt. Aber es gibt eine wachsende Intoleranz, die sich nicht nur gegen Umweltgruppen, sondern auch gegen religiöse Minderheiten und soziale Randgruppen richtet. Greenpeace ist auf der ganzen Welt aktiv und kann sich verteidigen. Aber viele kleine Organisationen werden geschlossen oder müssen ihre Aktivitäten einschränken und niemand erfährt etwas davon. Das ist beängstigend.
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Wer unterstützt Greenpeace in Indien? Das ist die neue indische Mittelklasse in Städten wie Bangalore, Mumbai oder Delhi. Wir suchen dort den direkten Kontakt zur Bevölkerung und sprechen die Menschen auf der Straße an, um Geld zu sammeln. Wir haben derzeit 55.000 reguläre Spender, die im Schnitt pro Monat umgerechnet vier bis zehn Euro überweisen. Unsere Kampagnen werden im Internet von Millionen Menschen unterstützt, von denen viele ebenfalls Geld spenden. Uns ist klar: Nur wenn Millionen Menschen mitmachen, kann sich die Lage ändern. Schaden die Verleumdungskampagnen der Regierung dem Image Ihrer Organisation? Bisher nicht. Aber die Gesellschaft ist polarisiert. Wir werden als eine Gefahr für Wachstum und Wohlstand verleumdet und manche Leute glauben es. Andererseits erleben die Menschen täglich, dass die Luft in den Städten schlechter wird und die Zahl der Atemwegserkrankungen in die Höhe schnellt. Flüsse und Seen werden zu Kloaken, Müll stapelt sich in den Straßen, und es wird immer schwieriger, gesunde Nahrung zu kaufen. Dazu kommt der Klimawandel, der Indien bereits heute sehr hart trifft: Es gibt immer mehr Überschwemmungen und Dürren. Sieht die Regierung diese Gefahren nicht? Doch. Premierminister Modi hat vor Kurzem ein gewaltiges Solarprogramm angekündigt. Er will 175 Gigawatt Strom aus erneuerbaren Energiequellen gewinnen. Dafür gebührt ihm unser Lob. Gleichzeitig werden jedoch unzählige Kohlekraftwerke und Kohlebergwerke gebaut, die in Zentralindien ganze Landstriche zerstören. Natürlich kann Indien nicht sofort aus der Kohle aussteigen, denn wir erzeugen derzeit etwa 60 bis 70 Prozent des Energiebedarfs in Kohlekraftwerken. Das fordern wir auch gar nicht. Aber wir sollten schon heute einen Ausstieg aus der Kohle für die Zukunft planen. Viele Greenpeace-Kampagnen richten sich gegen neue Kohlebergwerke. Ist das der Grund für die Angriffe der Regierung? Die internationalen Bergbaukonzerne sind sehr mächtig, und sie haben eine starke Lobby im Parlament. Wir können aber nicht zulassen, dass in Zentralindien Tausende Menschen dem Kohlebergbau weichen müssen, dass Tausende Hektar Wald und der Lebensraum des indischen Tigers zerstört werden. In diesem Kampf werden wir von der Bevölkerung vor Ort unterstützt. In Indien wird gegenwärtig auch ein neues riesiges Kernkraftwerk gebaut. Welche Haltung hat Greenpeace dazu? Es gibt eine sehr starke lokale Anti-Atom-Bewegung, die wir unterstützen. Wir glauben nicht, dass Nuklearenergie die richtige Alternative für Indien ist. Ein Reaktorunglück wie in Fukushima wäre bei unserer Bevölkerungsdichte ein Desaster. Der Energiehunger des Landes ließe sich besser mit dezentralisierten kleinen Anlagen stillen, die erneuerbare Energiequellen nutzen.
»Die Regierung will Wirtschaftswachstum um jeden Preis.« 23
Start-up der Menschenrechte In der südindischen Metropole Bangalore befindet sich seit 2012 ein Büro von Amnesty. Dort kämpfen die Aktivisten nicht nur gegen schwere Menschenrechtsverletzungen wie Folter und Todesstrafe, sondern auch gegen Verleumdungskampagnen der indischen Regierung. Von Andrzej Rybak (Text) und Oliver Wolff (Fotos)
Menschen vor Ort erreichen. Amnesty-Büro in Indiens IT-Hauptstadt Bangalore.
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»Verantwortung übernehmen.« Rajesh Bhattacharjee (links).
»Aktivisten leben gefährlich.« Aruna Chandrasekhar.
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Bis Ende 2017 will sich die indische Amnesty-Sektion allein aus inländischen Spenden finanzieren, dafür sind 30.000 reguläre Spender nötig. Bis dahin ist die NGO auf ihre »for profit«Arbeit angewiesen: »Wir übernehmen verschiedene Auftragsarbeiten und bekommen dafür Honorar, das wir zu versteuern haben«, sagt Bhattacharjee. »Derzeit decken wir damit gut 60 bis 65 Prozent unseres Finanzbedarfs.« Das indische AmnestyBudget betrug im vergangenen Jahr rund 150 Millionen Rupien, davon waren 50 Millionen Rupien (etwa 650.000 Euro) Spenden. Zwei Drittel der Spender sind jünger als 30 Jahre und arbeiten im IT- und Finanzsektor. Unter den Gelegenheitsspendern sind viele Studierende, aber auch Hausfrauen und RikschaFahrer. Die 90 Spendensammler sprechen Menschen auf der Straße an und informieren sie über die verschiedenen Amnesty-Kampagnen. »Wir suchen nach Leuten, die sich mit unseren Aktivitäten identifizieren und bereit sind, Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen«, sagt Bhattacharjee. Der Finanzierungsbedarf wird sich in diesem Jahr erhöhen, denn Amnesty will zusätzliche Büros in Hyderabad, Mumbai und Delhi eröffnen. Wohltätigkeit hat in Indien keine lange Tradition und wird von der Regierung nicht besonders gefördert. »Die Gesetze begünstigen indische Spender nicht genug«, sagt Geschäftsführer Patel. »Nur die Hälfte der gespendeten Summe kann von der Steuer abgesetzt werden.« Zu den Sponsoren von Amnesty in Indien gehört die Azim-Premji-Stiftung, die Amnestys Menschenrechtsbildung finanziell fördert. Außerdem wird Amnesty von sieben weiteren indischen Stiftungen unterstützt. »Wir garantieren den Spendern Anonymität, denn manche möchten nicht genannt werden«, sagt Patel. »Manche befürchten politische und wirtschaftliche Nachteile, wenn bekannt wird, dass sie uns unterstützen.« Die Angst kommt nicht von ungefähr: Sie wird durch Verleumdungskampagnen der Regierung gegen die Zivilgesellschaft geschürt. Menschenrechts- und Umweltorganisationen werden beschuldigt, nationale Interessen zu verraten, das Wirtschaftswachstum zu bremsen und die nationale Sicherheit zu
s ist früh, kurz vor 9 Uhr, als die kleine Villa in Indira Nagar zum Leben erwacht. Alle paar Minuten treffen junge Leute auf Motorrädern oder Mopeds ein, die sie vor dem Tor in einer Reihe parken. Dann laufen sie durch den kleinen Vorgarten zum Eingang, über dem ein berühmtes Logo hängt: Eine Kerze umwickelt von Stacheldraht. Seit Sommer 2012 ist die indische Niederlassung von Amnesty in dem beliebten Stadtteil von Bangalore zu Hause. Die Eröffnung eines Büros in Indien ist Teil einer neuen Strategie von Amnesty International, um enger mit lokalen Menschenrechtsgruppen zu arbeiten und so mehr Menschen vor Ort zu erreichen. Die Entscheidung für Bangalore als Hautquartier wurde bewusst getroffen: Indiens IT-Hauptstadt hat eine junge, gut ausgebildete und kosmopolitische Bevölkerung, die die Werte von Amnesty teilt. »Diese Leute wollen in einem Land leben, in dem die Würde des Menschen und seine Rechte etwas zählen«, sagt Aakar Patel, der Geschäftsführer von Amnesty International in Indien. »Mehr Rechtsstaatlichkeit bedeutet für sie mehr Lebensqualität.« Der Journalist und Schriftsteller Patel schloss sich im Juni 2015 Amnesty an. Die Menschenrechtsorganisation hat in Indien inzwischen 160 Mitarbeiter, davon etwa 120 in Bangalore. »Amnesty wächst schnell«, sagt der Geschäftsführer. »Unsere Villa platzt schon jetzt aus allen Nähten.« Eine schmale, steile Treppe führt zum winzigen Empfang im ersten Stock, der sich direkt im Treppenhaus befindet. Links davon liegt ein kleiner Konferenz- und Schulungsraum, der etwa 30 Personen Platz bietet. Die kleinen Büros der Mitarbeiter sind durch dünne Wände getrennt. Im zweiten Stock arbeiten etwa zwei Dutzend junge Frauen und Männer in einem Großraum an Computern. Ende 2016 will Patel in ein größeres Gebäude umziehen. Rajesh Bhattacharjee schloss sich dem Amnesty-Team bereits 2012 an und gehört zur alten Garde. Der 44-Jährige stammt aus Assam und arbeitet als Fundraiser. »Wir haben im Dezember 2012 begonnen, Spenden zu sammeln«, sagt Bhattacharjee. »Inzwischen haben wir rund 4.500 reguläre Spender und etwa 85.000 Gelegenheitsspender.« Die Jahresmitgliedschaft kostet 3.000 Rupien, umgerechnet etwa 40 Euro.
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Rechte sollen etwas zählen. Amnesty-Mitarbeiter in Bangalore.
unterminieren. Die Attacken begannen bereits unter der Regierung von Premierminister Manmohan Singh von der KongressPartei und haben sich seit dem Amtsantritt von Premierminister Narendra Modi im Mai 2014 noch weiter verschärft. Inzwischen warnen unter anderem die berühmte Schriftstellerin Arundhati Roy und der Bollywood-Star Aamir Khan vor einer wachsenden Intoleranz in Indien – und werden dafür von den regierenden Hindu-Nationalisten heftig beschimpft. »Als Amnesty nehmen wir keine politische Position ein und halten uns an die Gesetze«, sagt Patel. »Aber wenn uns die Regierung etwas anlasten will, kann sie immer etwas finden.« Die Menschenrechtler sind unbequem. Sie decken Missstände in Gefängnissen auf, in denen viele Häftlinge jahrelang auf ihre Gerichtsverhandlung warten. Sie dokumentieren Fälle von Folter und kämpfen gegen die Todesstrafe, die in der Gesellschaft umstritten ist. Sie prangern Menschenrechtsverstöße in Kaschmir im Norden oder im östlichen Bundesstaat Odisha an, wo das Militär seit Jahren ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung gegen Rebellen kämpft. Sie setzen sich für Dorfbewohner ein, die ihr Land an Bergbaukonzerne zu verlieren drohen, stehen Menschenrechtsverteidigern bei, kämpfen gegen Kastendiskriminierung und Gewalt gegen Frauen. Die Regierung reagierte zuletzt ganz besonders empfindlich auf alle Versuche, ihre Pläne zum Ausbau der Kohle- und BauxitFörderung zu stoppen. Sie versuchte, Greenpeace in Indien die Zulassung zu entziehen, weil die Umweltschützer immer neue Umweltskandale in der Kohleregion aufdeckten. »Die Lage in den Bundesstaaten Madhya Pradesh, Jharkhand und Chhattis-
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garh, wo es die meisten Bergbauprojekte gibt, ist katastrophal«, sagt Aruna Chandrasekhar. Die 28-jährige Projektmanagerin des indischen Amnesty-Büros ist seit Jahren im Land unterwegs. Sie arbeitete zuvor als Journalistin in Mumbai und berichtete über Menschenrechtsverletzungen, Zwangsenteignungen und Umsiedlungen, die Zerstörung des Waldes, die Verschmutzung der Flüsse und Seen. Als sie merkte, dass kaum eine Zeitung ihre Berichte drucken wollte, wechselte sie zu Amnesty, um aktiv gegen die Missstände vorzugehen. Nach alten Gesetzen, wie dem »Coal Bearing Area Act« von 1957, dürfen staatliche indische Konzerne Land enteignen, wenn sie ein Bergwerk bauen wollen. Selbst Stammesvölker, deren Landtitel gesetzlich garantiert sind, werden oft Opfer der Konzerne, allen voran des staatlichen Unternehmens »Coal India Limited«, das für rund zwei Drittel der gesamten indischen Kohleförderung verantwortlich ist. Der Konzern muss nicht einmal Umweltverträglichkeitsprüfungen vorlegen und holzt ganze Wälder ab, die seinen Vorhaben im Weg stehen. »Die Aktivisten, die sich vor Ort für die Belange der Bevölkerung einsetzen, leben gefährlich«, sagt Chandrasekhar. »Viele wurden bereits bedroht oder gar tätlich angegriffen.« Die indische Amnesty-Sektion setzt sich für die Menschenrechtsverteidiger ein und sorgt für Rechtsbeistand, wenn sie ohne Grund festgenommen und inhaftiert werden. Die Organisation versucht außerdem, die internationale Aufmerksamkeit stärker auf die Menschenrechtsverstöße der Konzerne zu lenken. Seit der Unabhängigkeit 1947 mussten in Indien 60 Millionen Menschen »Entwicklungsprojekten« weichen. »Das ist ein verdammt hoher Preis«, sagt Chandrasekhar. Die Regierung lässt die Konzerne gewähren, denn sie sollen das Wirtschaftswachstum vorantreiben. Wer daran Kritik übt, wird als Feind und Verräter nationaler Interessen abgestempelt. Gegen diesen Vorwurf versucht sich Amnesty International mit Publikationen zu wehren, die im ganzen Land verteilt werden. Trotz aller Attacken gibt es einen Bereich, in dem die Menschenrechtler Unterstützung von politischer Seite bekommen, nämlich Bildung. Amnesty arbeitet in Indien mit 17 lokalen Organisationen zusammen, die in 100 privaten und öffentlichen Schulen Menschenrechtsunterricht anbieten. »Alle in Indien finden Menschenrechtsunterricht gut und wichtig«, sagt Tara Rao, die für die Bildungsprogramme von Amnesty in Indien verantwortlich ist. »Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit und Gleichstellung sind Werte, zu denen niemand Nein sagen kann. Die indische Verfassung wurde an vielen Stellen von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte inspiriert.« Rao wuchs in Delhi auf und arbeitete als Architektin in Gujarat, bevor sie sich der Sozialarbeit widmete. Jetzt sucht die 51-Jährige nach Wegen, wie noch deutlich mehr Schulen für Menschenrechtsbildung gewonnen werden können. »Sonst können wir ein Land mit 1,2 Milliarden Menschen nicht verändern.«
»Wenn uns die indische Regierung etwas anlasten will, kann sie immer etwas finden.« Amnesty joUrnAl | 04-05/2016
»Der Druck wächst« Ein Gespräch mit Aakar Patel, dem Geschäftsführer von Amnesty International in Bangalore, über die Situation der Zivilgesellschaft in Indien. Interview: Andrzej Rybak
schlimm ist das Vorgehen des Staatskonzerns »Coal India Limited«, der etwa zwei Drittel der indischen Kohleförderung kontrolliert. Wir gehen gegen Enteignungen und Umsiedlungen vor und versuchen den Menschenrechtsverteidigern juristisch zu helfen.
In Indien gibt es eine lange Tradition von friedlichen Straßenprotesten und Bürgerbewegungen. Wie ist die Menschenrechtslage heute? Generell ist die Entwicklung positiv. Die Menschen sind besser informiert, nicht zuletzt dank der sozialen Medien. Die Zivilgesellschaft ist stärker und besser organisiert, sie findet Wege, um Menschenrechtsverstöße publik zu machen. Es wird immer schwerer, ein Verbrechen geheim zu halten.
Kann Amnesty in Indien ungehindert arbeiten? Die Lage der Zivilgesellschaft in Indien ist schwierig. Die Regierung geht gegen NGOs vor und schränkt deren Freiräume ein. Man wirft uns vor, den Fortschritt zu behindern. Auch Amnesty steht unter Generalverdacht. Wir versuchen, uns komplett aus indischen Spenden zu finanzieren. Das ist schwer, wir haben vor drei Jahren eine Niederlassung in Indien eröffnet und müssen das Spendernetzwerk erst aufbauen. Die institutionellen Spender unterstützen uns gern, wenn es um Menschenrechtsbildung geht. Sie wollen aber nichts mit uns zu tun haben, wenn wir gegen die Umsiedlung von Dörfern in Bergbaugebieten protestieren oder die Menschenrechtsverstöße der Armee in Kaschmir anprangern.
Dennoch passieren immer wieder schreckliche Dinge. Jede Minute wird in Indien eine Frau vergewaltigt. Wir müssen die Gewalt gegen Frauen mit aller Macht bekämpfen. Es ist untragbar, dass 99 Prozent aller Vergewaltigungen in Indien nicht einmal angezeigt werden. Die Frauen schweigen, weil sie die Ehre der Familie nicht beschädigen wollen. Oder sie schweigen, weil sie sich vor Demütigungen durch die untersuchenden Polizeibeamten fürchten. Die Vergewaltiger kommen ungeschoren davon. Wir haben deswegen zusammen mit der Polizei in Bangalore die Aktion »Ready to report« gestartet. Wir wollen Frauen damit ermutigen, die Täter anzuzeigen.
Hat sich die Lage seit dem Amtsantritt von Premierminister Narendra Modi verschlechtert? Der Druck wächst. Die Regierung verweigert Amnesty-Kollegen aus dem Ausland regelmäßig Arbeitsvisa. Auch werden uns Steine in den Weg gelegt, wenn wir offizielle Informationen einholen wollen. Das ist aber nichts im Vergleich zu den Verleumdungskampagnen, die Regierungspolitiker gegen andere Bürgerrechtler betreiben, zum Beispiel gegen die Aktivistin Teesta Setalvad. Sie macht Narendra Modi für Massaker an Muslimen im Jahr 2002 verantwortlich, als Modi Regierungschef des Bundesstaats Gujarat war. Die Regierung will Teesta Setalvad ins Gefängnis werfen.
Sie sind ein bekannter Journalist und Schriftsteller. Wie kamen Sie zu Amnesty International? Als Journalist habe ich mich häufig mit sozialer Ungleichheit, Diskriminierung und religiöser Gewalt beschäftigt. Ich habe die Ausschreitungen zwischen Muslimen und Hindus in Mumbai 1992 erlebt. Über die Ausschreitungen 2002 im Bundesstaat Gujarat, bei denen etwa 1.000 Muslime getötet wurden, habe ich ein Buch mitverfasst. Solche Ereignisse prägen einen fürs Leben.
Sie sind auch in Bergbaugebieten aktiv, in denen Behörden und Konzerne gegen Menschenrechte verstoßen. Wie ist dort die Lage? In Zentralindien werden ganze Dörfer zwangsumgesiedelt, wenn sie dem Kohlebergbau im Weg stehen. Die Leute verlieren ihre Heimat und ihre Lebensgrundlage. Wer sich für ihre Rechte einsetzt, wird zur Zielscheibe der Regierung, die im Namen des Wachstums keine Proteste duldet, und der Konzerne, die sich gute Geschäfte nicht entgehen lassen wollen. Ganz besonders
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Foto: Oliver Wolff
Was sind die Schwerpunkte Ihrer Arbeit bei Amnesty? Wir arbeiten viel in Gefängnissen, vor allem mit Häftlingen, die ohne Gerichtsverfahren inhaftiert sind. Das sind rund zwei Drittel aller indischen Häftlinge, denn unsere Gerichte sind völlig überlastet und arbeiten langsam. Manchmal warten Häftlinge jahrelang auf die Verhandlung, länger als das maximale Strafmaß für ihre Taten. Es ist uns gelungen, viele solcher Häftlinge freizubekommen. Außerdem kämpfen wir gegen die Todesstrafe, die gelegentlich noch verhängt wird.
»Wir stehen unter Generalverdacht.« Aakar Patel.
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Gefährliche Provinz
Fotos: Brian Sokol / Redux / laif (links), Sanjit Das (rechts)
Indigene und ihre Landrechte werden nicht respektiert, wenn sie Wirtschaftsprojekten der indischen Regierung im Weg stehen. Insbesondere im Bundesstaat Chhattisgarh folgt auf Protest Repression und Gewalt. Von Lisa Grund
Rohstoffreichtum als Fluch. Tagelöhnerinnen in einer Kohlemine in Kirandul, Chhattisgarh.
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m 2. Oktober 2015 marschieren sie los: Rund 5.000 Männer und Frauen, auch einige Kinder sind darunter. Die Männer in Hemden und Hosen oder Dhotis, einer Art Wickelrock. Die Frauen in Saris, das eine Stoffende über den Kopf gezogen. Manche gehen barfuß, andere tragen Flipflops oder Schuhe. Es ist Mahatma Gandhis Geburtstag, das bedeutet Feiertag in ganz Indien. Sie marschieren, nutzen Gandhis Methoden. Gandhi war 1930 zum großen Salzmarsch aufgebrochen. Als er an der Westküste Indiens ankam, las er ein paar Salzkörner auf und aß sie. Damit kämpfte er gegen das Salzmonopol der britischen Kolonialmacht – friedlich, wie es seine Philosophie besagte. Im heutigen Indien geht es nicht mehr um Salz, sondern meist um Kohle. Die 5.000 Männer und Frauen gehören fast alle zu den Adivasis, den indigenen Völkern Indiens, und leben im zentralindischen Bundesstaat Chhattisgarh. Dort sollen mehr als 16 Prozent des indischen Kohlevorkommens lagern – für die Menschen vor Ort ist es ein Fluch. Die Männer und Frauen marschieren für ihre
Rechte an dem Land und seinen Rohstoffen; symbolisch werden sie am Ende ihres Protests kleine Mengen Kohle schürfen. Etwa hundert Millionen Adivasis zählt Indien, das sind mehr als acht Prozent der Bevölkerung. In den Regionen, in denen sie leben, finden sich teils wichtige Rohstoffvorkommen: Kohle, aber auch Bauxit oder Eisenerz. Besonders Kohle ist von Bedeutung, darauf basieren in Indien 60 Prozent der Stromerzeugung. Infolge der Förderung verlieren Adivasis ihr Land und ihre Rechte daran, obwohl ihnen die indische Verfassung einen besonderen Schutz zusichert. Tatsächlich leben Indigene, die für ihre Rechte kämpfen, gefährlich. Am 20. Februar 2016 wurde die bekannte Adivasi-Aktivistin Soni Sori in Chhattisgarh überfallen. Sie war mit dem Motorrad unterwegs, als drei Männer sie gewaltsam stoppen. Sie schmierten ihr eine schwarze, ätzende Masse ins Gesicht. Soni Sori kam später mit schweren Verbrennungen und Schmerzen ins Krankenhaus. »Dass die Rechte der Adivasis verleugnet oder verletzt wer-
Ziviler Ungehorsam. In Lanjigarh haben Dorfbewohner eine Schranke errichtet, um Rohstoffunternehmen den Zutritt zu verweigern.
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Polizeikräfte und Paramilitärs schüchtern die Bevölkerung nicht nur ein, sondern helfen auch, Proteste im Keim zu ersticken. den, ist das Ergebnis asymmetrischer Macht«, sagt C.R. Bijoy. Der Menschenrechtsaktivist setzt sich seit Jahren für die indigenen Völker ein. Laut Gesetz müssen die Dorfversammlungen der Adivasis neuen Kohleminen des Staats oder privater Unternehmen zustimmen; sie müssen vorab informiert und konsultiert werden. Doch immer wieder werden Adivasis kurzerhand von ihrem Land vertrieben und verlieren damit ihre Existenz. Bijoy spricht von einer Militarisierung der Abbaugebiete durch teils massiven Einsatz von Polizeikräften und Paramilitärs. Sie schüchtern die Bevölkerung nicht nur ein, sondern helfen, Proteste im Keim zu ersticken. Die Dokumentarfilmerin Savita Rath, die öffentliche Anhörungen gefilmt hatte, wurde mehrfach bedroht, dem Umweltschützer Ramesh Agrawal wurde 2012 in die Beine geschossen. Lokale Proteste und Bewegungen gegen Wirtschafts- und Entwicklungsprojekte stoßen Indiens Regierung übel auf – nicht erst seit Premierminister Narendra Modi und seine hindu-nationalistische BJP (Bharatiya Janata Party) an der Macht sind. 2014 hatte Modi die Parlamentswahl gewonnen. Im Wahlkampf hatte er versprochen, die Wirtschaft anzukurbeln und für Arbeit zu sorgen. Mit dem Slogan »Make in India« warb er im Ausland um Investitionen. Indiens Bevölkerung ist extrem jung, jedes Jahr drängen Millionen Menschen auf den Arbeitsmarkt – sie wollen gute Jobs. Modi möchte durchregieren: Industrialisierungs- und Entwicklungsprojekte sollen rasch und problemlos umgesetzt werden und dazu bedarf es nicht zuletzt der Rohstoffe aus den ländlichen Gebieten. Nichtregierungsorganisationen, Aktivisten und lokale Protestgruppen, die ein sozial gerechtes und ökologisch nachhaltiges Wirtschaftswachstum fordern, stören. Im Juni 2014, kurz nach Modis Amtsantritt, gelangte ein Bericht des Inlandsgeheimdienstes an die Öffentlichkeit, der die vermeintlichen volkswirtschaftlichen Einbußen durch zivilgesellschaftliches Engagement bezifferte. Zwei bis drei Prozent seines Wirtschaftswachstums würde das Land jährlich einbüßen, weil Umweltund Menschenrechtsgruppen große Investitionsprojekte verhinderten. Seither verstärkt die Regierung den politischen Druck: Kritiker werden als anti-nationale Kräfte verunglimpft, die sich gegen die öffentlichen Interessen stellen. Ein anderer Hebel, um die Gegenöffentlichkeit mundtot zu machen, sind drakonische Sicherheitsgesetze wie der »Unlawful Activities Prevention Act« aus dem Jahr 1967. Mithilfe der Gesetze werden Protestierende und Menschenrechtsverteidiger kriminalisiert und in die Nähe von Terroristen gerückt. Vor einigen Jahren erregte der Fall des Arztes Binayak Sen in den Adivasi-Ge-
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bieten Chhattisgarhs weltweit Aufsehen. Ihm wurden Verbindungen zur maoistischen Guerilla vorgeworfen, sodass er schließlich wegen Kriegsführung gegen den Staat angeklagt wurde. Auch Journalisten werden auf diese Art zum Schweigen gebracht. Somaru Nag und Santosh Yadav, die ebenfalls in Chhattisgarh über Umweltverschmutzung und Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei berichtet hatten, wurden festgenommen und wegen Verschwörung und versuchten Mordes angeklagt. Selbst dort, wo keine Guerilla operiert, werden Protestierende zu Staatsfeinden gemacht. So etwa die Gegner eines Atomkraftwerks in Kudankulam an der Küste von Tamil Nadu. Mehr als fünfzig Personen, die friedlich protestiert hatten, wurden wegen Aufruhrs und Kriegsführung gegen den Staat verklagt. Jedes Mittel scheint recht zu sein, um die Zivilgesellschaft zu bekämpfen. Die Regierung überzieht Organisationen mit Verleumdungen und Vorwürfen anti-nationaler Umtriebe und schreckt damit nicht zuletzt auch Spender aus dem eigenen Land ab. Das ist fatal, zumal viele Organisationen sich auch ihrer aus dem Ausland erhaltenen Gelder nicht sicher sein können, seit das sogenannte Gesetz zur Finanzierung aus dem Ausland die NGOs unter Druck setzt. Ausgehend von jenem vage formulierten Gesetz verlieren NGOs, die vermeintlich dem »öffentlichen Interesse« des Staates oder »wirtschaftlichen Interessen« schaden, die staatliche Registrierung, die notwendig ist, um aus dem Ausland Geld zu erhalten. Der finanzielle Aspekt ist jedoch nicht alles. Der Hinweis auf ausländische Gelder lässt die Arbeit der Organisationen auch als ausländische Einmischung in indische Angelegenheiten erscheinen – ein Argument, das in Indien selbst 70 Jahre nach dem Ende der Kolonialherrschaft immer noch große Aversionen schüren kann. Bei Investitionen scheint die ausländische Herkunft des Geldes allerdings weniger zu stören. Gegen die Schikanen und Verunglimpfungen seitens der Regierung wehrten sich im Mai 2015 rund 200 Gruppen und Aktivisten der indischen Zivilgesellschaft. In einem offenen Brief an Premierminister Modi beklagten sie ein Klima der Einschüchterung und wachsenden politischen Druck. Kritik und Protest seien nicht per se anti-national, sondern das Recht und die Pflicht von Akteuren der Zivilgesellschaft. Poonam Muttreja hat diesen Brief mit entworfen und unterzeichnet. Sie leitet die renommierte »Population Foundation India«, die zu Fragen der Bevölkerungsentwicklung und -politik arbeitet. Muttreja erinnert sich an den Mai 2015: Fast 500 Aktivisten und Gruppen waren zusammengekommen, doch viele wollten den Brief nicht unterzeichnen – aus Angst. Denn Tausende Organisationen warten derzeit darauf, dass ihre Registrierung erneuert wird. Das geschieht alle fünf Jahre. Nachdem das Gesetz zur Finanzierung aus dem Ausland 2010 in Kraft trat, steht diese Neu-Registrierung nun erstmals für viele Organisationen an. »Zurzeit sind viele Nichtregierungsorganisationen besorgt«, sagt Muttreja. »Aber es ist wichtig, das Wort zu ergreifen.« Die Regierung nehme die Organisationen als sehr negativ wahr. Doch diese Diagnose sei falsch, man arbeite nicht gegen die Regierung. Muttreja will vielmehr einen Dialog mit der Regierung. »Letztlich müssen Regierung und Nichtregierungsorganisationen zusammenarbeiten und gegenseitiges Vertrauen sowie Respekt aufbauen.« Die Autorin ist freie Journalistin und lebt in Berlin.
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Foto: Prashanth Vishwanathan / Bloomberg via Getty Images
Tatort Bishara. Hier wurde Mohammed Akhlaq im September 2015 zu Tode geprügelt. Sein Vergehen: Er soll Rindfleisch gegessen haben.
Ideologie der Intoleranz Indien kämpft um seine Freiheiten. Im Westen wird Premierminister Narendra Modi hofiert, doch zu Hause hetzen Hindu-Nationalisten gegen Regierungskritiker und religiöse Minderheiten. Indiens lebendige Debattenkultur ist in Gefahr. Von Sonja Ernst
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ie tödlichen Schüsse fielen in der Nähe eines HinduTempels: Im August 2013 wurde der Aktivist Narendra Dabholkar in Pune auf offener Straße getötet. Es war der Auftakt einer Mordserie an religionskritischen Intellektuellen. Im Februar 2015 erschossen in Mumbai zwei Männer den kommunistischen Politiker Govind Pansare während seines Morgenspaziergangs. Ein halbes Jahr später traf es den prominenten Wissenschaftler M. M. Kalburgi. Sein Mord glich einer Exekution: Die Attentäter suchten den 77-Jährigen in seinem Haus in Dharwad auf und drückten ab – aus nächster Nähe.
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Kalburgi hatte immer wieder gegen religiösen Fanatismus und blinden Aberglauben angeschrieben – und immer wieder hatten ihn militante Hindu-Nationalisten deswegen bedroht. Indien ist eine säkulare, multikulturelle Demokratie. Doch seit dem Amtsantritt von Narendra Modi vor zwei Jahren wird eine Ideologie der Intoleranz immer einflussreicher: Religiöse Nationalisten wollen das Land in einen Hindu-Staat verwandeln – auch mit Gewalt. Die Regierung lässt sie oft gewähren. Die Hindutva-Ideologie, nach der Indien das Land der Hindus ist, macht Anhänger anderer Religionen zu Fremden und
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Foto: Adnan Abidi / Reuters (links), Tsering Topgyal / AP / pa (rechts)
Ausländern, zu Bürgern zweiter Klasse. Die zunehmende Ausbreitung dieser Ideologie führt bei Angehörigen religiöser Minderheiten zu Furcht und Schrecken, denn in der Vergangenheit hat sich allzu oft gezeigt, wie gewaltträchtig der offen propagierte Dominanzanspruch der »Mehrheitsreligion« gegenüber anderen ist. Die jüngere indische Geschichte ist von schweren religiös motivierten Auseinandersetzungen durchzogen. Erinnert sei nur an die Gewalt gegen Sikhs nach der Ermordung Indira Gandhis in Delhi (1984), an die Gewalt gegen Christen im Bundesstaat Odisha, denen der Mord an einem Hindu-Hassprediger in die Schuhe geschoben wurde (2008) oder an die Gewalt gegen Muslime, die im Bundesstaat Gujarat ausbrach, nachdem ein Eisenbahnwaggon mit Hindu-Pilgern in Brand gesetzt worden war (2002). Bei den anschließenden Pogromen wurden mehr als 1.000 Männer, Frauen und Kinder getötet. Modi war damals Ministerpräsident des Bundesstaates. Seine politischen Gegner machen ihn für die Gewalt mitverantwortlich, doch juristisch geklärt wurde seine Rolle nie. Dass religiös motivierte Gewalt gerichtlich nicht hinreichend aufgearbeitet wird und viele Täter ungestraft davonkommen, trägt zu den anhaltenden Spannungen zwischen den Religionsgemeinschaften bei. Selbst nichtige Anlässe, wie etwa der Verzehr von Rindfleisch, können dazu führen, dass Streit aufflammt – das Rind ist im Hinduismus ein heiliges Tier. Im September 2015 prügelten in einem Dorf in der Nähe von Neu-Delhi 100 Menschen einen 50-jährigen Muslim zu Tode, weil er Rindfleisch gegessen haben soll. Oft genug wird Streit sogar gezielt geschürt, etwa zur Mobilisierung in Wahlkämpfen. Premierminister Modi äußert sich so gut wie nie zu religiösem Hass und Rassismus, der auch von
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führenden Politikern seiner Partei und ihr nahestehenden Organisationen ausgeht. Und wenn er sich äußert, geschieht dies meistens zu spät. Schriftsteller, Künstler, Wissenschaftler und auch Schauspieler beklagen wachsende Intoleranz und erinnern an die vielen Angriffe auf Andersdenkende in den vergangenen Jahren: Verleger wurden unter Druck gesetzt, Bücher aus dem Verkehr zu ziehen, Universitäten und Colleges mussten Lehrpläne ändern und bestimmte Texte aus den Literaturlisten streichen. Im Oktober 2015 traten 53 Historiker mit einer Erklärung an die Öffentlichkeit, in der sie eine »bedrohliche Stimmung« im Land beklagen und die offene Gewalt gegen einzelne Forscher anprangern: »Man versucht, Meinungsverschiedenheiten durch physische Gewalt beizulegen.« Die Regierung, so der Verdacht, wolle offenbar die bisherige Deutungsvielfalt in Wissenschaft und Lehre durch eine Art »gesetzlich vorgeschriebene Geschichtsschreibung« nach politischen Maßgaben ersetzen. Doch die Regierung unter Premierminister Narendra Modi und seine hindu-nationalistische BJP (Bharatiya Janata Party) wollen keine demokratische Debatte: Alle Kritik wird als Konspiration, als anti-national oder als Aufwiegelung stigmatisiert. »Warum gibt sich die BJP, die mit solch einer Mehrheit angetreten ist, derart unsicher, dass sie jeden Dissens und jede Meinungsverschiedenheit als anti-national betrachtet?«, fragt der Schriftsteller Kiran Nagarkar. Der 74-Jährige formuliert präzise und ruhig. In seiner Heimat zählt er zu den wichtigsten Autoren, die sich dem post-kolonialen Indien widmen, und in Deutschland zu den prominentesten Autoren Indiens. Man hört ihm die Sorgen an, die in derzeit umtreiben. »Es geht nicht um einzelne Vorfälle seitens der Regierung. Es geht um die Anhäufung einer endlosen Serie an Vorfällen, die absolut gegen den Geist der De-
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Gespaltene Gesellschaft. Vor der Jawaharlal-Nehru-Universität in Delhi protestieren junge Aktivistinnen gegen »anti-nationale Propaganda« (links). Liberale Studierende halten dagegen (rechts).
mokratie verstoßen. Das ist nicht nur gefährlich, es ist beängstigend.« Einer dieser Vorfälle spielte sich im Februar 2016 in der Hauptstadt Neu-Delhi ab. Auf dem Campus der für links-orientierten Aktivismus bekannten Jawaharlal-Nehru-Universität sollen Studierende bei einer Demonstration anti-nationale Parolen gerufen haben. Zwar war zunächst unklar, wer was gesagt hatte, doch die Regierung stürzte sich auf die vermeintlichen Parolen und blies zum Angriff. Minister redeten und twitterten sich in Rage über liberale Studierende. Der Studentenführer Kanhaiya Kumar landete wegen Aufwiegelung im Gefängnis. Bei seiner Anhörung vor Gericht prügelten BJP-nahe Anwälte auf ihn, Studierende und Journalisten ein. Die Männer in Roben führten sich auf wie Hooligans, doch die Polizei schaute zu. Die nationalistischen Kräfte fühlen sich seit dem Wahlsieg Narendra Modis im Mai 2014 ermuntert. 32 Prozent der Wähler hatten für die BJP gestimmt: Aufgrund des Mehrheitswahlrechts bedeutete dies die absolute Mehrheit. Im Wahlkampf hatte sich Modi als Macher inszeniert und versprochen, die Wirtschaft anzukurbeln, Arbeitsplätze zu schaffen und die Korruption zu beenden. Die Wähler hörten das gern, auch weil sie die alte Regierung unter Führung der Kongress-Partei satt hatten. Zum Wahlerfolg hatten auch die vielen Helfer des RSS (Rashtriya Swayamsevak Sangh) beigetragen. Dieses radikal-hinduistische Freiwilligenkorps warb für Modi, der selbst ein politisches Kind des mächtigen RSS ist. Heute lässt Modi die Mitglieder des RSS gewähren und schweigt, wenn sie Schriftsteller bedrohen oder Stimmung machen gegen Muslime, Christen und alle, die kein hindu-nationalistisches Indien ohne Pluralismus und ohne religiöse Vielfalt wollen. Der ermordete Wissenschaftler M. M. Kalburgi hatte diese
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Kräfte stets kritisiert. Er war 2006 von der renommierten indischen Literaturakademie Sahitya Akademi für sein Werk ausgezeichnet worden. Nach seinem Tod schwieg die Institutsleitung jedoch. Dafür reagierten seine Kollegen mit einem Zeichen des Protests: Rund 40 Schriftsteller gaben in den folgenden Wochen ihre staatlichen Auszeichnungen zurück. Autoren aus verschiedenen Regionen Indiens, die in unterschiedlichen Sprachen schreiben, solidarisierten sich. Denn wie konnte es sein, dass die wichtigste literarische Vereinigung schwieg? Auch Modi schwieg. Dafür sprachen andere aus der Regierung. Kulturminister Mahesh Sharma sagte in einem Interview: »Wenn die Schriftsteller sagen, sie seien nicht in der Lage zu schreiben, lasst sie aufhören mit dem Schreiben«. Finanzminister Arun Jaitley drehte den Spieß um und warf den Autoren »ideologische Intoleranz« vor. Die Regierung treibt die Polarisierung der indischen Gesellschaft voran. Wer nicht für sie ist, ist gegen sie und damit antinational. Dieses Muster findet sich in allen Bereichen – in Religion und Kultur, Forschung und Lehre, selbst in der Wirtschaftspolitik. Dabei hat Indien eine lebendige Debattenkultur. Der Intellektuelle Pratap Bhanu Mehta erinnerte jüngst zu Recht daran, dass selbst anti-nationale Töne kein Verbrechen sind. Premierminister Modi versucht derweil, seine Wahlversprechen wahr zu machen. Er reist um die Welt und wirbt für Investitionen. Initiativen wie »Make in India«, »Start-up India« oder »Smart Cities« sollen Indien nach vorn bringen. Schöne Slogans oder Wandel? Das ist noch offen. Doch es zeigt sich bereits, dass Indiens Wirtschaftswachstum wenig für die Millionen von Armen abwerfen und auf Kosten der Umwelt gehen wird. Bei den Wählern stellt sich Ernüchterung ein. Bei den Wahlen in der Hauptstadt Neu-Delhi im Februar 2015 kassierte die BJP eine Schlappe. Auch die Wahlen in Bihar, einem der ärmsten Bundesstaaten mit 60 Millionen Wählern, gingen im November verloren – obwohl Narendra Modi dort persönlich Wahlkampf betrieben hatte. Heißt das, dass sich die Mehrheit der Wähler von Modi und seiner Politik verabschiedet hat? Kiran Nagarkar glaubt das nicht. »Es gibt viele Inder, die desillusioniert sind. Aber ich würde die RSS-Welle nicht unterschätzen. Modi ist ein ausgezeichneter Demagoge. Viele Menschen lieben seine Reden und seine Doppelzüngigkeit.« Die Autorin ist freie Journalistin und lebt in Köln.
Religiöse Nationalisten kämpfen für einen Hindu-Staat – auch mit Gewalt. Die Regierung lässt sie oft gewähren. 33
»Der Kampf muss weitergehen« Für Menschenrechtsaktivisten wird die Lage in Indien immer schwieriger. Doch einschüchtern lassen wollen sie sich nicht. Von Stefan Wirner
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er ungebetene Besuch sollte lange bleiben: Im Juli 2015 durchsuchten 16 Beamte der indischen Polizeibehörde 22 Stunden lang das Haus von Teesta Setalvad und Javed Anand in Mumbai. Dabei beschlagnahmten sie rund 700 Seiten an Dokumenten. Die Behörde wirft dem Ehepaar unter anderem die nicht genehmigte Annahme von Spenden aus dem Ausland und Veruntreuung von Spendengeldern vor. Vieles spricht jedoch dafür, dass es sich dabei um einen Vorwand handelt, um die bekannteste indische Menschenrechtlerin zum Schweigen zu bringen. Die 54-jährige Journalistin stammt aus einer renommierten Juristenfamilie. Setalvads Vater ist Rechtsanwalt in Mumbai, ihr Großvater, M.C. Setalvad, war der erste Generalstaatsanwalt Indiens. Vielleicht rührt daher ihr ausgeprägter Sinn für Gerechtigkeit. Setalvad ist Gründerin der Organisation »Citizens for Justice and Peace« (CJP), die eine strafrechtliche Verfolgung derjenigen fordert, die für ein Massaker im Bundesstaat Gujarat im Jahr 2002 verantwortlich sind. Nachdem damals bei einem Anschlag auf einen Zug 59 Hindus getötet worden waren, kam es im ganzen Bundesstaat zu Übergriffen auf Muslime. Bei den Ausschreitungen wurden nach offiziellen Angaben 1.044 Menschen getötet. Für die Morde werden insbesondere nationalistische Hindus verantwortlich gemacht. Setalvad kämpft dafür, dass die Täter nicht straflos davonkommen. Unter anderem organisiert sie den Schutz von Zeugen der Massaker. Viele von ihnen widerriefen ihre Aussagen, weil sie mit dem Tode bedroht wurden. Doch Setalvads Menschenrechtsarbeit trägt Früchte: Mehr als 120 Verurteilungen konnte die CJP bereits bewirken, nie zuvor gab es in Indien so viele Urteile wegen religiös motivierter Gewalt. Aber das genügt ihr nicht. Sie wirft auch Regierungsmitgliedern eine Verantwortung für die Gewalttaten vor, unter anderem dem indischen Premierminister Narendra Modi von der hindu-nationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP), der als damaliger Regierungschef von Gujarat zu wenig unternommen habe, um die Gewaltausbrüche zu beenden. Insbesondere geht es dabei um ein Massaker in der Metropole Ahmedabad. Dort waren 60 Menschen vor einem Lynchmob in das Haus des früheren Abgeordneten Ehsan Jafri geflüchtet. Dieser soll mehrere Politiker um Hilfe angefleht haben, auch Modi. Doch niemand
half, und es kam zu einem bestialischen Massaker, bei dem auch Jafri ermordet wurde. Zusammen mit dessen Witwe beharrt Setalvad darauf, dass die Ereignisse aufgeklärt werden, was ihr den Vorwurf einbrachte, eine »Gefahr für die nationale Sicherheit« zu sein. Hiervon wurde sie zwar vom High Court in Mumbai entlastet. Inzwischen aber versuchen die Behörden auf anderem Wege, sie auszubremsen. Zu Hilfe kommt ihnen dabei das Gesetz zur Finanzierung aus dem Ausland, das die Arbeit von Nichtregierungsorganisation in Indien erheblich erschwert. Es besagt, dass NGOs die Annahme von Spenden aus dem Ausland von der Regierung genehmigen lassen müssen. 10.000 Organisationen wurde unter Anwendung dieses Gesetzes bereits die Genehmigung entzogen. Nun wollen die Behörden das Gesetz gegen Setalvad in Anschlag bringen. In der gegen sie und ihren Mann laufenden Untersuchung geht es insbesondere darum, dass ihre Organisation »Sabrang Communications« nicht genehmigte Spenden von der Ford-Foundation in Höhe von 18 Millionen Rupien (rund
»Gefahr für die nationale Sicherheit.« Teesta Setalvad (linkes Bild, Mitte) und Ramesh Agrawal.
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240.000 Euro) erhalten habe. Das Ehepaar hat alle Vorwürfe zurückgewiesen und seine Konten offengelegt. Setalvad lässt sich nicht einschüchtern. »Der Kampf muss weitergehen«, sagte sie der BBC. Es gebe eine »bewusste Amnesie« in Indien, was Verbrechen der Vergangenheit betreffe.
Attentat in Chhattisgarh
Der Autor ist Journalist und Lyriker.
Fotos: Tlmmanpreet Romana / NYT / Redux / laif (links), Rafiq Maqbool / AP / pa (rechts)
Ramesh Agrawal saß gerade an einem Computer in einem Internetcafé in Raigarh, als zwei Männer hereinkamen und ihn ansprachen. Sie sagten, er solle damit aufhören, den Konzern »Jindal Steel« zu bekämpfen, und setzten ihm eine Pistole auf die Brust. Es kam zu einem Handgemenge und Agrawal wurde in den Oberschenkel geschossen. Er überlebte den Angriff schwerverletzt, die Männer konnten unerkannt entkommen. Nach diesem Attentat im Juli 2012 erhob die von Ramesh Agrawal gegründete Umweltschutzorganisation »Jan Chetna« schwere Vorwürfe. Es wurde vermutet, er sei auf Geheiß von »Jindal Steel« angegriffen worden, weil er seine Stimme gegen die Bauvorhaben des Konzerns im Bundesstaat Chhattisgarh erhebe. Dem widersprach das Unternehmen zwar vehement. Tatsächlich aber sind dem Konzern Umweltschutzaktivitäten ein Dorn im Auge. Der drittgrößte Stahlproduzent Indiens hat ambitionierte Pläne in dem rohstoffreichen Bundesstaat, die jedoch immer wieder mit den Interessen der ortsansässigen Bevölkerung kollidieren. Umweltschützer kritisieren, dass bei Kraftwerksbauten Umweltschutzstandards nicht eingehalten und die Rechte indigener Bevölkerungsgruppen verletzt würden. Agrawal, der früher Sozialarbeiter war, nutzt für seine Menschenrechtsarbeit geschickt die Möglichkeiten des Internets, um die Landbevölkerung über neue Bauprojekte aufzuklären und auf ihr gesetzlich verbrieftes Recht auf Information aufmerksam zu machen. Ab 2008 organisierte er den Widerstand gegen den geplanten Bau einer Kohlemine durch »Jindal Steel«. Er ver-
fasste zahlreiche Petitionen und wies immer wieder auf fehlerhafte öffentliche Anhörungen hin. In der Folge ermittelte die Polizei gegen ihn wegen »übler Nachrede«, »Störung der öffentlichen Ordnung« und »Erzeugung von Unruhe und Panik«. Am 28. Mai 2011 wurde er zusammen mit Harikar Patel, einem Arzt, der indigene Heilmethoden anwendet, festgenommen und inhaftiert. Da Agrawal an Bluthochdruck leidet, musste er in ein Krankenhaus verlegt werden, wo er kurzerhand ans Bett gekettet wurde. Amnesty International verurteilte die unmenschliche Behandlung und veröffentlichte eine Eilaktion, in der Agrawals Freilassung verlangt wurde. Zwei Monate später kam er wieder auf freien Fuß. Der Widerstand gegen den Bau der Kohlemine war erfolgreich. Im April 2012 zog das oberste Umweltgericht die Genehmigung für das Vorhaben zurück und bezog sich dabei auch auf die Regelverstöße seitens »Jindal Steel«, die Agrawal aufgedeckt hatte. Das in Indien herrschende inoffizielle Bündnis aus Politik, Bürokratie und Wirtschaft gab sich aber nicht geschlagen. 2014 veröffentlichte der indische Geheimdienst einen Bericht, demzufolge vom Ausland finanzierte Nichtregierungsorganisationen wie etwa Greenpeace nur Werkzeuge westlicher Regierungen seien, um den Ausbau von Kohlekraftwerken oder Atomkraftwerken in Indien zu verhindern. Die NGOs, die sich auch eines Netzwerkes lokaler Initiativen bedienten, hätten so das Wirtschaftswachstum Indiens um zwei bis drei Prozent vermindert. Agrawal wundert der Bericht nicht. »Vor Ort arbeitende Umweltschützer wurden schon immer als Hemmnis für die wirtschaftliche Entwicklung gebrandmarkt«, sagt er. Für sein Engagement erhielt er 2014 den »Goldman Environmental Prize«, einen der bedeutendsten Umweltschutzpreise weltweit. Ein Grund mehr für ihn, nicht nachzulassen in seinem Engagement für Umwelt und Menschenrechte.
inDien
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THEMEN
Der
Krieg
neben Kämpfe in den Kurdengebieten
Leben in Ruinen. Kurdischer Junge in Sur, dem Altstadtviertel von Diyarbakır im Südosten der Türkei.
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Foto: Sertac Kayar / Reuters
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Der türkische Staat kämpft wieder mit Panzern und Scharfschützen gegen kurdische Rebellen. Doch erstmals in der Geschichte des Konflikts fallen die Schüsse und Granaten nicht auf dem Land und in den Bergen, sondern in dichtbesiedelten Wohngebieten. Die Europäische Union schweigt, weil sie Erdog˘an in der Flüchtlingskrise nicht vergraulen will. Von Çig˘dem Akyol Fünf Tage und Nächte lang haben sie sich vor dem Kugelhagel verschanzt, sie haben unter den Tischen geschlafen, für den Fall, dass das Dach einstürzt. Sie haben die Lichter auch nachts nicht angeschaltet, weil sie fürchteten, ein Scharfschütze könne auf sie zielen. Sie haben überlebt, und jetzt versucht Familie Tuncer inmitten des Wahnsinns, weiterhin in Deckung zu gehen. »Wir wissen nicht, ob wir überhaupt noch eine Zukunft haben als Kurden in diesem Land«, sagt Hasan Tuncer. Der 28-jährige Elektriker sitzt in seinem Wohnzimmer in Sur – dem Altstadtviertel der südosttürkischen Stadt Diyarbakır. Die kleine Wohnung ist schmutzig, durch die zerstörten Gebäude rundherum zieht der Staub in ihr Zuhause ein. Das Küchenfenster ist zersplittert, ein Querschläger, sagt Tuncer. Sein zweijähriger Sohn Mehmet tapst neben ihm her, seine Frau Emine hängt die Wäsche auf einer Leine auf, die von Dach zu Dach gespannt ist. Sie schaut auch nicht hoch, als Granateneinschläge zu hören sind, nur der Vater nimmt seinen Sohn in den Arm und streichelt ihm beruhigend über den Rücken. »Ich weiß überhaupt nicht, was ich meinem Jungen erzählen soll«, sagt der Vater. »Wie soll ich einem Kind klarmachen, dass wir gejagt werden, weil wir hier nicht als Menschen gelten?« Das einst quirlige, bei Touristen und Einheimischen beliebte Sur mit zahlreichen Sehenswürdigkeiten und Restaurants ist ein gespenstischer Ort geworden. Die engen Gassen des verwinkelten Altstadtviertels sind Schauplatz des Kampfes zwischen dem türkischen Staat und der kurdischen »Patriotisch-Revolutionären Jugendbewegung« (YDG-H), der Jugendorganisation der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Ganze Straßen sind zerstört, ausgebrannte Fahrzeugwracks stehen herum, es sind Szenen wie aus einem Bürgerkrieg. Zurückgeblieben sind die Alten, Kranken und Mittellosen – die sich einen Wegzug nicht leisten können oder zu schwach sind. So wie Familie Tuncer, die kein Geld hat, um fortzugehen. Hasan Tuncer arbeitete als Reinigungskraft in einer Bäckerei. Doch weil er wegen der Ausgangssperren tagelang nicht zur Arbeit gehen konnte, hat er seinen Job verloren. Sur, das Zentrum des kurdischen Widerstands in Diyarbakır, wird umschlossen von einer mächtigen Stadtmauer, die zum
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Alltag im Ausnahmezustand. Sur war einst ein quirliges Touristenviertel, heute gleicht es einer Geisterstadt. Die engen Gassen der Altstadt von Diyarbakır sind zum Kampfgebiet geworden.
UNESCO-Weltkulturerbe zählt. Wer in das Altstadtviertel will, wird von Militärs durchsucht, muss seine Taschen öffnen und Fragen beantworten. Das gleiche Prozedere erwartet einen beim Verlassen des Viertels, nur dass man unter Umständen auch noch sein Handy vorzeigen muss, das nach Fotos durchsucht wird. Kürzlich, so erzählen Bewohner, hätte eine Frau bei einer Kontrolle einfach eine Waffe aus ihrer Tasche gezogen und einen Militär erschossen. »Wenn ich könnte, würde ich jeden einzelnen Soldaten und Polizisten hier ermorden«, so eine Bewohnerin, die ihren Namen nicht nennen will. »Wir Kurden werden Schritt für Schritt vom Staat umgebracht, warum sollten wir uns nicht rächen?«, sagt sie und geht rasch eine Straße entlang, in der die Häuserwände mit Einschusslöchern übersät sind.
Kampf in den Großstädten Schon seit August 2015 verhängen die Behörden immer wieder Ausgangssperren im kurdischen Südosten der Türkei. In Sur gilt seit dem 2. Dezember eine solche Sperre, die gelegentlich gelockert wird. In den Städten Cizre und Silopi, die in der Nähe liegen, seit dem 14. Dezember. Mitte Februar 2016 hat die Armee ihre Offensive gegen die PKK auf Idil ausgeweitet, wo nun auch eine Ausgangssperre herrscht. Nach Angaben des türkischen Gesundheitsministers sind seit Dezember 2015 rund 355.000 Menschen aus den kurdischen Gebieten der Türkei geflohen. Anders als bei den Unruhen in den 1990er Jahren, als im Südosten der Türkei ebenfalls der Ausnahmezustand herrschte, hat sich der Konflikt in die Großstädte verlagert. »Früher fanden die bewaffneten Auseinandersetzungen eher in den ländlichen
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Fotos: Mert Cakir / Redux / laif
fallen gegeneinander. Was den Jugendlichen an militärischer Erfahrung fehlt, machen sie durch Risikobereitschaft und Entschlossenheit wett. Um die Militanten fassen zu können, ist den staatlichen Sonderkommandos jedes Mittel recht. Nach Armeeangaben wurden bei den Gefechten seit Dezember 2015 mehr als 850 PKKKämpfer getötet. Laut der prokurdischen Partei HDP kamen dabei mindestens 277 Menschen ums Leben, die nicht als Kämpfer identifiziert wurden. Anzeichen dafür, dass der Bürgerkrieg auch in die westlichen türkischen Städte getragen werden könnte, gibt es bereits. Mitte Februar kamen bei einem Bombenanschlag auf einen Militärkonvoi in Ankara 29 Menschen ums Leben. Zu dem Attentat bekannte sich die aus der PKK hervorgegangene Splittergruppe Freiheitsfalken Kurdistans (TAK).
Überall Märtyrer
Regionen statt«, sagt der britische Türkei-Experte Gareth Jenkins vom »Silk Road Studies Program« in Istanbul. Zudem habe es noch nie zuvor in der Türkei die Situation gegeben, dass die PKK ganze Stadtteile besetzt halte. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan sagte Anfang Januar 2016, es gebe gar kein Kurdenproblem in der Türkei, sondern nur kurdischen Terror. »Vergleichbares hat das Militär in den 1990er Jahren gesagt«, stellt Jenkins fest. Doch wegen der Flüchtlingskrise schweige Europa zu dem Konflikt. Man wolle Staatspräsident Erdoğan nicht »verärgern«, um die Flüchtlinge in der Türkei zu halten. »Europa hat der Türkei viel Geld gezahlt, um das Flüchtlingsproblem hier zu lösen«, sagt Jenkins. Während die PKK früher meist ausschließlich Einrichtungen der Armee und der Polizei in den Bergen und auf dem Land attackierte, haben die Jugendbrigaden den Konflikt in die Städte getragen. Beide Seiten kämpfen mit Kalaschnikows und Spreng-
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Im Südosten des Landes sind laut Ankara rund zehntausend Polizisten und Militärs im Einsatz. In Diyarbakır selbst gibt es zahlreiche Checkpoints, überall stehen Wasserwerfer und Panzerwagen. Auf den Straßen liegt stinkender Abfall, denn die Müllabfuhr streikt wegen der Unruhen regelmäßig. Nachts wird vorsorglich Tränengas in den Straßen versprüht, damit niemand sich herauswagt. Aus fahrenden Polizeiautos wird mit Gaskartuschen auf Gruppen gezielt, die sich als Demonstranten zusammentun könnten. Die Menschen protestieren aber dennoch. In finsteren Hofeingängen zünden Jugendliche Müll an. Bewohner stehen auf ihren Balkonen und hauen mit Löffeln auf Kochtöpfe – der Sound des Widerstandes gegen die verhasste Besatzungsmacht. Auch Mahmut Bulak widersetzte sich der Staatsgewalt, jetzt ist der Junge tot. Der 16-Jährige wurde Anfang Februar 2016 in Diyarbakır bei einer Demonstration gegen die Regierung in den Hinterkopf geschossen. Wer ihn getötet hat, ist immer noch unklar. Für die Kurden in seiner Heimatstadt ist der türkische Staat der Mörder – für Ankara ist der Junge dagegen ein Terrorist, weil er an einem Protest gegen die Regierung teilgenommen hat. Der Jugendliche protestierte am 9. Februar mit Tausenden Demonstranten gegen die Katastrophe in der Stadt Cizre. Dort waren einen Tag zuvor unterschiedlichen Angaben zufolge zwischen zehn und 60 Menschen in einem Wohnhaus durch Militärangriffe umgekommen. Der Staatssender TRT berichtete hingegen, die Angreifer seien PKK-Kämpfer gewesen. Die kurdische Seite bezeichnet den Vorfall als »Cizre-Massaker«. Zur Beisetzung Mahmuts kamen Tausende Menschen. Sie hielten Bilder des Jungen hoch und riefen »Şehit« – »Märtyrer«, aus der Ferne waren Schüsse aus Maschinengewehren zu hören. Der Sarg war mit einer PKK-Flagge umhüllt, die Mutter musste gestützt werden und schrie: »Komm zurück, mein Sohn.« Über die Zustände im Südosten erfahren die meisten Türken nichts bis wenig, denn darüber wird kaum berichtet. In den regierungstreuen Medien werden die toten Sicherheitskräfte als
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»Märtyrer« bezeichnet, ermordete Zivilisten werden hingegen nicht erwähnt. Über sie berichtete bisher der kurdisch-türkische Fernsehsender IMC-TV, doch Ende Februar wurde dem Sender die Lizenz entzogen und der Betrieb eingestellt. Beide Seiten instrumentalisieren die Toten für ihre Propaganda. Beide Seiten verbreiten Lügen. Unabhängige Berichterstattung aus der Region ist kaum möglich, denn Journalisten werden hier kaum geduldet. Anfang Februar versprach Ministerpräsident Davutoğlu, Sur werde nach seinem Wiederaufbau wie »Toledo« aussehen. Die kurdischen Rebellen hätten ein Feuer gelegt, »aber wir werden, so Gott will, einen Rosengarten dort pflanzen, wo Feuer war«. Der Co-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtaş ist da weniger zuversichtlich. Wegen des anhaltenden Ausnahmezustandes hätten sich noch mehr kurdische Jugendliche radikalisiert – rund 500 Jugendliche seien innerhalb weniger Tage der PKK beigetreten, so Demirtaş.
»Wir werden uns rächen« Zur Radikalisierung dürfte auch beitragen, dass seit dem 7. Januar 2016 ein neues Gesetz gilt, dass es den Behörden erlaubt, Tote binnen drei Tagen ohne Zeremonie zu beerdigen, wenn die Angehörigen sie nicht abholen – selbst wenn die Identität der Toten feststeht. Doch wenn ein Angehöriger in einem Viertel lebt, in dem eine Ausgangssperre herrscht, ist dies kaum möglich. Die Regierung will damit verhindern, dass Beerdigungen von YDG-H-Kämpfern zu Sympathiebekundungen für die kurdischen Rebellen ausarten. Rund 160 Kilometer von Diyarbakır entfernt lacht man über solche Maßnahmen. In Nusaybin, einer Stadt direkt an der syrischen Grenze, wiederholen sich die Bilder aus Sur. Staubige Straßen und kaputte Gehwege schlängeln sich durch die Stadt, vorbei an zerstörten Häusern und türkischen Militärs. Das Einfluss-
gebiet Ankaras endet am Fluss Dschaghdschagh, der Nusaybin teilt. Ein Sprengsatz der YDG-H hat die Brücke zum Viertel Abdul Kadir Pascha unbefahrbar gemacht, dahinter beginnt die sogenannte »befreite Zone«, in der sich kurdische Rebellen verschanzt haben und ihre nächsten Angriffe auf die türkischen Sicherheitskräfte vorbereiten. Sie haben Pflastersteine und mit Erde gefüllte Säcke zu Barrikaden aufgeschichtet. An den Wänden stehen Graffiti wie »Widerstand« oder »Es gibt keine Entschuldigung für Verrat«. Kämpfer und Kämpferinnen der YDG-H sitzen in Armeehosen und Stiefeln unter einer schwarzen Plastikplane, die als Sichtschutz gegen Scharfschützen der Armee dient. Immer wieder sind Schüsse zu hören, doch die Rebellen lachen nur. Wenige Meter weiter, im Hauptquartier der YDG-H, hängen Bilder von »Märtyrern« und ein Porträt des inhaftierten PKK-Chefs Öcalan. Melek, so nennt sich eine junge YDG-H-Kämpferin, putzt hier gerade ihre Kalaschnikow. Woher sie die Waffe habe? »Wir haben sehr viele Unterstützer«, sagt die 19-Jährige ausweichend. Zudem sei es nach Jahrzehnten des Kampfes gegen Ankara ein Leichtes, Waffen zu besorgen. »Erdoğan will uns Kurden alle tot sehen«, sagt sie und wieder wird im Hintergrund geschossen. Das seien die Soldaten, die auf die Rebellen zielen würden, sagt sie. »Doch auch wenn sie uns treffen, sie werden uns nicht zerstören. Wir haben Hass in uns und wir werden uns dafür rächen, dass sie uns auslöschen wollen.« Die Autorin lebt seit 2014 als Korrespondentin in Istanbul und berichtet unter anderem für die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, die »Neue Zürcher Zeitung« und »Zeit Online«. Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app
»Tödliche Gewalt ist das erste Mittel der Wahl« Im Südosten der Türkei geht die türkische Regierung mit aller Härte gegen kurdische Kämpfer vor. Darunter leidet vor allem die Zivilbevölkerung. Ein Gespräch mit Andrew Gardner, Türkei-Experte von Amnesty International.
te Polizisten in Ceylanpınar, Bomben türkischer Kampfjets auf PKK-Stellungen im Nordirak. Die derzeitigen Kämpfe finden nicht etwa in den Bergen oder auf abgelegenen Straßen statt, sondern in dicht bewohnten Stadtvierteln und Städten wie Cizre, Silopi oder Diyarbakır.
Interview: Ralf Rebmann
Im vergangenen Jahr war noch von einem Friedensprozess mit der PKK die Rede. Inzwischen lässt die türkische Regierung Panzer in kurdischen Städten auffahren. Wie konnte der Konflikt derart eskalieren? Die Auseinandersetzungen haben eine Intensität erreicht, wie wir sie seit den 1990er Jahren nicht mehr gesehen haben. Den Parlamentswahlen im Juni 2015 folgte eine Spirale der Gewalt: der Selbstmordanschlag in Suruç, zwei von der PKK getöte-
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Welche Konsequenzen hat das für die Bevölkerung in den betroffenen Gebieten? Sie leidet vor allem unter den Ausgangssperren und der exzessiven Gewalt. Vieles spricht dafür, dass türkische Sicherheitskräfte nicht versuchen, Festnahmen zu machen, sondern direkt das Feuer eröffnen und damit Unbeteiligte gefährden. Tödliche Gewalt und der Einsatz schwerer Waffen sind für sie offenbar das erste Mittel der Wahl. Im September konnte ich in Cizre die Folgen sehen: Einschusslöcher in Wohnhäusern, Granatsplitter
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Foto: Aylin Kizil / NarPhotos / laif
Staubige Straßen, kaputte Gehwege. Ein kurdischer Junge im umkämpften Nusaybin.
Was will die Regierung mit den Ausgangssperren erreichen? Die Regierung hat ein legitimes Sicherheitsproblem. Sie führt Militäroperationen gegen PKK-Anhänger durch, die mit Kalaschnikows patrouillieren und improvisierte Sprengfallen einsetzen. Angeblich sollen die Ausgangssperren die Zivilbevölkerung während dieser Operationen schützen. Tatsächlich gleichen sie jedoch einer Form von kollektiver Bestrafung. Die Ausgangssperren werden über Wochen verhängt und gelten rund um die Uhr. In manchen Stadtvierteln hatten die Bewohner tagelang keinen Zugang zu Trinkwasser und Nahrungsmitteln. Auch die Stromversorgung und Kommunikationswege wurden gekappt. In anderen Fällen hatten Verletzte keinen Zugang zu medizinischer Versorgung. Das ist völlig inakzeptabel. Wie reagiert die türkische Regierung auf diese Kritik? Im Bezug auf die Ausgangssperren hieß es, die Betroffenen hätten sehr wohl Zugang zu Nahrung und medizinischer Versor-
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gung. Diese Aussagen sind unglaubwürdig. Doch fühlen sich die Behörden offenbar nicht unter Druck, denn die EU-Mitgliedsstaaten, darunter auch Deutschland, haben die Türkei bisher nicht in dem Maße kritisiert, wie es nötig wäre. Stattdessen sehen sie das Land als Partner für ihre Flüchtlingspolitik. Es ist daher kaum vorstellbar, dass sich die Politik der türkischen Regierung ändern wird. Was bedeutet dieser Konflikt für die Menschenrechtslage in der Türkei? Zunächst hat er massive Auswirkungen auf den Südosten des Landes. Allein aus Cizre sind rund 100.000 Menschen geflohen. Aber auch die allgemeine Situation der Menschenrechte hat sich verschlechtert – wir erleben in der Türkei derzeit eine Menschenrechtskrise. Die Rechte der Bevölkerung werden in vielen Bereichen beschnitten. Der Druck auf Journalisten und Medien ist gestiegen. Regierungskritiker und normale Bürger, die sich in den sozialen Medien äußern, müssen strafrechtliche Verfolgung befürchten. Zudem verschärft sich die Polarisierung der Gesellschaft. Es existieren tiefgreifende Differenzen innerhalb der Bevölkerung, die eine Lösung dieses Konflikts immer schwieriger machen.
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Foto: Ralf Rebmann
in Gärten. Innerhalb einer Woche wurden dort mehr als 100 Tote geborgen. Entgegen der offiziellen Darstellung gibt es zahlreiche Hinweise darauf, dass unter den Opfern unbewaffnete Personen sind, wie zum Beispiel Kinder und ältere Menschen.
»Ja, das sind Kriegsverbrechen«
Peschmerga in der Lüneburger Heide. Kurdischer Kämpfer während eines Trainings in der niedersächsischen Kleinstadt Munster.
Deutsche Verbündete begehen Kriegsverbrechen? Ja, sagt Amnesty-Researcherin Donatella Rovera. Im Nordirak hat sie brisante Beweise gesammelt: Die Peschmerga haben arabische Dörfer zerstört und die Bevölkerung vertrieben. Deutschland beliefert die kurdischen Kämpfer mit Waffen. Interview: Felicitas Folivora
Die deutsche Bundesregierung hat Sie nach Berlin eingeladen. Warum? Seit zwei Jahren reise ich für Amnesty regelmäßig in den Irak, um Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren. Auf meiner jüngsten Recherchereise habe ich dokumentiert, dass
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die Peschmerga und andere kurdische Kämpfer im Nordirak arabische Dörfer zerstört haben, die sie vom »Islamischen Staat« zurückerobert hatten. Tausende Häuser haben die kurdischen Kämpfer geplündert, angezündet, in die Luft gesprengt oder mit Planierraupen zerstört. Bewohner wurden vertrieben. Zudem haben sie geflohene arabische Zivilisten daran gehindert, in ihre Heimatorte zurückzukehren. Die Bundesregierung will mit mir über diese Recherchen sprechen. Schließlich werden die Peschmerga von Deutschland unterstützt. Unsere Verbündeten begehen Kriegsverbrechen? Ja, das sind Kriegsverbrechen. Natürlich! Deswegen fordern wir die deutschen Behörden auf, sehr viel stärker in den Blick zu
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»Wir fordern die deutsche Regierung auf, sehr viel stärker in den Blick zu nehmen, was ihre Verbündeten im Nordirak machen.«
Foto: Florian Gärtner / Photothek via Getty Images
Deutschland unterstützt die Peschmerga, weil sie im Irak gegen den »Islamischen Staat« kämpfen. Ja, dass der Westen die kurdischen Kämpfer aufrüstet, ist nicht weiter erstaunlich. Die Kurden bilden im Kampf gegen den »Islamischen Staat« tatsächlich die Speerspitze. Als der »Islamische Staat« im Sommer 2014 seinen Eroberungsfeldzug im Nordirak startete, sind die Soldaten der irakischen Armee massenhaft davongelaufen. Es waren die Kurden, die die Stellung hielten. Das war damals sehr wichtig! Die kurdische Regionalregierung hat zudem Hunderttausenden Menschen Zuflucht gewährt – vor allem Jesiden und Christen, aber auch sunnitischen Arabern, die vor dem »Islamischen Staat« geflohen sind. Das verdient großen Respekt. Aber das heißt nicht, dass wir wegschauen dürfen, wenn die Kurden selbst Verbrechen begehen. Und das passiert seit eineinhalb Jahren. Wer die Kurden unterstützt – sei es politisch, wirtschaftlich oder militärisch – trägt eine Mitverantwortung. Deutschland, die Niederlande, Großbritannien und die USA müssen ihren kurdischen Partnern klarmachen, dass solche Verbrechen inakzeptabel sind. Die Peschmerga gelten hierzulande als »die Guten« des Nahen Ostens … Das ist natürlich Blödsinn. Ich arbeite seit zwanzig Jahren in Kriegen und bewaffneten Konflikten. »Die Guten« oder »die Bösen« findet man eigentlich nie. So ist es auch im Irak. Die Wirklichkeit ist nicht Schwarz-Weiß. Ich war in den vergangenen Jahren für Amnesty immer wieder im Irak unterwegs. Ich habe dort Menschenrechtsverletzungen dokumentiert, die von den unterschiedlichsten Akteuren begangen wurden: vom »Islamischen Staat«, von schiitischen Milizen, der irakischen Armee, den Peschmerga. Vor zwei Jahren habe ich dokumentiert, dass die Kämpfer des »Islamischen Staats« jesidische Frauen und Mädchen sexuell versklavten. Inzwischen haben die Jesiden selbst Kriegsverbrechen begangen. Das ist die Natur des Krieges: Die Opfer von gestern sind die Täter von morgen. Viele Kurden wünschen sich einen eigenen Staat. Wollen sie nun mit ethnischen Säuberungen dafür die Grundlage schaffen? Amnesty behauptet nicht, dass es einen Masterplan gibt, die Kurdengebiete ethnisch zu säubern. Aber so viel lässt sich sagen: Es handelt sich bei den Vertreibungen nicht um Einzelfälle. Dass kurdische Kämpfer Araber aus ihren Dörfern vertreiben, ist inzwischen eine weitverbreitete Praxis. Ob es einen Befehl von oben gibt, können wir nicht sagen. Es steht zumindest fest, dass die Regierung der Region Kurdistan über die Lage infor-
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miert ist. Bereits seit eineinhalb Jahren gehen kurdische Kämpfer nun gegen arabische Zivilisten vor und die Regierung wurde darüber wiederholt in Kenntnis gesetzt – von Amnesty International, aber auch von anderen Menschenrechtsorganisationen. Es gibt also klare Indizien, die dafür sprechen, dass die Regierung mit den Vertreibungen einverstanden ist. Wo leben die Vertriebenen nun? Manche leben in Flüchtlingslagern, unter furchtbaren Bedingungen. Andere fanden in umliegenden arabischen Dörfern Zuflucht, auch ihre Lage ist dramatisch. Die meisten Vertriebenen sind Bauern oder Hirten. Diese Menschen haben alles verloren, nicht nur ihre Dörfer und Häuser, sondern auch ihre Felder und Tiere – das heißt: ihre gesamte Lebensgrundlage. Wie hat die deutsche Bundesregierung auf Ihren Bericht reagiert? Sie hat mit der kurdischen Regierung das Gespräch gesucht. Das ist gut, aber nicht genug. Denn natürlich bestreitet die kurdische Regierung, dass die Verbrechen stattgefunden haben. Die Bundesregierung sollte sich damit nicht zufriedengeben. Was sollte die deutsche Regierung stattdessen tun? Es gibt eine sehr einfache Lösung des Problems. Amnesty behauptet, arabische Dörfer wurden zerstört, die kurdische Regierung bestreitet das. Warum schickt die Bundesregierung nicht eine Delegation in diese Dörfer, um sich selbst vor Ort ein Bild zu machen? In den kurdischen Gebieten halten sich doch deutsche Militärberater und Diplomaten auf. Es wäre für sie ein Leichtes, in die zerstörten Dörfer zu gelangen. Die Straßen sind in gutem Zustand, die Wege sind ungefährlich. Ich bin mir sicher: Würden die westlichen Verbündeten die zerstörten Dörfer inspizieren, würden sich die Kurden nicht trauen, solche Verbrechen zu wiederholen.
Amnesty ermittelt Foto: Sarah Eick / Amnesty
nehmen, was ihre Verbündeten im Nordirak machen. Deutschland liefert den Kurden ja nicht nur Waffen, sondern bildet sie auch militärisch aus.
Woher weiß Amnesty International, dass in Marokko Gefangene gefoltert werden? Dass die Armee in Nigeria Kriegsverbrechen verübt? Dass US-amerikanische Drohnen in Pakistan Zivilisten töten? Diese Ermittlungsarbeit leisten sogenannte »Researcher«. Donatella Rovera (Foto) ist eine von ihnen. Seit 25 Jahre reist die Italienerin für Amnesty in die gefährlichsten Gegenden der Welt, um Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren – zuletzt häufig in Syrien und im Nordirak.
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Apfelstrudel im Folterlager
Trügerisches Idyll. Spielplatz auf dem ehemaligen Gelände der Sekte »Colonia Dignidad«.
Mord, Elektroschocks und sexueller Missbrauch: In der deutschen Siedlung »Colonia Dignidad« ereigneten sich jahrzehntelang unfassbare Grausamkeiten. Noch immer wohnen rund 100 Menschen auf dem Gelände der ehemaligen Terrorsekte in Chile. Mit der Vergangenheit wollen sich die meisten nicht auseinandersetzen – im Gegensatz zu den Opfern. Nun haben beide Seiten erstmals miteinander geredet. Von Wolf-Dieter Vogel
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Die Wachtürme sind abgebaut, die Selbstschussanlagen entfernt, auch die elektrischen Zäune sind verschwunden. Wo früher Oppositionelle gefoltert, Frauen zur Sklavenarbeit gezwungen und Jungen systematisch vergewaltigt wurden, gibt es heute frisch gezapftes Bier in Maßkrügen, Schweinshaxen und Apfelstrudel, dazu Blasmusik und Alpenhörner. Wer will, kann zudem bei einer »historischen Tour« mit dem Unimog durch das Gelände der »Villa Baviera« den Blick auf die schneebedeckten chilenischen Anden genießen. Doch von der wirklichen Historie des »Bayerischen Dorfes« bekommen die Touristinnen und Touristen fast nichts zu sehen. Lediglich eine Zeitleiste an der Mau-
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Foto: Tomas Munita / The New York Times / Redux / laif
er des »Hotel Baviera« verweist auf die »schwierigen Jahre«. Also auf jene Zeit, in der die in Zentralchile gelegene deutsche Siedlung keinen Freizeitpark unterhielt, sondern unter dem Namen »Colonia Dignidad«, »Kolonie der Würde«, traurige Berühmtheit erlangte. Nun soll Schluss sein mit der Verdrängung der Vergangenheit. Im vergangenen Jahr verurteilten chilenische Richter die Regierung dazu, vor den Toren der Siedlung eine Gedenkstätte zu errichten. Sie soll an das totalitäre Regiment erinnern, das in der »Colonia Dignidad« von 1961 bis 1997 herrschte. Gründer Paul Schäfer und seine Führungsriege benutzten damals Bewohner für lebensgefährliche Medikamentenversuche, Frauen mussten bis zu 18 Stunden täglich auf den Feldern arbeiten, der Sektenführer selbst missbrauchte ständig Jungen. Wer sich wehrte, wurde mit Psychopharmaka stillgestellt oder mit Elektroschocks gefoltert. Kinder, Frauen und Männer lebten getrennt, Sexualität war ein Tabu. Das alles hat schwerwiegende Traumata und andere psychische Störungen hinterlassen. »Ich hatte die Mentalität eines Achtjährigen«, erinnert sich der heute 37-jährige Winfried Hempel an die Zeit, als er im Alter von 20 Jahren die Kolonie verließ. Auch zahlreiche chilenische Staatsbürger wurden Opfer von Schäfers Herrschaft. Die Leitung der »Colonia Dignidad« arbeitete in den 1970er und 1980er Jahren eng mit dem Diktator Augusto Pinochet zusammen. Der Chef des Geheimdienstes DINA, Manuel Contreras, ging in der Siedlung ein und aus. Der DINA diente die Kolonie als Folterzentrum, hier wurden Oppositionelle verhört, gequält und ermordet. Die Toten verscharrte man in Massengräbern, später wurden die Leichen wieder ausgegraben und verbrannt. Deshalb fordert das chilenische Gericht neben der Errichtung des Denkmals auch, die Orte der ehemaligen Gräber öffentlich zugänglich zu machen. Manchen Angehörigen der ehemaligen politischen Gefangenen geht dies nicht weit genug. 40 Jahre lang suchen sie schon nach ihren verschleppten Brüdern, Töchtern oder Söhnen. Sie wollen, dass die gesamte 14.000 Hektar große Siedlung zur Gedenkstätte erklärt wird. Die »Vereinigung für Erinnerung und Menschenrechte – Colonia Dignidad« setzt sich dafür ein, zumindest einige Orte zu schützen. »Der Kartoffelkeller, in dem Folterungen stattfanden, und die Massengräber müssen unter Denkmalschutz gestellt werden«, fordert Verbandssprecherin Magdalena Garcés. Doch viele Bewohner der »Villa Baviera« halten gar nichts von der geplanten Gedenkstätte. Nicht nur, weil solche Erinnerungen geschäftsschädigend wären. Sie halten sich nur für die Kinder der Opfer des Einzeltäters Schäfer, obwohl außer Frage steht, dass in der Siedlung ein komplexes Machtgeflecht bestand. Unter acht Brüdern können vier Opfer und vier Täter sein, erläutert Hempel, der auch als Jurist Überlebende vertritt. Viele der etwa hundert heute noch dort Lebenden können mit Begriffen wie Menschenrechte oder Erinnerungskultur nichts anfangen. »Das Problem ist, dass diese Menschen 50 Jahre Gehirnwäsche hinter sich haben«, sagt Hempel, dessen Eltern noch immer in der Kolonie leben. Umso ungewöhnlicher war ein Seminar, das im Februar im Berliner Haus der Wannseekonferenz stattfand. Erstmals saßen dort Vertreter beider Seiten zusammen – Angehörige der Opfer und heutige Bewohner der »Villa Baviera«. Als sie sich zum ersten Mal zum gemeinsamen Essen trafen, ging zunächst gar nichts: hier die chilenischen Verbände mit den Bildern ihrer verschwundenen Angehörigen, dort jene, auf denen die trauma-
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Da Täter und Opfer Deutsche sind, muss auch die deutsche Justiz die Verbrechen der »Colonia Dignidad« aufarbeiten. tische Vergangenheit des alltäglichen Terrors lastet. Schmerz, Unverständnis und Angst beherrschten den Raum. Doch im Laufe des sechstägigen Treffens sei man sich nähergekommen, berichtet der Politikwissenschaftler Jan Stehle, der sich seit vielen Jahren mit der »Colonia Dignidad« beschäftigt: »Es war von großer Bedeutung, dass überhaupt miteinander geredet wurde.« Bemerkenswert ist auch, dass das Seminar mit Unterstützung der Bundesregierung zustande kam. Bislang war man in Berlin zurückhaltend, wenn es um die Mitverantwortung für die Taten in der »Kolonie der Würde« geht. Jahrzehntelang protegierten bundesdeutsche Politiker Schäfer, heute unterstützt die Regierung den Freizeitpark mit jährlich 250.000 Euro. Eine Aufarbeitung steht noch immer aus. »Im Auswärtigen Amt liegen stapelweise Akten unter Verschluss«, kritisiert Stehle. Das könnte sich nun ändern: Der jüngst angelaufene Spielfilm »Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück« hat das Thema in die Öffentlichkeit gebracht und auch das Seminar schuf politischen Druck. Das dürfte auch Konsequenzen für den Mediziner Hartmut Hopp haben. Er war die rechte Hand Schäfers und flüchtete 2011 nach Krefeld, um sich einer fünfjährigen Haftstrafe wegen Beihilfe zum sexuellen Missbrauch zu entziehen. Seither fordert Chile seine Auslieferung. Doch während vier weitere einstige Führungskräfte in Chile im Gefängnis sitzen, kann sich Schäfers ehemaliger Krankenhausleiter trotz eines internationalen Haftbefehls frei bewegen, denn Deutschland liefert keine Bundesbürger aus. Überlebende bestätigen jedoch: Der heute 70-Jährige war für die medizinischen Versuche verantwortlich und unterhielt enge Kontakte zum Pinochet-Regime. Da Täter und Opfer Deutsche sind, muss auch die deutsche Justiz ermitteln. Bereits 1988 lief ein Verfahren gegen Hopp, doch wurde dies nach 25 Jahren eingestellt. »Es gab eine schützende Hand der Politik«, erklärt sich Petra Schlagenhauf dieses juristische Versagen. Die Berliner Anwältin vertritt Überlebende, die gegen Hopp klagen. Mittlerweile gebe es bei der Staatsanwaltschaft mehr Offenheit, möglicherweise werde bald über die Klage entschieden. Die Juristin ist vorsichtig optimistisch, dass der Mediziner seine chilenische Strafe in Deutschland verbüßen muss oder deutsche Gerichte ein eigenes Verfahren gegen ihn anstrengen. Dafür kämpft auch Winfried Hempel. Doch seine bisherigen Erfahrungen sind nicht ermutigend: »Erst nachdem Schäfer 2005 in Argentinien verhaftet wurde, hat Deutschland einen Haftbefehl ausgestellt.« Das sei, so der Überlebende des SchäferRegimes, »ein Witz«. Der Autor ist Journalist und berichtet für deutschsprachige Medien aus den Ländern Lateinamerikas.
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»Neue Spielregeln des Zum ersten Mal sitzen Regierungsvertreter und Mitglieder der FARC an einem Tisch. Wie ist es möglich, dass sich nach mehr als 50 Jahren Bürgerkrieg eine politische Lösung anzubahnen scheint? Das war wirklich alles andere als einfach. Man muss sich vergegenwärtigen: In den vergangenen 30 Jahren hat es in diesem Konflikt mehr als sieben Millionen Opfer gegeben. Das hat eine riesige Wunde in der kolumbianischen Gesellschaft hinterlassen. Unter der Regierung von Álvaro Uríbe wurde der Konflikt mit der Guerilla immer nur als »terroristische Bedrohung« abgetan. Aber seit in den Ländern Lateinamerikas mehr und mehr linke Regierungen an die Macht kamen und auch die kolumbianische Zivilgesellschaft nachdrücklich Friedensverhandlungen einforderte, hat sich die Stimmung grundlegend gewandelt. Auch die venezolanische und kubanische Regierung haben ihren Anteil daran, dass alle Beteiligten nun endlich dialogbereit sind. Kolumbiens Präsident Juán Manuel Santos hat inzwischen ebenfalls Interesse an einer dauerhaften Lösung des Konflikts, nachdem er einsehen musste, dass dieser nicht allein mit militärischer Überlegenheit zu lösen ist. Welche Rolle spielt die kubanische Regierung ganz konkret in diesem Prozess? Kuba ist der neutrale Boden und die Regierung dient als Sicherheitsgarant zwischen den Abgesandten beider Seiten, die seit Monaten in Havanna in zäh verhandelten Zwischenschritten an einer komplexen Vereinbarung arbeiten. Kuba hat eine ganz entscheidende Rolle. Welche Pläne gibt es, um einen dauerhaften Frieden möglich zu machen? Zunächst soll eine umfassende Agrarreform den seit Jahrzehnten benachteiligten Landstrichen die Möglichkeit zur Entwicklung und mehr soziale Gleichheit bringen. Viele entlegene Gebiete Kolumbiens, die bisher nur ausgebeutet und sonst sich selbst überlassen wurden, sollen föderalistisch eingebunden und gefördert werden. Auch ungeklärte Besitzverhältnisse sind
Welche weiteren Schritte sind angedacht? Das Gesundheitswesen soll ausgebaut werden, der Zugang zu Bildung soll für alle garantiert werden und es muss auch mehr Möglichkeiten zur politischen Partizipation geben. Solche demokratischen Mechanismen sind besonders wichtig für Bevölkerungsschichten, die bisher kaum Chancen auf politische Beteiligung hatten. Neue soziale und politische Bewegungen, die im Zusammenhang mit der Unterzeichnung des Friedensvertrages im Entstehen sind, sollen zugelassen werden. Wie sieht es mit der Entmilitarisierung aus? Die endgültige Beendigung der bewaffneten Auseinandersetzung ist zentral. Dazu gehören die vollkommene Entwaffnung der FARC und die Wiedereingliederung ihrer Mitglieder in die Zivilgesellschaft. Die Regierungsseite muss sich verpflichten, die Paramilitärs zu entwaffnen, die vollkommen willkürlich agiert haben. Zudem müssen Minen und andere explosive Munitionsreste in den ehemaligen Kriegsgebieten entschärft werden – nach wie vor sind ganze Landstriche unbewohnbar. Die Regierung verpflichtet sich mit dem Abkommen, konsequenter gegen Korruption vorzugehen und die Verantwortlichen für die vielen politischen Morde und Massaker der vergangenen Jahrzehnte zur Verantwortung zu ziehen. Auch für den Drogenhandel braucht es eine Lösung. Die Regierung muss alternative Projekte entwerfen, um Anbaugebiete anders zu nutzen und Bauern entsprechend zu entschädigen.
intervieW AnA teresA bernAl Ana Teresa Bernal Montañez ist Mitbegründerin eines NGO-Netzwerkes und wurde vom kolum bianischen Staatspräsidenten als »Repräsentantin der Zivilgesellschaft« in die 2006 geschaffene Nationale Kommission für Entschädigung und Versöhnung (CNRR) berufen. Sie leitet die Abteilung für Opfer und Vertriebene in der Stadtverwaltung von Bogotá.
»Die große Herausforderung ist, dass die Wahrheitsfindung der Versöhnung dient und nicht zu Rache und Vergeltung führt.« 48
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Foto: Luis Robayo / AFP / Getty Images
Interview: Cordelia Dvorák
endgültig juristisch zu klären. Es gab ja über Jahrzehnte hinweg systematische Landenteignungen: Um an Land zu kommen, wurde die Bevölkerung vertrieben; wehrte sie sich, wurde sie von Paramilitärs umgebracht.
Foto: Bogotá Humana
In Kolumbien ist ein Ende des jahrzehntelangen Bürgerkriegs in Sicht. FARC-Rebellen und Regierung wollen im März ein Friedensabkommen schließen, das zugleich eine Wahl-, Justiz- und Bodenreform vorsieht. Die Menschenrechtsverteidigerin Ana Teresa Bernal über eine historische Zäsur.
Zusammenlebens« Wie stellen Sie sich einen angemessenen Umgang mit den Opfern des Konflikts vor? Wir müssen lernen, den Konflikt historisch aufzuarbeiten, die Ursachen zu erkennen und diese auch transparent und verständlich zu machen. Die Opfer müssen anerkannt werden, ihre Menschenrechte formuliert und nach außen vertreten werden. Das klingt vielleicht selbstverständlich, ist aber in der hiesigen Realität ein langer Prozess, der gerade erst beginnt. Es braucht neue Spielregeln des Zusammenlebens, der Konfliktlösungen, der politischen Transparenz. Die vielen Jahre des Konflikts haben bei uns allen Spuren hinterlassen. Alle haben jetzt eine große Verantwortung und müssen daran arbeiten, den Frieden auch umzusetzen. Ist eine Kommission für die Aufarbeitung des Unrechts vorgesehen? Die Schaffung einer Aufklärungskommission war Thema bei den Verhandlungen. Die große Herausforderung dabei ist, dass die Wahrheitsfindung der Versöhnung dient und nicht zu Rache
und Vergeltung führt. Dieser Prozess sollte ein anderes Geschichtsbewusstsein befördern, die Opfer und ihre Version der Geschehnisse sollten eine entscheidende Rolle spielen. Versöhnung beinhaltet ja immer verschiedene Aspekte. Einer davon ist, wie ein Land grundsätzlich mit Erinnerung umgeht, was erinnert, was vergessen wird, welchen Dingen man ins Gesicht sehen und wie man die Vergangenheit ganz neu aufrollen kann. Glauben Sie an Frieden? Sicherlich wird ein Friedensvertrag unterzeichnet, aber ausgehend davon muss das gesamte Land in einen Dialog treten. Ohne soziale Gerechtigkeit, ohne menschliche Reife und ohne Versöhnung wird es keinen Frieden geben. Wir müssen lernen, Konflikte ohne Gewalt auszutragen. Es gibt inzwischen viele Initiativen von jungen Leuten, die sich für Erinnerungsarbeit, Versöhnung, kulturelle Vielfalt und politische und soziale Inklusion einsetzen. Es wächst eine ganz neue Generation mit anderen Visionen heran, auf die wir unbedingt setzen müssen in diesem Prozess.
»Weniger Gewehrkugeln, mehr Kunst.« Graffito in der Metropole Santiago de Cali im Südwesten Kolumbiens.
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Durchs Totenmeer nach Europa
Beginn einer lebensgefährlichen Reise. Schleuserboot mit syrischen Flüchtlingen vor der Küste Alexandrias.
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Werden Balkanroute und Ägäis dichtgemacht, suchen sich Flüchtlinge andere Wege. Die sogenannte zentrale Mittelmeerroute von Libyen und Ägypten nach Europa gilt als die gefährlichste Fluchtroute der Welt. Viele Boote legen östlich von Alexandria ab. Es ist eine Reise, von der niemand weiß, ob er sie überlebt. Von Markus Bickel (Text) mit Fotos von Stanislav Krupar / laif Das Geschrei im Hintergrund will gar nicht zu dem idyllischen Garten mit dem kleinen Hühnerstall und den bunten Blumenbeeten passen. Seit Stunden rufen Angehörige der im HadaraGefängnis Inhaftierten ihren Liebsten Botschaften zu. Dicht an dicht gedrängt stehen die Familienmitglieder der Häftlinge neben den Gleisen, die an Alexandrias größter Haftanstalt vorbeiführen. Die hohen Mauern sollen das Gefängnis in der ägyptischen Hafenstadt eigentlich von der Außenwelt abschirmen. Doch das gelingt nicht: Fünf Jahre nach dem Aufstand gegen Langzeitherrscher Husni Mubarak setzt Militärmachthaber Abdel Fattah al-Sisi auf Repression. Die Gefängnisse sind fester Bestandteil seiner Politik. Nur das Hupen der durchrasenden Regionalzüge unterbricht alle paar Minuten die Rufe der Gefangenen hinter ihren vergitterten Fenstern. Für Markus Schildhauer bildet die surreal anmutende Kommunikation der Inhaftierten mit ihren Familien den täglichen Soundtrack seiner Arbeit bei der Deutschen Seemannsmission in Alexandria. Seit September 2014 ist der 56-Jährige in einem Gebäude neben dem Gefängnis stationiert, um den im Hafen der Mittelmeermetropole ankernden Seeleuten ein offenes Ohr zu schenken. Das ist in diesen Tagen nötiger denn je. Neben dem Eingang des von der Evangelischen Kirche betriebenen Seemannsheims hängt ein Holzkreuz, das aus den Planken von Bootswracks von Flüchtlingen gezimmert wurde, die vor der Küste der italienischen Insel Lampedusa strandeten. Es ist mehr als nur ein Symbol. Denn auch wenn sich die Aufmerksamkeit der europäischen Medien auf die Balkanroute verlagert hat, über die weiter Tag für Tag Tausende Syrer dem Krieg in ihrem Heimatland entfliehen, ist die Flucht über das Mittelmeer nie abgerissen. Allein dieses Jahr schon brachen bis Ende Februar nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) mehr als 120.000 Menschen auf Booten in der Ägäis Richtung Griechenland auf, aus Nordafrika nach Italien 10.000 – mehr als zehnmal so viele wie im gleichen Zeitraum 2015. Dabei hatte bereits das vergangene Jahr alle Rekorde gebrochen: Mehr als eine Million Menschen begaben sich laut UNHCR an den Stränden des Mittelmeers auf die letzte Etappe ihrer Flucht, die meisten von ihnen kamen aus Syrien und Afghanistan. Aber nicht nur aus diesen beiden Kriegs- und Krisengebieten hält der Exodus an. Auch von Nordafrika aus nehmen weiterhin Zehntausende das Risiko auf sich, das Meer, das sie von der Festung Europa trennt, zu überwinden, die Mehrheit von ihnen aus Eritrea, Nigeria, Somalia und dem Sudan. Ein langer, beschwerlicher und gefährlicher Weg, der bis zu 15 Tage dauern kann. Auf 2.887 Tote im vergangenen Jahr beziffert die Internationale Organisation für Migration (IOM) die Zahl der Opfer auf der weltweit gefährlichsten Fluchtroute von Libyen und Ägypten. Die sogenannte zentrale Mittelmeerroute hat sich auch deshalb zur Todesroute entwickelt, weil viele nordafrikanische Schlepper durch die Verlagerung der Flucht in die Ägäis 2015 finanzielle Einbußen hatten. Sie nehmen deshalb jetzt noch weniger Rücksicht auf die Sicherheit der Schutzbedürftigen, sagen Menschenrechtler in Alexandria.
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Zwischenstation Ägypten. Blick aus einer Flüchtlingsunterkunft in Alexandria.
Angesichts der anhaltenden Konflikte in Afrika ist ein Ende des Migrationsstroms Richtung Norden nicht in Sicht und der Druck auf den Transitstaat Ägypten wächst. Weil die Schleusernetzwerke in Libyen durch den Bürgerkrieg und das Erstarken der Terrorgruppe »Islamischer Staat« (IS) nicht mehr so operieren können wie in den ersten Jahren nach dem Sturz des Machthabers Muammar al-Gaddafi, arbeiteten sie zuletzt immer enger mit kriminellen Netzwerken im Nachbarland zusammen. Mitarbeiter von Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen beklagen, dass die ägyptischen Behörden oft die Flüchtlinge ins Visier nehmen, nicht die Schlepper. Tausende Fälle sogenannter Administrativhaft gibt es, selbst Minderjährige werden nach einer gescheiterten Flucht wochenlang inhaftiert. Die irreguläre Migration wird vor allem als Sicherheitsproblem betrachtet, nicht als humanitäres. Zugleich gehen die Schleusernetzwerke seit Beginn der Massenflucht aus der Türkei Mitte 2015 immer gewaltsamer gegen Flüchtlinge vor. Da Tausende Syrer, die von der ägyptischen Küste aus in See stachen, über weitaus mehr Zahlkraft verfügten als afrikanische Migranten, sei der Kampf um die Marktanteile voll entbrannt. »Diese Reisegesellschaften haben jetzt Umsatzeinbußen«, sagt Schildhauer. Viele Boote legen östlich von Alexandria ab, in der Provinz Kafr al Sheikh. Hier profitieren korrupte Sicherheitskräfte des Regimes von al-Sisi von der Kooperation mit den Kriminellen, ähnlich wie verarmte Fischer, die ihre Boote Schlepperbanden zur Verfügung stellen. Während an der tausend Kilometer langen Westgrenze Ägyptens zu Libyen traditionelle Schmuggelrouten unterbrochen wurden, nachdem die Militärpräsenz gegen den IS aufgestockt wurde, bieten sich den Schleusern im Umland Alexandrias weiterhin ideale Bedingungen weitgehend außerhalb staatlicher Kontrolle. Schiffswracks liegen vor der Küste, an den Stränden angespült finden sich Kleidungsstücke,
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Vor der Überfahrt. Syrer auf der Nelson-Insel
Schuhe, zersplittertes Holz und rostige Nägel. Zwischen 2.500 und 6.000 US-Dollar verlangen die Schleuser von den Geflüchteten für die Überfahrt, von der keiner weiß, ob er sie überlebt. Die Gegend rund um die Hafenstadt ist auch deshalb zum neuen Anziehungspunkt für Syrer, Eritreer, Äthiopier, Sudanesen, Südsudanesen und Somalier geworden, weil die alte Fluchtroute über die Sinaihalbinsel Richtung Israel inzwischen verwaist ist. Dort hatte es bis zum Bau des israelischen Sperrzauns 2014 massive Menschenrechtsverletzungen gegeben. Tausende Ostafrikaner sollen von 2009 bis 2013 von Menschenhändlern entführt worden sein, die deren Familien in den Herkunftsländern dann zu Lösegeldzahlungen zwangen. Viele wurden von ihren Peinigern gefoltert. Die Profite beliefen sich auf geschätzt mehr als 600 Millionen Dollar. Ein weiterer Push-Faktor, der nicht nur Ostafrikaner, sondern auch viele in Ägypten gestrandete Syrer nach Europa weitertreibt, ist die miserable humanitäre Situation im Land selbst. Zehntausende Syrer waren bereits in den Monaten nach Beginn des Aufstands gegen Syriens Diktator Baschar al-Assad 2011 an den Nil gekommen. Kairo und Alexandria wurden rasch zu Zentren der Exilanten-Szene. Der 2012 zum Präsidenten gewählte Muslimbruder Mohamed Mursi legte Angehörigen des arabischen Brudervolks zunächst keine Visarestriktionen auf. Das änderte sich nach dem Putsch des Militärmachthabers alSisi gegen den islamistischen Staatschef im Sommer 2013. Seitdem wurden die rund 120.000 Syrer, die als Flüchtlinge registriert sind, nicht nur Opfer von Diskriminierung, sie sind auch von sinkenden UNHCR-Budgets betroffen. Weil das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen seine Ausgaben für syrische Flüchtlinge in der Region immer weiter zusammenkürzt, fallen inzwischen mehr als neunzig Prozent der in Ägypten Registrierten unter die Armutsgrenze. Die Europaparlamentarierin Barbara Lochbihler, die in Kairo
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»Oft sind nur zwanzig Schwimmwesten an Bord, mit denen man nicht 400 Menschen retten kann.«
bei Alexandria, wo viele Flüchtlingsboote in See stechen.
am fünften Jahrestag des Mubarak-Sturzes im Januar 2016 mit Flüchtlingsinitiativen zusammentraf, fordert deshalb eine Aufstockung der UNHCR-Gelder durch die EU-Staaten und eine aktive Migrationspolitik Brüssels, die Wirtschaftsmigranten ebenso wie politischen Flüchtlingen legale Einreisemöglichkeiten bietet. Man müsse endlich der Tatsache Rechnung tragen, dass viele derjenigen, die auf Zwischenstation in Ägypten gelandet sind, »die Hoffnung ihrer Familien mit sich tragen, Geld zu verdienen«, sagt die Grünen-Politikerin. Zwei Drittel der rund 25.000 Geflüchteten im Land zieht es weiter nach Europa, Nordamerika oder in die reichen Golfstaaten, ergab eine Untersuchung der ägyptischen Statistikbehörde Capmas.
Bis zuletzt schob Ägypten Syrer ab Auch deshalb sei das Kalkül der Ausreiseweilligen leicht nachzuvollziehen, sagt Seemannsmissionsleiter Schildhauer: Selbst wenn die Chance nur bei fünfzig Prozent läge, Europa zu erreichen, lohne sich aus ihrer Sicht das Risiko. Auch wenn Kriminelle immer öfter »Seelenverkäufer« für viel Geld auf eine Reise mit ungewissem Ausgang schickten, um ähnliche Profite wie zuletzt die Schleuserbanden in der Türkei zu erzielen. Die Gefahr, in die Hände ägyptischer Sicherheitskräfte zu gelangen, die die Ablegestellen sporadisch kontrollieren, schreckt nicht viele ab. Und das, obwohl die Behörden trotz internationaler Kritik bis zuletzt Syrer zurück nach Damaskus abschoben – ein Freifahrtschein in Folter und Tod. Fluchtexperten rechnen dennoch damit, dass die Versuche der EU-Grenzschutzagentur Frontex und der EU-Mittelmeermission »Eunavfor Med«, die Zahl der Flüchtlinge in der Ägäis zu reduzieren, die gefährliche zentrale Mittelmeerroute wieder aufwerten könnten. Zumal die Flucht im östlichen Mittelmeer durch die stärkeren Kontrollen schon heute immer gefährlicher wird: Allein in den ersten beiden Monaten dieses Jahres kamen
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321 Menschen bei auf der Überfahrt von der Türkei zu den griechischen Inseln ums Leben. Zum Vergleich: Allein von Juni bis Dezember 2015 bestiegen 815.350 Menschen an türkischen Stränden die vermeintlich rettenden Boote Richtung EU, in Libyen, Ägypten und vereinzelt noch Tunesien und Marokko laut IOM lediglich 106.393. Die beiden Maghreb-Staaten haben in den vergangenen Jahren ihre Seepatrouillen so intensiviert, dass eine Flucht durch die Straße von Gibraltar oder auf die 75 Kilometer vom tunesischen Festland entfernte italienische Insel Pantelleria kaum noch gelingt. Doch dieser Trend könnte sich Geheimdiensten zufolge umkehren: Zwischen 150.000 und 200.000 Flüchtlinge warten demnach derzeit auf besseres Wetter, um von Libyen oder Ägypten aus die Fahrt übers Mittelmeer zu wagen. Bislang kommen die Flüchtlinge vor allem aus Eritrea, Nigeria und Somalia. Aber auch die Zahl der Migranten aus Syrien steigt seit dem Jahreswechsel bereits wieder.
Die Furcht vor herumtreibenden Leichen Die traumatischen Folgen der Flüchtlingsbewegungen bekommen längst auch die Seeleute privater Reedereien zu spüren, sagt Schildhauer. Erst jüngst habe ihn ein verzweifelter Kapitän angerufen, nachdem er ein Schiff mit 400 Menschen, die schon seit zwei Wochen zusammengepfercht unterwegs waren, vor dem Untergang gerettet habe. Er vertraute ihm an, dass er sich kaum noch traue, tagsüber abzulegen, weil er fürchte, wieder mit herumtreibenden Leichen konfrontiert zu sein. Die Besatzungen seien überhaupt nicht adäquat vorbereitet auf das tägliche Elend auf hoher See, klagt Schildhauer. Oft seien lediglich zwanzig Schwimmwesten an Bord, mit denen schwerlich 400 Menschen gerettet werden könnten. Hilfsorganisationen gehen davon aus, dass Unternehmen der Handelsschifffahrt 2014 40.000 Bootsflüchtlinge retteten. Doch die Bilder derer, die es nicht lebend schafften, lassen viele nicht los. Zumal die Methoden der Schlepper immer grausamer werden, sagt Schildhauer. Mittlerweile würden vor der ägyptischen Küste kleinere Boote oft nur noch eingesetzt, um die Passagiere zu größeren Schiffen vor der libyschen Küste zu bringen, wo sie dann »vergleichbar mit Viehtransporten umgeladen« würden. Dass einige dabei ertrinken, werde als »Kollateralschaden« hingenommen. Es sei ein Skandal, dass man diese Menschen überhaupt zur lebensgefährlichen Überquerung des Mittelmeeres zwinge, wenn sie am Ende doch einen Aufenthalt bekämen. Dem pflichtet auch die EU-Abgeordnete Lochbihler bei: »Der wirksamste Weg, das Schlepperwesen zu bekämpfen, ist, legale Einwanderungsmöglichkeiten zu schaffen.« Der Autor war bis 2015 Nahost-Korrespondent der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« in Kairo. Heute arbeitet er als Journalist in Berlin.
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Aufgeladener Konflikt – der globale Kobalthandel Auch Kinder bauen das für Akkus benötigte Kobalt ab: Arbeitsunfälle in den Minen und schwere Krankheiten durch Kontamination sind alltäglich. Aber wie gelangt Kobalt in die globale Lieferkette? Amnesty verfolgte den Weg des Minerals aus den Minen bis in die Lieferkette multinationaler Konzerne.
aufladbarer Akku
KOBALT IST EINER DER WICHTIGSTEN BESTANDTEILE VON AUFLADBAREN LITHIUM-IONEN-AKKUS.
Amnesty: Bei der Kobaltgewinnung in Katanga im Süden der DR Kongo konnten wir Kinderarbeit und Menschenrechtsverletzungen beobachten. Ist Ihre Lieferkette betroffen?
Samsung SDI: Für uns ist es unmöglich, festzustellen, ob das an Samsung SDI gelieferte Kobalt von den Katanga-Minen in der DR Kongo stammt. Microsoft Corporation: Wegen der Komplexität unserer Lieferkette und der regionalen Vermischung des Materials sind wir nicht in der Lage, mit vollständiger Gewissheit zu sagen, ob ein Teil unseres Kobalts oder überhaupt keines davon auf die Erzminen in Katanga zurückzuführen ist.
VERFÜGBARES RAFFINIERTES KOBALT*
in Akkus von Laptops und Smartphones
*Erfasst sind nur die Mengen, die von den Produzenten gemeldet werden. Vermutlich sind die Zahlen noch höher. in Autobatterien
in Akkus von Elektroautos
91.700 Tonnen
56.800 Tonnen
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GESUNDHEITSGEFÄHRDENDE ARBEITSBEDINGUNGEN SCHWERMETALL-LUNGE UND ANDERE SCHWERE KRANKHEITEN Das Einatmen von Kobalt-Partikeln kann zu Atemwegsreizungen, Asthma, Kurzatmigkeit und einer Verschlechterung der Lungenfunktion führen. Dauerhafter Hautkontakt kann Hautentzündungen verursachen.
40.000 Minderjährige UNICEF schätzt, dass in den Minen im Süden der DR Kongo rund 40.000 Kinder arbeiten. Die Kinder arbeiteten bis zu zwölf Stunden täglich für einen Lohn von 1 bis 2 US-Dollar. industrie ll g efö rd e
Die Mehrzahl der Minenarbeiter verfügt nicht einmal über einfache Schutzausrüstung wie Handschuhe, Arbeitskleidung und Staubschutzmasken. Im Süden der DR Kongo starben allein zwischen September 2014 und Dezember 2015 mindestens 80 Minenarbeiter.
EINE LIEFERKETTE VOM MINENARBEITER ZUM FERTIGEN PRODUKT KOBALT-MINEN
industrieller und handwerklicher Abbau unter Menschenrechtsverletzungen
ZWISCHENHÄNDLER an den auch Kinder ihr Kobalt-Erz verkaufen
GROSSHÄNDLER in der DR Kongo
EINSCHMELZUNG/RAFFINERIE durch die im Kongo ansässige Tochtergesellschaft eines chinesischen Konzerns
rt
FEHLENDE SCHUTZAUSRÜSTUNG
KINDERARBEIT
DR Kongo
n e r rt e it r d e b r v o n M i n e n a g efö h a n d w e r k li c h
HINTERGRUND DER KOBALTINDUSTRIE
52,5 %
Die Minenarbeiter verwenden Hammer und Meißel sowie anderes Werkzeug, um in den Minen in zehn und mehr Metern Tiefe zu arbeiten.
EXPORT NACH CHINA
20 %
an Huayou Cobalt, einen der weltgrößten Verarbeiter von Kobalt-Produkten
VERTRAGSPARTNER/MONTAGE Weiterverarbeitung und Herstellung von Lithium-Ionen-Akkus
INTERNATIONALE ELEKTRONIK- UND AUTOKONZERNE die kobalthaltige Akkus für Smartphones, Laptops sowie Elektroautos und Autobatterien benötigen und jede Verantwortung für die Zustände beim Kobalt-Abbau von sich weisen Apple Inc., Dell, HP Inc., Huawei, Lenovo, LG, Microsoft Corporation, Samsung, Sony, Vodafone, Volkswagen, Daimler AG und BYD.
der weltweiten KobaltProduktion stammen aus der Demokratischen Republik Kongo.
des Kobalts, das gegenwärtig aus der DR Kongo exportiert wird, stammen aus der Förderung durch Handarbeit in selbstgegrabenen Minen.
Neben der industriellen Förderung gibt es schätzungsweise 110.000 bis 150.000 Minenarbeiter, die mit einfachsten Mitteln Erz fördern.
Grafik: infotext-berlin.de
DemokrAtische repUblik kongo
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KULTUR
Ist gegangen, bevor sie gegangen wurde. Katarzyna Janowska.
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»Ich fürchtete mich« Die rechtspopulistische Regierung Polens hat die Medienfreiheit stark eingeschränkt. Ein Gespräch mit der ehemaligen Chefredakteurin des öffentlich-rechtlichen Senders »TVP Kultura« Katarzyna Janowska. Interview: Gabriele Lesser
Sie waren bis vor Kurzem Chefin des öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders »TVP Kultura«. Warum haben Sie gekündigt? Einen Tag nach Weihnachten diskutierten die polnischen Abgeordneten über die öffentlich-rechtlichen Medien. Gegen den Widerstand der Opposition peitschte die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS), die die absolute Mehrheit hat, das »kleine Mediengesetz« durch die beiden Parlamentskammern Sejm und Senat. Dabei ging es nur um eines: die bisherigen Chefs gegen neue auszutauschen.
Foto: Albert Zawada / Agencja Gazeta
Hatten Sie etwas anderes erwartet? Vor den Wahlen im Oktober 2015 klangen die Ankündigungen der PiS gar nicht so schlecht. Die öffentlich-rechtlichen Medien sollten in Kulturinstitute umgewandelt werden und eine feste Finanzierung erhalten. Das war bislang ein großes Problem. Ich musste 80 Prozent meiner Arbeitszeit damit verbringen, Drittmittel für unsere Programme einzuwerben. Das »kleine Mediengesetz« machte dann aber schnell klar, dass das öffentlich-rechtliche Fernsehen vollständig der Politik untergeordnet werden soll.
intervieW: kAtArZynA jAnoWskA
Wie muss man sich das vorstellen? Natürlich waren die Medien nie ganz frei von Politik, aber jetzt ist es so, dass der Minister für Staatsvermögen den Fernsehintendanten beruft und auch jederzeit wieder abberufen kann, wenn er sich zum Beispiel parteipolitisch nicht bewährt. Denn der Auftrag des öffentlich-rechtlichen Fernsehens wird nun nicht mehr von einem Gremium verschiedener politischer und gesellschaftlicher Gruppen definiert, sondern nur noch von einer Partei und ihrem Vorsitzenden, also von der PiS und Jaroslaw Kaczynski.
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»Das öffentlich-rechtliche Fernsehen wird sich in ein Partei-Fernsehen verwandeln.« Wurde »TVP Kultura« für sein bisheriges Programm kritisiert? Ja, das war bitter. Angeblich hätten wir Fernsehjournalisten in den vergangenen acht Jahren das schlechteste Fernsehen aller Zeiten gemacht. Das warfen uns die Politiker in eben jener stürmischen Sejm-Sitzung vor, in der das »kleine Mediengesetz« verabschiedet wurde. Damit war für mich klar, dass meine Mission beendet war. Ich wollte nicht gefeuert werden, also kündigte ich. Was werden Sie nun machen? Ich habe gekündigt, bis zum letzten Tag gearbeitet, bin dann in Urlaub gegangen und erst einmal krank geworden. Sobald es mir wieder besser geht, werde ich mich umsehen. Ich habe verschiedene Ideen und überlege sogar, mich als Filmproduzentin selbstständig zu machen. Es gibt auch erste Angebote, aber genau weiß ich es noch nicht.
Im Wahlkampf war zu hören, dass die öffentlich-rechtlichen Medien zu regierungsfreundlich waren. Das war der Vorwurf, aber wir haben uns immer bemüht, das ganze politische Spektrum abzudecken. Die Statistiken haben später ja auch gezeigt, dass die Vorwürfe der PiS und des damaligen Präsidentschaftskandidaten Pawel Kukiz aus der Luft gegriffen waren. Sie waren in den Nachrichten wie auch in den Talkshows und publizistischen Programmen genauso vertreten wie die damaligen Regierungsparteien. Im Übrigen spricht ja auch das Wahlergebnis dafür, dass es hier keinerlei politische Diskriminierung gegeben hat. Warum hat die liberal-konservative Koalition aus PO und PSL die öffentlich-rechtlichen Medien nicht in Kulturinstitute umgewandelt und ihnen eine solide Finanzierung garantiert? Ich weiß es nicht. Die PO-PSL-Regierung hat die Rolle der Medien vollkommen unterschätzt und sich weder für das Fernsehen noch für die Kultur interessiert. In den Reden von Premier Tusk und Präsident Komorowski ging es eigentlich immer nur um Politik und Wirtschaft. Kultur kam darin nur ganz selten vor. Das wird unter der rechtspopulistischen PiS nun anders? Zumindest hat die Partei das so angekündigt. Wie genau sich das Fernsehprogramm in den »nationalen Kulturinstituten« entwickeln wird, müssen wir abwarten. »Kultur, Geschichte, Patriotismus« – das sind die Schlüsselbegriffe der PiS. Foto: Thierry Monasse / Polaris / laif
Sie sagten, dass die öffentlich-rechtlichen Medien in Polen nie ganz frei von Politik waren. Haben Sie Anweisungen bekommen? Nein, ganz und gar nicht. Es gab nie Telefonate oder direkte politische Eingriffe ins Programm. Ich habe unter dem Intendanten Juliusz Braun eine große Freiheit genossen und konnte mein Programm so realisieren, wie ich es mir vorstellte. Die einzige Einschränkung waren die stets viel zu knappen finanziellen
Mittel. Dennoch gab es im Sender so etwas wie politische Einflusszonen. Intendant Braun galt als ein Mann der liberalen Bürgerplattform PO, seine Stellvertreter waren mit der Bauernpartei PSL und der Linksallianz SLD verbunden. Ich unterstand Braun, der für die Informationssendungen und die Spartenprogramme verantwortlich war. Wir trafen uns einmal in der Woche auf einer Konferenz und besprachen das Programm. Da ging es aber nie um politische Fragen. Es gab auch nie Vorgaben, welche Gäste wir einladen sollten. Das war ganz allein Sache der Redakteure.
Im Zentrum der Macht. PiS-Vorsitzender Jaroslaw Kaczynski umringt von Unterstützern.
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Foto: Krystian Dobuszynski / NurPhoto / pa
»Wer wollen wir sein?« Proteste für M einungsfreiheit in Warschau, J anuar 2016.
Werden Ihre Sendungen den Machtwechsel überstehen? Das ist schwer zu sagen. Wir hatten elf Sendungen entwickelt, die jede Woche oder jeden Monat wiederkehrten. Unser Flaggschiff war die Talkshow »Die Abflughalle«, die ich gemeinsam mit Maks Cegielski moderierte. Diese Sendung, die gewissermaßen zu meinem Markenzeichen wurde, wird es nicht mehr geben. Vielleicht überlebt »Cappuccino mit einem Buch« oder die Sendung über die polarisierende Kunst Zbigniew Liberas, die wir im Abenteuer-Entdecker-Stil aufgezogen haben. Aber das wird sich alles erst zeigen. Noch wird vorproduziertes Programm gesendet. Kennen Sie Ihren Nachfolger Mateusz Matyszkowicz? Nein, wir sind uns noch nicht begegnet. Aber seine Freunde aus der rechten Hipster-Szene waren schon zu Gast in der »Abflughalle«. Vermutlich wird er weniger Wert auf die aktuelle Kunstentwicklung in Europa und der Welt legen und das Programm mehr auf polnische Volks- und Sakralkultur fokussieren. Aber das sind Spekulationen. Wir müssen es abwarten. Sie haben sich mit dem biblischen Spruch »Fürchtet Euch nicht!« auf Ihrer Facebook-Seite von Ihren bisherigen Zuschauern verabschiedet. Ja, mit einem Foto von der neuesten Theaterinszenierung von Jan Klata in Krakau – eine hervorragende Aufführung von Henrik Ibsens »Volksfeind«, in dem es um die moralisch korrumpierte politische Macht geht. Wie wir alle wissen, muss ja auch Jan Klata fürchten, seine Stelle als Theaterregisseur zu verlieren. Ich selbst habe mich auch gefürchtet, so wie viele andere Menschen in Polen sich derzeit vor der Zukunft fürchten. Mehr als 800 Menschen haben dieses »Fürchtet Euch nicht!« geteilt. Dabei stand es nur auf meiner privaten Facebook-Seite. Ministerpräsidentin Beata Szydło spricht vom »guten Wandel«, den die PiS-Regierung den Polen bringe. Wie passen die
intervieW: kAtArZynA jAnoWskA
Ängste vieler Polen dazu und die ständigen Proteste im ganzen Land? Wenn ich für das Fernsehen spreche, ist die Sache völlig klar: Noch nie stand an der TVP-Spitze ein so klar profilierter Parteipolitiker wie der rechtsnationale Jacek Kurski. Er selbst hat sich den Spitznamen »Bullterrier Kaczynskis« gegeben. Das sagt doch alles. Man muss sich keinerlei Illusionen hingeben: Unter Kurski wird sich das öffentlich-rechtliche Fernsehen in ein Partei-Fernsehen verwandeln. Können die beinahe wöchentlichen Demonstrationen des »Komitees zur Verteidigung der Demokratie« die neue Regierung aufhalten oder zum Umdenken bewegen? Nein, das glaube ich nicht. Mehr noch: Ich befürchte, dass mit der Zeit immer weniger Leute protestieren werden. Noch gibt es ja die privaten Medien. Noch gibt es das Verfassungsgericht, auch wenn es kaum noch arbeiten kann. Aber wenn zu der Scheinnormalität unseres Alltags noch Angst kommt – die Angst vor den Fremden, den Flüchtlingen, den Russen – dann kommen die Proteste womöglich vollends zum Erliegen. Das Komitee müsste eine neue positive Vision entwickeln, die eine Antwort auf die uns seit Jahren umtreibende Frage gibt: Wer wollen wir eigentlich sein in Zukunft?
intervieW kAtArZynA jAnoWskA Katarzyna Janowska war vier Jahre Direktorin des öffentlich-rechtlichen Kultursenders »TVP Kultura«. Zum Fernsehen kam die Journalistin 1995. Einen Namen hat sie sich mit dem Interviewzyklus »Gespräche zum Ende des Jahrhunderts« gemacht. Der Zyklus ist auch in Buchform erschienen und gilt als Klassiker der Interviewkunst.
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Fotos: Berlinale
Ausgezeichnet. »Fuocoammare – Fire at the Sea«.
Ausgezeichnet. »Royahaye Dame Sobh – Starless Dreams«.
Doppelt gewonnen Berlinale 2016: Der diesjährige Amnesty-Filmpreis geht an zwei Dokumentarfilme: »Royahaye Dame Sobh – Starless Dreams« und »Fuocoammare – Fire at the Sea«. Von Jürgen Kiontke
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as ist dein Traum?« – »Zu sterben.« Die Hauptdarstellerinnen in Mehrdad Oskoueis Berlinale-Beitrag »Royahaye Dame Sobh – Starless Dreams« blicken düster in die Zukunft: Mädchen, die in einer Teheraner Besserungsanstalt einsitzen, Drogenkarrieren hinter sich haben, krasse Gewalt erfahren und auch selbst verübt haben. Sie sollen lernen, wie Leben funktioniert. Kann das gelingen? Sie sind in Zellen gesperrt, waren Gangmitglieder und haben Arme voller Schnitte. »Schmerz tropft hier von den Wänden«, heißt es in einer Einstellung dieses eindrucksvollen Dokumentarfilms: Gehemmte Aggression bestimmt die Atmosphäre. Aber ebenso erlebt der Zuschauer das genaue Gegenteil: ausgelassen lachende Jugendliche, die für einen Moment vergessen, was ihr Leben bestimmt, ihre zum Teil schweren Depressionen, gegen die sie Medikamente nehmen müssen. Die Arbeit am Film führt sie auf eine Ebene des kreativen Schaffens. Sieben Jahre wartete das Team um den iranischen Regisseur Oskouei auf die Drehgenehmigung. Dann hatte es drei Monate Zeit, eine weltweit verständliche Filmsprache zu finden, die die Lage benachteiligter Kinder und Jugendlicher ins Bild setzt. »Auffällige Schönheit und stilsicheren Respekt« entdeckten die Mitglieder der diesjährigen Jury des Amnesty-InternationalFilmpreises in diesem traurigfrohen Dokument eines gescheiterten Lebensbeginns. In der Jury saßen die Schauspielerin Meret Becker, der Regisseur Dani Levy und – als Vertreterin von Amnesty – die Kommunikationsberaterin Sabine Wessels. Dass Oskoueis Werk hier nicht allein als Siegerfilm vom Platz ging, ist in den Augen der Jury der außergewöhnlichen Qualität von Gianfranco Rosis Film »Fuocoammare – Fire at the Sea« zu verdanken. Sein Wettbewerbsbeitrag mag stilistisch recht behutsam daherkommen, bietet aber strukturell eine
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umso drastischere Konstellation. Der Dokumentarfilm berichtet von den Flüchtlingen auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa; wie sie in kaputten Booten über das Meer kommen, von den Besatzungen der Küstenwache aus den Seelenverkäufern geholt werden – und auch wie sie bei der Überfahrt sterben. Ins Zentrum der Erzählung rückt immer wieder der Arzt auf Lampedusa, einem Eiland von 20 Quadratkilometern, auf dem in den vergangenen Jahren 400.000 Flüchtlinge gelandet sind. Aber der wirkliche Kontrast, der für die Spannung sorgt, ist der schlagfertige Samuele, ein zwölfjähriger Italiener, der hier aufwächst und den die Kamera in seinem Alltag begleitet. Samuele hat Probleme in der Schule, sieht schlecht auf einem Auge, treibt sich mit einem Kumpel herum und übergibt sich, sobald er mit einem Boot fahren muss – und das als Spross einer Fischerfamilie. Sein eigenes Leben und das seiner Familie kommentiert er mit gekonnter Ironie. Beiläufiges aus dem Leben eines ganz normalen Jungen. Hier macht Rosis Film klar: Selbstverständlichkeiten gibt es nicht, nichts kann dem Publikum gewiss sein. Mit seiner Mischung aus skurrilen, traurigen, komischen und bedrückenden Szenen vermittle der Film das ganze Ausmaß der Tragödie von Lampedusa, urteilte die Amnesty-Jury, die den Film aus 15 nominierten Beiträgen auswählte. Mit dieser Meinung war sie nicht allein. Das Porträt des Sehnsuchtsortes Lampedusa und zugleich des gesamten Dramas an der europäischen Mittelmeerküste hat auch die BerlinaleJury um Präsidentin Meryl Streep beeindruckt. »Fuocoammare« ging nicht nur mit dem Amnesty-Preis, sondern auch mit dem Hauptpreis des Festivals, dem Goldenen Bären, nach Hause. Beiden Filmen ist gemein: Sie bewegen sich zwischen jugendlicher Lebensfreude und Todeszone. Die Arbeit beider Künstler zeichnet aus: Liebe für ihr Thema und genaues Hinsehen. »Royahaye Dame Sobh – Starless Dreams«. Iran 2016. Regie: Mehrdad Oskouei »Fuocoammare – Fire at the Sea«. It/F 2015. Regie: Gianfranco Rosi
Amnesty joUrnAl | 04-05/2016
Kino ist ein Wunder, Eine klare Botschaft findet Meret Becker. fordert Herz und Geist, sagt Dani Levy.
Meret Becker, wie fanden Sie die nominierten Filme? Sensationell. Ich hoffe, diese Filme werden einem breiteren Publikum gezeigt. Ich bin froh, dass ich die Jury-Arbeit machen durfte. Man bekommt so viele Einblicke in Welten, die man sonst niemals zu sehen bekäme. Das ist ein Geschenk. Im Übrigen finde ich es großartig, dass Amnesty International am Ende noch einen zweiten Preis herausgegeben hat.
Konnte sich die Jury nicht auf einen Preisträger einigen? Doch, auf zwei – und zwar einstimmig! »Royahaye Dame Sobh – Starless Dreams« ist eine Perle. Ich hoffe, dass der Preis einem Meisterwerk wie diesem Aufmerksamkeit verschafft. Von der ersten Minute an ist man mitten in dieser Geschichte und liebt die Protagonistinnen: lauter junge Frauen und Mädchen in einer Besserungsanstalt, die voller Träume und Lebensfreude sind, die aber letztlich keine Chance haben, »denn die Verhältnisse, sie sind nicht so«. Aber man wünscht es ihnen von ganzem Herzen. Man verliebt sich in diese Menschen, die voller Trauer und gleichzeitig voller Komik sind. Der Film ist sensationell fotografiert, man vergisst, dass es eine Dokumentation ist. Und er geht sehr einfühlsam mit den Protagonistinnen um. Ich will den iranischen Beitrag unbedingt noch einmal sehen, ich will, dass meine Tochter ihn sieht, diese Mädchen »kennenlernt«, dass er viel Publikum bekommt. Solche Filme sind sehr schwer zu machen, ich glaube, dass das Preisgeld hier wirklich gebraucht wird. Und der zweite Film? An »Fuocoammare« kommt man in der heutigen Zeit nicht vorbei, weil dies ein Werk ist, das sich dem Flüchtlingsthema auf einzigartige raffinierte Weise nähert. Er hat ja dann auch den Goldenen Bären gewonnen. Das spricht auch für die Hochwertigkeit der von Amnesty ausgezeichneten Filme.
Dani Levy, dieses Jahr gibt es zwei Amnesty-Filmpreise … Ja, das resultiert aus der großen Liebe für eben mehr als einen Film. Das Gute ist: Wir konnten das Preisgeld zweimal vergeben. Und das bei einem renommierten Preis! Als Filmemacher weiß ich, dass Preise für das Herausbringen und die Pressearbeit von Filmen eine wirklich wichtige Sache sind. »Fuocoammare« ist ein sehr stiller Film, beobachtend und fast schon distanzierend. Er stürzt sich nicht auf sein Thema, er hält sich dezent zurück. »Starless Dreams« geht mit großem Respekt zu den Mädchen ins Heim. Hier wird nicht nach Aufmerksamkeit gestrampelt. Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen Inhalt und Kunst? Wenn du in die Filmjury von Amnesty International gehst, denkst du natürlich, dass hier nicht unbedingt die Kunstfilme laufen. Aber das Gegenteil ist richtig: Starke Inhalte fordern eine klare filmische Sprache. Filme mit einer klaren Botschaft müssen mit einem starken Herzen und klarem Geist gemacht werden. Dann finden sie auch eine gute Form. Könnten Sie sich vorstellen, selbst als Regisseur auf diesem Terrain zu arbeiten? Grundsätzlich schon. Aber das, was ich kann, habe ich als Autodidakt bei Spielfilmen gelernt. Ein Dokumentarfilm wäre für mich eine echte Aufgabe. Man muss dabei auch bedenken, was Arbeiten wie die von Rosi und Oskouei bedeuten – und in welche emotionalen Zustände man unter Umständen mit solchen Projekten kommt.
Warum sind solche Stoffe im Kino gut aufgehoben? Filme können ein Wunderwerk vollbringen: Menschen Menschen nahebringen. Ich glaube, würde man die Leute, die bestimmte Menschen ablehnen, ins Kino bekommen, würde der eine oder andere seine Meinung ändern und Verständnis entwickeln. Allein, darin liegt die Schwierigkeit.
Eine Lebensaufgabe? Ja – und das ist vielleicht auch ganz wörtlich zu nehmen: Wenn man, wie bei »Starless Dreams«, sieben Jahre auf eine Drehgenehmigung wartet.
Amnesty-Jurorin. Schauspielerin Meret Becker.
Amnesty-Juror. Regisseur Dani Levy.
Fotos: Henning Schacht / Amnesty
Interviews: Jürgen Kiontke
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Mann mit Haltung Er war einer der wichtigsten Intellektuellen Deutschlands und viele Jahre Unterstützer von Amnesty International. Erinnerungen an Roger Willemsen. Von Harald Gesterkamp
Menschenrechte waren für ihn mehr als eine Floskel. Roger Willemsen.
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ls ich am Tag seines Todes den Nachruf auf Roger Willemsen bei »Spiegel Online« gelesen habe, musste ich – bei aller Trauer um einen großartigen Menschen – für einen Moment schmunzeln. Nils Minkmar, der in den neunziger Jahren in der Redaktion von »Willemsens Woche« beim ZDF arbeitete, berichtet darin, dass die Zeit für die Vorbereitung einer Sendung öfter mal knapp wurde, weil Roger Willemsen dem Amnesty Journal am Telefon mal wieder stundenlange Interviews gegeben habe. Es stimmt.
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Gleich mein allererstes Telefonat mit Roger Willemsen hat mehr als 60 Minuten gedauert. Ich war damals verantwortlicher Redakteur des Amnesty Journals und wegen einer Mutterschaftsvertretung auch Leiter der Pressestelle. Als das Telefon klingelte, war Willemsen selbst dran, nicht einer seiner Mitarbeiter. Es sei ihm wichtig gewesen, persönlich anzurufen, sagte er. Ich weiß gar nicht mehr genau, zu welchem Land oder Thema er damals Informationen benötigte, aber ich weiß noch genau, dass er ungemein sachkundig, konzentriert, reaktionsschnell und schlagfertig war.
Amnesty joUrnAl | 04-05/2016
Foto: Martin Leissl / laif
Ich stellte ihm ein Paket zusammen und schickte es ihm zu. Zwei Tage später rief er wieder an. Er wolle sich nur für die schnelle Zusendung des Materials bedanken. Wir telefonierten wieder länger als eine Stunde, tauschten Anekdoten aus der Medienwelt aus, spotteten gemeinsam über den einen oder anderen mehr oder weniger berühmten Zeitgenossen (auch aus der Politik) und diskutierten über Möglichkeiten, wie man Menschenrechtsthemen im Fernsehen platzieren könnte. Mit jeder Minute wurde klarer, dass hier ein Mensch darauf wartete, endlich etwas für Amnesty International tun zu können. Gemeinsam mit Nadja Malak, die damals in der Kampagnenabteilung arbeitete, entwickelten wir die Idee eines Botschafters für Amnesty International. Wenig später lernten wir Roger Willemsen dann auch persönlich im Amnesty-Büro in Bonn, seinem Geburtsort, kennen. Es sollten weitere Begegnungen folgen. An die vielen öffentlichen Auftritte von Roger Willemsen für Amnesty International werden sich viele erinnern: Jahresversammlung 1999 in Lünen, Start der Antifolterkampagne ein Jahr später. Die Laudatio bei der Verleihung des Menschenrechtspreises an die türkische Anwältin Eren Keskin 2001 – eine Veranstaltung, bei der er nebenbei auch noch die Musiker vermittelte. Diskussionsveranstaltungen auf der Buchmesse, weitere Moderationen zu Verleihungen des Menschenrechtspreises und natürlich auf der Veranstaltung zum 50-jährigen Bestehen von Amnesty International mit 6.500 Besuchern am Rande der lit.Cologne 2011 in Köln – unter anderem mit Nina Hoss, Katja Riemann, Charlotte Roche und Herbert Grönemeyer. Es gibt viele Prominente, die Nichtregierungsorganisationen unterstützen. Viele stellen ihr Foto zur Verfügung und Agenturen formulieren dann für sie einen Satz, der die besondere Notwendigkeit der geförderten Gruppierung hervorhebt. Roger Willemsen war anders. Er lebte den Botschafter für Amnesty International. Wie kaum ein anderer setzte er sich inhaltlich mit den Themen von Amnesty auseinander. Dabei war er unendlich klug, sehr empathisch, stets perfekt vorbereitet, nie sensationslüstern und immer inspirierend. Auf der Jahresversammlung in Lünen hielt er ein philosophisch fundiertes Plädoyer gegen die Todesstrafe, bezeichnete sie als »Amoklauf eines Sühnegedankens« und stellte fest: »An der Frage der Todesstrafe hängt mehr als nur eine juristische Spitzfindigkeit, an dieser Frage hängt unser gesamtes Verständnis des Lebens und seines Wertes.« In einer seiner Interview-Sendungen hatte Willemsen Jahre zuvor eine Live-Schaltung in einen US-Todestrakt organisiert und mit dem Todeskandidaten Roger Keith Coleman gesprochen. Der saß offensichtlich unschuldig im Todestrakt; es gab sogar einen anderen Mann, der das Coleman zur Last gelegte Verbrechen gestanden hatte. Dennoch wurde Coleman hingerichtet. Ein Erlebnis, von dem Willemsen immer wieder erzählte und das ihn und seine Haltung prägte. Ergreifend und drastisch waren seine Worte, die er zum Start der Antifolterkampagne 2000 fand. Er wollte niemanden schonen bei dem Thema. »Sich Abwenden ist Teil der Folter«, sagte er und rief zu tätigem Widerspruch auf – der »einzig plausiblen Form einer Verlängerung des Gedankens in die Praxis«. Denn, so Willemsen damals: »Jeder Akt der Folter ist einer, den diese Weltöffentlichkeit nicht verhindert hat. Das muss sie sich eingestehen und indem sie sich das eingesteht, bekennt sie auch, dass sie die Folter zwar selbst nicht gestattet, sie aber global zumindest toleriert.«
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»Ich hoffe, Roger Willemsen wusste, als er ging, dass er etwas bewegt hat.« Wir wissen es. Auch als ich schon längst nicht mehr hauptamtlich für Amnesty International gearbeitet habe, setzte Willemsen sein Engagement für die Menschenrechte fort. Zusammen mit Nina Tesenfitz, die damals in der Amnesty-Pressestelle beschäftigt war, führte er für sein Buch »Hier spricht Guantánamo« Interviews mit ehemaligen Gefangenen des Lagers. Aus dem gemeinsamen Projekt erwuchs eine langjährige Freundschaft. Rückblickend denkt Nina Tesenfitz besonders gern an seine Mails zurück. »Er schrieb die besten, die lustigsten und die albernsten Mails aller Zeiten«, sagt sie und macht auf eine andere Seite Willemsens aufmerksam. Er war bei aller Ernsthaftigkeit, mit der er seine Themen bearbeitete, eine rheinische Frohnatur. Roger Willemsen half gern. Er genoss es, wenn man ihm dankte, es durfte ruhig überschwänglich sein. Er war eitel, gewiss, und wollte gern hofiert werden. Doch angesichts der vielen Dinge, die er Amnesty International gegeben hat, war das sehr gut zu verkraften. In den vielen Nachrufen auf Roger Willemsen, in den Stellungnahmen von Politikern und Wegbegleitern aus Medien und Kulturbetrieb wurde immer wieder hervorgehoben, welch brillanter Intellektueller Willemsen war. Ohne jeden Zweifel stimmt das. Man hätte ihn mitten in der Nacht anrufen können und ihm Fragen zu Platon oder Schopenhauer stellen können – er hätte sie in einer sprachlich geschliffenen Form beantwortet, die ich wohl auch in hellwachem Zustand nie erreichen werde. Es gab andererseits natürlich auch Menschen, die ihn als Moralapostel verspotteten. Das wusste er und damit konnte er umgehen. Willemsen, studierter Germanist, Kunsthistoriker und Philosoph, war Fernsehmoderator, Buchautor und Dokumentarfilmer. Seine Interview-Sendungen im Fernsehen sind legendär. Seine Bücher über Guantánamo oder Afghanistan bezeugen seinen leidenschaftlichen Einsatz für die Menschenrechte. Andere Bücher, wie die »Deutschlandreise« oder »Momentum«, dokumentieren seine unglaubliche Fähigkeit, Menschen und Alltagssituationen geistreich zu beschreiben. Im August 2015 sagte Roger Willemsen wegen einer Krebserkrankung vorerst alle Termine ab. Er sollte nie wieder in der Öffentlichkeit auftreten. Am 7. Februar 2016 ist er gestorben. »Ich hoffe, er wusste, als er ging, dass er etwas bewegt hat«, sagt Nadja Malak. Wir wissen es. Er fehlt jetzt schon. Wie gern würde ich in der aktuellen Flüchtlingsdebatte seine Stimme hören. Der Autor war von 1991 bis 2002 Redakteur des Amnesty Journals und arbeitet heute als Redakteur beim Deutschlandfunk in Köln.
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Verschleppt und vorgeführt Chinesische Agenten entführen fünf Verlagsmitarbeiter aus Hongkong, von denen zwei EU-Bürger sind. Dieses Vorgehen zeigt: China schreckt auch nicht mehr davor zurück, trotz des Sonderstatus der Metropole, Jagd auf Regimekritiker zu machen. Von Felix Lee
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s kommt nicht häufig vor, dass sich der deutsche Botschafter in Peking so offen über das Gastland beschwert. Doch auch wenn er in der Regel um gute Beziehungen zur chinesischen Führung bemüht ist – seine freundliche Art kennt offenbar Grenzen. Botschafter Michael Clauß fand deutliche Worte zur jüngsten Verschleppung von fünf Verlagsmitarbeitern aus Hongkong. Wenn EU-Bürgern Verfahrensgarantien wie die freie Wahl des Verteidigers oder dessen Zugang zu Mandanten in Haft verweigert werde, habe das »eine neue Qualität«, kritisierte Claus und betonte zugleich, dass ein faires Verfahren »für unsere Bürger ebenso zu gelten habe wie für jeden Bürger Chinas«. Dieser Forderung schloss sich auch sein Kollege, der EU-Botschafter Hans Dietmar Schweisgut, an: »Wir hoffen, dass dies nicht die neue Normalität widerspiegelt.« Die für Topdiplomaten ungewöhnlich scharfe Kritik kommt nicht von ungefähr: Seit mehreren Monaten sind vier Mitarbeiter des unabhängigen Hongkonger Verlags »Mighty Current« unter mysteriösen Umständen verschwunden. Drei kehrten von Reisen aus dem Süden Chinas nicht zurück, einer vierter nicht aus seinem Urlaub in Thailand. Im Dezember wurde dann auch der Verleger selbst, der 65-jährige Lee Bo, verschleppt, vermutlich direkt aus Hongkong. Sowohl der deutsche als auch der EUBotschafter kritisieren, dass sich Diplomaten der jeweiligen Botschaften nicht oder erst verspätet um sie kümmern – einer der
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fünf Vermissten hat die schwedische Staatsbürgerschaft, ein anderer die britische. Der »Mighty Current«-Verlag ist dafür bekannt, Skandalbücher über chinesische Spitzenpolitiker in Hongkong und Taiwan herauszubringen. Zuletzt hatte der Verlag ein Enthüllungsbuch über Chinas Staatspräsidenten Xi Jinping geplant, in dem über dessen angebliches Liebesleben berichtet wird. Die Bücher sind aufgrund ihres zweifelhaften Wahrheitsgehalts umstritten, erfreuen sich jedoch großer Beliebtheit. Mehr als 60 Bücher dieser Art hat Lee Bos Verlag in den vergangenen Jahren veröffentlicht. In Festlandchina sind diese Bücher verboten. Der offiziellen Lesart zufolge haben es die chinesischen Behörden vor allem auf den »Mighty Current«-Mitarbeiter Gui Minhai abgesehen, der im Oktober im thailändischen Touristenparadies Pattaya Urlaub machte. Plötzlich war der 56-Jährige, der einen schwedischen Pass besitzt, verschwunden. Anfang des Jahres war Gui dann im chinesischen Staatsfernsehen in der Sendung »Oriental Horizon« zu sehen. Blass und mit gesenktem Blick sagte er vor laufender Kamera, er sei freiwillig nach China gegangen und habe sich dort gestellt, wegen einer Fahrerflucht vor elf Jahren. Er habe ein kleines Mädchen umgefahren und wolle sich nun seiner Verantwortung stellen. »Auch wenn ich schwedischer Staatsbürger bin, fühle ich mich wirklich wie ein Chinese«, sagte er. Und dann sein Appell: »Ich bitte die schwedische Regierung, sich nicht für mich einzusetzen und sich nicht in meine Privatangelegenheiten einzumischen.« Alle Mitarbeiter des Verlages haben dann Ende Februar im pekingnahen Hongkonger Privatsender PHoenixTV »gestanden«, Bücher illegal auf das Festland geschmuggelt zu haben – angeblich, um Chinas offizielle Kontrollen zu umgehen. Glaubhaft ist dies nicht. Zwei der fünf verschwundenen Buchhändler sind nach Angaben der Hongkonger Polizei Anfang März aus China zurückgekehrt. Beide hätten gebeten, die Ermittlungen wegen ihres Verschwindens nicht weiter zu verfolgen. Zuvor hatte sich auch Verleger Lee Bo mit einem offensichtlich inszenierten Geständnis gemeldet. Sein Gewissen habe ihn nach China zurückgetrieben, schreibt er in einem Brief. Seinen Geschäftspartner Gui bezeichnete er als einen »verantwortungslosen Charakter«. Doch dieser Brief ist wenig glaubwürdig: Einige Tage, bevor Lee Bo Ende Dezember verschwand, hatte er gegenüber Hongkonger Medien noch versichert, dass er aus Furcht vor chinesischer Repression unter keinen Umständen nach Festlandchina reisen werde. Seine Mitarbeiter waren zu diesem Zeitpunkt bereits vermisst. Lee besitzt die britische Staatsbürgerschaft. Spätestens mit Lee Bos Verschwinden sind sich die meisten Hongkonger sicher: Die fünf Verlagsmitarbeiter wurden allesamt von Agenten der Volksrepublik verschleppt, ihre Geständnisse sind inszeniert. Auch Guis in London lebende Tochter ist überzeugt davon, dass ihr Vater entführt wurde.
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Foto: Philippe Lopez / AFP / Getty Images
Vermisst. Protestplakate in Hongkong zeigen den entführten Verleger Lee Bo (links) und seinen Mitarbeiter Gui Minhai (rechts).
Die chinesischen Behörden hatten sich zunächst nicht zu den Entführungen geäußert. Anfang Februar gab die Polizei der an Hongkong angrenzenden südchinesischen Provinz Guangdong erstmals zu, vier der vermissten Verlagsmitarbeiter aus Hongkong wegen »illegaler Aktivitäten auf dem Festland« festzuhalten. Zu Verleger Lee Bo äußerte sie sich nicht. In der Volksrepublik werden seit einiger Zeit verstärkt regierungskritische Blogger, Journalisten und Anwälte verschleppt und an unbekannten Orten festgehalten. Seit ungefähr zwei Jahren häufen sich die Fälle, in denen die Sicherheitsbehörden die Betroffenen zu öffentlichen Geständnissen zwingen, zum Teil, indem sie ihnen mit Folter drohen oder damit, ihren Familien etwas anzutun. »Ganz offensichtlich ist das auf Angst und Einschüchterung basierende Rechtssystem auch nach dem Ende der Kulturrevolution von 1976 noch immer nicht überwunden«, stellte der in den USA lebende Politologe Pei Minxin fest. Sollte sich bestätigen, dass die chinesischen Sicherheitsbehörden auch in Hongkong so vorgehen – und darauf deutet alles hin, ist das eine Zäsur. Die ehemalige britische Kronkolonie gehört zwar seit 1997 zur Volksrepublik. Gemäß der damals zwischen London und Peking vereinbarten Formel »ein Land, zwei Systeme« genießen die Bewohner der südchinesischen Hafenmetropole allerdings für 50 Jahre einen Sonderstatus, der den Hongkongern – im Gegensatz zu den Bewohnern Festlandchinas – Meinungsfreiheit und ein von der chinesischen Regierung unabhängiges Rechtssystem garantiert. Jedenfalls in der Theorie. Doch auch der derzeitige Hongkonger Regierungschef scheint der Volksrepublik nur noch wenig entgegenzusetzen.
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Leung Chun-yin versprach zwar, sich der fünf Fälle anzunehmen, und forderte die chinesischen Behörden zur Aufklärung auf. Illegale Verschleppungen von seinem Territorium werde er nicht akzeptieren, versicherte er. Selbst zur Aufklärung beigetragen hat Leung jedoch bislang nicht. »Sämtliche neuen Erkenntnisse über den Verbleib der Verlagsmitarbeiter kamen von den Medien und nicht von Leung und seiner Administration«, kritisiert Patrick Poon, China-Experte von Amnesty International in Hongkong. Auch ihn erfüllt die jüngste Entwicklung mit Sorge: »Nun kann sich auch in Hongkong niemand mehr vor der Willkür der chinesischen Behörden sicher fühlen.« Andere Hongkonger Menschenrechtsaktivisten zeigen sich enttäuscht über die zögerliche Haltung der Briten. Erst Mitte Februar meldete sich der britische Außenminister Philip Hammond zu Wort und bezeichnete die Vorgänge als einen »ernsthaften Verstoß« gegen die vereinbarten Verträge. »Die Briten hatten uns vor der Übergabe Hongkongs versprochen, dafür einzustehen, falls der mit Peking damals ausgehandelte Vertrag nicht eingehalten wird«, ruft Joanna Wong, Mitglied der Hongkonger Initiative »Demokratie jetzt« in Erinnerung. »Was ist aus diesem Versprechen geworden?« Genau darum sorgt sich auch Politologe Pei: »Chinas täglich weiter wachsendes Selbstbewusstsein führt dazu, dass totalitäre Methoden wieder ein Revival erleben.« Sollte der Westen dem nicht Einhalt bieten, so Pei, werde das weitreichende Folgen für Asien und die ganze Welt haben. Der Autor arbeitet als Korrespondent in Peking.
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Kleine Erfolge, großes Leid
Der »Dschungel«. So heißt das Camp bei Calais, in dem die Flüchtlinge stranden, die nach Großbritannien wollen. Es wurde Anfang März teilweise geräumt.
Der »Dschungel« von Calais, Traumata in Syrien und Deutschland sowie gelungene Integration in den Alpen: Drei Bücher geben Einblicke in die Situation von Flüchtlingen dies- und jenseits des Mittelmeeres. Von Maik Söhler
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ie Zeichen stehen auf Abwehr. Grenzen werden geschlossen, Flüchtlinge abgewiesen, Rechtsparteien dominieren den Diskurs. Auf den kurzen Sommer der Hilfsbereitschaft folgt ein langer Winter der Abschottung. Umso wichtiger ist es, den Blick nun auf jene zu richten, die sich unabhängig von der gerade vorherrschenden Stimmung in Europa auf den Weg gemacht haben, die entweder noch unterwegs oder bereits angekommen sind. Wie erleben sie die Situation? »In unseren eigenen Worten. Geflüchtete Frauen erzählen von ihren Erfahrungen« heißt ein neues Buch, das vom »International Women Space« herausgegeben wird. Dabei handelt es sich um Frauen, die sich 2013 auf dem Berliner Oranienplatz und in der Gerhart-HauptmannSchule in Kreuzberg kennenlernten. Im Vorwort fragen sie: »Warum wir ausgerechnet in einem der westlichen Länder Schutz suchen, von denen wir wissen, dass diese Länder an der Destabilisierung unserer Regionen durch Kriege und Neokolonialismus Anteil haben? In einer weniger verrückten Welt wäre dies einer der letzten Orte, die wir wählen würden.«
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Schnell wird klar, es ist ein politisches Buch von Frauen, die aus antirassistischer und antisexistischer Perspektive erzählen. Zu ihren Themen gehören Zwangsverheiratung, Roma-Diskriminierung, Genitalverstümmelung, Misshandlung, Rassismus, Entmündigung und bürokratischer Alltag im Ankunftsland, Residenzpflicht, Leben im Lager, Stress mit Männern und Kindern, Selbstorganisation und Bildung, Illegalität und Gleichstellung, Krieg und Terror, Angst vor Abschiebung, Suizidversuche, Traumata und psychische Erkrankungen. Die meisten der Frauen im Buch kommen aus Afghanistan, Iran, Serbien, Gambia, Saudi-Arabien, Irak, Äthiopien, Eritrea, Sudan und Kenia. So unterschiedlich ihre Fluchtgründe und die Lebensbedingungen nach der Ankunft in Deutschland auch ausfallen, so groß sind die Gemeinsamkeiten: etwa die Forderungen, geschlechtsbezogene Verfolgung als Asylgrund anzuerkennen und therapeutische Hilfe bei der Verarbeitung von Traumata nach sexueller Gewalt zu erhalten. »In Saudi-Arabien sind Männer Staatsbürger und Frauen leben wie Sklavinnen«, erzählt eine Frau. Eine andere sagt: »Es war großes Pech (...), dass ich als Mädchen zur Welt kam, und es war noch größeres Pech, dass ich als Mädchen in eine afghanische Familie geboren wurde.« Das Lektorat des Buches hätte besser sein können, dennoch: Es ist authentisch, mehrsprachig, mit einem nützlichen Glossar und Queer- und Gender-Perspektiven zu Flucht und Rassismus. Ebenfalls authentisch kommt ein gut hundertseitiger Bericht des Berliner Sozialarbeiters Hammed Khamis daher: »›I am not animal‹. Die Schande von Calais«. Das im Januar 2016 erschienene Buch versammelt Blogbeiträge aus dem Jahr 2015, die
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Foto: Giulio Piscitelli / contrasto / laif
»In Saudi-Arabien sind Männer Staatsbürger und Frauen leben wie Sklavinnen.«
der Autor während seiner Reisen nach Calais notiert hat. »Meine Familie kam in den Siebzigern aus dem libanesischen Bürgerkrieg in die BRD«, schreibt Khamis und betont, wie sehr ihm seine Arabisch-Kenntnisse bei der Unterstützung von Flüchtlingen in Berlin und Calais zugutekommen. Calais – das ist die letzte Station des europäischen Festlands vor Großbritannien, wo viele Flüchtlinge hinwollen, weil dort schon Freunde oder Angehörige sind. Das Camp, von dem sie aufbrechen, wächst seit dem Jahr 2012 an, es ist ein Slum, genannt der »Dschungel«. Um nach Großbritannien zu kommen, müssen sie sich an einen Zug hängen oder in einem Lkw unterkommen, der durch den Eurotunnel fährt. »Alle gehen in eine Richtung. Zum Zug. Zum Tod. Zur Freiheit. Zu einem neuen Leben«, schreibt Khamis. Immer wieder kämen Flüchtlinge im Tunnel um – überfahren, zerquetscht, erstickt, vom Zug gefallen oder als Opfer eines Stromschlags. Fast täglich erlebe man rund um Calais Exzesse von Polizeigewalt: »Wenn du alleine bist und der Polizei Ärger gemacht hast, bekommst du auf jeden Fall Schläge.« Im »Dschungel« leben viele Sudanesen und Eritreer, Afghanen, Iraner und Pakistaner, fast ausschließlich Männer. Frauen und Kinder wurden neben dem Camp in einer ehemaligen Jugendherberge untergebracht. Khamis ist beeindruckt von dieser selbstverwalteten Welt und davon, »dass in diesem Camp derzeit um die viertausend Geflüchtete aus aller Welt leben. Männer, Frauen und Kinder haben dort eine eigene Stadt gebaut. Eine Kirche, eine Moschee, einen Supermarkt, einen Friseur, sanitäre Anlagen, einen Fußballplatz«. Vor allem aber berührt ihn die Solidarität der
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Flüchtlinge. »›I am not animal‹« ist ein Dokument, in dem das Miteinander im Vordergrund steht – und zwar in einer Situation, in der Flüchtlinge zu Konkurrenten werden. Über Calais, Deutschland und Europa hinaus befassen sich die Journalisten Karim El-Gawhary und Mathilde Schwabeneder mit Flucht und Migration. Das im Herbst 2015 erschienene Buch »Auf der Flucht« versammelt »Reportagen von beiden Seiten des Mittelmeers«. Im Irak und im Libanon besichtigt El-Gawhary Städte und Gegenden, die Hunderttausende Flüchtlinge aufgenommen haben, etwa die kurdische Kleinstadt Zakho mit 200.000 Einwohnern, wo sich 150.000 Flüchtlinge vor dem Terror des »Islamischen Staats« in Sicherheit brachten. Aus Lampedusa und anderen Teilen Italiens steuert Mathilde Schwabeneder Recherchen und Reportagen über Flüchtlinge, Schlepper, Grenzpolizisten, Ärzte im Dauereinsatz und lebensrettende Fischer bei. Dabei wird deutlich, wie nahe Hilfe und Überforderung beieinanderliegen, aber auch wie kontraproduktiv die EU agierte, als sie den humanitären Einsatz »Mare Nostrum« der Jahre 2013/14 vor der italienischen Küste beendete und seither Frontex-Einsätze unterstützt, die allein der Grenzsicherung dienen. An einer Stelle bittet El-Gawhary die Leser, »sich Gedanken über die Gnade des eigenen Geburtsortes zu machen.« Die Fluchtgeschichten aus vier Jahren – seit dem Beginn des Syrienkonflikts – verdeutlichen dies. Die Lebenserwartung in Syrien sank in dieser Zeit von 75,9 auf 55,7 Jahre; es gibt eine »verlorene Generation« syrischer Kinder, die ohne oder mit wenig Schulbildung ins Leben starten müssen. Inmitten des unendlichen Leids aber findet El-Gawhary dann doch noch einen Ort des Trostes: die Gemeinde Großraming in Österreich. Dort »herrschte die übliche Paranoia vor dem Fremden und Unbekannten vor der Haustür und wer sie nicht teilte, wurde schnell selbst zum Paria im Dorf«. Fünf Monate später hat sich die Stimmung verändert, die Plattform »Miteinander in Großraming« und die katholische Frauenbewegung halfen bei der Integration von Flüchtlingen. International Women Space Berlin (Hg.): In unseren eigenen Worten. Geflüchtete Frauen erzählen von ihren Erfahrungen. Selbstverlag, Berlin 2015. 256 Seiten, gegen eine Spende erhältlich. Hammed Khamis: »I am not animal«. Die Schande von Calais. Frohmann, Berlin 2016. 122 Seiten, 13 Euro, E-Book 4,99 Euro. Karim El-Gawhary/Mathilde Schwabeneder: Auf der Flucht. Reportagen von beiden Seiten des Mittelmeers. Kremayr & Scheriau, Wien 2015. 192 Seiten, 22 Euro.
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Foto: Ferhat Bouda / VU / laif
Der Fremde schlägt zurück Gibt dem Opfer eine Identität. Kamel Daoud.
In Albert Camus’ Roman »Der Fremde« tötet der Protagonist Meursault einen namenlosen Araber. Der algerische Autor Kamel Daoud lässt dem Toten Gerechtigkeit widerfahren und fragt: Was ist arabische Identität? Von Maik Söhler
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eltbekannt ist Albert Camus’ im Jahr 1942 erschienener Roman »Der Fremde« – nicht zuletzt wegen einer Szene, in der die Hauptfigur Meursault nach einem Streit am Strand von Algier einen Araber erschießt. So berühmt der Roman, so unbekannt ist der Tote, dem Camus nie einen Namen gab. Wie schon einige Schriftsteller vor ihm hat sich jetzt Kamel Daoud, ein in Oran lebender algerischer Journalist, daran gemacht, diese Lücke zu füllen. Er tauft den Toten auf den Namen Moussa und erzählt dessen Geschichte aus der Perspektive seines Bruders Haroun. Moussa, so viel wird schnell klar, ist auch bei Daoud nur ein Platzhalter. Diente er Camus als derjenige, der einer existenzialistischen Krise seines Protagonisten zum Opfer fiel, ist er bei Daoud eine Person, in der sich alle Widersprüche des Postkolonialismus und der arabischen Identität Algeriens widerspiegeln. Moussa ist, um es anders zu sagen, der unverständlichen Brutalität eines französischen Kolonialisten erlegen; das macht ihn zu einem antikolonialen Märtyrer. Seinem Bruder Haroun aber, der später seinerseits die Waffe gegen einen Kolonialisten erhebt, wird der widerständige Geist im unabhängig gewordenen Algerien abgesprochen, da es sich bei seiner Tat nach offizieller Lesart nicht um einen antikolonialen Akt handelt. Haroun bleibt ein »Fremder«, ausgeliefert den Launen einer tyran-
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nischen Mutter, dem Hunger und der Langeweile, dem »Verlangen nach Gerechtigkeit«, der Macht des neuen algerischen Staates und »der Absurdität unserer Lage«. Es sind vor allem die Paradoxien des antikolonialen Kampfes, die Daoud formuliert, um eine große Frage zu stellen: Was ist arabische Identität? Der Islam samt seiner teils fanatischen Anhängerschaft trifft hier auf das Erbe der Moderne. Da sind die Bande von Familie, Sippe und Clan, die mit dem nationalen Aufbruch und der eigenen Würde kollidieren. Koloniale Verbrechen erfahren antikoloniale Strafen, diese wiederum können selbst neue Verbrechen sein. Immerhin: Die Unabhängigkeit Algeriens von Frankreich sorgt für neue Hoffnung: »Ich wollte damit nur sagen, dass wir Araber zu jener Zeit den Eindruck erweckten, auf etwas zu warten, und nicht wie heute, immer nur umherzuirren.« Daouds Erzähler findet sich im Alter immer weniger zurecht. Was ihm bleibt, sind der Wein, tiefempfundene Gefühle der Machtlosigkeit und Gleichgültigkeit, nur noch selten »Zorn und Wut«, und die Erkenntnis, dass »Gott eine Frage und keine Antwort ist«. Was nun ist »arabische Identität«? Daoud verweigert eine klare Antwort, gibt aber Hinweise darauf, was sie nicht ist: eine Nation, ein Land, ein Glaube, eine homogene Gemeinschaft auf der Suche nach »Führern«. »Der Fall Meursault« ist ein Buch, das zum Nachdenken zwingt. Das ist viel wert in Zeiten, in denen arabische Dschihadisten einfache Antworten auf komplexe Fragen als Köder auslegen. In diesem Anstoß zur Nachdenklichkeit ist das Buch Camus’ Klassiker »Der Fremde« durchaus ähnlich. Kamel Daoud: Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung. Aus dem Französischen von Claus Josten. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016. 208 Seiten, 17,99 Euro.
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Deutsch-iranische Beziehungen
Herumgeschubst in Ostafrika
1979, 1989, 1999, 2009 – vier Etappen, vier Kapitel. Shida Bazyars Romandebüt »Nachts ist es leise in Teheran« ist ein Buch mit einem starken Anfang. Die Autorin erzählt vom Aufbruch und der Hoffnung Behsads und Nahins, eines jungen kommunistischen Paares, das nach der iranischen Revolution große Risiken eingeht, um nach der Macht des Schahs auch jene der Ayatollahs zu beseitigen. Ihr Glück finden die beiden dabei nicht, immerhin entkommen sie Folter und Haft, beantragen Asyl in Deutschland und beginnen hier ein neues Leben – nicht ohne Probleme. Auch ihre Kinder Laleh und Mo kommen nicht umhin, sich mit ihrer Identität als Deutsch-Iraner auseinanderzusetzen, dabei nehmen sie auch die alte und neue Repression im Iran in den Blick. Schon vor ihrem ersten Besuch in Teheran begreift Laleh die dortigen Regeln: »Die Sachen, die Spaß machen, sind verboten.« Shida Bazyar gelingt, indem sie in Zehnjahresabständen und aus wechselnden Perspektiven erzählt, ein Entwicklungsroman, der zwei Generationen und das Leben in zwei Staaten behandelt. Aus Iranern werden Deutsche. Ihrem Wunsch, das autoritäre Regime in Teheran möge verschwinden und mit ihm die Folter und die Todesstrafe, muss sich schließlich der gesamte Roman beugen. Eine voluntaristische Wendung in einem sonst guten Buch.
Im Zentrum von Johannes Anyurus Roman »Ein Sturm wehte vom Paradiese her« steht Uganda und doch spielen nur wenige Seiten des Buches in dem ostafrikanischen Land. Der Protagonist P. wird vom Geheimdienst in Ugandas Nachbarstaat Tansania verhört. Er wird verdächtigt, im Dienste des ugandischen Diktators Idi Amin zu stehen, der sich jüngst an die Macht geputscht hat. Anyuru nimmt uns mit auf eine Zeitreise in die frühen siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts, die in Ostafrika von der Blockkonfrontation zwischen Staaten geprägt sind, die sich zumindest zeitweise mit den USA und Großbritannien (Uganda) oder mit der Sowjetunion und China (Tansania und Sambia) verbündet haben. P. wird herumgeschubst zwischen den Interessen des tansanischen Staates und exilugandischen Rebellen. Er entkommt mit Glück nach Kenia. Die Erzählweise des Romans verändert sich. Plötzlich erzählt nicht mehr P. sondern sein erwachsener Sohn, der in Schweden lebt und nun kenntlich macht, dass er die Aufzeichnungen seines Vaters literarisch verarbeitet. Dabei entsteht ein Buch, das es aufnehmen kann mit Dave Eggers’ großartigem Roman »Weit gegangen« über Kriegsmigration in Ostafrika. Der Titel des Buches, »Ein Sturm wehte vom Paradiese her«, ist ein Zitat von Walter Benjamin, mit dem er den Fortschritt charakterisierte; einen Fortschritt, der in diesem Roman von allen politischen Seiten betont, aber nie erreicht wird.
Shida Bazyar: Nachts ist es leise in Teheran. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016. 218 Seiten, 19,99 Euro. E-Book 17,99 Euro.
Johannes Anyuru: Ein Sturm wehte vom Paradiese her. Aus dem Schwedischen von Paul Berf. Luchterhand, München 2015. 288 Seiten, 19,99 Euro.
Wie wird man Dschihadist? Aus Österreich kommen zwei Bücher, die sich mit dem Dschihadismus beschäftigen, also mit einer Ideologie, die islamistische Glaubensreinheit mit dem bewaffneten Kampf gegen alle »Ungläubigen« verbindet und in Terroranschlägen in aller Welt von Gruppen wie Al-Qaida oder dem IS mündet. Warum beschäftigen sich ausgerechnet zwei österreichische Autoren damit? Weil sich überdurchschnittlich viele junge Österreicher den Dschihadisten in Syrien und im Irak angeschlossen haben, führt die Journalistin Petra Ramsauer aus. Der Politologe Thomas Schmidinger argumentiert indirekt ähnlich, wenn er einen Mangel an Beratungsstellen für die Angehörigen radikalisierter Jugendlicher in Österreich und anderen europäischen Ländern beklagt. Beide Autoren arbeiten systematisch heraus, was Dschihadismus ist, wo er sich finden lässt, woraus er sich speist, wie die Radikalisierung von Sympathisanten verläuft und wie Prävention und Deradikalisierung aussehen könnten. Gemeinsamkeiten und Gegensätze von Dschihadisten kommen dabei ebenso zur Sprache wie die Rolle von Medien, die spezifischen Wege von Frauen, die sich den Islamisten anschließen, und welche Rolle Gefängnisse bei der Rekrutierung neuer Gotteskrieger spielen. Wer verstehen will, warum sich junge Europäer und Europäerinnen mittelalterlichen Ideologien unterwerfen, wird in diesen Büchern Antworten finden. Petra Ramsauer: Die Dschihad-Generation. Styria, Wien/Graz/Klagenfurt 2015. 208 Seiten, 24,90 Euro. Thomas Schmidinger: Jihadismus. Mandelbaum, Wien 2015. 126 Seiten, 14 Euro.
Von Mut und Hoffnung Alles wird gut – ein Satz, der Hoffnung und Mut machen soll, der aber auch klarstellt: Im Augenblick ist es (noch) nicht gut. So wie bei der zehnjährigen Rahaf und ihrer Familie. Vor mehr als zwei Jahren sind Rahafs Eltern mit ihren vier Kindern von Syrien nach Deutschland geflohen und hoffen nun darauf, hier ein neues Leben beginnen zu können. Darauf, dass der Vater arbeiten darf und sie vielleicht eine schöne Wohnung bekommen. Die preisgekrönte Kinder- und Jugendbuchautorin Kirsten Boie hat Rahaf und ihren neunjährigen Bruder Hassan getroffen und erzählt in diesem Buch die bewegende Geschichte der Kinder. In klaren Worten und aus konsequent kindlicher Perspektive – begleitet von Jan Bircks eindrucksvollen Illustrationen und einer arabischen Übersetzung von Mahmoud Hassanein – werden die Flucht vor den Bomben und die lebensgefährliche Überfahrt von Ägypten nach Italien auf dem viel zu kleinen Boot der Schlepper beschrieben. Aber auch die Ankunft in Deutschland, die die Familie vor allem zum Warten zwingt, sowie Rahafs Erfahrungen in der Schule werden thematisiert. Emma, die Klassenkameradin, die Rahaf an die Hand nimmt und ihr die ersten deutschen Wörter beibringt, wird ihre beste Freundin. Das macht Mut und Hoffnung. Kirsten Boie, Jan Birck (Illustration): Bestimmt wird alles gut. Übersetzt ins Arabische von Mahmoud Hassanein. Klett Kinderbuch, Leipzig 2016. 48 Seiten, 9,95 Euro. Ab 6 Jahren.
Bücher: Maik Söhler, Marlene Zöhrer bÜcher
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Groteske in Gaza
Malisches Kleinod
Frühsommer 1989, Gazastreifen, inmitten der ersten Intifada: Eigentlich war es nur eine routinemäßige Durchsuchung, aber nachdem einer der Soldaten von einer heruntergeworfenen Waschmaschine erschlagen wurde, bezieht der 18-jährige Tomer mit seiner Einheit ein Hausdach, um die Straßenkreuzung zu überwachen. Die palästinensischen Hausbewohner können sich Schöneres vorstellen, zumal sie in der Nachbarschaft nicht als Kollaborateure dastehen wollen. Sie gehören zu den ganz Aufrechten. Nicht umsonst heißt der Haushund Arafat. Liegestuhl aufstellen, laut Rockmusik hören: In ihrer Langeweile ergehen sich die jungen Soldaten in alterstypischem Unfug und liefern sich blödsinnige Wortgefechte (»It’s so Nazi of you«), bis sie Besuch vom Vater des erschlagenen Soldaten bekommen. Mit einem Schlag sind sie um Jahre gealtert. Als plötzlich ein Junge mit einer Handgranate vor der Tür steht, werden die Soldaten panisch. Die Waffe im Anschlag, so die Botschaft des Films, erzeugt neue tödliche Missverständnisse. Regisseur Yariv Horowitz zeichnet ein absurd-groteskes Bild des israelisch-palästinensischen Konflikts und seiner Wirkung auf die Psyche aller Beteiligten. Die »Jerusalem Post« beschrieb das Setting als Routine von Kriegsinsassen: Sie säßen als leichte Beute herum. »Ihr einziger Gedanke: Dort wieder abzuhauen.«
Mehr als fünfeinhalb Millionen Menschen waren im Jahr 2014 weltweit auf der Flucht, referiert Rokia Traoré im Titelsong ihres neuen Albums. »Né So« bedeutet auf Bambara so viel wie »zu Hause« und das Stück ist allen Menschen gewidmet, die ihre Heimat verloren haben. Als Diplomatentochter verbrachte Rokia Traoré ihre gesamte Kindheit auf gepackten Koffern, heute pendelt sie zwischen Mali und Europa hin und her. Die Wirren in ihrem Heimatland haben auch sie heimatlos gemacht, hatte sie sich doch gerade erst entschlossen, sich in Mali niederzulassen. Doch seit das Land vor vier Jahren ins Chaos stürzte, kommt es nicht zur Ruhe. Erst im November stürmten Dschihadisten ein Nobelhotel in der Hauptstadt Bamako und ermordeten mindestens 20 Gäste. Minimalistisch, hypnotisch und von einem subtilem Funk-Groove durchzogen sind die Stücke, in denen Rokia Traoré, dezent von Gitarre, Bass, Ngoni-Laute und Schlagzeug begleitet, mit ihrer rauchigen Stimme auf Französisch und Bambara von Liebe, Respekt und der Sehnsucht nach innerem Frieden singt. Der Indie-Produzent John Parish hat ihr wieder einmal einen intimen Rahmen gezimmert. Als Gäste treten der Folksänger Devendra Banhart, der Led Zeppelin-Bassist John Paul Jones und – mit einer Spoken-Word-Einlage – die Schriftstellerin Toni Morrison auf. Außerdem interpretiert Traoré den Antirassismus-Klassiker »Strange Fruit«, den einst Billie Holiday berühmt gemacht hat. Ein Kleinod.
»Rock the Casbah«. ISR 2013. Regie: Yariv Horowitz, Darsteller: Yon Tumarkin, Yotam Ishay. Kinostart: 24. März 2016
Rokia Traoré: Né So (Nonesuch / Warner)
Filmprojekt aus Guatemala María gehört zu den Maya in Guatemala und lebt als Kaffeepflückerin am Fuß eines aktiven Vulkans. Sie ist erst 17, aber alt genug für Verbindlichkeiten: Ihre Eltern wollen sie mit dem Vorarbeiter der Farm verheiraten. María würde gern einmal hinter den Berg schauen; eine Welt kennenlernen, von der sie nicht die geringste Vorstellung hat. Und so lässt sie sich mit dem Kaffeepflücker Pepe ein, der in die USA abhauen will (»da gibt’s immer Strom«) und María schließlich schwanger sitzenlässt. Der Film »Ixcanul« erzählt in recht rohen Bildern von den Lebensbedingungen prekärer Landarbeiter in der untersten Etage der Genussmittelproduktion. Elend und Drogen spielen eine ebenso wichtige Rolle wie die Träume vom besseren Leben. Der abgehauene Pepe, mutmaßen die Zurückgelassenen, spricht jetzt bestimmt schon Englisch. Dies ist kein Film über Indigene, sondern mit ihnen: Regisseur Jayro Bustamante wuchs in der Region auf und veranstaltete Workshops, in denen er gemeinsam mit den Teilnehmern aus ihren Geschichten ein Drehbuch entwickelte. Es ist ein ruppig-schönes Werk geworden, mit den Einheimischen, die sich als Profis erweisen. »Ixcanul« erzählt von harten Lebensbedingungen und Mythen, die angesichts von Verdrängung und Landflucht Halt geben. Bis in den Wettbewerb der Berlinale 2015 hat es dieses wunderbare basisdemokratische Filmprojekt gebracht – als erster Film aus Guatemala überhaupt. »Ixcanul – Träume am Fuße des Vulkans«. F/GTM 2015. Regie: Jayro Bustamante, Darstellerinnen: María Mercedes Coroy, María Telón. Kinostart: 31. März 2016
Kurdischer Protest-Rock Der Sänger Ferhat Tunç ist ein Veteran der Özgün-Musik, wie in der Türkei die Protestmusik genannt wird, die traditionelle anatolische Motive mit rockigen Klängen kombiniert. Bei Tunç ist die Nähe zur kurdischen Bewegung seines Landes unüberhörbar. Mehrmals wurde er festgenommen und mit Gerichtsverfahren überzogen, weil ihm mangelnde Distanz zur PKK-Guerilla vorgeworfen wurde, zwei Mal kandidierte er erfolglos für das Parlament in Ankara. In seinen Liedern voll Trauer und Schmerz spiegelt sich die kurdische Geschichte von Unterdrückung und Widerstand. So auch auf »Kobani«, das in Norwegen aufgenommen wurde und dessen Stimmung zwischen melancholisch und kämpferisch schwankt. Der syrische Grenzort Kobane wurde zu einem Symbol kurdischer Selbstbehauptung, als er im September 2015 von IS-Milizen eingekreist und um ein Haar erobert wurde. Schon der Titel des Albums ist deshalb ein Statement, der Inhalt ist es erst recht. Zwei Stücke sind den jungen Menschen gewidmet, die während der Gezi-Proteste im Sommer 2013 von der Polizei erschossen wurden, zwei weitere Stücke den kurdischen Aufständen in den dreißiger Jahren, die blutig niedergeschlagen wurden. Eines glorifiziert die drei Frauen aus der PKKFührung, die im Januar 2013 in Paris ermordet wurden. Das revolutionäre Pathos mag nicht jedermanns Sache sein. Aber Ferhat Tunç trifft damit die derzeitige Gefühlslage vieler Kurden in der Türkei. Ferhat Tunç: Kobani (Kirkelig)
Film: Jürgen Kiontke | Musik: Daniel Bax 70
Amnesty joUrnAl | 04-05/2016
Fotos: Outhere
Eine Autorität in Burkina Faso. Rapper Smockey.
Revolutionär Auf seinem neuen Album »Pre’volution« widmet sich der Rapper Smockey der dramatischen Lage seines Heimatlandes Burkina Faso. Von Daniel Bax
A
ls Massenproteste den autoritären Langzeitpräsidenten von Burkina Faso, Blaise Compaoré, im Herbst 2014 zum Rücktritt zwangen, stand der Rapper Serge Bambara alias Smockey im Zentrum der Revolte. Compaoré hatte das Land 27 Jahre lang regiert, Vetternwirtschaft und Korruption prägten seine Ära in einem der ärmsten Länder der Welt. Dass er die Verfassung ändern lassen wollte, um sich eine fünfte Amtszeit zu sichern, brachte das Fass zum Überlaufen. Teile des Militärs verbündeten sich mit den Demonstranten,
film & mUsik
und Compaoré setzte sich in die Elfenbeinküste ins Exil ab. Der 45-jährige Musiker Smockey, dessen Künstlername sich vom französischen Ausdruck »se moquer« (»verspotten«) ableitet, ist in Burkina Faso eine Autorität. Anfang der neunziger Jahre versuchte er sich in Frankreich an einer Hip-Hop-Karriere, kehrte dann aber nach Ouagadougou zurück, wo er ein Studio einrichtete und mehrere Alben veröffentlichte. Zusammen mit dem Reggaemusiker SAMS’K Le JAH gründete er 2013 die Bürgerbewegung »Balai Citoyen«, den »Besen der Bürger«, ein breites Bündnis aus Künstlern, Jugendverbänden, Gewerkschaften und anderen Gruppen. Es forderte die Menschen auf, sich als Wähler registrieren zu lassen und von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen – dies sei die beste Waffe gegen das Regime. Smockeys Album »Pre’volution« enthält Stücke, die vor, während und nach dem Aufstand entstanden sind. Mit sonorer Stimme parliert der Rap-Pionier über reduzierten Beats, sein lakonischer Stil erinnert an MC Solaar. Im Song »Le Président, ma Moto et Moi« (»Der Präsident, mein Mofa und ich«) lädt er den Ex-Machthaber zu einer Spritztour ein, um ihm das Elend in seinem Land vor Augen zu führen – die hohe Arbeitslosigkeit, die marode Infrastruktur, das katastrophale Gesundheitssystem. Der melodische Ohrwurm »On passe à l’attaque« handelt davon, wie man eine Revolte lostritt. Und in »Dossier Zongo« arbeitet Smockey die Verbrechen während der Ära von Blaise Compaoré auf – insbesondere den Tod des kritischen Journalisten Norbert Zongo, der 1998 ermordet wurde. »On se develope« dagegen ist Thomas Sankara gewidmet, dem legendären Staatschef von Burkina Faso, als dessen Anhänger sich Smockey outet. Der sozialistische Revolutionär war ein charismatischer Anführer, der sein Land nach kubanischem Vorbild umbauen wollte – eine Art afrikanischer Che Guevara, der bis heute als Volksheld verehrt wird. 1987 wurde er von seinem Nachfolger und Rivalen Blaise Compaoré gestürzt und ermordet. Nach einem Jahr des friedlichen Übergangs holte dessen Präsidentengarde im September 2015, kurz vor den geplanten Wahlen, zum Rückschlag aus. Die Getreuen des Ex-Präsidenten setzten die Übergangsregierung fest, das Militär übernahm die Kontrolle auf den Straßen, 30 Menschen starben bei den Auseinandersetzungen. Das Haus von Smockeys Frau und das seiner Mutter wurden verwüstet, sein Musikstudio wurde mit einem Raketenwerfer zerstört, er musste sich bei Freunden verstecken. Über Facebook rief Smockey zum Widerstand auf und die Proteste hatten Erfolg: Der Staatsstreich scheiterte, und Ende November ging der ehemalige Ministerpräsident und Oppositionspolitiker Roch Marc Kaboré aus den ersten freien Wahlen des Landes als Sieger hervor. Smockey kann sich nun wieder der Musik widmen. Smockey: Pre’volution (Outhere Records)
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Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt oder man lässt sie »verschwinden«. Amnesty internAtionAl veröffentlicht regelmäßig an dieser Stelle drei Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden. Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie bitte eine digitale Kopie an: info@amnesty.de
Amnesty internAtionAl Zinnowitzer Straße 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 Fax: 030 - 42 02 48 - 488 E-Mail: info@amnesty.de www.amnesty.de
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briefe gegen DAs vergessen
myAnmAr htin lin oo Htin Lin Oo ist Schriftsteller und ehemaliger Informationsbeauftragter der Nationalen Liga für Demokratie (NLD), der Partei von Aung San Suu Kyi, die bei den Wahlen 2015 die meisten Sitze erhalten hat. Er verbüßt derzeit eine zweijährige Haftstrafe verbunden mit Zwangsarbeit, weil er im Oktober 2014 in einer Rede die Instrumentalisierung des Buddhismus zur Verbreitung diskriminierender und extremistischer Ansichten kritisiert hatte. Der etwa zweistündigen Rede, die er bei einer Literaturveranstaltung in der Region Sagaing hielt, hörten etwa 500 Personen zu. In den Tagen und Wochen nach der Veranstaltung tauchte ein zehnminütiges, aus dem Kontext gerissenes, zusammengeschnittenes Video der Rede in den sozialen Medien auf, das unter extrem-nationalistischen buddhistischen Gruppen Empörung auslöste. Am 2. Juni 2015 wurde Htin Lin Oo wegen »Verunglimpfung der Religion« zu zwei Jahren Haft und Zwangsarbeit verurteilt. Einige Menschrechtsorganisationen haben sich kritisch darüber geäußert, dass sich während seiner Anhörung extrem-nationalistische buddhistische Gruppen vor dem Gerichtsgebäude befanden und dass dies möglicherweise ein Versuch war, den Richter einzuschüchtern. Es gab ebenfalls Berichte darüber, dass die Rechtsbeistände von Htin Lin Oo bei mehreren Gelegenheiten von diesen Gruppen am Betreten des Gerichtsgebäudes gehindert wurden. Amnesty International betrachtet Htin Lin Oo als gewaltlosen politischen Gefangenen. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an Präsident Thein Sein, in denen Sie ihn bitten, Htin Lin Oo und alle anderen gewaltlosen politischen Gefangenen in Myanmar freizulassen. Bitten Sie ihn, sicherzustellen, dass Htin Lin Oo bis zu seiner Freilassung jede medizinische Behandlung erhält, die er benötigt, weiterhin regelmäßigen Kontakt zu seinem Rechtsbeistand hat und Besuche von seiner Familie erhalten darf. Schreiben Sie in gutem Birmanisch, Englisch oder auf Deutsch an: Präsident der Republik der Union Myanmar Thein Sein President Office, Office No.18 Nay Pyi Taw REPUBLIK DER UNION MYANMAR Fax: 00 95 - 1 652 624 (Anrede: Your Excellency / Exzellenz) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,90 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik der Union Myanmar I.E. Frau Yin Yin Myint Thielallee 19, 14195 Berlin E-Mail: info@botschaft-myanmar.de Fax: 030 - 20 61 57 20
Spendenkonto Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE 233 702050 0000 8090100 BIC: BFSWDE33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00)
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Amnesty joUrnAl | 04-05/2016
Khadija Ismayilova ist eine investigative Journalistin, die mehrere Artikel über Korruption und Menschenrechtsverletzungen in Aserbaidschan geschrieben hat. Sie wurde für ihre journalistische Arbeit mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet. Es gab eine Hetzkampagne in den staatlich kontrollierten Medien gegen Khadija Ismayilova. Schließlich wurde sie auf der Grundlage konstruierter Vorwürfe, darunter Steuerhinterziehung, Veruntreuung und illegale Geschäfte, angeklagt. Khadija Ismayilova wurde am 5. Dezember 2014 inhaftiert und am 1. September 2015 zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt. Das Gerichtsverfahren, das in der Hauptstadt Baku stattfand, sollte für die Öffentlichkeit zugänglich sein, bei mehreren Gelegenheiten wurde Personen jedoch der Zutritt zum Gerichtssaal verwehrt. Die Erklärung dafür lautete, dass der Saal zu klein sei, um Platz für all diejenigen zu bieten, die dem Verfahren beiwohnen möchten. Am 25. November 2015 wurde das Rechtsmittel zurückgewiesen, das Khadija Ismayilova gegen ihr Urteil eingelegt hatte. Amnesty International betrachtet Khadija Ismayilova als gewaltlose politische Gefangene. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an Präsident Ilham Aliyev, in denen Sie ihn bitten, Khadija Ismayilova und alle anderen gewaltlosen politischen Gefangenen unverzüglich und bedingungslos freizulassen. Bitten Sie ihn auch, dafür zu sorgen, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung in Aserbaidschan respektiert und geschützt wird, so wie es in den Artikeln 10 und 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention festgelegt ist, die für Aserbaidschan bindend ist. Schreiben Sie in gutem Aserbaidschanisch, Englisch, Russisch oder auf Deutsch an: Präsident Ilham Aliyev Office of the President of the Republic of Azerbaijan 18 Istiqlaliyyat Avenue Baku, AZ 1066 ASERBAIDSCHAN Fax: 009 94 - 12 492 35 43 oder 009 94 - 12 492 06 25 E-Mail: office@pa.gov.az (Anrede: Dear President Aliyev / Sehr geehrter Herr Präsident) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,90 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Aserbaidschan S.E. Herrn Parviz Shahbazov Hubertusallee 43, 14193 Berlin Fax: 030 – 21 91 61 52 E-Mail: berlin@mission.mfa.gov.az
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AserbAiDschAn khADijA ismAyilovA
irAn ZeynAb jAlAliAn Zeynab Jalalian verbüßt derzeit eine lebenslange Haftstrafe im Gefängnis von Kermanshah im Westen des Iran. Die Gefangene gehört der kurdischen Minderheit im Iran an. Sie läuft Gefahr, ihr Augenlicht zu verlieren und muss dringend medizinisch behandelt werden. Die iranischen Behörden verweigern ihr diese Behandlung jedoch und setzen sie derzeit unter Druck, im Fernsehen »Geständnisse« abzulegen. Offenbar will man ihr nur dann die erforderliche Behandlung gewähren. Zeynab Jalalian wurde im Januar 2009 vor dem Revolutionsgericht von Kermanshah wegen »Feindschaft zu Gott« (moharebeh) zum Tode verurteilt. Die Verurteilung steht mit ihrer mutmaßlichen Mitgliedschaft in der bewaffneten kurdischen Oppositionsgruppe »Partei für ein freies Leben in Kurdistan« (Partiya Jiyana Azad a Kurdistanê – PJAK) in Zusammenhang. Zuvor hatte sie acht Monate lang in einer Hafteinrichtung des Geheimdienstministeriums in Untersuchungshaft gesessen. Ihren Angaben zufolge wurde sie während dieser Zeit gefoltert. In ihrem Gerichtsverfahren, das offenbar nur wenige Minuten dauerte, hatte sie keinen Zugang zu einem Rechtsbeistand. Das Todesurteil gegen Zeynab Jalalian wurde im November 2011 in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an die Oberste Justizautorität des Iran, in denen Sie darum bitten, dass Zeynab Jalalian vor Folter und anderen Misshandlungen geschützt wird und medizinische Behandlung erhält, falls nötig auch in einer Klinik außerhalb des Gefängnisses. Bitten Sie außerdem darum, dass ein Wiederaufnahmeverfahren für Zeynab Jalalian eingeleitet wird, das den internationalen Standards für faire Gerichtsverfahren entspricht. Schreiben Sie in gutem Persisch, Englisch oder auf Deutsch an: Ayatollah Sadegh Larijani c/o Public Relations Office Number 4, Deadend of 1 Azizi Above Pasteur Intersection Vali Asr Street Tehran IRAN (Anrede: Your Excellency / Exzellenz) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,90 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Islamischen Republik Iran S. E. Herrn Alireza Sheikh Attar Podbielskiallee 65–67, 14195 Berlin Fax: 030 - 84 35 35 35 E-Mail: info@iranbotschaft.de
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briefe gegen DAs vergessen – UpDAtes In jedem Amnesty Journal veröffentlichen wir drei Einzelschicksale, verbunden mit dem Appell, einen Brief zu schreiben, um Menschenrechtsverletzungen zu beenden. In regelmäßigen Abständen informieren wir darüber, wie sich die Situation der Betroffenen weiterentwickelt hat. Hier nun neue Informationen zu »Briefen gegen das Vergessen« von Juli 2015 bis Dezember 2016.
Ihnen droht Haft im Arbeitslager, wenn das Urteil nicht aufgehoben wird. Update: Die militärische Abteilung des Obersten Gerichtshofs bestätigte das Urteil Ende November. Damit droht Oleg Sentsov und Alexandr Kolchenko jetzt die Verlegung in eine Arbeitskolonie. Ihre Anwälte wollen sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wenden.
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rUsslAnD – oleg sentsov UnD AlexAnDr kolchenko (november 2015) Rückblick: Der Filmregisseur Oleg Sentsov und der Aktivist Alexandr Kolchenko wurden im August 2015 in einem unfairen Verfahren vor einem russischen MilitärOleg Sentsov und Alexandr Kolchenko gericht zu 20 und zehn Jahren Haft verurteilt. Beide sind ukrainische Staatsbürger und waren vom russischen Geheimdienst (FSB) bei friedlichen Protesten auf der besetzten Krim festgenommen, nach Russland verschleppt und wegen terroristischer Aktivitäten angeklagt worden. Ihre Verurteilung basiert auf vermutlich unter Folter erzwungenen »Geständnissen«.
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Rückblick: Die chinesische Frauenrechtlerin Su Changlan war im Dezember 2014 inhaftiert worden. Sie wurde wegen »Anstiftung zum Umsturz« angeklagt, was mit lebenslanger Haft geahndet werden kann. Allem Anschein nach stand die Su Changlan Anklage in Verbindung mit ihrem Einsatz als Frauenrechtlerin. Ihrer Familie war der Kontakt verweigert worden. Auch ihren Anwalt durfte sie im Mai 2015 zum ersten und bis einschließlich Ende Juni einzigen Mal treffen. Update: Su Changlan konnte ihren Anwalt inzwischen mehrmals treffen. Die ursprünglich für Februar 2016 anberaumte Gerichtsverhandlung verzögerte sich weiter. Laut ihrem Anwalt ist im Falle einer Verurteilung inzwischen nicht mehr von einer lebenslangen Haftstrafe, sondern von einer Haftdauer von maximal 15 Jahren auszugehen. Er berichtete zudem, dass sich ihr Gesundheitszustand verschlechtert habe. Sie leide unter ständigen Nackenschmerzen, die auch zu Schwindel und Kopfschmerzen führten, sowie unter Herzrhythmusstörungen. Ärzte rieten deshalb dringend zu einer Behandlung im Krankenhaus. Su Changlan erhielt aber lediglich Medikamente, wodurch sich ihr Zustand nicht grundlegend verbesserte. Mehrere Versuche, ihre Freilassung gegen Kaution zu erwirken, scheiterten. Im Februar 2016 verstarb ihr Vater. Ihr Anwalt versuchte, Su Changlan den Besuch der Beerdigung zu ermöglichen. Ob dies gelang, ist noch nicht bekannt.
rUsslAnD – rAsUl kUDAev (september 2015) Rückblick: Rasul Kudaev wurde am 23. Oktober 2005 wegen mutmaßlicher Beteiligung an einem bewaffneten Überfall auf Regierungseinrichtungen in der Stadt Naltschik festgenommen. Bei seiner Festnahme und in der Haft wurde er gefoltert. ZuRasul Kudaev dem wurden seine Herz- und Nierenleiden nicht adäquat behandelt. Im Dezember 2014 verurteilte der Oberste Gerichtshof von Kabardino-Balkarien Rasul Kudaev zu lebenslanger Haft. Er selbst hatte stets seine Unschuld beteuert. Update: Im Februar 2016 wies Russlands Oberster Gerichtshof die Anfechtung des Urteils zurück und auch den Umstand, dass Rasul Kudaevs »Geständnisse« unter Folter erzwungen worden waren. Nun bleibt es aller Wahrscheinlichkeit nach bei der lebenslangen Haftstrafe, die er in einem Arbeitslager im Norden Russlands verbüßen soll. Immerhin war es seiner Familie möglich, ihm Essen und Medikamente zu bringen.
myAnmAr – phyoe phyoe AUng (briefmArAthon 2015 UnD briefe gegen DAs vergessen jAnUAr 2016)
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chinA – sU chAnglAn (jUli 2015)
Rückblick: Die Aktivistin Phyoe Phyoe Aung organisierte in Myanmar einen Protestmarsch von Studierenden, der von der Polizei gewaltsam aufgelöst wurde. Seither ist sie inhaftiert, ihr droht Phyoe Phyoe Aung eine Gefängnisstrafe von neun Jahren. Wie auch die anderen inhaftierten Aktivistinnen und Aktivisten hatte sie nur eingeschränkten Rechtsbeistand. Update: Amnesty startete Ende Februar eine »Urgent Action« für Phyoe Phyoe Aung und auch für ihren seit November ebenfalls inhaftierten Mann Lin Htet Naing. Beiden werden inzwischen weitere Anklagepunkte vorgeworfen, wodurch im Falle einer Verurteilung eine noch längere Haftstrafe droht. Das Ehepaar sieht sich gegenwärtig einmal wöchentlich bei den Gerichtsverhandlungen. Ihre Eltern, die sie ebenfalls bei einer Gerichtsverhandlung sprechen konnten, berichteten, dass Phyoe Phyoe Aung sich durch die zahllosen Briefe inspiriert und bestärkt gefühlt habe, in dem, was sie mache: »Mir wurde klar: Ich bin nicht allein.«
Amnesty joUrnAl | 04-05/2016
Foto: Amnesty
tAUsenDe Appelle fÜr mUhAmmAD bekZhAnov
Folter stoppen. Amnesty-Protestaktion gegenüber der usbekischen Botschaft in Berlin-Moabit.
grAbenkämpfe
Anlässlich der Klausurtagung der CSULandtagsfraktion im südbayerischen Wildbad Kreuth im Januar 2016 beantragten drei Amnesty-Mitglieder eine Kundgebung in dem kleinen Ort. Das Landratsamt untersagte die Demonstration zunächst. Nur weil die drei nicht locker ließen, wurde die Aktion schließlich im dritten Anlauf genehmigt: Die Behörde wies den Demonstranten eine kleine Fläche an der Landstraße zu – hinter einem Schneewall, der sich im Straßengraben türmte. Die Forderung der AmnestyMitglieder nach einer »menschenwürdigen Asylpolitik« weckte nicht zuletzt wegen der behördlichen Schikanen unerwartetes Medieninteresse.
vorWeggegAngen
Die Erinnerung an die Bombardierung von Chemnitz während des Zweiten Weltkriegs war für viele Menschen Anlass, rund um den 5. März ein Zeichen für Frieden und Toleranz zu setzen. Es gab allerdings auch 130 Neonazis, die zum Jahrestag der Bombardierung einen Fackelmarsch veranstalteten. Zuvor hat-
Bei einer öffentlichen Protestaktion am 1. März übergab die englischsprachige Amnesty-Gruppe Berlin 64.206 Appelle für den Journalisten Muhammad Bekzhanov an die usbekische Botschaft in Berlin-Moabit. Bei der Übergabe forderten die rund 25 Aktivistinnen und Aktivisten die sofortige Freilassung Bekzhanovs. Der usbekische Familienvater ist einer der am längsten inhaftierten Journalisten weltweit. Die Kundgebung richtete sich auch gegen den Einsatz von Folter zur Erpressung von »Geständnissen« und gegen die Verwendung erzwungener Geständnisse vor Gericht. Im Zuge der »Stop Folter«Kampagne und während des Briefmarathons 2015 schlossen sich allein in Deutschland Zehntausende Menschen diesen Forderungen an. Die Botschaft nahm die Apelle für Muhammad Bekzhanov nicht persönlich entgegen, die Amnesty-Mitglieder warfen die Petitionen daher in den Briefkasten.
ten jedoch mehrere Hundert Gegendemonstrierende, darunter auch Amnesty-Mitglieder, auf derselben Route demonstriert und mithilfe von Schablonen und Sprühkreide Graffiti wie »Menschenrechte«, »Chemnitz nazifrei« und »Leben ohne Gewalt« auf dem Asphalt hinterlassen.
Aktiv fÜr Amnesty
Durch ganz unterschiedliche Veranstaltungen geben Amnesty-Mitglieder den Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme. Diese Aktionen vor Ort sind ein unentbehrlicher Teil der Arbeit von Amnesty International. Mehr Informationen darüber finden Sie auf http://blog.amnesty.de und www.amnesty.de/kalender
impressUm Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 E-Mail: info@amnesty.de Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redak tion Amnesty Journal, Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, E-Mail: journal@amnesty.de Adressänderungen bitte an: info@amnesty.de Redaktion: Markus N. Beeko, Jessica Böhner, Andreas Koob, Anton Landgraf (V.i.S.d.P.), Ramin M. Nowzad, Katrin Schwarz
Aktiv fÜr Amnesty
Mitarbeit an dieser Ausgabe: Çiğdem Akyol, Birgit Albrecht, Daniel Bax, Andrea Berg, Markus Bickel, Selmin Çalışkan, Cordelia Dvorák, Sonja Ernst, Felicitas Folivora, Harald Gesterkamp, Lisa Grund, Leila Josua, Alexandra Karle, Jürgen Kiontke, Felix Lee, Gabriele Lesser, Ralf Rebmann, Wera Reusch, Andrzej Rybak, Uta von Schrenk, Maik Söhler, Wolf-Dieter Vogel, Stefan Wirner, Marlene Zöhrer Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck: hofmann infocom, Nürnberg Vertrieb: Carnivora Verlagsservice, Berlin
Bankverbindung: Amnesty International, Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE 233 702050 0000 8090100, BIC: BFS WDE 33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00) Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und erscheint sechs Mal im Jahr. Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.
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ISSN: 2199-4587
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