Amnesty Journal: Ausgabe August/ September 2016

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dAs mAgAZin für die menschenrechte

Amnesty journAl

Angesteckt Wie der rAssismus in deutschlAnd um sich greift

der ZWAngsehe entkommen die ungewöhnliche karriere der nasreen sheikh

humAnität unerWünscht ungarns regierung will flüchtlinge abschrecken

ArAbische identität Autor najem Wali besucht das »Problemviertel« molenbeek

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2016 August/ sePtember


INHALT

Bauunternehmer Ingolf Brumm wollte in seinem Mietshaus in Meißen Flüchtlinge unterbringen. Kurz darauf stand das Gebäude in Flammen. Zwei Brandstifter wurden verurteilt, doch viele in der Stadt sympathisieren mit den Straftätern.

titel: rAssistische geWAlt in deutschlAnd Meißen: Anatomie eines Anschlags

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Polizei und Justiz: Drei Täter, viele Fragen

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Protokolle: Das Fremde und das Eigene. Rassismuserfahrungen in Deutschland

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Amnesty-Bericht: Deutsche Behörden lassen Opfer rassistischer Gewalt im Stich

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themen Nepal: Ein Mädchen schert aus

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Bangladesch: Der religiöse Terror eskaliert

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China: Zensur und Selbstzensur

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Kenia: Ben Rawlence über Dadaab, das größte Flüchtlingslager der Welt

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Ungarn: Orban-Regierung schikaniert Flüchtlinge mit Transitzonen und gerichtlichen Schnellverfahren

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kultur Najem Wali diskutiert im belgischen Molenbeek mit jungen arabischen Migranten über Heimat und Integration

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Architektur-Biennale in Venedig: Flüchtlinge müssen menschenwürdig untergebracht werden

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Argentinien I: Héctor Germán Oesterhelds visionäre Graphic Novel »El Eternauta«

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Argentinien II: Im Lager – Christian Dürrs Studie über General Videlas Militärjunta

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»Seefeuer«: Dokumentarfilm zeigt das Leben auf Lampedusa

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»Erschütterung«: Die Schriftstellerin Gila Lustiger über den islamistischen Terror in Frankreich

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Jüdische Musik: Das Repertoire des Labels »Semer«

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16 Als Mädchen durfte sie keine Männer anschauen, nicht das Haus verlassen, nicht lachen. Heute kämpft Nasreen Sheikh in ihrer Heimat Nepal für die Rechte der Frauen.

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Dschihad im Ramadan: Bangladesch lebt seit drei Jahren mit islamistischen Anschlägen. Nun hat der Terror eine neue Eskalationsstufe erreicht.

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rubriken Weltkarte 04 Good News: Tschad: Späte Gerechtigkeit 05 Panorama 06 Interview: Petra Schlangenhauf 08 Nachrichten 09 Kolumne: Robert Misik 11 Einsatz mit Erfolg 12 Selmin Çalışkan über Gewalt gegen Geflüchtete 13 Rezensionen: Bücher 61 Rezensionen: Film & Musik 62 Briefe gegen das Vergessen 64 Aktiv für Amnesty 66 Impressum 68

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54 Er tauchte nicht mehr auf: Der Comic-Autor Héctor Germán Oesterheld wurde vor 40 Jahren von der argentinischen Militärjunta verschleppt. Nun ist sein Hauptwerk endlich auf Deutsch erschienen.

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die PoliZei …

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… ist die größte Menschenrechtsorganisation in Deutschland. Das sagt Rainer Wendt, Vorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft. Es war eine eigenwillige Reaktion auf den neuen Amnesty-Bericht, der dokumentiert, wie Strafverfolgungsbehörden die Opfer rassistischer Gewalt in Deutschland im Stich lassen. Recherchiert hat den 80-seitigen Bericht Marco Perolini. Im Interview (S. 26) schildert der Amnesty-Ermittler, wie Rassismus auch den Polizeialltag durchdringt: Wenn etwa Betroffene nicht zu Wort kommen, Polizistinnen und Polizisten rassistische Tatmotive nicht erkennen oder sie Menschen aufgrund von Vorurteilen ungleich behandeln.

Rechte Gewalt nimmt in Deutschland rapide zu. Doch Polizei und Justiz tun sich schwer, Rassismus als Tatmotiv anzuerkennen.

Nach wie vor kommen Geflüchtete über den Balkan nach Europa. Ungarns Regierung will Flüchtlinge abschrecken. Dabei greift sie zu immer extremeren Mitteln.

Derweil nimmt rassistische Gewalt im ganzen Land zu: 92 Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte bislang in diesem Jahr, 136 im vergangenen Jahr. Als es im Juni 2015 in Meißen brannte, bejubelten Menschen die Flammen. Unser Autor Olaf Sundermeyer skizziert in seiner Reportage, wie Rassismus und flüchtlingsfeindliche Stimmungsmache das Klima in der Stadt bestimmen (S. 16).

42 Der Brüsseler Stadtteil Molenbeek gilt als Brutstätte des Terrors. Der deutschirakische Schriftsteller Najem Wali hat dort mit jungen Arabern über Heimat, Integration und Islamismus diskutiert.

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Titelbild: Ausgebrannter Dachstuhl der geplanten Asylunterkunft in Tröglitz (Sachsen-Anhalt). Foto: Jan Woitas / dpa / pa Fotos oben: Gustav Pursche  |  Kay Nietfeld / dpa / pa  |  Frank Schultze  |  Maria Litwa Roberto Schmidt / AFP / Getty Images  |  juergen-bauer.com  |  Francisco Solano Lopéz / Avant-Verlag Foto Editorial: Gustav Pursche

inhAlt

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editoriAl

Der Brandanschlag, den Gianni Jovanovic als Kind erlebte, ist eine der vielen Rassismuserfahrungen, die er in Deutschland von klein auf machte. Ihn und zwei Frauen fragten wir, wo sie in ihrem Alltag Rassismus erleben und wie sie damit umgehen (S. 24). Eine beeindruckend positive Geschichte recherchierte Veronika Wulf in Nepal. Nasreen Sheikh verweigerte sich als erste in ihrem Dorf der Zwangsheirat. Inzwischen leitet die 24-Jährige ein Textilunternehmen und beschäftigt Frauen, die es ihr gleichtun wollen (S. 30). In der vergangenen Ausgabe zeigten wir Porträtfotos von Nigerianerinnen, die der Terrorsekte Boko Haram entkommen sind. Darunter auch eine Mutter, die ihre Kinder bei der Flucht aus der Gefangenschaft verlor. Um nach ihnen zu suchen, fehlten ihr die Mittel. Einige unserer Leserinnen und Leser meldeten sich daraufhin mit dem Wunsch, die Frau zu unterstützen: Damit kam Bewegung in die Sache. Dass ich dieses Editorial schreibe, ist eine einmalige Angelegenheit: Zum Ende meines Volontariats habe ich die Titelstrecke dieser Ausgabe konzipiert. Für die faszinierenden zwei Jahre möchte ich mich bei unserer kleinen Redaktion, unseren Autorinnen und Autoren und auch bei Ihnen als Leserinnen und Lesern bedanken. Andreas Koob ist Volontär  des Amnesty Journals.

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WELTKARTE

irlAnd In einer weitreichenden Entscheidung hat der UNO-Menschenrechtsausschuss Irland aufgefordert, legale SchwangerschaftsabbrĂźche zu ermĂśglichen. Im Fall von Amanda Mellet bestätigte der Ausschuss, dass ihre Rechte durch das Abtreibungsverbot verletzt wurden. Im Jahr 2011 wurde Mellet, die sowohl die irische als auch die US-amerikanische StaatsbĂźrgerschaft besitzt, eine Abtreibung verweigert, obwohl ihr Kind nicht lebensfähig gewesen wäre. Das Abtreibungsverbot setze Frauen einer grausamen, unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung aus, so der Ausschuss. Mit dieser Entscheidung hat ein internationales Menschenrechtsgremium erstmals anerkannt, dass ein Land durch ein Abtreibungsverbot die Menschenrechte von Frauen verletzt.    í˘ą

PhiliPPinen Der neue philippinische Präsident Rodrigo Duterte setzt auf Härte: Schon während des Wahlkampfs hatte er angekĂźndigt, die Todesstrafe wieder einfĂźhren zu wollen und Drogendealer ermorden zu lassen. Sollte er seine Drohungen wahr machen, wĂźrde sich die Menschenrechtssituation auf den Philippinen dramatisch verschlechtern, warnte Rafendi Djamin, Leiter der SĂźdostasien-Abteilung von Amnesty International. Präsident  Duterte schockiert die Öffentlichkeit immer wieder durch seine extremen Aussagen und Ansichten. So bezeichnete er Medienberichten zufolge Drogendealer als HurensĂśhne und rief die BevĂślkerung auf, Drogenabhängige  eigenhändig umzubringen. í˘˛

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brAsilien Wenige Wochen vor Beginn der Olympischen Sommerspiele in Brasilien hat die Polizeigewalt erschreckende AusmaĂ&#x;e angenommen. Nach Angaben des staatlichen ÂťInstituts fĂźr Üffentliche Sicherheit (Instituto de Segurança PĂşblica) tĂśtete die Polizei allein im Mai 40 Personen in Rio de Janeiro. Dies entspricht einem Anstieg von 135 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Die stark ansteigenden Todeszahlen im Vorfeld der Olympischen Spiele zeigen, dass die BehĂśrden nicht in der Lage sind, grundlegende Menschenrechte wie das Recht auf Leben zu schĂźtzenÂŤ, sagte Atila Roque, Direktor von Amnesty International Brasilien. Die BehĂśrden mĂźssten sofort handeln, um der Gewaltspirale ein Ende zu setzen. 

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keniA Kenianische und internationale Menschenrechtsorganisationen haben die BehĂśrden in Kenia dazu aufgerufen, Polizeigewalt aufzuklären und gegen Straflosigkeit vorzugehen. Hintergrund ist der Fall des Menschenrechtsanwalts Willie Kimani, der im Juni zusammen mit einem Mandanten und einem  Taxifahrer verschwand. Eine Woche später wurden die drei Männer tot aufgefunden.  Berichte legen nahe, dass Polizeikräfte in die EntfĂźhrung und TĂśtung verwickelt sein sollen. Die Organisationen haben den kenianischen Präsidenten Uhuru Kenyatta aufgefordert, eine Untersuchungskommission einzusetzen, um diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die fĂźr willkĂźrliche TĂśtungen verantwortlich sind. 

indonesien Tagelang hatten die indonesischen BehĂśrden tamilischen Asylsuchenden aus Sri Lanka verweigert, an Land zu gehen. Dann durften Dutzende, darunter eine schwangere Frau und neun Kinder, das schiffbrĂźchige Boot verlassen und ihr Asylgesuch Vertretern des FlĂźchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) vorbringen. Die Asylsuchenden waren wochenlang auf hoher See unterwegs gewesen, um nach Australien zu gelangen. Fischer der indonesischen Provinz Aceh entdeckten das Boot schlieĂ&#x;lich und verständigten die KĂźstenwache. Die indonesischen BehĂśrden hatten zunächst damit gedroht, die Menschen entgegen aller internationalen Verpflichtungen wieder zurĂźck aufs offene Meer zu schleppen.

Amnesty journAl | 08-09/2016


GOOD NEWS

Foto: Carley Petesch / AP / pa

sĂźdkoreA Weil Han San-gyun mehrere regierungskritische Demonstrationen organisiert hatte, wurde der GewerkschaftsfĂźhrer Anfang Juli zu einer fĂźnfjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. San-gyun ist Direktor des Koreanischen Gewerkschaftsbundes (KCTU). Ihm werden Vergehen wie Verletzung von Beamten oder ÂťBehinderung des Verkehrs vorgeworfen. Das Urteil nimmt Bezug auf eine Demonstration im November 2015, bei der Zehntausende Menschen weitgehend friedlich gegen die Regierung protestiert hatten. Berichten zufolge war jedoch eine kleine Gruppe mit Metall- und Bambusstangen bewaffnet. Amnesty International kritisierte das Urteil als RĂźckschlag fĂźr die VersammlungsfreiheitÂŤ. FĂźr das gewalttätige Verhalten einer Minderheit dĂźrften nicht die Organisatoren verantwortlich gemacht werden.    í˘ł

Lebenslänglich. Hissène HabrÊ im Gerichtssaal in Dakar.

sPätes recht

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Ausgewählte Ereignisse vom  21. Juni bis 9. Juli 2016

WeltkArte

tschAd Es war ein bedeutender Tag fĂźr die Menschenrechte in Afrika: Am 30. Mai wurde Hissène HabrĂŠ, der ehemalige Diktator des Tschad, vor einem Sondertribunal der Afrikanischen Union wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Folter, Mord, EntfĂźhrung und Zwangsprostitution zu lebenslanger Haft verurteilt. 93 Opfer und 33 weitere Zeugen hatte das Gericht in der senegalesischen Hauptstadt Dakar seit der ErĂśffnung des Verfahrens im Juli 2015 angehĂśrt, dabei waren entsetzliche Details der Schreckensherrschaft HabrĂŠs von 1982 bis 1990 ans Tageslicht gekommen. So schilderte die Zeugin Khadidja Hassan Zidane, wie sie von HabrĂŠ persĂśnlich vier Mal vergewaltigt und anschlieĂ&#x;end von der Armee zusammen mit anderen Frauen als Sexsklavin in die WĂźste verschleppt worden war. Der ehemalige Häftling Souleymane Guengueng sagte: ÂťIch sah meine Freunde und Mithäftlinge an Hunger, Verzweiflung, Folter und Krankheit sterben.ÂŤ Laut einer Wahrheitskommission des Tschads fielen dem Regime 40.000 Menschen zum Opfer, darunter vor allem politische Gegner HabrĂŠs und AngehĂśrige bestimmter, insbesondere nicht-muslimischer ethnischer Gruppen. HabrĂŠ soll immer wieder selbst an Folterungen beteiligt gewesen sein. Nach seinem Sturz im Jahr 1990 war er in den Senegal geflohen, wo er lange Zeit den Schutz der Regierung genoss. Erst als 2012 Macky Sall senegalesischer Präsident wurde, änderte sich die Lage und ein Verfahren wurde mĂśglich. Dazu trug auch das Engagement vieler Menschenrechtsorganisationen und Opfergruppen bei, die jahrzehntelang Zeugenaussagen von Opfern und AngehĂśrigen gesammelt hatten. Während des Verfahrens bezog sich das Gericht auch auf Berichte von Amnesty International. Zum ersten Mal wurde damit ein ehemaliger Diktator eines afrikanischen Landes in einem anderen afrikanischen Staat wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. ÂťEs sind Momente wie diese, an denen sich Opfer in aller Welt aufrichten kĂśnnen, wenn ihnen Gerechtigkeit unerreichbar scheintÂŤ, sagte Gaetan Mootoo, Westafrika-Experte von Amnesty International.

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Foto: Gokhan Tan / Getty Images

türkei: nAch dem Putsch

7.000 suspendierte Polizisten, 2.700 abgesetzte Staatsanwälte und Richter sowie nahezu 8.000 Festnahmen: Auf den gescheiterten Putsch in der Türkei folgt staatliche Repression. Regierungsvertreter forderten die Todesstrafe für überführte Putschisten. Amnesty untersucht gegenwärtig Berichte über schwere Misshandlungen in türkischen Gefängnissen. »Der Putschversuch entfesselte erschreckende Gewalt«, sagt John Dalhuisen, Experte bei Amnesty für Europa und Asien. »Dass die türkischen Behörden massenhaft Menschen festnehmen, ist sehr beunruhigend. Es steht zu befürchten, dass die Regierung nun auch Journalisten und Vertreter der Zivilgesellschaft noch schärfer ins Visier nehmen wird.« Mindestens 208 Menschen sind während des Putschversuchs getötet und 1.400 verletzt worden.

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Amnesty journAl | 08-09/2016


usA: geWAlt und gegengeWAlt

Tödliche Schüsse von Polizisten, tödliche Schüsse auf Polizisten: Anfang Juli sahen sich die USA erneut mit einer Welle von Gewalt konfrontiert. Auslöser waren die Erschießung von Alton Sterling bei einer Polizeikontrolle in Louisiana und von Philando Castile in einem ähnlichen Fall in Minnesota. Offenbar aus Rache erschoss der Afroamerikaner Micah Johnson daraufhin in Dallas fünf weiße Polizisten. Die Organisation »Black Lives Matter«, die sich gegen Gewalt gegen Schwarze engagiert, machte für die Todesfälle bei den Kontrollen das »gescheiterte Polizeisystem« in den USA verantwortlich und betonte, dass man sich für ein Ende der Gewalt einsetze, nicht für eine Eskalation. Amnesty International weist seit langem darauf hin, dass in einigen US-Bundesstaaten nicht geregelt ist, wann Polizisten Schusswaffen einsetzen dürfen, und dass Afroamerikaner unverhältnismäßig häufig Opfer tödlicher Polizeigewalt werden. Foto: Eduardo Munoz / Reuters

PAnorAmA

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INTERVIEW PETRA SCHLANGENHAUF

richt Chiles landete. Bevor dort die Entscheidung fiel, ist er nach Deutschland geflüchtet. Also gehen Sie davon aus, dass es sich um ein rechtsstaatliches Verfahren handelte? Ja, und deshalb sollte das Urteil hier vollstreckt werden. Hopp hat angekündigt, bis zum Bundesverfassungsgericht zu gehen. Das ist durchaus möglich, denn wir bewegen uns auf juristischem Neuland.

Foto: Sarah Eick

Das klingt nach einem langwierigen Prozess. Besteht nicht die Gefahr, dass Hopp erneut flüchtet? Darauf haben wir die Staatsanwaltschaft deutlich hingewiesen. Er ist ja auch aus Chile geflohen, offenbar mit falschen Dokumenten. Zwar hat er inzwischen Sozialhilfe beantragt, ich gehe aber davon aus, dass er Zugang zu Geldquellen hat. Die Staatsanwaltschaft meint, dass im Ausland der chilenische Haftbefehl greifen und er nach Chile ausgeliefert werden würde. Mich überzeugt das nicht.

»dAs ist juristisches neulAnd« Der deutsche Staatsbürger Hartmut Hopp war Arzt in der für Folter berüchtigten Sektensiedlung Colonia Dignidad im Süden Chiles. Hopp lebt seit 2011 unbehelligt in Krefeld, obwohl er in Chile wegen Beihilfe zum Kindesmissbrauch zu fünf Jahren Haft verurteilt worden ist. Jetzt fordert die hiesige Staatsanwaltschaft, das Urteil zu vollstrecken. Die Anwältin Petra Schlagenhauf hatte Hopp bereits vor fünf Jahren angezeigt. Interview: Wolf-Dieter Vogel

Muss Hopp nun definitiv hier ins Gefängnis? Das ist noch nicht ausgemacht. Ausländische Freiheitsstrafen können nur vollstreckt werden, wenn im ursprünglichen Verfahren die grundlegenden Verteidigungsrechte gewahrt wurden. Hopps Verteidigung bringt vor, das Verfahren habe unter altem chilenischem Recht stattgefunden. Das ist richtig: Es geht um Vorgänge vor der Reform des Strafrechts. Aber dieses Recht war dem spanischen ähnlich und wird in Deutschland anerkannt. Entscheidend ist, ob Hopp Anspruch auf rechtliches Gehör und angemessene Verteidigung hatte. Ein chilenischer Richter erklärte mir, er habe noch nie einen Angeklagten gesehen, der so viele Verteidigungsmöglichkeiten wahrgenommen habe. Hopp ging durch drei Instanzen, bis der Fall vor dem Obersten Ge-

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Hopp ist bereits seit 2011 in Deutschland. Warum fiel die Entscheidung der Staatsanwaltschaft erst jetzt? Die Zusammenarbeit zwischen der deutschen und der chilenischen Justiz gestaltet sich ziemlich zäh. Das kritisieren beide Seiten. Parallel haben Sie 2011 hier Anzeige gegen ihn erstattet. Was werfen Sie ihm vor? Es geht um Missbrauchsvorwürfe, die erzwungene Verabreichung von Psychopharmaka und die Ermordung politischer Gefangener. Allerdings sind viele seiner Straftaten verjährt. Zudem ist schwierig nachzuvollziehen, was er konkret getan hat. Er selbst hat mit Sicherheit niemanden umgebracht. Aber wir haben Beweise und Zeugen dafür, dass er in engem Kontakt zu Manuel Contreras stand, dem Chef des chilenischen Geheimdienstes DINA. Faktisch war die Kolonie eine Außenstelle der DINA. Dort wurde gefoltert und laut Schätzungen wurden bis zu hundert Menschen umgebracht. Gibt es andere mutmaßliche Täter in Deutschland, für die das Verfahren Signalwirkung haben könnte? Von den in Chile Verurteilten sitzen die anderen ihre Haft ab. Es gab in Chile noch offene Verfahren, die nicht weitergeführt werden konnten, weil die Personen flüchtig sind. In Deutschland leben mehrere Personen, die mit Sicherheit Straftaten begangen haben. Ich habe damals die Strafanzeige gegen Hopp und andere Unbekannte gestellt. Auch da stellt sich aber das Problem, dass die Vorwürfe schwer strafrechtlich aufzuklären sein werden.

Amnesty journAl | 08-09/2016


»Manchmal träume ich, dass ich mit jenen gestorben bin, die getötet wurden. Ich wache auf, schwitze und zittere. Warum starben die anderen?« MALITH ÜBERLEBTE IM DEZEMBER 2013 EINE MASSENHINRICHTUNG IN DER SÜDSUDANESISCHEN HAUPTSTADT JUBA, BEI DER 300 MÄNNER STARBEN.

Alte nArben, neue geWAlt Blut der Getöteten zu trinken und ihr Fleisch zu essen. Nachts, wenn ich schlafe, kehren die Getöteten in meinen Träumen zurück«, sagte ein Mann, der im Dezember 2013 eine Massenhinrichtung in der Hauptstadt Juba überlebte. Amnesty befragte 161 Binnenflüchtlinge, die im Rahmen einer Mission der Verein-

Entkommen. Südsudanesische Binnenflüchtlinge in einem Camp der Vereinten Nationen.

1,7 millionen MENSCHEN

WURDEN DURCH DEN BEWAFFNETEN KONFLIKT IM SÜDSUDAN ZU BINNENFLÜCHTLINGEN.

41 ProZent

DER BEFRAGTEN WIESEN SYMPTOME AUF, DIE AUF EINE SOGENANNTE POSTTRAUMATISCHE BELASTUNGSSTÖRUNG HINDEUTEN, WIE ETWA DEPRESSIONEN, AGGRESSIVITÄT, PANIKATTACKEN UND SELBSTMORDVERSUCHE. Quelle: UNDP & South Sudan Law Society-Umfrage in sechs Bundesstaaten und dem Abyei-Gebiet

intervieW

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nAchrichten

ten Nationen (UNMISS) betreut werden. Ihre Aussagen gleichen sich: Viele von ihnen haben ständig Albträume, sie können kein normales Leben führen und hegen Selbstmordgedanken. Professionelle Hilfe erhalten im Südsudan nur wenige der Traumatisierten, weil es an Personal und medizinischer Infrastruktur mangelt.

Foto: Jason Patinkin / AP / pa

Die Feier wurde abgesagt: Am 9. Juli, dem fünften Jahrestag der Gründung des Südsudans, kam es in der Hauptstadt Juba zu Gefechten zwischen Regierungseinheiten und Rebellen. Dabei wurden Hunderte Menschen getötet. Amnesty hat die internationale Staatengemeinschaft aufgerufen, ein Waffenembargo zu verhängen. Der Südsudan leidet seit Jahren unter bewaffneten Auseinandersetzungen. Der Bürgerkrieg, der 2013 ausbrach, kostete Zehntausende Zivilisten das Leben, es kam zu Massenvergewaltigungen, Plünderungen und Vertreibungen. Wie ein Anfang Juli von Amnesty vorgelegter Bericht zeigt, hat die anhaltende Gewalt auch Auswirkungen auf die mentale Gesundheit der Bevölkerung. »Tod und Zerstörung sind im Südsudan offenkundig. Was weniger offensichtlich ist, sind die seelischen Narben, die die Kämpfe bei den Menschen interlassen haben«, sagte Muthoni Wanyeki, Ostafrika-Expertin von Amnesty International. Der Bericht dokumentiert schockierende Aussagen: »Sie fesselten meine Hände hinter meinem Rücken und zwangen mich mit vorgehaltener Waffe, das

flucht nAch vorn

Sie stellen die Hälfte des Flüchtlingsteams, das bei den Olympischen Spielen in Rio antritt: Drei Athleten und zwei Athletinnen, die aus dem Südsudan geflüchtet sind. Eine von ihnen ist die 1.500-Meter-Läuferin Anjelina Nadai Lohalith: »Auf Geflüchtete wird immer wieder herabgeblickt. Ich möchte sie bestärken, dass sie sich ihren Charakter und ihre Fähigkeiten vergegenwärtigen. Sie können sich beweisen – egal, wo sie sind – überall auf der Welt.«

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rebellen terrorisieren Zivilisten syrien Entführung, Folter, Mord: In den

ren. Ein Mann berichtete, er sei von der Al-Nusra-Front, die zu Al-Qaida gehört, verschleppt und drei Tage lang gefoltert worden. Man habe ihn an den Handgelenken aufgehängt und mit Kabeln geschlagen. Bedroht, entführt oder gefoltert werden insbesondere Anwälte, politische Aktivisten, Mitglieder der kurdischen Minderheit oder christliche Priester. Oft reiche die leiseste Kritik an den Milizen, um verschleppt zu werden. Vielerorts haben sie außerdem das SchariaRecht eingeführt, Religionsgerichte verhängen bei vermutetem Abfall vom Glauben oder angeblichem Ehebruch die Todesstrafe. Ein 17-Jähriger wurde hingerichtet, weil er homosexuell gewesen sein

soll. Auch Regierungssoldaten werden regelmäßig Opfer von Erschießungen, die oft unter den Augen der Bevölkerung stattfinden. »In Aleppo und Idlib haben bewaffnete Gruppen freie Hand, straflos Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen zu begehen«, sagte Philip Luther, Leiter der Nahost-Abteilung von Amnesty International. Teilweise würden diese Gruppen von den USA, der Türkei, Katar oder Saudi-Arabien unterstützt. Diese Staaten müssten Druck auf die Milizen ausüben, damit sie das Kriegsrecht einhielten. Waffenlieferungen an Gruppen, die Kriegsverbrechen begehen, müssten eingestellt werden, forderte Luther.

Foto: Abdalrhman Ismail / Reuters

von Rebellen kontrollierten Gebieten im Norden Syriens werden schwere Verbrechen an Zivilisten verübt. Das zeigt der Bericht »Folter war meine Strafe«, den Amnesty am 5. Juli vorgelegt hat. Darin sind schwere Verletzungen des Kriegsrechts und der Menschenrechte aus den Jahren 2012 bis 2016 dokumentiert. Grundlage des Berichts sind Interviews mit 70 Personen aus Provinzen, die von der Al-Nusra-Front, von Ahrar al-Scham, Nureddin Sinki, der LevanteFront und der Division 16 kontrolliert werden. Aufgeführt sind etwa 24 Entführungen, darunter auch die von drei Kindern im Alter zwischen 14 und 16 Jah-

Schon leiseste Kritik ist lebensgefährlich. Kämpfer der Levante-Front im Justizpalast in der Altstadt von Aleppo.

der stAAt hört mit

Die Behörden in Weißrussland überwachen intensiv die Telefonnetze, um abweichende Meinungen und Widerspruch im Keim zu ersticken. Das belegt ein Bericht, den Amnesty am 7. Juli vorgelegt hat. Ermöglicht wird das den Behörden auch von Telekommunikationsanbietern, die zu Telekom Austria und zur türkischen Mobilfunkgesellschaft Turkcell gehören. »Unternehmen, die in Weißrussland arbeiten, müssen den Behörden Zugriff auf ihre Kundendaten gewähren«, erklärt Joshua Franco, Amnesty-Experte für Technologie und Menschenrechte. Hierfür brauche der Geheimdienst keinen Vollstreckungsbefehl. Die Abhörpraxis macht die Arbeit von kritischen Initiativen und Nichtregierungsorganisationen in dem Land nahezu unmöglich. So stellt es bereits ein Risiko dar, telefonisch ein Treffen zu vereinbaren. Amnesty International fordert die Unternehmen auf, die betreffenden Gesetze in Weißrussland zu hinterfragen und zumindest ihre Kunden darüber zu informieren, dass ihre Daten für die Behörden jederzeit abrufbar sind. WeissrusslAnd

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nicht mehr »geisteskrAnk«

dänemArk Transgender gelten in Dänemark offiziell als psychisch krank. Das soll sich nun ändern – so hat es das dänische Parlament Ende Mai beschlossen. Amnesty International und Organisationen von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender und Intersexuellen hatten dies seit langem gefordert. Leda Avgousti, Amnesty-Referentin für sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität, sagte, es sei beschämend, dass es weltweit die Norm sei, Transgender als geistig gestörte Menschen einzuordnen. Dies führe dazu, dass sie gezwungen seien, traumatisierende und erniedrigende psychiatrische Untersuchungen zu ertragen, um ihr Geschlecht rechtmäßig ändern zu können oder überhaupt die Möglichkeit einer Geschlechtsumwandlung zu erhalten. Die dänische Entscheidung erhöht auch den Druck auf die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die in ihrer »Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme« (ICD) Transgender noch immer als geistige Störung führt.

Amnesty journAl | 08-09/2016


kolumne robert misik

Zeichnung: Oliver Grajewski

»Doppelt hält besser« – Österreichs Grüne machen gerade aus der Not eine Tugend und den bitteren Ernst ein wenig zum Spaß. Denn die Stichwahl um die Präsidentschaft, die der grüne Kandidat Alexander van der Bellen »arschknapp« gegen Norbert Hofer, den Kandidaten der rechtsradikalen Freiheitlichen Partei gewonnen hat, muss am 2. Oktober wiederholt werden. Wenn’s einmal nicht reicht, muss van der Bellen eben die Stichwahl zweimal gewinnen.

hoffnung stAtt Angst

War Österreich in den neunziger Jahren noch ein Sonderfall, so ist der Aufstieg aggressiver Rechtsparteien mittlerweile ein europaweites Phänomen. Er verdankt sich einer Reihe von Gründen. Erstens: dem Reißen der kommunikativen Fäden zwischen den etablierten Eliten und einem Teil der normalen Bürger und Bürgerinnen: jenen, die finden, »die da oben« interessieren sich ja überhaupt nicht mehr für sie. Zweitens: dem Fehlen einer Botschaft der Hoffnung, verkörpert von Parteien eines technokratischen, neoliberalen Mainstreams. Damit verbunden drittens: einer Politik der Angst, der Dauergereiztheit, der Aufstachelung negativer Emotionen, einer Disziplin, in der die Rechtspopulisten einfach unschlagbar sind. Viertens: einer über eine lange Dauer wirksamen Konzeptlosigkeit der politischen Konkurrenz. Und fünftens, generell gesprochen, einem Verdruss an der routinierten Politik etablierter Eliten, mit ihren Ritualen, ihrem Jargon, ihrem substanzlosen Gelaber. Viele Leute haben, manchmal auch nur unbewusst, das Gefühl: Die politische und ökonomische Maschine ist kaputt, aber die Eliten haben nicht einmal einen Plan. Dieser Gefühlscocktail ist fast überall wirksam: In Österreich, in Polen und Ungarn, in Deutschland profitiert davon die AfD, in Frankreich der Front National, in Großbritannien brachte er den Brexit-Befürwortern eine Mehrheit, und den USA bescherte er einen clownesken Halb-Irren wie Trump als Präsidentschaftskandidaten. Der Rechtspopulismus gedeiht auf dem Humus einer inhaltsleeren Mitte-Politik, die sich als »alternativlos« behauptet – und viele halten den Aufstieg dieses Populismus selbst mittlerweile für »alternativlos«, insofern, als kein Gras gegen ihn gewachsen sei. Aber das ist Unsinn. Mit einer Reformpolitik, die Hoffnung auf gerechtere Verteilung des Wohlstands macht; mit einer Akzentuierung politischer Differenzen der anderen Parteien; mit einer milieumäßigen Verbreitung des politischen Personals, mit einer Demokratisierung und Popularisierung der Parteien; mit dem Entstehen anderer, neuer Veränderungsparteien, seien sie links-progressiv oder liberal-konservativ – mit all dem kann man den Populisten Paroli bieten. Nicht, dass dann der Erfolg garantiert wäre. Nicht, dass der Spuk dann quasi von selbst verschwinden würde. Aber eine innere Erneuerung des demokratischen Systems ist die Vorbedingung, gegen den Aufstieg einer Politik der Angst überhaupt eine Chance zu haben. Was aber ein sicherer Weg zum Misserfolg ist, sind implizite Botschaften wie: Wählt uns, um das Schlimmste zu verhindern. Wählt uns, weil mit uns wird es langsamer schlechter. Wer solche Signale abschickt, kann den Schlüssel zum Kanzler- oder Präsidentenamt gleich den Rechtspopulisten übergeben. Das Allerwichtigste ist, nicht wie das Kaninchen auf die Schlange des Rechtspopulismus zu starren, aus Angst in Kleinmütigkeit zu verfallen oder gar seine Forderungen und seine Sprache zu übernehmen, im falschen Glauben, damit würde man ihm »den Wind aus den Segeln« nehmen. Das ist überhaupt das Falscheste. Am besten, man denkt dabei jeden Tag an den schönen Satz des Philosophen Hegel, der meinte, die Furcht zu irren, sei schon der Irrtum selbst. Und an Franklin D. Roosevelt und dessen legendäre Wendung: Wir haben nichts zu fürchten als die Furcht selbst. Der Autor ist Journalist und politischer Schriftsteller und lebt in Wien.

nAchrichten

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kolumne

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Foto: Amnesty

Briefe der Solidarität. Yecenia Armenta im Gefängnis während des Besuchs einer Amnesty-Delegation im Januar 2016.

»die gerechtigkeit siegt doch« Die Mexikanerin Yecenia Armenta wurde festgenommen, vergewaltigt und unter Folter gezwungen, eine Straftat zu gestehen, die sie nicht begangen hat. Nun ist sie wieder in Freiheit. Hunderttausende hatten sich im Rahmen des AmnestyBriefmarathons für ihre Freilassung eingesetzt. Die Sommer waren am schlimmsten. Dann war es immer unerträglich heiß in der Zelle, 40 Grad und mehr. Atmen, denken, hoffen – alles fiel schwer. Doch dieser Sommer ist anders für Yecenia Armenta. Denn sie ist nach vier Jahren Haft endlich frei. Im Juli 2012 war die Mexikanerin im Auto von der Polizei des Bundesstaates Sinaloa angehalten worden. Eigentlich wollte sie nur Verwandte zum Flughafen bringen. Stattdessen brachte man sie auf eine Polizeiwache, wo sie 15 Stunden lang gefoltert wurde. Man schlug auf sie ein, erdrosselte sie fast und vergewaltigte sie mehrfach. Sie sollte mit allen Mitteln gezwungen werden, zu gestehen, ihren Mann getötet zu haben. »Sie sagten, sie würden meine Kinder holen, um sie zu vergewaltigen und in Stücke zu schneiden«, erinnert sich die 39-Jährige. Mit verbundenen Augen musste sie ein »Geständnis« unterschreiben. »Ich habe nicht gelesen, was ich

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unterschrieb. Ich dachte, hier komme ich nicht mehr raus, nicht lebendig.« Sexualisierte Gewalt gegen Frauen ist in Mexiko weit verbreitet. Amnesty hat mit 100 Frauen in mexikanischen Bundesgefängnissen über die Umstände ihrer Festnahme und Vernehmung gesprochen. Alle Frauen gaben an, sexualisierte Gewalt oder psychische Misshandlungen durch Sicherheitskräfte erfahren zu haben. 97 sagten, sie seien körperlichen Misshandlungen ausgesetzt gewesen. 72 berichteten, sie seien während ihrer Festnahme oder in den darauf folgenden Stunden sexuell missbraucht worden. 33 gaben an, sie seien vergewaltigt worden. »Die unglaubliche Grausamkeit der Folter, die Yecenia Armenta erlitten hat, gehört zum alltäglichen Vorgehen der mexikanischen Polizei«, sagt Erika Guevara Rosas, Leiterin der Amerika-Abteilung von Amnesty. Wie so oft wurden auch in Yecenia Armentas Fall die Täter nicht zur Rechenschaft gezogen. »Bevor das alles passiert ist, habe ich mich als ein wertvoller Teil der Gesellschaft gefühlt und es geliebt, mich um andere zu kümmern«, sagt die Mexikanerin. Und auch während ihrer Zeit in Haft fand sie Wege, sich einzusetzen: Sie schloss sich einer Gruppe von Frauen an, die eine Kampagne mit dem Titel »Das Schweigen brechen« ins Leben gerufen

hat und auf sexualisierte Gewalt und Folter in Mexiko aufmerksam machen will. Doch auch andere Menschen erhoben ihre Stimme gegen die Ungerechtigkeit, die Yecenia Armenta widerfuhr: Während des Amnesty-Briefmarathons 2015 erhielt sie fast 8.000 Briefe und Karten aus der ganzen Welt, die ihr in den langen Stunden in der Zelle Mut gaben. Hunderttausende Briefe gingen bei den mexikanischen Behörden ein, in denen Menschen weltweit ihre Freilassung forderten. Noch vor einem Jahr schrieb sie in einem Brief an Amnesty: »Ich glaube, viele Menschen werden sich in meiner Geschichte wiedererkennen. Amnesty hat mich vor Kurzem besucht und mir von anderen erzählt, die freigelassen wurden, weil weltweit Tausende von euch Solidarität gezeigt und Druck ausgeübt haben. Ich bin hoffnungsvoll und dankbar.« Am 7. Juni hatte das Bangen schließlich ein Ende: ein Richter im Norden Mexikos sprach Yecenia Armenta frei und ordnete ihre Entlassung aus der Haft an. »Ich möchte mich bei denen bedanken, die weiter kämpfen, die mit dieser wichtigen Arbeit, dem Kampf für die Rechte anderer Menschen, weitermachen. Manchmal braucht die Gerechtigkeit länger – aber irgendwann siegt sie doch«, sagte Yecenia Armenta. Vera Dudik

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Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen mit Appellschreiben an den »Urgent Actions«, den »Briefen gegen das Vergessen« und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz drohende Menschenrechtsverletzungen verhindert und Menschen in Not hilft, zeigen diese Beispiele.

flüchtling mit fAmilie vereint

türkei Seine Geschichte klingt unglaublich: Der syrische Flüchtling Fadi Mansour, ein Jurastudent aus Homs, wurde seit März 2015 auf dem Istanbuler Atatürk-Flughafen festgehalten – ein Jahr lang in einem kleinen, gekachelten Raum ohne Fenster. Er musste jederzeit mit einer Abschiebung nach Syrien rechnen, wo ihm als Wehrdienstverweigerer der Tod drohte. Am 23. März 2016 wurde er in ein Abschiebelager in Adana im Südosten der Türkei verlegt. Von dort aus durfte Fadi Mansour endlich die Türkei verlassen: Am 11. Juni reiste er ins australische Melbourne, wo seine Familie lebt. Amnesty hatte seinen Fall bekannt gemacht.

journAlistin freigelAssen

Das Oberste Gericht Aserbaidschans hat die Freilassung von Khadija Ismayilova angeordnet. Die Journalistin hatte in mehreren Artikeln Korruption und Menschenrechtsverletzungen in Aserbaidschan aufgedeckt. Ein Gericht verurteilte sie im September 2015 in einem unfairen Verfahren zu siebeneinhalb Jahren Haft, unter anderem wegen »Steuerhinterziehung« und »Veruntreuung«. Amnesty nannte die Vorwürfe »konstruiert« und betrachtete Khadija Ismayilova als gewaltlose politische Gefangene. Die Journalistin kam frei, nachdem das Oberste Gericht am 25. Mai ihre Strafe in dreieinhalb Jahre Haft auf Bewährung umgewandelt hatte.

AserbAidschAn

schriftsteller in freiheit

omAn Der Schriftsteller, Journalist und Menschenrechtler Su-

laiman al-Ma’mari ist am 19. Mai aus der Haft entlassen worden. Zuvor war er 22 Tage ohne Anklage in Einzelhaft festgehalten worden, der Zugang zu einem Rechtsbeistand wurde ihm verwehrt. Die Behörden haben bisher keine Gründe für seine Inhaftierung genannt. Sulaiman al-Ma’mari selbst hat die Vermutung geäußert, dass er ins Visier der Behörden geriet, weil er auf Facebook die Freilassung des ebenfalls inhaftierten Schriftstellers Abdullah Habib gefordert hatte.

hungerstreik beendet

sAudi-ArAbien Waleed Abu al-Khair hat am 12. Juni einen fünftägigen Hungerstreik beendet. Der prominente Menschenrechtsverteidiger und Anwalt des Bloggers Raif Badawi ist ein gewaltloser politischer Gefangener, der allein wegen seines friedlichen Engagements zu 15 Jahren Haft verurteilt worden ist. Al-Khair war am 7. Juni in den Hungerstreik getreten, um gegen Misshandlungen durch die Gefängnisverwaltung zu protestieren, die ihm unter anderem medizinische Versorgung verweigerte. Er muss aufgrund seiner Diabetes und einer Darmerkrankung medizinisch behandelt werden und benötigt eine spezielle Diät. Die Gefängnisverwaltung kam seinen Forderungen schließlich nach.

erfolge

selmin ÇAlişkAn über

geWAlt gegen geflüchtete

Foto: Amnesty

einsAtZ mit erfolg

So zerbrechlich die Europäische Union derzeit erscheinen mag – beim Thema »Flüchtlingsabwehr an den Außengrenzen« zeigt sie sich wie immer entschlossen und handlungsfähig. Das jüngste Beispiel ist Libyen: Armut, Krieg und Verfolgung zwingen Hunderttausende Flüchtlinge und Migranten aus Ländern der Subsahara auf den Weg Richtung Norden. Wenn sie es bis Libyen schaffen, hoffen sie darauf, mithilfe von Schmugglern über das Mittelmeer nach Italien zu gelangen. Doch schon bevor sie die gefährliche Überfahrt antreten, sind sie grausamen Bedingungen ausgesetzt. Amnesty hat mit mehr als 90 Flüchtlingen gesprochen. Sie berichteten von Gewalt und Einschüchterung, Entführungen, Vergewaltigung, Folter und Mord. Kriminelle Gruppen verlangen Lösegeld und wenden auch tödliche Gewalt an, um es zu erpressen. Islamistische Gruppierungen entführen Christen, zwingen Frauen zur Zwangsheirat und wenden sexualisierte Gewalt an. Viele Flüchtlinge berichteten uns auch von Misshandlungen durch die libysche Küstenwache: Nachdem sie auf See aufgegriffen worden waren, wurden sie in Gefängnisse gebracht, in denen sie ebenfalls Misshandlung und Folter ausgesetzt waren. Trotzdem hat sich die EU entschlossen, die Zusammenarbeit mit den libyschen Behörden zu verstärken. Im Rahmen der Operation »Sophia« soll der Menschenschmuggel bekämpft und das UNO-Waffenembargo überwacht werden. Der Einsatz gegen den Menschenhandel ist wichtig – er darf jedoch nicht dazu führen, dass Flüchtlinge in ein Land wie Libyen zurückgeschickt werden, wo ihr Leben offensichtlich in Gefahr ist. Die EU hat mehrfach gezeigt, dass sie Schutzsuchende daran hindern will, Europa zu erreichen – koste es, was es wolle. Der Schutz der Menschenrechte spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Selmin Çalışkan ist Generalsekretärin der deutschen  Amnesty-Sektion.

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TITEL

Rassistisches Bündnis. Flüchtlingsfeindliche Demonstration  in Meißen im August 2015. Foto: Jens Meyer / AP / pa

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Rassistische Gewalt in Deutschland

Kein Tag in Deutschland ohne Einschüchterungen, Angriffe, Brandanschläge. Rassistische Gewalt nimmt im ganzen Land zu. Polizei und Justiz klären nur einen Bruchteil der Straftaten auf – auch, weil in deutschen Ämtern Vorurteile herrschen. 15


Anatomie ein

Über den Dächern Meißens. Bauunternehmer Brumm.

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es Anschlags

rAssistische geWAlt

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Zwei Familienväter verüben in Meißen einen Brandanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft. Eine Tat, die in Deutschland inzwischen alltäglich ist. Doch sie zeigt, wie Rassismus und flüchtlingsfeindliche Stimmungsmache eine ganze Stadt durchdringen können. Von Olaf Sundermeyer (Text) und Gustav Pursche (Fotos)

Z

wei Polizisten klingelten Ingolf Brumm in der Nacht zum 28. Juni 2015 aus dem Schlaf und richteten eine Taschenlampe auf ihn. Schlaftrunken bestätigte der Bauunternehmer ihre Frage, ob er Herr Brumm sei. Daraufhin sagten die Polizisten: »Uns liegt eine Anzeige wegen verstärkter Rauchentwicklung in ihrem Haus vor.« In dem Moment wusste er, was passiert war, und hatte eine Ahnung davon, wie die Sache weitergehen würde. Drei Wochen zuvor hatte er an der Haustür seines Mietshauses einen Zettel mit der Botschaft gefunden, die Flüchtlinge, die bald in das Haus in der Rauhentalstraße 14 einziehen würden, sollten gleich wieder in ihre Heimatländer zurückkehren. Und dass er, Ingolf Brumm, die Mitschuld für ihre baldige Ankunft in Meißen trage. Der Bauunternehmer hatte acht Wohnungen eines leer stehenden fünfstöckigen Wohnhauses zunächst saniert und dann für soziale Zwecke an den Landkreis vermietet, der dringend auf der Suche nach Wohnraum für Flüchtlinge war. Unmittelbar nachdem die Lokalzeitung den geplanten Einzugstermin der Flüchtlinge veröffentlicht hatte, hing das Papier an der Tür. Eine Drohung. Als Ingolf Brumm mit dem Zettel zur Polizei ging, um Anzeige zu erstatten, wies man ihn ab. »Alles Satire«, sagte die Polizei zu seiner Angst, den schlaflosen Nächten, den quälenden Gesprächen mit seiner Frau, zu den Ahnungen. Und jetzt stand die Polizei mitten in der Nacht vor seiner Tür, weil der Spaß vorbei war. Der Drohung waren Taten gefolgt. Sein Haus stand in Flammen. Um 00:17 Uhr hatte ein Nachbar die Feuerwehr gerufen. Eine gute Stunde später fährt Ingolf Brumm – nunmehr hellwach – in seinem schweren Geländewagen in der Rauhentalstraße vor und sieht Flammen aus der Fensteröffnung über der Haustür schlagen. Er bleibt noch kurz sitzen, denkt ruhig nach. Das Wummern der Löschwasserpumpe und das Grölen einiger Menschen, die sich teils feixend vor dem brennenden Haus versammelt haben, dringen zu ihm. Einige von ihnen machen Selfies, zeichnen mit ihrem Smartphone ein Video auf, in dem ihr Brüllen zu hören ist, und das später vor Gericht der Beweisführung dient: »Einer geht noch! Ein Asylant geht noch rein!« In das brennende Haus. Für Ingolf Brumm, den gebürtigen Meißener, der 75 Menschen in der Stadt beschäftigt, ist es eine bedrohliche Situation. Im Augenwinkel erkennt er Mirko Schmidt, einen Nachbarn von gegenüber. Vor ein paar Jahren saß er für die NPD im sächsischen Landtag. Die Kneipe ein paar Meter weiter ist ein Treffpunkt der extrem rechten Szene, auch davon hat Ingolf Brumm schon gehört. Er hat auch davon gehört, dass einer der drei Mitbegründer von Pegida hier in der Straße wohnt. Auch zwei rechte Hooligans von Dynamo Dresden leben hier, die Teil der Schutztruppe von Pegida sind, deren Sicherheitschef ebenfalls Meißener ist. Sie alle sind miteinander bekannt. Unter den 27.000 Einwohnern gibt es viele, die so denken wie Pegida. Bevor der Zettel an der Haustür hing, hatte Brumm alldem keine große Bedeutung beigemessen. Obwohl er wusste, dass

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Fremde in seiner Heimat nicht gern gesehen sind. Seit er denken kann, ist das Elbtal rechts und links von Dresden erfüllt mit einer Art Menschenfeindlichkeit gegenüber allen, die anders denken, anders aussehen, anders sprechen. All dies verdichtet sich im Angesicht der Flammen. Allmählich hat Ingolf Brumm ein Gesamtbild vor Augen. Dann steigt er aus seinem Wagen.

Den Mob freut das brennende Haus Sehr viel später wird auch Mirko Schmidt sich an diese Situation erinnern. Ihn wird die Polizei ebenfalls zur Zeugenvernehmung laden – ergebnislos. Noch Monate nach dem Anschlag wirbt er um Verständnis für die Überfremdungsangst: »Ich muss Ihnen ehrlich sagen – auf der Straße war niemand böse. Das habe ich dem Herrn Brumm damals auch gesagt. Die Leute haben ja gejubelt. Die Nachbarn wollten diese Leute nicht in der Umgebung haben.« Während sich der Mob über das brennende Haus freut, dauern die Löscharbeiten an. Ingolf Brumm ist klar, dass die Brandstifter den Einzug der Flüchtlinge durch das Feuer verhindern wollten. Schnell verbreitet sich das Gerücht, er habe den Brand gelegt. Noch am Abend verkündet Brumm öffentlich, dass er das Haus sanieren werde, dass er sich dem Anschlag nicht beugen werde. Von nun an erhält der Bauunternehmer anonyme Anrufe, E-Mails, sogar Todesdrohungen. Selbst einflussreiche Kommunalpolitiker stimmen mit ein, bezichtigen den gebürtigen Meißener, den Ruf seiner Heimatstadt zu beschmutzen. Plötzlich steht er als Täter da. Die Stadt wendet sich von ihm ab. Die beiden Feuerwehrleute Jörg Z. und Christoph R. waren die beiden ersten in dem brennenden Haus. Später wird sich herausstellen, dass im ersten Obergeschoss Matratzen mit Benzin übergossen und angezündet wurden. Als die beiden zu ihrem Einsatzort kommen, steht die Haustür offen. Den Einsatz leitet Daniel G. Kurz vor dem Anschlag wurden die Möbel für die neue Flüchtlingsunterkunft geliefert: Etagenbetten und Matratzen von einer örtlichen Firma. Dem Landkreis war es wichtig, dass die lokale Wirtschaft von dem Zuzug der Flüchtlinge profitiert, auch um dem spürbaren Unmut in der Bevölkerung entgegenzuwirken. Hat einer der Mitarbeiter absichtlich die Tür offen gelassen? Das ist eine der vielen Fragen, die zehn Monate später bei dem Prozess gegen die Brandstifter nicht geklärt werden wird.

Von nun an erhält Ingolf Brumm anonyme Anrufe, E-Mails, Todesdrohungen. Amnesty journAl | 08-09/2016


»Es gibt eine Radikalisierung, die wir in Alltagsgesprächen beim Bäcker und im Discounter hören.« Pfarrer Bernd Oehler.

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Aber sie alle, zwei der Feuerwehrleute, Mitarbeiter der Möbelfirma, Mirko Schmidt und ein paar andere Rechte aus der Rauhentalstraße sowie die beiden Männer, die das Landgericht Dresden später wegen dieses Brandanschlags zu einer Haftstrafe verurteilen wird, hatten sich am Abend vor dem Brand jenseits der Altstadt, am gegenüberliegenden Ufer der Elbe mit drei Dutzend Leuten unter der Eisenbahnbrücke versammelt. Sie trafen sich zu einer Aktion der neugegründeten »Initiative Heimatschutz«, eine Art Bürgerwehr, die zwei junge Frauen via Facebook initiiert hatten. Um gegen angebliche Gewalt von Asylbewerbern gegen Meißener zu protestieren, hatten die selbsternannten Heimatschützer fünf Stunden vor dem Brand ein weißes Spruchbanner an die Eisenbahnbrücke gehängt: »Schweigen heißt zustimmen – Es ist unser Land.« Jörg Z. und Daniel G., der Feuerwehrmann und sein Einsatzleiter, fuhren nach der Demonstration des »Heimatschutzes« im Auto an dem Haus Rauhentalstraße 14 vorbei, die Straße rauf und runter. Nur so zum Spaß, eine »Riemrunde«, wie Jörg Z. aussagen wird, Spritztour auf sächsisch. In ihren Kreisen ist die geplante Flüchtlingsunterkunft eine Attraktion.

Zusammenschluss der Rassisten In diesem Sommer bestimmen Begriffe wie »Flüchtlingskrise« und Balkanroute die Nachrichtenlage. Eine Bilderflut spült sich durch Fernsehsendungen, Internet und soziale Medien, mit der die zahlreichen Menschen auf der Suche nach Asyl immer näher kommen: an die Grenzen der Europäischen Union, nach Deutschland und schließlich in die Rauhentalstraße nach Meißen. Für Menschen, die mit flüchtlingsfeindlichen Einstellungen gesättigt sind, die Rassisten sind, ergibt sich daraus eine akute Bedrohungslage. Ihre Angst vor Überfremdung wächst mit der steigenden Zahl von Flüchtlingen. Unterdessen vollzieht die rechtspopulistische AfD bundesweit ihren Rechtsruck unter der sächsischen Landesvorsitzenden Frauke Petry, nicht zuletzt auch angetrieben von der Zustimmung für das islamfeindliche

»Na, wir wollten mal in das Haus gehen, was sie frisch renoviert haben, und ein kleines Feuer legen.« und rassistische Pegida-Bündnis. Und hier, im grünen Elbtal, liegt das Kernland von Pegida. Meißen, Freital, Heidenau sind Satelliten in der Umlaufbahn von Dresden, dem Epizentrum der flüchtlingsfeindlichen Bewegung, deren gewalttätige Exzesse den Rechtsruck in ganz Deutschland beschleunigen. Von Anfang an betrachtete Bernd Oehler, der evangelische Pfarrer in Meißen, den Zusammenschluss der Rassisten in seiner Stadt mit Sorge. Er ist ein drahtiger Mann, dessen Wertegerüst in der Zeit der Bürgerbewegung in der DDR entstanden ist. Der Brandanschlag erinnert ihn an die wütende rassistische Gewalt der neunziger Jahre: »Hier wird wieder der Schwächste gesucht, denke ich, das ist vergleichbar. Es ist also der Sündenbock, der wieder nach Hause gejagt werden soll. Und der daran schuld ist, dass ich mit dieser Gesellschaft nicht zurechtkomme.« Der Pfarrer hat ein gutes Gespür für das Seelenleben seiner Gemeinde, das ihn wiederum massiv beunruhigt. »Es gibt jedenfalls eine Radikalisierung, die wir auf Facebook sehen, die wir in Alltagsgesprächen beim Bäcker und im Discounter hören«, sagt Oehler leise. Er spricht von einer sich »aufbauenden Fremdenfeindlichkeit«, die möglicherweise zwei junge Kerle motiviert habe, hier das Abendland zu verteidigen. Mit den beiden Kerlen sollte der Pfarrer Recht behalten. Auch mit der Verteidigung des Abendlandes, das die beiden spä-

Ausblick. Treffen zum Zuckerfest im »Internationalen Garten« der Initiative »Buntes Meißen« im Juli 2016.

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Rückblick. Ingolf Brumm mit einem Foto

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ter überführten Täter durch die steigende Zahl von Flüchtlingen bedroht sahen. Und durch ebendiese Bedrohung durch »Fremde« fühlten sich beide in einer vermeintlichen Notwehrsituation zum Handeln legitimiert. Für die Gewaltforscherin Claudia Luzar ist das eine logische Täterperspektive sowohl bei tätlichen Angriffen auf einzelne Menschen, die stellvertretend für eine ganze Gruppe angegriffen werden, als auch bei Brandanschlägen auf noch nicht bewohnte Flüchtlingsunterkünfte, bei denen es in der Regel darum geht, die Geflüchteten zu vertreiben, bevor sie überhaupt da sind. So wie in Meißen, wo diese Begründung dem Anschlag schon als Ankündigung vorausging. »Überfremdungsangst ist das gängige Erklärungsmuster von rassistisch motivierten Gewalttätern«, sagt Luzar, die 2015 an der Universität Bielefeld eine Studie zur rechtsextremen Gewalt vorgelegt hat. Sie gehört zu den Mitbegründern der ersten Beratungsstelle für Opfer rechtsextremer Gewalt in Deutschland: Die »Opferperspektive« in Brandenburg wurde 2000 ins Leben gerufen, als Reaktion auf die entfesselte rassistische Gewalt in diesem ostdeutschen Bundesland in den Jahren zuvor. Elf Jahre hat es dann gedauert, bis Luzar die erste professionelle Beratungsstelle in Westdeutschland, in Nordrhein-Westfalen, aufbauen durfte. Sie heißt »Back up«. »So unterschiedlich die Verfasstheit der rechtsextremen Szene in Ost und West auch ist, das Motiv für rassistische Gewalt ist immer gleich: Angst vor Überfremdung«, sagt die Wissenschaftlerin.

Die Familienväter von gegenüber So war es auch bei den beiden Tätern von Meißen. Abwechselnd werden die beiden Nachbarn aus der Rauhentalstraße verhört, ein Vierteljahr nach dem Anschlag gestehen sie: Die Polizei überführt sie schließlich über einen Schuhabdruck im Brandhaus. »In den meisten Fällen kommen rechte Gewalttäter aus relativer räumlicher Nähe zu ihren Opfern und meistens sind es Männer. Frauen agieren in der Regel als Bystander, nehmen also – wenn überhaupt – eine mittelbare Rolle ein«, sagt Luzar.

Am Abend vor dem Brand saßen beide Täter nach der Aktion des »Heimatschutzes« mit ihren Familien, Freunden und Nachbarn an einem langen Tisch im Garten, bei Würstchen, Wein und Bier. Einige aus dieser Gesellschaft waren auch zuvor unten an der Elbe bei der Eisenbahnbrücke. Gerüstbauer Eric Pinkert erinnert sich: »Wir saßen beim Grillen, hatten was getrunken, und dann gab es eben das Gespräch, dass da welche einziehen, und in dem Gespräch hat sich das dann aufgebaut.« Und dann spricht er über seinen Kumpel und Nachbarn, den Kraftfahrer Daniel Zschörnig. »Er hat zu mir gesagt: ›Ich will nicht, dass die dort einziehen, schon wegen meinen Kindern, das lass ich nicht zu.‹ Ich habe dann halt mitgemacht«, sagte Pinkert bei seiner polizeilichen Vernehmung. »Wir haben aus dem Moped vom Zschörnig Benzin in eine Weinflasche gefüllt. Die Flasche stand hinten beim Grillen. Die war leer, die war ausgetrunken.« Und Zschöring ergänzt: »Na wir wollten mal in das Haus gehen, was sie frisch renoviert haben, und ein kleines Feuer legen.« So kam es dann. Eine ganze Etage brannte aus. Der Sachschaden betrug 280.000 Euro. Einige Wochen später brachen die beiden Täter erneut in das Haus ein und versuchten vergeblich, es durch das Öffnen von Wasserhähnen zu fluten. Das Gebäude war monatelang unbewohnbar. Erst im Oktober 2015 konnten sieben Flüchtlingsfamilien aus Syrien und Afghanistan einziehen. Zu diesem Zeitpunkt waren die Täter noch nicht gefasst. Die Vorgeschichte ihres neuen Zuhauses erfuhren die Flüchtlinge erst später. Im Frühjahr 2016 wurden Pinkert und Zschöring vom Landgericht Dresden zu einer Freiheitsstrafe von jeweils drei Jahren und acht Monaten verurteilt – wegen vorsätzlicher Brandstiftung, Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch. Sie sitzen in Haft. Die Vorsitzende Richterin nannte als Tatmotiv eindeutig Fremdenfeindlichkeit – auch wenn die Männer, wie es im Urteil hieß, keiner ausländerfeindlichen Organisation angehörten. Das Gericht wertete die Einstellung der Angeklagten als strafverschärfend. Ingolf Brumm ist rehabilitiert. Geblieben ist der Makel, der Meißen nun anhaftet. Bundesweit gilt Sachsen durch die Ereignisse des Vorjahres, durch Meißen, Freital, Heidenau und vor allem durch Pegida als rassistischer Landstrich. Und in der Stadt selbst müssen Menschen wie Ingolf Brumm und Bernd Oehler mit massiven Vorwürfen leben, sie hätten das Ansehen Meißens beschädigt, weil sie das Problem des gewaltstiftenden Rassismus benannt haben. Gemeinsam kümmern sie sich in der Willkommensinitiative »Buntes Meißen« um ein friedliches Miteinander derjenigen, die schon immer in der Stadt waren, mit denen, die nun neu hinzugekommen sind. In der Wohnung in der Rauhentalstraße, in der Eric Pinkert und Daniel Zschöring das Feuer gelegt hatten, steht nun ein langer Tisch, an der Wand hängt ein Whiteboard, Schulbücher stehen in einem großen Regal. Es ist der Unterrichtsraum, in dem das »Bunte Meißen« Flüchtlingen aus der ganzen Stadt Deutsch beibringt. Von hier aus wird die lokale Flüchtlingshilfe organisiert, ein Landesminister hat seine alten Büromöbel gestiftet. An der Wand zur Straße ist hinter einer großen rechteckigen Plexiglasscheibe das verrußte Mauerwerk zu erkennen – als Mahnung, wie in einer Gedenkstätte. Der Autor ist Redakteur des RBB und recherchiert seit Jahren zu rechter Gewalt in Deutschland.

aus der Brandnacht im Juni 2015.

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Nicht mit rechten Dingen B

randanschläge, tätliche Angriffe, Einschüchterungen: Immer mehr Verbrechen mit politischem Hintergrund werden gegenwärtig verübt. Sie zielen auf Asylunterkünfte, auf Flüchtlinge und auf Menschen, die schlicht nicht ins kulturelle Raster zu passen scheinen. Über 1.000 Angriffe gegen Asylunterkünfte wurden im vergangenen Jahr in Deutschland verzeichnet, doch höchstens jede vierte Tat wird aufgeklärt. Viele schwere Körperverletzungen und selbst Morde mit möglichem rassistischem oder rechtem Hintergrund bleiben unaufgeklärt. Auch fünf Jahre nach der Selbstenttarnung des »Nationalsozialistischen Untergrunds« und dem Bekanntwerden der Mordserie scheinen rassistische Einstellungen als mögliche Motive nicht umfassend in die Ermittlungsarbeit einbezogen zu werden. Amnesty Deutschland fordert deshalb eine klare Antidiskriminierungspolitik in der Strafverfolgung. Eine Politik, die gewährleistet, dass rassistische Straftaten auch als solche behandelt werden. Denn es scheint, dass Polizei und Staatsanwaltschaft aus verschiedenen Gründen noch immer den Blick ins entsprechende Tätermilieu scheuen. Zum Beispiel im Fall Burak Bektaş. Am 5. April 2012 will der 21-Jährige aus Berlin-Neukölln kurz mit Freunden auf die Straße. Nicht weit entfernt vom Reihenhaus seiner Eltern treffen sich die vier jungen Männer. Plötzlich nähert sich ihnen ein bewaffneter Mann und schießt wahllos auf die Gruppe. Zwei der Männer können schwer verletzt im Krankenhaus gerettet werden, Burak Bektaş stirbt. Über den Täter ist nichts bekannt außer seiner Hautfarbe: Er ist weiß. Bektaş war, wie seine Freunde, ein türkischstämmiger Deutscher. 15.000 Euro setzt die Staatsanwaltschaft nach dem Verbrechen für Hinweise auf den Täter aus, 300 Plakate werden aufgehängt, an die 1.000 Anwohner befragt. Und dennoch: Hinweise auf einen möglichen Täter ergeben sich für die Ermittlungsbehörden nicht. Der »Initiative für die Aufklärung des Mordes an Burak Bektaş« ist das nicht genug. »Es gibt Hinweise, denen schlicht nicht nachgegangen wird«, sagt Helga Seyb von der Initiative. Die mögliche Verbindung zu Rolf Z. würde beispielsweise kaum beachtet: Dieser wurde wegen eines anderen Mordes in Neukölln jüngst verurteilt. Auch diese Tat halten die Initiative und die Anwälte der Angehörigen für rassistisch motiviert, nicht aber das Gericht – trotz der in der Wohnung des Täters sichergestellten Nazi-Devotionalien. Dem rassistischen Facebook-Eintrag einer 17-jährigen Neuköllnerin wurde zwar nachgegangen – doch erst, nachdem Seyb Anzeige erstattet hatte: Mandy P., die Freundin

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eines Neonazis, hatte geschrieben, sie wünsche sich, dass niemand brauchbare Hinweise zum Täter liefert, »der den Kanaken vor der Tür abgeknallt hat«. Wenige Stunden vor Bektaş Tod wurden Neonazis in der Nähe des Tatortes gesehen. Und anlässlich des 20. Jahrestages der Ermordung eines Berliner Rechtsextremisten war in rechten Internetforen zu Racheakten aufgerufen worden. »Die bekannten rechten Strukturen aus der Umgebung sind trotzdem nie aufgemischt worden«, sagt Seyb. Die Ermittler hätten sich lediglich mit dem Verfassungsschutz ausgetaucht – der auch keine extremistischen Tatmotive erkannt hat. Fehlt es Staatsanwaltschaft, Ermittlern und Staatsschutz also schlicht an Vorstellungsvermögen, sich in einen Fall hineinzudenken, der für Familie, Freunde und Unterstützer des Opfers sehr wahrscheinlich rassistische Hintergründe hat? Sachdienlichen Hinweisen gehe man natürlich nach, sagt Rainer Wendt, Vorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft. Doch er sagt auch, dass es der Polizei derzeit immer schwerer falle, bei mutmaßlich rassistischen Tatmotiven zu ermitteln. »Rechtes Gedankengut ist ja längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen, die Täter müssen also nicht unbedingt in bekannten rechtsextremistischen Kreisen zu finden sein.« Nur sind in Bektaş Fall anscheinend eben noch nicht mal die hinreichend überprüft worden. Familie und Unterstützer – mittlerweile auch aus dem Bundestag – fordern deshalb eine neue Strategie in diesem Fall. »Auf dem rechten Auge blind, den Vorwurf gibt es nicht erst seit gestern«, sagt Professor Rafael Behr von der Polizeihochschule Hamburg. Grundlegenden institutionellen Rassismus sieht er bei der Polizei jedoch nicht. »Gerade in der Ausbildung wird heute viel Wert auf das Thema Diversität und auf komplexe Perspektiven gelegt.« Trotzdem sieht Behr auch Probleme in den internen Strukturen. »Es gibt immer noch zu viel Raum für machistische Subkulturen bei der Polizei. In ihnen wird aggressive Maskulinität und Dominanzgebaren ausgelebt und das kann auch zu Diskriminierung führen.« Ein Beispiel dafür war der im vergangenen Jahr bekannt gewordene Fall bei der Bundespolizei in Hannover. Ein Polizist hatte per WhatsApp damit geprahlt, wie er einen afghanischen Flüchtling an Fußfesseln durch die Wache geschleift und ihn später in der Zelle gewürgt hatte. Einen anderen, marokkanischen Häftling, soll er gezwungen haben, Schweinefleisch vom Boden zu essen. Die öffentliche Empörung war groß, gegenwärtig steht der Polizist vor Gericht, allerdings nicht wegen Körperverletzung im Amt, sondern wegen anderer Delikte, die bei einer Hausdurchsuchung

Amnesty journAl | 08-09/2016

Foto: Kay Nietfeld / dpa / pa

Polizei und Justiz in Deutschland tun sich mit rassistischen Tatmotiven schwer. Drei Fälle offenbaren deutlichen Handlungsbedarf. Von Elisabeth Wellershaus


Viele ungeklärte Fragen. Mahnwache der »Initiative für die Aufklärung des Mordes an Burak Bektaş« im Februar 2016 in Berlin.

aufgedeckt wurden. Für die Körperverletzung gibt es nämlich letztlich keine Anhaltspunkte – außer die von ihm verfassten Nachrichten, deren Wahrhaftigkeit er heute dementiert. Die mutmaßlichen Angriffe und Erniedrigungen sind also nicht Gegenstand der Anklage. Nicht zuletzt, weil sowohl einzelne Zeugenaussagen als auch andere Akten den Anwälten der Opfer durch die Staatsanwaltschaft vorenthalten wurden, bis das Verfahren schließlich eingestellt wurde. »Der noch immer sehr ausgeprägte Zusammenhalt bei der Polizei führt letztlich auch dazu, dass Täter sich strafrechtlich entziehen können«, sagt Rafael Behr. Zwar gibt es interne Ermittlungseinheiten, die als mehr oder weniger objektiv gelten. Doch Behr plädiert zusätzlich für eine unabhängige Kontrolle der Polizeiarbeit, an der etwa Psychologen oder Soziologen beteiligt sein könnten. Ohne den Blick von außen scheint die Möglichkeit von Vertuschungen wohl zu groß. Fälle, bei denen Flüchtlinge die Betroffenen sind, gelangen ohnehin oftmals nicht an die Öffentlichkeit. Eine Abschiebung von tschetschenischen Flüchtlingen im März diesen Jahres wäre ohne das Eingreifen der Initiative »Opferperspektive«, die in Brandenburg Betroffene rechter und rassistischer Gewalt unterstützt, wohl kaum beachtet worden. Auf die sechs Flüchtlinge wurde im Dezember 2015 aus einem Auto geschossen. Trotz laufender Ermittlungen wurden sie abgeschoben und können deshalb nicht aussagen. Ohnehin waren sie nur auf Nachfrage von »Opferperspektive« zur Befragung geladen worden, erzählt Martin Vesely von der Beratungsstelle. Es ist

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nicht das erste Mal, dass er schleppende Ermittlungen bei Flüchtlingen mit geringen Chancen auf langfristigen Aufenthalt beobachtet. Das Verbrechen an den tschetschenischen Flüchtlingen bleibt höchstwahrscheinlich unaufgeklärt. Es scheint, als würden die Strafverfolgungsbehörden rassistische Motive noch immer nicht ausreichend in den Blick nehmen. Doch das ist nicht allein ein Wahrnehmungsproblem bei Polizei und Justiz. Die Probleme im Kampf gegen Rassismus sind viel komplexer. Letztlich kommt es vor allem auf zivilgesellschaftliches Engagement an, um rassistische Strukturen auf sämtlichen Ebenen zu erkennen, sie aufzudecken und im Alltag immer wieder an die Grundsätze unserer Verfassung zu erinnern: auch daran, dass vor dem Gesetz alle gleich sein sollten. Die Autorin arbeitet als Journalistin in Berlin und ist Mitglied der Redaktion von »10 nach 8« bei »Zeit Online«.

Die meisten Verbrechen mit möglichem rassistischem Hintergrund bleiben unaufgeklärt. 23


»Wie ist es im Dschungel?« Junge Frauen mit Kopftuch, schwarze Kinder und schwule Roma: Sie verbindet wenig miteinander, und doch machen sie ähnliche Erfahrungen in Deutschland. Samira B.*, 20 Jahre alt, Solingen Abiturientin und Mitglied beim Anti-Diskriminierungsprojekt »Nicht in meinem Namen« »Meine Eltern hatten es mir überlassen, ob ich das Kopftuch trage. Vor einiger Zeit habe ich mich intensiv damit beschäftigt und entschieden: Ja, ich will. In der Schule hatte ich niemandem davon erzählt, ich kam einfach damit an. Meine Freunde reagierten super, freuten sich für mich und fragten erst Wochen später, warum ich mich so entschieden hatte. Die Lehrer waren skeptisch. Einer sagte, wir hätten doch keinen Karneval. Meine Entscheidung für das Kopftuch fiel in eine Zeit, in der sich in Deutschland der Umgangston gegenüber ›Fremden‹ verschärfte. Kurz nach dem Anschlag auf ›Charlie Hebdo‹ wurden meiner Mutter auf offener Straße Prügel angedroht. Seitdem wird es immer schlimmer. Mit Kopftuch ist man schnell Zielscheibe. Für mich ist es ein positives Symbol, durch das ich ein neues Körpergefühl und mehr Selbstbewusstsein bekommen habe. Doch nach außen erscheint es vielen als Provokation. Die Kinder, mit denen ich beim Bundesfreiwilligendienst in einer Schule arbeite, gehen alle ganz selbstverständlich mit mir um. Es sind die Eltern, die Probleme haben. Kürzlich haben El-

tern, mit denen die Sozialarbeiterin und ich zu einem Gespräch verabredet waren, vorab geschrieben, wie problematisch sie meine Anwesenheit an der Schule finden und gefragt, wie eine kopftuchtragende Muslima Vorbild für ihre Kinder sein könne. Leider hatte mich niemand zuvor darüber informiert. Eine Stunde saß ich mit dem Vater im Raum, der mich keines Blickes würdigte und mir zum Abschluss nicht einmal die Hand gab. Es wird viel darüber gesprochen, dass Muslima deutschen Männern nicht die Hand geben dürfen. Anscheinend ist es genau andersrum. Der Vorfall hat mich auch deshalb sehr verletzt, weil er von den Mitarbeitern der Schule kaum ernstgenommen wurde. »Warum hast Du ihm nicht selbst die Hand gegeben?«, haben sie gefragt. Das fand ich scheinheilig. Mit offener, aggressiver Diskriminierung kann ich besser umgehen: Ich schreite ein und wenn mein Gegenüber aggressiv wird, gehe ich. Gesprächsbereit scheinen gegenwärtig nicht mehr viele. Es interessiert sie nicht, dass so viele wie ich mit ihren Familien in zweiter, dritter oder vierter Generation in Deutschland leben; dass meine marokkanische Mutter bereits als Kind hierher kam. Und dass die Aggressionen, die uns entgegenschlagen, das Klima nachhaltig vergiften können. Ich möchte Sozialarbeiterin werden – weil ich das Gefühl habe, dass junge Menschen uns noch viel genauer zuhören: Egal wie wir aussehen.« * Name geändert

Tupoka Ogette, 36 Jahre alt, Berlin Expertin für Anti-Diskriminierung

Illustrationen: Susann Stefanizen

»Die ersten acht Jahre meines Lebens habe ich in Leipzig verbracht. Als schwarze Deutsche habe ich mich nicht weniger sächsisch gefühlt als alle anderen. Nur mein Umfeld hat mir immer wieder deutlich gespiegelt, dass es mich als jemand Fremdes wahrnimmt. ›Wann gehst du eigentlich wieder nach Hause, wie ist es überhaupt im Dschungel?‹ Wenn man solche Fragen als Kind oft genug hört, glaubt man irgendwann selbst daran, nicht in die eigene Heimat zu passen. Als ich neun war, nahm meine Mutter mich mit nach Tansania, in die Heimat meines Vaters. Ich hatte mir eine Art Ankommen von der Reise versprochen, aber dort galt ich als Weiße. Mittlerweile bin ich im Reinen mit meiner Identität, doch das Thema holte mich ein, als ich mit meinen Kindern nach ein paar Jahren in Frankreich zurück nach Deutschland zog. Sofort tauchten die Fragen wieder auf:

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›Wo kommt ihr her, was wollt ihr hier?‹ Mein Sohn kam aus der Kita und sagte: ›Ich will nicht mehr so braun sein, das ist hässlich.‹ In dem Moment wusste ich, dass etwas passieren muss. Ich wollte die Wut darüber, was dreißig Jahre nach meinen Kindheitserfahrungen noch immer passierte, kanalisieren. Ich hatte nicht geplant, Anti-Rassismus-Expertin zu werden. Als ich die ersten Kurse anbot, gab es ein riesiges Interesse: Vor allem von weißen Eltern, die ein schwarzes Kind adoptiert haben. Diese Paare freuen sich meist so sehr auf ihr Kind, dass sie alle möglichen Probleme zunächst ausblenden. Ist das Kind dann da, sehen die Eltern die Welt auf einmal aus einer Perspektive, die sie erschreckt. Ich bekomme Anrufe von Müttern, die erzählen, ihre Kinder hätten Angst vor anderen schwarzen Menschen, weil sie selbst nicht so aussehen wollen. Und von Vätern, deren Kinder teils nicht mehr leben wollen, weil ihre Ausgrenzungserfahrungen so extrem sind. Mir ist es deshalb besonders wichtig, diese Kinder zu ermutigen und zu aktivieren mit ›Empowerment‹-Trainings, die ich anbiete. Aber auch pädagogische Einrichtungen, die sich zu Inklusionsarbeit fortbilden müssen, buchen mich. Meist stoße ich dort auf die Haltung: Rassismus gibt es hier nicht. Dann erkläre ich, dass es das Phänomen fast überall gibt – nur möglicherweise nicht aus der Perspektive der Erzieherinnen und Erzieher oder Lehrerinnen und Lehrer. In Deutschland ist das Wort Rassismus derart moralisch belegt, dass es kaum Spielraum für Diskussionen darüber gibt. Für mich war es unglaublich prägend, zu begreifen, dass es kein individuelles Problem ist, sondern unsere Gesellschaft von rassistischen Einstellungen durchzogen ist. Das will ich Kindern vermitteln: Nicht ihr seid das Problem, sondern der Rassismus.«

gen, als dass mit mir alles bestens in Ordnung ist. Doch wie sollten sie das verstehen? Sie sind einfache Roma und leben in einer Community mit teils noch immer extrem konservativen Werten. Homosexualität gibt es bei uns nicht, so die Haltung der meisten. Ich wusste, dass das nicht stimmt und dass mit mir ›alles in Ordnung ist‹. Weil man die Strukturen aber verinnerlicht, in denen man aufwächst, habe ich mich gefügt: Mit 14 habe ich geheiratet, mit 16 wurde ich das erste Mal Vater, mit 18 das zweite Mal. Ich hatte damals keine Kraft, meinem Umfeld zu erzählen, wer ich wirklich bin. Ausgrenzung kannte ich schon auf anderer Ebene, ich brauchte meine Community als Halt. Mit antiziganistischem Rassismus bin ich groß geworden. Ich habe eine Narbe an der Stirn, weil unsere Unterkunft in den achtziger Jahren mit Molotowcocktails beworfen wurde. Als Rom bist du in Deutschland heute noch Außenseiter. 80 bis 90 Prozent unserer Kinder werden auf Sonderschulen geschickt. Viele leugnen ihre kulturelle Identität, um nicht anzuecken. Auch meine Enkel werden in der Kita gehänselt. Diese Ausgrenzung kennen in der Community alle. Mein Anderssein aber verstehen auch die meisten Roma nicht: Es gibt rigide Vorstellungen von Männlichkeit, Rollenverhalten und Sexualität. Mit 23 lernte ich einen Mann kennen, der meine große Liebe wurde. Er gab mir die Kraft, mein Doppelleben zu beenden. Mit der Zeit habe ich immer mehr Schwule, Lesben und Transmenschen aus der Roma-Community kennengelernt, darunter viele, die noch nicht bereit sind, ihre Identität öffentlich zu machen. Auch ihretwegen habe ich meinen Verein ›Queer Roma‹ gegründet. Nach Workshops bedankten sich euphorisierte Teilnehmer und warnten mich davor, dass ich durch mein öffentliches Coming-Out von allen Seiten stigmatisiert werden würde. Gerade auch intellektuelle und politisch aktive Roma sind erstaunlich homophob. Und die weiße deutsche Mehrheitsgesellschaft sieht hinter meiner Vielschichtigkeit meist auch nur den Rom. Ich will ein Bewusstsein jenseits dieser Zuschreibungen schaffen. Meine Familie hat mich inzwischen akzeptiert wie ich bin. Jetzt ist die Gesellschaft dran.« Protokolle: Elisabeth Wellershaus

Gianni Jovanovic, 38 Jahre alt, Köln Aktivist und Initiator von »Queer Roma« »Mit Mitte 20 hatte ich mein Coming-Out und war auf schwierige Reaktionen gefasst. Aber letztlich ist man doch nie vorbereitet. Mein Vater war furchtbar aufgebracht, meine Mutter fiel auf der Stelle in Ohnmacht. Ihnen zuliebe habe ich mich zu einem Arzt schleifen lassen. Auch der konnte ihnen nichts anderes sa-

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»Die Behörden müssen selbstkritischer sein« Deutsche Behörden lassen die Opfer rassistischer Gewalt im Stich – das belegt ein neuer Amnesty-Bericht. Ein Interview mit Marco Perolini, Amnesty-Researcher und Autor des Berichts.

In vielen EU-Ländern erleben wir einen Anstieg rassistischer Rhetorik und Gewalt. Wieso hat Amnesty International dieses Thema gerade in Deutschland untersucht? Zunächst wegen der Verbrechen des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). Im Laufe der Recherche kamen die Angriffe auf Asylsuchende und Flüchtlingsunterkünfte hinzu. Der Bericht ist Teil einer europäischen Recherche, bei der wir Hassverbrechen in mehreren EU-Ländern untersuchen, darunter auch in Bulgarien, Frankreich, Griechenland, Polen und Ungarn. Uns interessiert dabei vor allem, wie Polizei und Justiz auf Hassverbrechen und rassistische Straftaten reagieren, wie sie diese untersuchen und zu verhindern versuchen. Was lässt sich über die Polizei in Deutschland sagen? Ein großes Problem tritt gleich zu Beginn der Strafverfolgung auf, wenn Beamte Beweise sicherstellen und Aussagen von Zeugen oder Betroffenen aufnehmen. Diese Phase ist ausschlaggebend, um später die Täter und deren Motive identifizieren zu können. Dabei haben wir Defizite festgestellt: Beweise vom Tatort werden nicht immer aufgenommen und die Perspektive der Opfer wird nicht ausreichend erfragt. Dies betrifft allerdings mehr den Streifendienst als die Kriminalpolizei. Dadurch wird es schwieriger, rassistisch motivierte Straftaten als solche zu erkennen und aufzuklären. Warum werden rassistische Straftaten in Deutschland nicht immer als solche erkannt? Das hat verschiedene Gründe. Eine eher technische Ursache ist die Art und Weise, wie politisch motivierte Straftaten in Deutschland definiert und erfasst werden. Dazu wird das System »Politisch Motivierte Kriminalität« (PMK) genutzt. Das System ist zum einen relativ komplex. Und zum anderen begünstigt es, dass Hassverbrechen – sofern sie nicht von dezidiert extrem rechten Tätern begangen werden – von der Strafverfolgung oft nicht als rassistisch motivierte Taten eingestuft und erfasst werden. Eine weitere wichtige Ursache sind gesamtgesellschaftlich verbreitete Stereotype und Vorurteile, die dazu führen können, dass auch Beamte diskriminierend handeln. Amnesty wirft den Behörden vor, dass viele Fälle in Deutschland auf institutionellen Rassismus hindeuten. Was ist damit gemeint? Institutioneller Rassismus ist nicht notwendigerweise offener Rassismus. Bezogen auf die Polizei heißt das also nicht, dass

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Beamte rassistische Einstellungen offen vertreten. Sondern es bedeutet, dass sie Teil einer Institution sind, die durch ihre Arbeitsweise bestimmte Personen aufgrund ihrer Religion oder ethnischen Zugehörigkeit diskriminiert, indem zum Beispiel rassistische Tatmotive nicht als solche anerkannt werden – sei es bewusst oder unbewusst. Wie lässt sich einer Behörde institutioneller Rassismus nachweisen? Es gibt Elemente, die auf institutionellen Rassismus hindeuten. Bei den Ermittlungen zum »NSU« wurden etwa Angehörige der Opfer, die einen türkischen Hintergrund hatten, als Verdächtige behandelt. Oder wenn Polizeikontrollen auf Grundlage äußerer Merkmale stattfinden, das sogenannte Racial Profiling, dann ist dies ebenfalls ein Element von institutionellem Rassismus. Um jedoch systematische Schlussfolgerungen zu institutionellem Rassismus in Deutschland treffen zu können, sind Untersuchungen notwendig, die die Kapazitäten einer Nichtregierungsorganisation übersteigen. Deshalb fordern wir unabhängige und öffentliche Untersuchungskommissionen, die die Arbeit von Strafverfolgungsbehörden untersuchen können. Abgesehen davon, müssen die deutschen Behörden selbstkritischer sein, wenn es um rassistische Straftaten geht. Wie schwierig war die Recherche in Deutschland? Wir wollten etwa in Berlin mit Polizeivertretern verschiedener Stadtteile sprechen, um ein differenziertes Bild zu bekommen. Dieser Anfrage hat der Berliner Senat allerdings nicht zugestimmt. Auch in Sachsen konnten wir nur mit einem Polizeivertreter sprechen. Das ist eine Strategie, um widersprüchliche Aussagen zwischen Behörden zu verhindern. Als NGO können wir nur mit Behördenvertretern sprechen, die sich dazu bereit erklären. Deshalb sind unabhängige Untersuchungskommissionen so wichtig, denn sie haben die Befugnis, Personen vorzuladen und anzuhören.

Foto: Christian Ditsch / Amnesty

Interview: Ralf Rebmann

intervieW mArco Perolini Marco Perolini arbeitet seit 2011  im Internationalen Sekretariat von Amnesty International in London  zu den Themenschwerpunkten   iskriminierung und Hassverbrechen.  D

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Politisch motivierte strAftAten 1 gegen flüchtlingsunterkünfte 2013 63 2014

199 1.031

2015

+ cA. 1.500 ProZent 2015 1 2

(2015 IM VERGLEICH ZU 2013)

177 GEWALTDELIKTE GEGEN FLÜCHTLINGSUNTERKÜNFTE 2

u.a. Sachbeschädigungen, Propagandadelikte, Volksverhetzung u.a. Körperverletzungen, Brandstiftungen, Sprengstoffdelikte

(Quelle: BMI)

»Ich gehe nicht aus dem Haus, nicht mal, um einzukaufen. Ich bitte Freunde, mir etwas zu essen zu besorgen. Die Familie der Täter hat mich bedroht, und ich habe das Gefühl, dass alle in der Stadt mich hassen. In Deutschland fühle ich mich wie im Gefängnis.« ABDI FARAH, EIN SOMALISCHER ASYLSUCHENDER, DER 2013 IN DER NÄHE DER FLÜCHTLINGSUNTERKUNFT IM BAYERISCHEN WALLERSDORF VON ZWEI DEUTSCHEN MÄNNERN ANGEGRIFFEN WURDE. DAS ZITAT STAMMT AUS DEM AMNESTY-BERICHT »LEBEN IN UNSICHERHEIT« ÜBER RASSISTISCHE GEWALT IN DEUTSCHLAND.

pro Woche

6 rAssistische geWAlt

2015 FANDEN IN DEUTSCHLAND nAheZu täglich DEMONSTRATIONEN GEGEN FLÜCHTLINGE STATT: insgesAmt 288 demonstrAtionen

(Quelle: Amadeu-Antonio-Stiftung)

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RASSISTISCHE GEWALT IN DEUTSCHLAND STOPPEN! Brandanschläge, tätliche Angriffe und Einschüchterungen: Wir erleben aktuell eine drastische Zunahme rassistischer Gewalt. Täglich werden Menschen angegriffen – sei es wegen ihrer äußeren Erscheinung, ihrer angenommenen Religion oder anderer Zuschreibungen. Werden Sie aktiv! Unterzeichnen Sie unsere beiliegende Petition und setzen Sie sich dafür ein, dass Menschen vor rassistischer Gewalt geschützt werden! /GJT \WO 6JGOC 4CUUKUOWU ƂPFGP 5KG CWH amnesty.de/gegen-rassismus


© Â Friebe/SDMG/dpa


THEMEN

Nepal: Zwangsehen

Ein Mädchen schert aus »Meine Geschichte klingt unwirklich.« Nasreen Sheikh in ihrer Schneiderwerkstatt im nepalesischen Goldhunga.

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Eine Nähmaschine, ein Fremder aus den USA und ein unbändiger Wille: Nasreen Sheikh hat es von ganz unten bis zur Unternehmerin und Frauenrechtlerin geschafft. Und das in Nepal, einem der ärmsten Länder der Welt. Von Veronika Wulf (Text) und Frank Schultze (Fotos) Nasreen Sheikh sitzt auf dem staubigen Teppichboden in ihrer kleinen Wohnung in der nepalesischen Hauptstadt Kathmandu. Es ist Mitte März. Draußen knattern Mopeds durch das Touristenviertel der Millionenmetropole und hüllen Passanten und Schaufenster in eine Wolke aus Abgasen und Staub. Rikschafahrer kämpfen gegen Schlaglöcher, Hitze und den Ballast auf der Rückbank an. Drinnen hockt Nasreen, die schmalen Arme um die Beine geschlungen, als wolle sie sich selbst festhalten. Tränen rinnen ihr über das Gesicht. »Wie kannst du mir das antun?«, klagt ihre Mutter. Zwischen den buschigen Augenbrauen der 51-jährigen Frau ziehen sich tiefe Furchen. »Warum kannst du nicht heiraten wie eine normale Frau?« Nasreen schweigt. »Habe ich das falsche Kind in meinem Bauch getragen? Wenn ich dich mit diesen Fremden im Laden sehe, dann denke ich, ich hätte dich nach der Geburt wegwerfen sollen.« Schluchzend hebt Nasreen den Kopf. Sie rennt ins Nebenzimmer, kauert sich unter eine Decke, verschwindet komplett darunter. Ein weinender Berg. Die Mutter steht erst unschlüssig im Türrahmen, legt dann eine Hand auf die Decke, dort, wo sie Nasreens Schulter vermutet, hilflos, stumm und so flüchtig, dass Nasreen es vielleicht gar nicht bemerkt hat. Später steht Nasreen mit einer dieser Fremden im kleinen Laden im Erdgeschoss, unter ihrer Wohnung. Er ist vollgestopft

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mit gemusterten Schals, Taschen, Kleidern und Geldbörsen in bunten Farben. Die Schaufenster sind blind vor Staub, es riecht nach Benzin und Kurkuma von den Straßenhändlern. Nasreen trägt eine traditionelle gemusterte Tunika über weiten Pluderhosen. Sie wirkt mädchenhaft mit ihrer Stupsnase, den hohen Wangenknochen, ihrem schlanken Körper, sieht jünger aus als 24. Sie lacht laut und viel, während sie mit einer Touristin aus den USA spricht, die Mitte fünfzig ist. Nasreen türmt einen Stapel Stoff aus Wolle und Pashmina auf den Ladentisch. Es sind fast ein Dutzend Schals. »97 Dollar«, sagt Saheen, Nasreens 19jährige Schwester hinter dem Ladentisch. Die Touristin schluckt. »Die Produkte sind handgenäht, von Frauen, die zwangsverheiratet wurden, die kaum Geld und Chancen haben«, sagt Nasreen. Mehr muss sie meist nicht sagen, um Menschen von ihrem Projekt »Local Women’s Handicrafts« zu überzeugen. Auch die Touristin zückt ihren Geldbeutel und bezahlt. Was Nasreen nicht sagt: dass sie selbst eine solche Frau war. Dass sie als Mädchen keine Männer anschauen, nicht lachen oder das Haus verlassen durfte. Dass ihre Eltern sie nicht zur Schule schickten, weil sie ein Mädchen war. Dass sie einen Mann heiraten sollte, den sie nicht kannte, und der Vater sie schlug, als sie sich weigerte. Nasreens Geschichte ist die eines ungewöhnlichen Aufstiegs in einem der ärmsten Länder der Welt. Sie beginnt in einem entlegenen konservativen Dorf und endet in der Hauptstadt Kathmandu mit einem Sozialunternehmen. Vielleicht ist das aber auch erst der Anfang, denn Nasreen hat noch Größeres vor. »Es ist schwierig, meine Geschichte zu erzählen«, sagt sie. »Sie klingt so unwirklich.« Nasreen stammt aus Rajura, einem

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Ungewöhnlicher Aufstieg. Der kleine Textilladen in Kathmandu (links).  Nasreen und ihre jüngere Schwester Saheen beim Verkaufsgespräch (oben).

Dorf an der indisch-nepalesischen Grenze. Ihr Vater Zafir Sheikh ist psychisch krank und arbeitsunfähig. Ihre Mutter Haleema Khatoon ist tief verwurzelt in den Kastenregeln und im sunnitischen Islam. Nasreen wollte schon als Kind nicht glauben, dass ein Mädchen, das kaum geschlechtsreif ist, einem Mann versprochen werden muss – auch wenn sie genau das mitansehen musste: Denn ihre ältere Schwester Yasmin wurde mit elf Jahren verlobt und mit 16 verheiratet. Den Bräutigam kannte sie nicht. Bei der Vermählung weinten beide. In Nepal sind Ehen zwischen Minderjährigen zwar verboten. Doch viele Gläubige entziehen sich den Gesetzen durch traditionelle Zeremonien. Nasreens Mutter Haleema gehört zu ihnen. Für sie ist das Wichtigste, die Töchter an »gute« Männer zu verheiraten, also solche, die sunnitisch sind und ein ordentliches Einkommen haben. Zwei Tage nach dem Streit hockt Haleema in Nasreens Wohnung auf dem Boden vor zwei Kochplatten und zerstößt Ingwer in einer Messingschale. Der Schimmel hat die Wände in schwärzliches Grün gefärbt. Im Nebenzimmer sitzt Nasreens älterer Bruder Maghar auf einer abgewetzten Matratze im Schneidersitz zwischen Kleiderbergen. Der 33-Jährige hat die gleiche Stupsnase wie Nasreen, an seinem linken Handgelenk prangt eine vier Zentimeter lange Narbe. Die Mutter versteht nicht, was er sagt, weil er auf Englisch erzählt, wie es dazu kam. Er arbeitete als Elfjähriger in einer Glühbirnenfabrik im indischen Delhi und war dort giftigen Gasen und Hitze ausgesetzt. Immer wieder platzte das Glas, Schutzkleidung gab es keine. Dann wechselte er in eine Textilfabrik, nähte den ganzen Tag Bordüren an Saris, zehn bis zwölf Stunden lang, mit einer halben Stunde Pause. »Ich war stolz, weil ich meiner Familie Geld schicken konnte.« Mit 18 Jahren zog er nach Kathmandu. Die Familie folgte ihm nach, denn es wurde immer schwieriger, im Dorf zu überleben. Der kranke Vater konnte keine Feldarbeit verrichten, Mutter und Töchter durften es als Frauen nicht. Sie kamen aus einem Dorf, in dem es keine Autos gab, in die Hauptstadt, in der sich der Verkehr als hupender, chaotischer Strom durch die Straßen bewegt. Anstelle windschiefer Bauernhütten gab es in Kathmandu Handyshops, statt verhüllter Hausfrauen Touristinnen in Shorts. Manchmal saß Nasreen am Straßenrand und beobachtete das Treiben. Sie lebte drei Monate in der Stadt, als ein weißer Mann mit Schnauzer vorbeikam. Er war Mitte 50 und hatte einen Hund an der Leine. »Du kommst doch aus Amerika, kannst du mir Englisch beibringen?«, fragte sie ihn und zupfte ihn am T-Shirt. Der Fremde blickte auf sie hinab. »Natürlich«, antworte-

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te er auf Nepalesisch. Nasreen sagt heute: »Es ist unglaublich, dass er ja sagte. Ich hatte noch nie jemanden um Hilfe gebeten.« Leslie St. John, der Fremde, sagt heute: »Es gibt so viele bettelnde Kinder in Nepal. Ich hatte noch nie einem geholfen.« Er lebt inzwischen in einer Pflegeeinrichtung für ParkinsonKranke am Stadtrand von Los Angeles. Die Krankheit hat den 67Jährigen zurück in seine Heimat geholt, nachdem er vierzig Jahre in Asien verbrachte, auf der Suche nach Gott. In Nepal, Indien und Bangladesch unterrichtete er in Klöstern Englisch und Religion und traf bei seiner Arbeit auch den Dalai Lama. »Nasreen war so intelligent, so aufgeweckt«, erzählt er am Telefon. »Irgendetwas sagte mir, ich muss ihr helfen.« Was Nasreen ein Wunder nennt, drückt er so aus: »Gott hat mich zu ihr geleitet.« St. John kaufte Bücher, brachte Nasreen Lesen, Schreiben und Englisch bei und zeigte ihr, wie man einen Computer bedient. Dann ging sie zur Schule, in Bluse und Faltenrock, wie die Mädchen, die sie immer vom Fenster aus beobachtet hatte. Sie übersprang eine Klasse, später noch eine. St. John übernahm alle Kosten. Erst nannte sie ihn Lehrer, dann Papa. Für die skeptischen Eltern blieb er der Fremde. Nur ihr Bruder Maghar unterstützte Nasreen. »Der Doktor war eine riesige Chance für sie«, sagt er auf der Matratze sitzend und wirft der Schwester ein Lächeln zu. Ein zweijähriges Mädchen klettert auf seinen Schoß: Amna ist das Einzige, was ihn und seine Frau verbindet. Auch seine Ehe war arrangiert. Für seine kleine Schwester wollte er etwas Besseres und brachte ihr neben der Schule noch das Nähen bei. Die Maschine ratterte Tag und Nacht in dem kleinen Zimmer in Kathmandu, das zugleich Schlafzimmer und Werkstatt war. Die Geschwister belieferten eine Textilfabrik. Die erste Frau, die zu ihnen stieß, traf Nasreen auf der Straße, eine Bettlerin, schwanger, ohne Mann, ohne Wohnung, ohne Arbeit. Nasreen zeigte ihr, wie aus Stoffbahnen schicke Röcke oder Schals werden. Das sprach sich herum, es kamen weitere Frauen. Als sie sechs Näherinnen waren, eröffneten sie ihren eigenen Laden, dessen Miete sie mühsam zusammengespart hatten. So begann 2006 Nasreens kleine Firma. Den Kern bildeten die drei Geschwister Maghar, Nasreen, Saheen, von denen nur der Bruder volljährig war. Sie verkauften anfangs nur drei verschiedene Produkte zu lächerlich niedrigen Preisen. »Die Leute kauften die Sachen«, sagt Nasreen, noch immer ungläubig. Nebenher beendete sie die Schule und studierte mit St. Johns Hilfe in Kathmandu Elektronik und Informationstechnologie. Doch als sie 20 wurde, intervenierte ihre Mutter: »Es ist Zeit zu heiraten.« Die Eltern hatten bereits einen Jungen aus dem Dorf ausgewählt und den Hochzeitstag festgelegt. Nasreen durfte den Bräutigam vorher nicht kennenlernen, so will es der Brauch. Doch sie weigerte sich – als Erste aus ihrem Dorf. Die Eltern zerrten sie aus dem Laden, der Vater schlug sie, sie fiel in den Staub. Die Mutter drohte, sie umzubringen. »Ich wusste, sie wür-

Als Mädchen durfte Nasreen keine Männer anschauen, nicht lachen, nicht das Haus verlassen. 33


»Wenn ihr nichts verändert, wird sich nie etwas ändern.« Nasreen und ihre Mutter Haleema (oben), Näherin Kamla Dahal (unten), Feier des Weltfrauentags in der Schneiderwerkstatt (rechts).

de mir nichts antun«, sagt Nasreen. »Tief in ihrem Inneren liebt sie mich. Die Gesellschaft hat sie so gemacht.« Die Nachbarn tuschelten, bespuckten Nasreen auf der Straße. Erst als ihr Bruder Maghar im Dorf den Ortsvorsteher bestach, damit er verbreitete, Nasreen sei geisteskrank, wurde die Hochzeit abgesagt. Eine Verrückte wollte keiner. Die Eltern wurden zum Gespött des Dorfes. Nasreen geht hinunter in den Laden. Ihre Augen glänzen feucht, als sie von der Zwangsheirat erzählt. Das Telefon klingelt. Sofort hat sie ihre Fassung wiedergewonnen: »Namaste?« Es ist der Lieferant. In geschäftigem Ton spricht sie auf Nepalesisch. Vielleicht steckt sie Probleme einfacher weg, weil sie Rückschläge gewohnt ist. Einen der größten erlebte sie im April 2015. Nasreen verkaufte Taschen und Haremshosen auf einem kleinen Markt, als plötzlich Krähenschwärme aus den Bäumen aufflogen. Es rumpelte, knirschte, Glas zerbrach. Erst flog ihr das Handy aus der Hand, dann stürzte sie. Die Erde wankte noch immer wie ein großes Schiff im Sturm, als sie sich aufrappelte. Menschen kauerten auf dem Boden. Manche kreischten, beteten, filmten mit ihren Handys. Nasreen war still. In der Nacht darauf saß sie aufrecht in einem riesigen Armeezelt. Neben ihr kauerten Saheen, Maghar und Hunderte von Menschen, die sich nicht in ihre Häuser trauten – oder keine mehr hatten. Die Körper lagen dicht an dicht, Taschenlampen leuchteten in schlafende Gesichter, Babys brüllten. Nasreen starrte ins Leere. Der Laden und die Wohnung hatten Risse, die Nachbarsfamilie wurde unter ihrem Haus begraben. Immer wieder vibrierte die Erde. Es war eines der schwersten Erdbeben in der Geschichte des Landes, rund 9.000 Menschen starben. Nach drei Nächten nahmen sich die Geschwister ein Taxi und fuhren durch die Trümmerlandschaft. Unter einem haushohen Schutthaufen suchten Soldaten noch immer nach Überlebenden. Eine halbe Stunde später hielt das Taxi in Goldhunga, einem Dorf am Stadtrand. Aus einem einstöckigen Rohbau ragten Eisenstangen. Die Geschwister hatten damit begonnen, eine Textilfabrik zu bauen, »unsere Zukunft«, sagt Nasreen. Eine Touristin aus Holland und Freunde aus Deutschland hatten ihnen ein Darlehen für das Grundstück, Baumaterial und den Lohn der Bauarbeiter gegeben. Eine Mauer rundherum war eingestürzt. Saheen drückte die Nase ans Fenster. »Oh nein, schau dir das Chaos an!« Stoffe, Schnittmuster und Nähmaschinen lagen auf dem Boden verstreut – der Schaden betrug mehrere tausend Euro – fast so viel, wie der Laden in einem Jahr einbringt. »Immerhin steht das Haus«, sagte Nasreen ruhig. Inzwischen ist fast ein Jahr vergangen. Die kleine Fabrik hat inzwischen zwei Stockwerke. Doch heute stehen die Nähmaschinen still. An losen Stromkabeln hängen Luftballons vor unverputzten Wänden. Zwanzig Näherinnen sitzen in drei Reihen, manche mit Kleinkindern auf dem Schoß, und schauen zu Nasreen auf. Da ist die 32-jährige Babita Aryal, die mit 16 zwangsverheiratet wurde und nie zur Schule ging. Da ist die 43-jährige Kamla Dahal, die mit 14 zwangsverheiratet wurde und mit 17 das erste Kind bekam. Da ist die 16-jährige Sunita Tamang, die im vergangenen Jahr zwangsverheiratet wurde und deren Haus beim Erdbeben zerstört wurde. Nasreen spricht zu den Frauen über Bildung, Unabhängigkeit und Rechte. »Wenn ihr nichts verändert, wird sich nie etwas

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ändern«, sagt sie und erhält Applaus. Nasreens Unternehmen zahlt den Näherinnen schon in der Ausbildung einen Lohn, was unüblich ist in Nepal. Aber es geht nicht nur ums Geld. Nasreen bestärkt sie auch darin, sich als gleichwertig zu betrachten gegenüber ihren Ehemännern, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Heute, am 8. März 2016, feiern sie etwas, was sie noch nie gefeiert haben: den Weltfrauentag. Eine Näherin beginnt zu singen, die anderen springen auf, klatschen. Zöpfe fliegen durch die Luft, Füße gleiten über den Betonboden. Die Frauen tanzen und tanzen. Als wäre es das erste Mal. Etwa hundert Näherinnen haben Nasreen und ihre Geschwister inzwischen ausgebildet. Manche haben sich selbstständig gemacht, andere warten noch, bevor sie ein Kind bekommen. Nasreen ist stolz. Doch sie schmiedet schon neue Pläne. Zurück im Laden holt sie einen Stapel Papier aus dem Schreibtisch. »Local Women, www.locwom.com« steht darauf, »Nonprofit-Organisation. Gesunde Stärkung durch Bildung«. »Das ist mein neues Projekt«, sagt sie strahlend. Seit ein paar Tagen steht draußen am Laden nicht mehr »Local Women’s Handicrafts«, sondern »Saheen’s Handicrafts«. Nasreens Schwester wird künftig den Laden führen, während Nasreen weiter drängt. »Das hier ist ein Geschäft, zwar ein soziales, aber ein Geschäft«, erklärt Nasreen, die Unternehmerin, und zeigt auf die Kleiderständer um sie herum. »Locwom ist Sozialarbeit, mit der ich viel mehr Frauen helfen kann, weltweit.« Sie geht Seite für Seite durch, erläutert Struktur, Organigramm, Finanzierung. Sie hat ihre neue Organisation in den USA angemeldet. Dort hat sie Freunde, die einst in ihrem Laden in Kath-

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mandu vorbeikamen, ihr jetzt geholfen haben, ein BusinessVisum zu bekommen, und das Projekt mit ihr aufziehen wollen. Eine bezahlte Nähausbildung für benachteiligte Frauen – daran will sie festhalten, nur nennt sie das jetzt »Skill Training Center«. Außerdem soll es ein Bildungszentrum geben und eine Gesundheitsklinik. »Ich will den Frauen auf allen Ebenen helfen. Sie lernen Nähen, ihre Kinder gehen nebenan zur Schule, und in der Klinik werden sie medizinisch versorgt.« Nasreen war gerade für zwei Monate in den USA, um ein Visum zu beantragen, Sponsoren zu finden, mit Crowdfunding zu starten. Für die wichtigsten Posten hat sie schon Mitglieder gefunden. Sie blättert weiter. »Der Traum von Locwom: 100 Zentren in zwanzig Jahren«, steht da. »Aber wenn es nur eins ist, das dafür reibungslos läuft, dann ist das auch okay«, sagt sie. »Wir wollen gesundes Wachstum.« Die zwanzig Seiten auf ihrem Schoß wiegen schwer. Auf den ersten Blick klingt ihr Inhalt verrückt, größenwahnsinnig, zu mächtig für die junge Frau in diesem kleinen Raum. Doch hätte der Laden, den Nasreen jetzt führt, damals, im traditionellen Grenzdorf Rajura, nicht auch größenwahnsinnig geklungen? »Ich habe ein gutes Gefühl«, sagt Leslie St. John, ihr Lehrer und Förderer, mit dem sie noch immer Kontakt hält. »Nasreen kann das.« Die Autorin ist freie Journalistin und berichtet unter anderem für die »Süddeutsche Zeitung« und »Der Spiegel«. Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen:  www.amnesty.de/app

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ZWAngsehen in nePAl Etwa Dreiviertel aller Ehen in Nepal sind arrangiert. Das ergab eine Studie der Organisationen »Plan Nepal«, »Save the Children« und »World Vision International Nepal« im Jahr 2012. Häufig ist die Braut bei der Hochzeit noch minderjährig. Obwohl das legale Heiratsalter in Nepal bei 20 Jahren liegt, beziehungsweise bei 18 Jahren, sofern die Eltern einwilligen, haben mehr als die Hälfte der 20 bis 49-jährigen Frauen ihre Ehe als Minderjährige geschlossen. Dies trifft insbesondere auf muslimische Familien zu: Laut Unicef wurden fast 80 Prozent der muslimischen Nepalesinnen verheiratet, bevor sie 15 Jahre alt waren. Entsprechend früh bekommen sie auch ihr erstes Kind. Nach Angaben des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen haben 7,4 Prozent der 15- bis 19-jährigen Mädchen in Nepal ein Kind – das sind fast zwanzigmal so viele wie in Deutschland. Für Bildung bleibt da wenig Zeit: Nepalesische Frauen haben im Schnitt nur 2,3 Jahre lang eine Schule besucht. Mehr als die Hälfte sind Analphabetinnen. Zwangsehen sind auch häufig der Ursprung von innerfamiliären Konflikten. Wie die nepalesische Menschenrechtsorganisation INSEC mitteilte, wurden im Jahr 2014 91 Frauen von Familienangehörigen umgebracht, 2013 waren es sogar 108.

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Tage des Terrors Islamisten überziehen Bangladesch seit drei Jahren mit Terror. Nun hat die Gewalt eine neue Eskalationsstufe erreicht. Von Bernhard Hertlein Bangladesch hat in den vergangenen drei Jahren so viele Tage des Terrors erlebt, dass im Ausland kaum noch Notiz davon genommen wurde. Doch dann kam die Nacht vom 1. auf den 2. Juli 2016. Sechs islamistische Terroristen stürmten ein Restaurant in Gulshan, dem Diplomatenviertel in der bangladeschischen Hauptstadt Dhaka. Sie töteten mehr als 20 Menschen – nicht nur alle Ausländer und Nicht-Muslime, die sich in dem Restaurant befanden, sondern auch alle anwesenden Frauen, die kein Kopftuch trugen. Ein junger Muslim starb, weil er seine ausländischen Freunde nicht alleinlassen wollte. Dabei genügte es den Attentätern nicht, die Andersgläubigen zu töten. Dazu hätten sie ihre Pistolen einsetzen können, die sie bei sich trugen. Stattdessen richteten die selbsternannten Gotteskrieger mit Messern und Macheten ein Blutbad an. Das Kalkül der Terroristen: Die Horrorbilder der grausam zugerichteten Leichen sollten sich über das Internet verbreiten. Und genau so geschah es. Wie bereits bei allen Anschlägen zuvor, die der sogenannte »Islamische Staat« und Ansarullah, der südasiatische Ableger von Al-Qaida, in Bangladesch verübt hatten. Die Liste der islamistischen Attentate ist inzwischen lang: Am 15. Januar 2013 wurde in Dhaka ein Anschlag auf den religionskritischen Blogger Asif Mohiuddin verübt. Er überlebte

knapp und wohnt heute, wie einige andere bedrohte Aktivisten, in Deutschland. Nur einen Monat nach dem Angriff auf Mohiuddin töteten Attentäter den säkularen Blogger Ahmed Rajib Haider mit Macheten. Am 26. Februar 2015 wurde der in den USA lebende bangladeschische Philosoph und Naturwissenschaftler Avijit Roy nach einem Besuch der Buchmesse in Dhaka ermordet. Seine Frau Bonya wurde verletzt. Im weiteren Jahresverlauf starben unter anderem Washiqur Rahman, Ananta Bijoy Das, Niloy Neel und Arefin Dipon sowie zwei Ausländer: der Italiener Cesare Tavella und der Japaner Kunio Hoshi. Ende Oktober überlebten der Verleger Tutul und zwei seiner Autoren einen Messerangriff schwer verletzt. »Wenigstens haben die Menschen danach noch protestiert«, berichtet Jeba Habib, Mitarbeiterin der Nichtregierungsorganisation »Nijera Kori«. »Doch schon am nächsten Tag wurde ich damals vor unserer Moschee darauf angesprochen, dass mein Gesicht im Fernsehen zu sehen war. Danach nahmen die Drohungen sehr schnell zu – und die Proteste ab.« Es ist dieselbe Moschee, die von einem der Gulshan-Attentäter regelmäßig besucht wurde. In diesem Jahr wurde alles noch schlimmer. Eines der ersten Opfer terroristischer Angriffe auf religiöse Minderheiten war ausgerechnet ein Muslim: Der schiitische Prediger Abdur Razzak starb Anfang März nach einem Angriff des IS mit Macheten. Nur knapp zwei Wochen später wurde in Kurigram ein ehemaliger Freiheitskämpfer, der vor vielen Jahren zum Christentum konvertiert war, umgebracht. Anfang April wurde AFM Rezaul

Angriff auf die Freiheit. Trauerkundgebung für die Opfer des Terroranschlags vom 1. Juli in Dhaka.

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Karim Siddique mit Macheten zu Tode gehackt. Siddique lehrte Englisch an der Universität von Rajshahi und unterrichtete seine Schüler privat auch in bengalischer Kultur und Musik. Kurz darauf geriet eine neue Minderheit ins Visier der Islamisten: Unbekannte erstachen Xulhaz Mannan und seinen Freund Tanay Majumder. Mannan war Chefredakteur bei Bangladeschs erster Zeitschrift für Lesben, Schwule, Transgender und Bisexuelle. Am 5. Juni wurde in Chittagong die Frau eines Polizeioffiziers ermordet, der sich im Kampf gegen den Terrorismus hervorgetan hatte. Noch am selben Tag wurde ein christlicher Ladenbesitzer in Jhenaida umgebracht. Zwei Tage danach ermordeten Islamisten den Brahmanen Ananta Gopal Ganguly, am 10. Juni folgte der Mord an Nitya Ranjan, dem Mitarbeiter eines HinduAshrams. Im ersten Halbjahr 2016 sind in Bangladesch mehr als 40 Menschen durch terroristische Angriffe ums Leben gekommen. Die Regierungschefin Scheikh Hasina Wajed erklärt immer wieder, man kenne die Mörder und werde sie fassen. Doch die Zweifel in der Bevölkerung sind groß. Innenminister Asaduzzaman Khan hält es für wichtiger, die Computer der Mordopfer nach Zitaten zu durchsuchen, die als staats- oder religionskritisch ausgelegt werden könnten, als diejenigen zu verhaften, die für die Morde und Mordaufrufe verantwortlich sind. Wiederholt haben Blogger und andere berichtet, dass die Polizei sie wegschickte, wenn sie nach Drohungen um Schutz nachsuchten: »Ändern Sie Ihr Verhalten« und »Hören Sie auf, sich so im Internet zu äußern«, waren die Ratschläge, die man ihnen statt Hilfe anbot. Die Regierung schiebt die Schuld an dem Terror den Oppositionsparteien Jamaat-e-Islami und sogar der Bangladesh Nationalist Party (BNP) zu. Wiederholt hat Amnesty International die Untätigkeit der Regierung und der Sicherheitsbehörden kriti-

Blogger und andere berichten, dass die Polizei sie wegschickte, als sie nach Drohungen Schutz suchten. siert. Das Klima der Straflosigkeit provoziere geradezu neue Anschläge. Dann, am 10. Juni, nach einer Woche mit vier Anschlägen, wurden die Sicherheitskräfte plötzlich doch aktiv. Innerhalb weniger Tage wurden bei landesweiten Razzien mehr als 5.300 Menschen festgenommen. Mehrere berichteten anschließend von Folter. Nach dem Angriff auf einen Hindu-Lehrer in Madaripur am 14. Juni wurde der mutmaßliche Attentäter Golam Faizullah Fahim von Dorfbewohnern gefasst und anschließend der Polizei übergeben. Drei Tage später war der 19-Jährige tot – angeblich wurde er bei einem Gefecht erschossen. Doch bei seiner Leiche lag keine Waffe, dafür war der Tote mit Handschellen gefesselt. Nach einem Bericht der Menschenrechtsorganisation »Ain-o-Salish Kendra« starben im ersten Halbjahr 79 Menschen bei außergerichtlichen Hinrichtungen im Polizeigewahrsam oder durch die Sondereinheit »Rapid Action Battalion«. Der Autor ist leitender Redakteur des »Westfalen-Blatts« und ehrenamtlicher Bangladesch-Experte der deutschen Amnesty-Sektion.

Foto: Roberto Schmidt / AFP / Getty Images

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Die Kunst des Schattenboxens In China hat sich die Situation für Journalisten seit dem Amtsantritt von Staatspräsident Xi Jinping massiv verschlechtert. Die Selbstzensur wächst und die Staatssicherheit macht selbst vor ausländischen Reportern nicht mehr Halt. Von Pascal Nufer Mit oder ohne Schwert, in Sportkleidung oder auch mal im Pyjama kämpfen sie Tag für Tag in Parks, auf Bürgersteigen oder in einem heruntergekommenen Hinterhof eines gesichtslosen grauen Wohnblocks – doch besiegen können sie ihren Feind nie. Denn dieser ist unsichtbar, aber doch so präsent, dass sie sich auch am nächsten Morgen wieder mit ihm anlegen müssen: Chinas Tai-Chi-Kämpfer. So ähnlich wie den Millionen, die sich täglich im Volkssport des Schattenboxens üben, geht es auch uns Medienschaffenden hier. Auch unser Feind ist unsichtbar, doch immer öfter tritt er aus dem Schatten und immer öfter schlägt er auch mal heftig zu, der chinesische Staatssicherheitsapparat. Mein Tai Chi findet leider selten im Pyjama statt. Ich schwinge mein Schwert eher vor Fabriken im Perlflussdelta, wo Tausende schlecht bezahlte Arbeiter die Spielzeuge unserer Kinder zusammenbauen. Oder auch mal in einer Kirche, vor der Bagger aufgefahren sind, weil die Provinzregierung dem Christentum den Kampf angesagt hat. Wie die Tai-Chi-Kämpfer in den Parks reagiere auch ich auf die unsichtbaren Schwertstöße meines Feindes, versuche den Schlägen auszuweichen, ihm eine Bewegung voraus zu sein. Doch das gelingt nicht immer, denn die Mittel des Feindes sind unerschöpflich und reichen bis in meine Hosentasche, in der sich mein Handy befindet. Wenn er will, kann mein Gegner jede meiner E-Mails mitlesen und meine nächsten Schläge voraussehen. Und das geschieht auch, wie wir vor Kurzem bei Dreharbeiten zu den gigantischen Ausbauplänen von Chinas AKWNetz erfahren mussten. Wir hatten nach einer Stunde Flug einen Provinzflughafen in Chinas Hinterland erreicht. Zwei weitere Autostunden entfernt bauten wir endlich unser Stativ auf, um eine grüne Wiese zu filmen, auf der ein Atomkraftwerk entstehen soll. Es dauerte keine fünf Minuten, da tauchte aus dem Nichts auch schon eine schwarze Limousine auf. Ein Herr in Zivilkleidung stieg aus und machte uns in wenigen Sätzen klar, dass wir sofort zu verschwinden hätten. Nicht einmal die grüne Wiese dürften wir filmen, wenn wir nicht den Rest des Tages in Polizeihaft verbringen wollten, drohte er uns. Unsere Presseausweise helfen uns in solchen Momenten auch nicht weiter. Wer nicht kooperiert, riskiert, dass bereits

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gedrehtes Filmmaterial gelöscht oder konfisziert wird. Nicht selten kennen die Überwacher unser Vorhaben längst vor unserer Ankunft. Sobald wir ein Flug- oder Zugticket buchen, weiß die Staatsgewalt, wohin unsere Reise führt. Das Schattenboxen wird in solchen Momenten zum Katz-und-Maus-Spiel. Die Gangart unseres Gegenspielers ist härter geworden. Blieb es früher bei Androhungen oder Verweisen, werden unliebsame Journalisten neuerdings auch ausgewiesen. Der frische Wind der Öffnung, der nach den Olympischen Sommerspielen in Peking wehte, hat sich gedreht. Die Schläge unseres Gegenübers werden härter, wie der Fall einer französischen Kollegin verdeutlicht: Ursula Gauthier, die hier für den »L’Obs« akkreditiert war, musste Ende vergangenen Jahres ausreisen, weil ihr Journalistenvisum nicht erneuert wurde. Als Grund für ihre Ausweisung nannte ein Sprecher des Außenministeriums einen kritischen Artikel, den sie nach den Terroranschlägen in Paris verfasst hatte. Darin schrieb sie, Pekings Verurteilung der Anschläge sei nicht ohne Hintergedanken, die Regierung erhoffe sich davon mehr internationales Verständnis für ihren umstrittenen Umgang mit muslimischen Minderheiten in China. Das reichte für einen Genickschlag des sonst unsichtbaren Gegenübers. Dass sich die Lage der Medienschaffenden in China massiv

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Foto: Jie Zhao / Corbis via Getty Images

Unsichtbarer Gegner. Taoistische Mönche beim Tai-Chi-Training im chinesischen Wudan-Gebirge.

verschlechtert hat, zeigt auch ein Blick in die Statistik: Auf der internationalen Rangliste der Pressefreiheit von »Reporter ohne Grenzen« kommen hinter China nur noch Syrien, Turkmenistan, Nordkorea und Eritrea. China ist auf dieser Liste in den vergangenen Jahren kontinuierlich abgerutscht, ohne dass dies die kommunistische Parteiführung zu stören scheint. Die Situation ist geprägt von Angst und Verunsicherung. Wie weit kann man gehen, ohne eine Ausweisung zu riskieren? Diese Frage stelle ich mir nun häufiger und ertappe mich dabei, wie ich damit in die weit geöffnete Falle der Selbstzensur trete. Kaum einen Monat nach Ursula Gauthiers Ausweisung sorgte ein weiterer Fall für Schlagzeilen, der allerdings in der westlichen Welt kaum wahrgenommen wurde, da es sich um einen chinesischen Kollegen handelte: Li Xin arbeitete als Redakteur für »Southern Metropolis Daily«, eine für chinesische Verhältnisse liberale Zeitung. Im Oktober 2015 war der Journalist nach Indien geflohen. Er wollte damit seine Doppelrolle beenden, die ihm das Regime aufgezwungen hatte. Denn Li Xing arbeitete nicht nur als Kolumnist und Redakteur, sondern auch als verdeckter Informant für die Staatsicherheit. Seine Aufgabe war es, die Sicherheitsbeamten über Dissidenten, Menschenrechtsaktivisten und potenzielle »Staatsfeinde« zu unterrichten. Seine Flucht führte ihn von Indien nach Thailand, wo er sich Asyl er-

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hoffte. Doch dazu kam es nicht. Seit dem 11. Januar 2016 ist Li Xin verschollen. Seine Frau vermutet, dass der kritische Journalist in Thailand entführt wurde und sich in China in den Händen der Staatsicherheit befindet. Der Fall zeigt, dass China auch jenseits der Landesgrenzen eingreift, wenn es darum geht, die freie Meinungsäußerung zu torpedieren. Aus dem erhabenen Faustkampf, wie das Tai Chi auch genannt wird, ist ein schmutziger Krieg gegen jegliche Form von Kritik geworden. Die Leidtragenden sind weniger wir ausländische Medienschaffende als vielmehr unsere chinesischen Kolleginnen und Kollegen – und vor allem das chinesische Volk. Denn die Quellen aufschlussreicher Information über China werden systematisch vergiftet – durch Internetzensur, Angstmache und ein immer aggressiveres Vorgehen gegen all diejenigen, die versuchen, Wahrheiten aufzudecken. Bisher sind Geschichten wie die von Ursula Gauthier noch Einzelfälle, doch die Tendenz ist eindeutig: Das Klima der Angst und Unsicherheit wächst und damit die Gefahr weiterer Selbstzensur. Klar ist auch: Staatspräsident Xi Jinping mag Kung Fu mehr als Tai Chi. Pascal Nufer lebt in Schanghai und arbeitet als Korrespondent für das Schweizer Fernsehen (SRF).

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»Vom Rest der Welt vergessen«

»Wüstenstadt, die es auf keiner Landkarte gibt.« Das Flüchtlingslager Dadaab im Osten Kenias.

Dadaab im Norden Kenias ist das größte Flüchtlingslager der Welt. Im April drohte die kenianische Regierung erneut damit, das Lager zu schließen und die Bewohner in ihre Heimatländer abzuschieben. Der Autor und Menschenrechtsexperte Ben Rawlence hat die Geschichte des Lagers recherchiert. Interview: Michaela Maria Müller

Das kenianische Flüchtlingslager Dadaab ist etwa so groß wie Nürnberg. Derzeit leben dort rund 400.000 Menschen, überwiegend somalische Bürgerkriegsflüchtlinge. Warum haben Sie sich entschieden, ein Buch über Dadaab zu schreiben? Weil die Menschen, die dort leben, vom Rest der Welt fast vergessen sind – was ein Skandal ist. Und weil ich neugierig war. Es ist unglaublich, wie diese Wüstenstadt, die es auf keiner Landkarte gibt, funktioniert: Es gibt dort eine Fußballliga, Kinos, Wahlen, Märkte, Schulen, Krankenhäuser. Kenias Regierung droht immer wieder, das Flüchtlingslager zu schließen. Geht das überhaupt? Es wäre ein unvorstellbar schwieriges Unterfangen. Wie wollen Sie eine Stadt dieser Größe auflösen? Dazu braucht man das Militär und Tausende Fahrzeuge und Planierraupen. Ich glaube

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nicht, dass das passieren wird. Aber ich kann mir vorstellen, dass die kenianischen Behörden den Menschen dort das Leben noch schwerer machen werden. Wie denn? Sie könnten zum Beispiel in Dadaab das Wasser abstellen. Das wäre ein schreckliches Verbrechen, aber sie könnten das machen. Außerdem haben die Hilfsorganisationen aufgrund der Drohungen der Regierung keine Planungssicherheit mehr. Und wenn sie nicht planen können, müssen sie irgendwann aufgeben. Wie ist derzeit die Situation in Dadaab? Viele Menschen werden gehen. Es gibt kein Essen mehr. Seit einem Jahr bekommen die Bewohner 30 Prozent weniger Nahrungsmittel zugeteilt, weil das Welternährungsprogramm nicht genug Geld hat. Es ist schon jetzt eine schreckliche Situation. Was steckt dieses Mal hinter der Ankündigung, das Lager schließen zu wollen? Für mich steht das in Zusammenhang mit dem Humanitären Weltgipfel, der im Mai in Istanbul stattfand, und mit dem EU-Türkei-Abkommen. Kenia hat gesehen, dass die Türkei drei Milliarden Euro zugesichert bekommen hat, um Flüchtlinge zu versorgen. Die Regierung feilscht um Geld.

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Foto: Brendan Bannon / Polaris / laif

Wie reagieren die Bewohner auf die Bedrohung ihres Zuhauses? Sie haben Angst. Der kenianische Staat stellt eine Bedrohung für sie dar. Um die Räumung vorzubereiten, wurde die Dienststelle für Flüchtlingsangelegenheiten im Lager geschlossen. Das heißt, die Menschen können keine Reiseerlaubnis mehr beantragen. Die benötigen sie aber, um eine Universität zu besuchen oder sich in einem Krankenhaus in Nairobi behandeln zu lassen. Wer eine Operation benötigt, ist also gefangen. Im Krankenhaus von Dadaab sterben Menschen, weil sie nicht verlegt werden dürfen. Warum hat Kenia diese Menschen nie als Chance betrachtet? Diese Frage könnten Sie auch der Europäischen Union stellen: Warum sieht sie Flüchtlinge nicht als Menschen, Wirtschaftsfaktor, Steuerzahler? Europa braucht 50 Millionen Einwanderer bis zum Jahr 2050, um den Lebensstandard halten zu können. Ich verstehe nicht, warum weder Kenia noch die EU diese Menschen als Chance begreifen. Das wäre die rationale Betrachtungsweise. Aber die politische Debatte wird nicht rational, sondern emotional geführt. Man diskutiert darüber, wer wir sind, für was wir uns halten und wer die anderen sind. Das vermischt sich mit der Angst vor Terrorismus, die alles vergiftet. Wir sind als Gesellschaft verloren, wenn wir uns dieser Angst hingeben. In zahlreichen EU-Staaten ist derzeit nicht von mehr Hilfe für Flüchtlinge, sondern von Obergrenzen die Rede. Es geht bei der Flüchtlingskrise nicht um Zahlen. Wir können das bewältigen, wenn wir es wollen. Es handelt sich vielmehr um eine Identitätskrise Europas, weil wir nicht in der Lage sind, Herausforderungen gemeinsam anzugehen. Meine Sorge wächst, weil wir uns immer stärker mit einer Nation identifizieren anstatt mit einem Staat. Wir müssen uns für den Staat entscheiden, nicht für die Nation. Und dann im nächsten Schritt für die Gemeinschaft der Staaten: die Europäische Union. Wenn wir hingegen den Weg weiterverfolgen, den wir jetzt eingeschlagen haben, gehen wir in eine dunkle Richtung. Die Menschenrechte von Flüchtlingen werden immer stärker eingeschränkt. Das beweist auch das EU-Türkei-Abkommen … Manche Menschen sagen, dass die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 tot ist. Vielleicht stimmt das, weil wir seit Jahren hinnehmen, dass die Menschenrechte immer mehr eingeschränkt wurden. Das Lager von Dadaab und die Lebensbedingungen, die dort seit 25 Jahren herrschen, sind an sich schon ein Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention: Man setzt die Menschen an einem Ort fest, sie können nicht weg, sie können nicht arbeiten und man gibt ihnen nicht genug zu essen. Doch die reichen Länder verhalten sich nicht viel besser, wie wir jetzt in Europa überrascht feststellen konnten. Die Entschuldigung der Entwicklungsländer lautet: Wir sind arm, wir können uns keine Menschenrechte leisten. Aber Europa kann das nicht sagen. Sie verweisen in Ihrem Buch auf einen somalischen Begriff, der in Dadaab entstanden ist: »Buufis« bedeutet gleichzeitig Hoffnung und Verzweiflung. Weiß man, wie hoch die Selbstmordrate ist?

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»Im Krankenhaus von Dadaab sterben Menschen weil sie nicht verlegt werden dürfen.« Sie ist sehr hoch und das ist ein großes Problem. Viele Schülerinnen und Schüler, die kein Stipendium für Kanada bekommen, nehmen sich das Leben. Denn nur die besten zehn Prozent eines Abschlussjahrgangs der Sekundarschule bekommen ein Stipendium. Wenn eines dieser klugen Kinder es nicht schafft, sehen sie oft keine andere Lösung. Ihr ganzes Leben war darauf ausgerichtet, sie hatten nichts anderes vor Augen, es war ihr größter Traum. Gleichzeitig ist es überraschend, was diese Menschen leisten … Ja, sie leisten eine Menge. Die Gemeinschaft ist sehr stark. Auch wer es geschafft hat, das Lager zu verlassen und sich im Ausland ein neues Leben aufzubauen, vermisst diese Gemeinschaft. Ich habe vor einigen Jahren in Nordschweden vier junge Männer getroffen, die aus Dadaab stammen. Sie träumten davon, das Lager wieder zu besuchen. Sie schreiben, die Bewohner des Lagers würden Sympathisanten der islamistischen Terrormiliz Al-Shabaab ablehnen. Ja, sie wollen nichts mit Al-Shabaab zu tun haben. Trotzdem wirft ihnen die kenianische Regierung immer wieder vor, sie seien für den Terrorismus im Land verantwortlich. Sollte man weiter korrupten Regierungen Geld geben oder es lieber direkt den NGOs zukommen lassen, damit es auch dort landet, wo es gebraucht wird? Das Problem ist: Die Regierungen sind der Türöffner. Nur mit ihnen kann man Zugang zu den Flüchtlingen bekommen. Doch manche dieser Regierungen sind auch der Grund, warum Menschen fliehen. Sie sind Kriminelle – und gleichzeitig kommt man nicht an ihnen vorbei. Wenn sie mehr Geld bekommen, haben sie noch mehr Mittel, um ihre Bevölkerung zu unterdrücken. Eigentlich vergrößert man die Not damit nur. Doch es gibt keine Alternative. Es ist verrückt.

Foto: P. Mera / Opale / Leemage / laif

Sie haben in Ihrem neuen Buch »Stadt der Verlorenen« neun Bewohner des Lagers porträtiert. Sind Sie noch in Kontakt mit ihnen und ihren Familien? Ja, mit allen.

intervieW ben rAWlence Ben Rawlence, geboren 1974,  arbeitete als Menschenrechts beobachter unter anderem für  »Human Rights Watch«. Als  Journalist verfasst er regelmäßig Beiträge für die BBC, »The Guardian« und die »London Review of Books«. Ben Rawlence lebt mit seiner Familie in Wales. Sein Buch »Stadt der Verlorenen. Leben im größten Flüchtlingslager der Welt« ist 2016 im Hanser Verlag erschienen.

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Flüchtlinge an der ungarischen Grenze

So schlecht wie möglich

Warten auf Einlass. Geflüchtete campieren vor dem Stacheldrahtzaun im ungarischen Röszke.

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Leben als Provisorium. Alltagsszenen in Röszke.

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Ungarns Regierung will Flüchtlinge gezielt abschrecken. 20.000 Menschen kamen seit Jahresanfang über die Balkanroute in das Land. Die Behörden schikanieren sie mit Transitzonen und gerichtlichen Schnellverfahren. Von Keno Verseck (Text) und Maria Litwa (Fotos) Es ist Wochen her, dass Ahmad Wahash geduscht hat. Er wäscht sich mit kaltem Wasser aus einem Hahn am Grenzzaun. Jetzt steht er in der Sonne, er und sein Bruder schneiden sich mit einer kleinen Nagelschere gegenseitig die Haare. Da tauchen hinter dem Stacheldraht eine Beamtin und ein Dolmetscher auf. Sofort drängen sich Flüchtlinge am Zaun. Jeder ruft dem Dolmetscher etwas zu, die Beamtin notiert Namen auf einer Liste. Auch Ahmad läuft zum Zaun, aber im Stimmengewirr versteht er kein Wort. Irgendwann gehen die Beamtin und der Dolmetscher wieder. »So geht das die ganze Zeit«, sagt Ahmad. »Wir bekommen keine Informationen und wir wissen nicht, wann sie uns hineinlassen.« Die ungarisch-serbische Grenze bei Röszke und Horgos: Zweihundert Meter neben dem offiziellen Grenzübergang campieren Flüchtlinge in Zelten und Unterständen aus Stöcken und Decken, direkt am ungarischen Stacheldrahtzaun, vor einer langen Reihe weißer Containerbaracken. »Transitzone Röszke« nennt sich der Komplex. Hier können Flüchtlinge Asyl beantragen. Sie müssen dazu eine Schleuse aus zwei eisernen Drehkreuzen zwischen Stacheldrahtzäunen passieren und können in einer der Containerbaracken ihr Asylgesuch abgeben – wenn die Schleuse denn geöffnet wird. Doch das geschieht nicht oft. Nur 15 bis 20 Menschen lässt die ungarische Grenzpolizei täglich hinein. Und deshalb stauen sich hier, neben dem Grenzübergang, die Menschen. Mehrere hundert Flüchtlinge sind es inzwischen, ebenso wie an der baugleichen Transitzone Tompa, vierzig Kilometer weiter westlich. Und es kommen immer mehr. Denn nach der Schließung der Balkanroute im Januar steigt die Zahl der Flüchtlinge, die sich irregulär von der Türkei nach Mitteleuropa durchschlagen, wieder deutlich an. Ungarn registrierte seit Jahresanfang knapp 20.000 Flüchtlinge. Die meisten, rund 17.000, wurden beim irregulären Grenzübertritt nach Ungarn aufgegriffen, die anderen strandeten vor den Transitzonen Röszke und Tompa. So wie Ahmad mit seiner Familie. Er ist 17 Jahre alt, er hat dunkelblondes Haar. Geboren wurde er in Baghlan, einer Stadt im Norden Afghanistans, als Sohn einer afghanisch-tadschikischen Mittelklassefamilie. Sein Vater ist Agraringenieur, seine Mutter Geografielehrerin, seine ältere Schwester studierte Medizin in der Hauptstadt Kabul, Ahmad selbst war in Baghlan im letzten Schuljahr vor dem Abitur. Er hat nur einen spärlichen Bartwuchs und trägt gern Jeans. In seiner Heimatstadt wurde beides zum Problem. Leute der Taliban hätten ihn gefragt, warum er keinen »richtigen« Bart trage. Man könne ihm eines Tages die Beine verstümmeln, wenn die Taliban an der Macht seien und ihn mit Jeans erwischten. Voriges Jahr gab es auf die Universität seiner Schwester einen Anschlag. Weil sie den zunehmenden Terror der Taliban nicht mehr aushielten, flohen die Eltern und die vier Kinder über den Iran, die Türkei, Griechenland, Mazedonien und Serbien. Sie strandeten im Mai vor der Transitzone Röszke, weil sie legal Asyl beantragen und nicht irregulär über die Grenze gehen wollten. Eigentlich sollte der Zugang zu den Transitzonen unproblematisch sein – so hatte es im September 2015 die ungarische Regierung versprochen, als der Grenzzaun zu Serbien fertiggestellt

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wurde. Flüchtlinge könnten in den Baracken Asyl beantragen, würden eine Registrierung durchlaufen und dann in ein Auffanglager geschickt werden, hieß es damals. Tatsächlich war der Zugang bis Jahresanfang auch unproblematisch – denn kaum ein Flüchtling kam. Doch den derzeitigen Andrang in Röszke können die ungarischen Behörden nicht bewältigen, sagt die Sprecherin der ungarischen Einwanderungsbehörde, Helga Zaborszki. Es gebe nicht mehr Kapazitäten: Täglich könnten höchstens 15 bis 20 Menschen eingelassen werden. Familien mit Säuglingen, Kleinkindern sowie Alte und Kranke würden bevorzugt. Vielleicht aber wollen die Behörden auch nichts tun. Das Zeltlager ist voller Familien mit Säuglingen, Kindern und Jugendlichen. Manche warten seit einem Monat. Als im März die ersten Flüchtlinge für längere Zeit vor der Transitzone strandeten, waren sie wochenlang sich selbst überlassen, ungarische Behörden gaben weder Trinkwasser noch Lebensmittel aus. Die zivilgesellschaftliche Organisation »MigSzol« aus der nahe gelegenen Großstadt Szeged wurde aktiv. Sie hatte bereits im vergangenen Sommer an der ungarisch-serbischen Grenze die Versorgung von Flüchtlingen organisiert, bis sich die Flüchtlingsroute durch die ungarische Grenzschließung nach Serbien und Kroatien verlagerte (siehe Amnesty Journal 01/16). Seit März fahren »MigSzol«-Aktivisten regelmäßig zu den Camps vor den Transitzonen in Röszke und Tompa, verteilen Getränke, Lebensmittel, Pflaster und Verbände – soviel wie sie gerade in Rucksäcken tragen können. »MigSzol«-Mitbegründer Márk Kékesi sagt: »Wir haben schon mehrmals versucht, mit den ungarischen Behörden darüber zu verhandeln, ob wir in größerem Maße Hilfe leisten können, mit Zelten, Decken, Kleidung, mobilen Toiletten. Aber die Grenzpolizei lässt das nicht zu.« Dabei bewahrt »MigSzol« in einem leerstehenden Schulgebäude nahe Szeged noch riesige Mengen an Hilfsgütern auf. »Die Behörden wollen jedoch alles vermeiden, was ihrer Meinung nach dazu führen könnte, Flüchtlinge anzulocken«, sagt Kékesi, »deshalb sollen die Bedingungen so schlecht wie möglich sein.« Nachdem im Frühjahr über die Zustände vor den ungarischen Transitzonen zahlreiche kritische Medienberichte in der unabhängigen ungarischen Presse erschienen waren, gibt die Einwanderungsbehörde seit Mai täglich Verpflegung an die Wartenden aus: Trinkwasser, Brot und Fischkonserven, außerdem wurde ein Wasserhahn vor der Transitzone aufgestellt. Doch als der bekannte ungarische Methodisten-Pfarrer Gábor Iványi Anfang Juni mobile Toiletten bringen wollte, verweigerte ihm die ungarische Grenzpolizei den Zutritt. Wenig später ließen die Behörden einige mobile Toiletten aufstellen. Nicht nur »MigSzol«-Aktivisten und der Pfarrer, sondern auch die Mitarbeiter des UNO-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) werden regelmäßig daran gehindert, in größerem Umfang Hilfsgüter bereitzustellen. Erlaubt ist es dem UNHCR, in gerin-

Das Zeltlager ist voller Familien mit Säuglingen und Kindern. Manche warten seit einem Monat. 45


»Man will Flüchtlinge kriminalisieren und die Öffentlichkeit gegen sie aufhetzen.« gem Umfang vitaminhaltige Lebensmittel, Babynahrung, Windeln, Medikamente und Decken auszugeben. Das Flüchtlingshilfswerk darf jedoch weder eigene Zelte errichten noch Campingzelte an Flüchtlinge verteilen, berichtet der ungarische UNHCR-Sprecher Babar Baloch. Auch für einen medizinischen Dienst bekomme man keine Genehmigung. Außerdem, so Baloch, müssten UNHCR-Mitarbeiter mit Grenzbeamten täglich neu aushandeln, welche Hilfsgüter sie mitbringen dürften. Ähnlich wie der »MigSzol«-Mitbegründer wirft auch der UNHCR-Sprecher dem ungarischen Staat vor, Flüchtlinge gezielt abschrecken zu wollen. Damit verletze Ungarn internationale Vorschriften zum Asylrecht. Zu diesem Vorwurf teilt der ungarische Regierungssprecher Zoltán Kovács schriftlich mit: »Ungarn hielt und hält internationales und EU-Recht ein.« In Anbetracht der Zustände vor der Transitzone Röszke klingt das zynisch. Wie ungarische Behörden Recht bis an die Grenze zur Farce verschieben, kann man auch anderswo beobachten. Das Amtsgericht der Großstadt Szeged, 15 Kilometer von der ungarisch-serbischen Grenze entfernt, Ende Mai: Fünf Polizisten bewachen fünf mit Handschellen gefesselte Angeklagte. Die drei Iraner und zwei irakischen Kurden sind sogenannte »Grenzverletzer« – Flüchtlinge, die die ungarische Grenze irregulär übertreten haben. Gleich wird ein Richter sie in einem sogenannten »beschleunigten Verfahren« verurteilen, die Strafe steht bereits fest: Abschiebung und Einreiseverbot. Es ist eines jener Schnellverfahren im Rahmen der ungarischen Sonderjustiz gegen Flüchtlinge, die am 15. September 2015 eingeführt wurde. Damals traten in Ungarn schärfere Asyl- und Grenzschutzgesetze in Kraft, seither wurden 3.000 Flüchtlinge verurteilt, die Verfahrensdauer betrug jeweils rund anderthalb Stunden, es gab nicht einen einzigen Freispruch. Schon im Herbst vergangenen Jahres kritisierten ungarische und internationale Asylrechtsexperten die Gesetzesverschärfungen und die Schnellverfahren als Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention und gegen europäisches Asylrecht. So erklärte die ungarische Regierung das Überwinden der Grenzzäune zum Straftatbestand und gleichzeitig Serbien als sicheres Drittland – die ungarische Bürgerrechtsorganisation TASZ, das UNO-Flüchtlingshilfswerk und Amnesty International sehen darin einen juristischen Trick: Ihrer Ansicht nach verletzt Ungarn damit Artikel 31 der Genfer Flüchtlingskonvention, der verbietet, Flüchtlinge für einen irregulären Grenzübertritt aus Krisengebieten oder nicht sicheren Ländern zu bestrafen. Rechtsstaatliche Bedenken haben Juristen auch wegen der »beschleunigten Verfahren«. So kann zum Beispiel gegen Personen mit ungeklärter Identität ermittelt werden, minderjährige »Grenzverletzer« gelten ab dem 14. Lebensjahr als Erwachsene, Anklageschrift oder Urteil müssen nicht mehr schriftlich in die Muttersprache der Angeklagten übersetzt werden.

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Wegen der rechtsstaatlichen Bedenken eröffnete die EUKommission im Dezember 2015 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn. Das Europaparlament verabschiedete zeitgleich eine Resolution gegen Ungarns neues Asylrecht. Doch blieb dies bisher wirkungslos. Die »beschleunigten Verfahren« gegen Flüchtlinge haben zunehmend Fließbandcharakter. So auch im Fall der drei Iraner und der beiden irakischen Kurden. Sie wurden 56 Stunden vor Verhandlungsbeginn von der ungarischen Grenzpolizei aufgegriffen, als sie in der Nähe des südungarischen Dorfes Ásotthalom unter dem Stacheldrahtzaun durchgeklettert waren. Der Richter liest aus den Zeugenaussagen der Grenzpolizisten und aus den Polizeiverhören der Angeklagten vor. Sie hatten den Grenzübertritt zugegeben, doch jetzt schweigen sie. Der Staatsanwalt beantragt die Ausweisung und ein Jahr Einreiseverbot. Die Pflichtverteidigerin verschickt während der Verhandlung Botschaften mit Herzchen und Smileys und prüft den Lack ihrer Fingernägel. Sie selbst hat mit den Angeklagten nicht gesprochen, sondern nur die Verhörprotokolle gelesen. Sie sei schon bei 50 bis 60 solcher Verhandlungen gewesen, sagt sie später. Nach einer Stunde Verhandlung verkündet der Richter das Urteil: Ausweisung und ein Jahr Einreiseverbot. Die Begründung sagt der Richter mit verschränkten Armen auswendig auf. Er hat schon zwei, drei Dutzend derartiger Verhandlungen geführt. Die Farce ist damit nicht zu Ende, sie beginnt erst: Denn das Urteil gegen die Angeklagten wird nicht vollstreckt. Wie die meisten »Grenzverletzer« haben sie keine Ausweispapiere und können gar nicht abgeschoben werden. Ohnehin nimmt Serbien grundsätzlich keine in Ungarn aufgegriffenen Flüchtlinge zurück. Die fünf Verurteilten werden einige Tage in ein Haftzentrum kommen, dann in ein offenes Flüchtlingslager. Von dort aus werden sie vermutlich in Richtung Westen weiterziehen. Es ist eine personalintensive und kostspielige Justizshow, die Ungarns Regierung veranstaltet. Márta Pardavi, die Ko-Vorsitzende des ungarischen Helsinki-Komitees hält das für Absicht: »Es geht darum, Flüchtlinge zu kriminalisieren, die Öffentlichkeit gegen Flüchtlinge aufzuhetzen, das Land flüchtlingsfrei zu halten und jeglicher Solidarität eine Absage zu erteilen.« Unter Flüchtlingen hat es sich herumgesprochen, dass eine Durchreise durch Ungarn per irregulärem Grenzübertritt einfacher und schneller zu erreichen ist als auf regulärem Weg. Auch die Wahashs haben davon gehört und überlegen, ob sie weiter vor der Transitzone Röszke ausharren sollen. Sie bleiben. Am Tag zwanzig nach ihrer Ankunft werden sie aufgerufen und können die Transitzone betreten. Sie stellen einen Asylantrag. Zwölf Stunden müssen sie in den Baracken warten, dann fährt ein Bus sie in ein Aufnahmelager. Das Aufsichtspersonal sei freundlich gewesen, sagt Ahmad, nur aus einem Textilgeschäft sei die Familie rausgeworfen worden, als sie sich Kleidung habe kaufen wollen. Ein paar Tage später steigt die Familie in einen Zug nach Deutschland. Jetzt leben sie in einer ehemaligen Kaserne in Bad Fallingbostel nördlich von Hannover, sagt Ahmad am Telefon. Am liebsten würde die Familie zu den Verwandten des Vaters in Hamburg ziehen. Ahmad möchte zur Schule gehen und Abitur machen. Zum Abschied sagt er das erste deutsche Wort, das er gelernt hat: »Dankeschön!« Der Autor ist freier Journalist. Keno Verseck lebte in den neunziger Jahren in Ungarn und verfolgt die Entwicklung des Landes seit drei Jahrzehnten.

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»Wir wissen nicht, wann sie uns hineinlassen.« Schleuse in Röszke (oben). Geflüchtete in der Transitzone (unten).

ungArn

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KULTUR

Bomben Bomben

Vis-à-vis. Ein tiefer Graben verläuft zwischen dem »Problemviertel« Molenbeek (li.) und dem Brüsseler Zentrum.

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in Bagdad, in Brüssel

Foto: Andrew Testa / Panos Pictures

nAjem WAli

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In der deutschen Sprache zuhause. Schriftsteller Najem Wali, gebürtiger Iraker, in seiner Heimatstadt Berlin.

Der deutsch-irakische Schriftsteller Najem Wali ist nach Brüssel gereist, um im »Problemviertel« Molenbeek vor jungen arabischen Migranten zu lesen – und mit ihnen über Heimat, Integration und Terror zu diskutieren. Von Markus Bickel

W

as machen wir jetzt?«, fragt Najem Wali sein Publikum etwas ratlos, als der offizielle Beginn der Lesung längst mehr als zwei Stunden zurückliegt – ohne dass der irakische Exilschriftsteller auch nur eine Zeile gelesen hätte. Aus den Lautsprechern tönt arabische Musik, belgische Bierflaschen machen die Runde. Die Themen, um die die Gespräche kreisen, sind immer dieselben: Integration, Heimweh sowie die bürokratische Kleinkrämerei der Behörden. »Deutsche Pünktlichkeit lassen wir heute einmal beiseite«, sagt Wali mit einem Lachen und löst sich dann doch aus dem Kreis junger Iraker und Syrer, die an diesem sonnigen Abend in die lichtdurchflutete Wohnung am Rande des Brüsse-

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ler Viertels Molenbeek gekommen sind, um ihn lesen zu hören. Das Goethe-Institut hat den streitlustigen Autor, der 1956 im irakischen Basra geboren wurde und heute in Deutschland lebt, in die belgische Hauptstadt geladen. »Der Durst nach Wissen ist in der Luft und in den Genen geblieben«, sagt Wali, als er endlich begonnen hat, aus seinem jüngsten Buch »Bagdad – Erinnerungen an eine Weltstadt« zu lesen. Vom schweren Anschlag auf das Café Shahbandar auf Bagdads Literaturmeile Mutanabbi im Jahr 2006 berichtet er. Über Jahrhunderte war die Straße nahe des Tigris das kulturelle Herz der irakischen Hauptstadt. Doch nach den Jahren des Terrors in Folge des amerikanischen Einmarschs 2003 benötigten die Buchhändler viel Zeit, um sie wieder zum Leben zu erwecken. Bomben in Bagdad, Bomben in Brüssel. Wali selbst zieht den Vergleich, spricht vom Widerstandsgeist der Iraker, die sich durch die tägliche Gewalt die Lust am Leben und an der Kultur nicht nehmen ließen, und von den Solidaritätsbekundungen vieler Bagdader nach den Terroranschlägen in Brüssel im März 2016. Dass er am Rande des Migrantenviertels Molenbeek liest, gibt dem Auftritt eine besondere Note: Schließlich war das Quartier im Westen der belgischen Hauptstadt schon lange vor

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Foto: juergen-bauer.com

den Anschlägen als Islamistenhochburg ins Visier der Sicherheitsbehörden geraten. Auch die Drahtzieher für das Massaker von Paris im November 2015 versteckten sich hier. Bereits Anfang des Jahres hatte ihn die Leiterin des Brüsseler Goethe-Instituts deshalb gefragt, ob er nicht zu einer Hauslesung kommen wolle – ein Wunsch, dem Wali nach den Bomben mit den Worten »jetzt erst recht« nachkam. »Ganz Brüssel ist Molenbeek«, stellt er später am Abend fest, als die Sonne untergegangen und der Ruf des Muezzins aus der benachbarten Moschee verklungen ist. Nicht, weil hier überall Attentäter lauerten, wie es manche Medien suggerierten, sondern weil die jüngsten Entwicklungen für das Scheitern einer Einwanderungspolitik stünden, die sich nun zu wiederholen drohe. Schließlich versäume es der Staat abermals, den vielen Neuankömmlingen Perspektiven zu bieten. Dass Belgien und Frankreich mit der Verhängung des Ausnahmezustands auf den Terror reagiert hätten, hält Wali ebenfalls für einen Fehler. Ein Zeichen von Schwäche sei das, nicht von Stärke. Man spiele damit auch dem autoritären türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan in die Hände: Weshalb solle dieser sich Kritik an seinen Notstandsgesetzen gefallen lassen, wenn im Herzen Europas ebenfalls die Verfassung außer Kraft gesetzt werde? Eine Handvoll schwer bewaffneter Soldaten und Militärtransporter steht auch am Ende der Straße, in der die Hauslesung stattfindet. Maschinengewehre und gepanzerte Fahrzeuge am Flughafen Zaventem hatten bei Wali bereits nach der Landung Erinnerungen an Bagdad geweckt. Den meisten der rund 25 Gäste ist die innere Aufrüstung der EU-Hauptstadt nicht einmal ein Schulterzucken wert. Sie sind froh, den Krisen und Kriegen in ihren Herkunftsländern entkommen zu sein. Viele der jungen Iraker und Syrer im Raum schafften erst im vergangenen Sommer die Flucht aus Nahost, einige warten aber auch schon seit zwei Jahren auf eine endgültige Aufenthaltserlaubnis. Mit Humor reagiert Wali auf ihre Fragen nach der schleppenden Arbeit der Ausländerämter und anderen Alltagssorgen im emotional wie klimatisch kalten Europa. Heiß gefragt ist sein Rat – und glaubwürdig. Schließlich war er 1980 selbst erst 23 Jahre alt, als er vor den Schergen Saddam Husseins aus dem Irak floh und über die Türkei in den Norden gelangte. Er hat das Soldbuch von damals mitgebracht, das er kurz nach Beginn des Irak-Iran-Krieges an entscheidender Stelle fälschte. Ansonsten hätten ihn die Grenzer nicht aus dem Land gelassen – und er wäre zum Wehrdienst eingezogen worden. Auch das eine Erfahrung, die er mit den jungen Geflüchteten teilt, ungeachtet des Generationenunterschieds – und ungeachtet der Tatsache, dass seine Antworten auf ihre drängenden Fragen bisweilen hart klingen: »Wer es hier schaffen will, muss wie ein Baby bei null anfangen«, sagt er. Und: »Zurückzugehen ist keine Schande.« Ihm selbst sei die Integration vielleicht nur deshalb gelungen, weil er von Anfang an über »zwei Heimaten« verfügt habe – neben der Erinnerung an die vertrauten Orte und Menschen im Irak war das die deutsche Sprache. Schon während des Germanistikstudiums in Bagdad in den siebziger Jahren hatte er sich so sehr in die deutsche Literatur vertieft, dass sie ihm später in vielen Situationen als Schutzschild gegen Anfeindungen diente. »Das ist nicht Deutschland«, habe er sich immer gesagt, wenn er wieder einmal angepöbelt wurde, und sich dann in die Werke seiner Lieblingsautoren geflüchtet. Erich Maria Remarque nennt er als ersten. Dass Kritiker Walis zuletzt erschienenen Roman, »Bagdad Marlboro«, auf eine Stufe mit Remarques Anti-

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kriegsroman »Im Westen nichts Neues« stellten, freute ihn sehr. Ebenso die Aufnahme in die Jury des diesjährigen Deutschen Buchpreises. Dass der Börsenverein des Deutschen Buchhandels ihn als einziges Mitglied mit Migrationshintergrund auswählte, empfindet er als Anerkennung. Eine »wunderbare Geste« sei das – und eine Öffnung hin zu den vielen Außenseitern, die längst ebenso Teil der Gesellschaft seien wie jene Deutschen, die immer noch nicht wahrhaben wollten, dass das Land sich gewandelt habe seit den Tagen der Anwerbung südeuropäischer Gastarbeiter vor einem halben Jahrhundert. Die politisch bewussten Schriftsteller jener Zeit, wie Heinrich Böll und Günter Grass, haben Wali geprägt. Engagierte Literatur hingegen, wie sie in Lateinamerika bis heute veröffentlicht wird, vermisse er derzeit in Deutschland. Erst 2015 war er in Mittelamerika auf Lesetour – eine erfreuliche Folge seiner Jahre in Spanien, seiner zweiten europäischen Heimat. 1988 zog er von Hamburg nach Madrid, wo er Spanische Literatur studierte, ehe er drei Jahre später ins wiedervereinte Deutschland zurückkehrte. 1991 erhielt er dann die deutsche Staatsbürgerschaft. Wali kann viele Anekdoten aus seinen Anfangsjahren erzählen und herzhaft darüber lachen. So war es nur ein Zufall, dass man ihn 1984 nach zwei Aufenthalten in Abschiebehaft doch nicht in das »Land von tausendundeiner Diktatur und tausendundmehr Kriegen« zurückschickte, wie er sein Geburtsland nennt. Weil einer der Richter in einer Anthologie auf seine Texte gestoßen war, zitierte er während des Verfahrens daraus – als Beleg dafür, dass ihm im Falle einer Abschiebung in den Irak politische Verfolgung drohe. Dabei war er bereits 1979 nur durch ein Wunder dem Gefängnis entkommen, nach Wochen der Folter. Traumatisiert von der Zeit in der überfüllten Zelle habe er deshalb später in Hamburg seine Wohnungstür immer offen stehen lassen – auch als ihn sein Vermieter darauf hinwies, dass das die Heizkosten in die Höhe treibe. An diesem Abend sind es die belgischen Gastgeber, die ihn gar nicht zur Tür hinauslassen wollen – und die gemeinsam mit den jungen Irakern auch beim herzlichen Abschied auf dem Gehweg vor dem Haus noch an Walis Lippen hängen. Er werde wiederkommen, verspricht er. Zu einer Vorführung des Dokumentarfilms »Iraqi Odyssey« des Regisseurs Samir, der den Untergang der goldenen Jahre Bagdads ebenso beklage wie er in seinen Büchern und damit zugleich die Erinnerung an eine glorreiche Epoche wachhalte. Der Autor war bis 2015 Nahost-Korrespondent der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« in Kairo. Heute arbeitet er als Journalist in Berlin.

Najem Wali ist die Integration vielleicht deshalb gelungen, weil er zwei Heimaten hatte: Die Erinnerungen an den Irak und die deutsche Sprache. 51


Was nicht verschwand Vor 40 Jahren begann das argentinische Militär, Oppositionelle zu ermorden und ihre Leichen verschwinden zu lassen. Einer von ihnen war der Schriftsteller Héctor Germán Oesterheld. Seine 1957 erschienene Graphic Novel »El Eternauta« liegt nun ebenso auf Deutsch vor wie ein Standardwerk zur argentinischen Militärdiktatur, das Horacio Verbitsky verfasste. Von Maik Söhler

I

m März 2016 jährten sich der Militärputsch und die Machtübernahme einer Junta unter Führung des argentinischen Generals Jorge Rafael Videla zum 40. Mal. Die Debatten um die Auswirkungen der Diktatur auf die Gegenwart und Zukunft Argentiniens sind jedoch längst nicht abgeschlossen. Seit Dezember 2015 regiert mit Mauricio Macri wieder ein konservativer Präsident, dem Misstrauen entgegenschlägt, was die Aufarbeitung der Diktatur anbelangt, für die seine Amtsvorgänger Néstor und Cristina Kirchner standen. Diese Aufarbeitung wäre schwieriger gewesen ohne ein Buch, das nun erstmals auf Deutsch vorliegt: Horacio Verbitskys »Der Flug«, das in Argentinien bereits 1995 erschien. Darin wendet sich der Marineoffizier Adolfo Scilingo, der am »Verschwindenlassen« von Guerilleros und anderen Oppositionellen während der Diktatur beteiligt war, an Verbitsky und erzählt ihm seine Geschichte sowie zahlreiche Details über die von 1976 bis mindestens 1978 währende Phase, als Tausende Argentinier willkürlich entführt, gefoltert und ermordet wurden. Auch Staatsbürger anderer Nationen wurden getötet. Vor allem auf einen Aspekt kommt Scilingo immer wieder zu sprechen – den Abwurf betäubter Gefangener aus Marineflugzeugen ins Meer. Tausende Opfer der Diktatur sind bis heute verschwunden, in Argentinien und anderen südamerikanischen Staaten werden sie »Desaparecidos« genannt. Mehrere Prozesse gegen hochrangige Militärs, von Vorgesetzten unbe-

»Von allen Foltermethoden ist das Verschwindenlassen die perfideste. Eine Folter, die niemals aufhört.« 52

antwortete Briefe, ein schlechtes Gewissen sowie persönliche Probleme haben den überzeugten Marinesoldaten Scilingo in einen Zweifler verwandelt, der Klarheit über seine eigene Schuld und die seiner Vorgesetzten und Untergebenen haben will. Im Abschlussbericht der Nationalen Kommission über das »Verschwindenlassen« von Personen (Conadep), der 1984, ein Jahr nach dem Ende der Diktatur, erschien, heißt es, die grausamen Vergehen seien als Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzustufen. Der Bericht spricht von mindestens 9.000 »Verschwundenen«, eine weitaus höhere Zahl könne angenommen werden. Menschenrechtsorganisationen und argentinische Historiker gehen von 20.000 bis 30.000 Menschen aus, die dem »Staatsterrorismus« (Horacio Verbitsky) zum Opfer fielen. Im Vorwort schreibt Wolfgang Kaleck, Menschenrechtsanwalt und Gründer des European Center for Constitutional and Human Rights: »Bücher können den Lauf der Dinge verändern und das Werk von Verbitsky (…) ist ein solches Buch.« Denn es helfe »zu verstehen, wie zivilgesellschaftliche Akteure bleierne Zeiten aufbrechen können«. Verbitskys »Der Flug« ist ein Protokoll der Arbeits- und Denkweisen von Militärangehörigen in einer Diktatur und ein wichtiges Dokument, das Verantwortliche, Befehlsketten und Taten gerichtsverwertbar beschreibt. Dank seiner Präzision dient es auch Wahrheitskommissionen, in- und ausländischen Anwälten, Staatsanwälten, Gerichten und Parlamenten, die das Vergangene aufarbeiten, die Täter bestrafen und den Überlebenden und Angehörigen der Opfer ein würdiges Gedenken ermöglichen, als eine Grundlage ihrer Arbeit. Erst Mitte der neunziger Jahre kam in Argentinien eine breite öffentliche Debatte in Gang, zu groß war zuvor der Druck des Militärs auf die politischen und juristischen Institutionen. Strafprozesse innerhalb und außerhalb des Landes gibt es vermehrt seit Anfang des neuen Jahrtausends, das Amnestiegesetz der Junta wurde erst 2005 vollständig aufgehoben. Inzwischen wurde auch die Vorgeschichte des Putsches deutlich – einschließlich der ideologischen Kooperation von Militärs und hochrangigen Vertretern der katholischen Kirche. Einer der »Desaparecidos« ist der argentinische Comic-Autor Héctor Germán Oesterheld, dessen Hauptwerk »El Eternauta« jetzt auf Deutsch vorliegt. Im Vorwort schildert die Journalistin Anna Kemper, wie Oesterhelds Ehefrau Elsa im Mai 1977 einen Anruf bekam und man ihr mitteilte, ihr Mann sei gefangengenommen worden. Er tauchte nie wieder auf, auch ihre vier gemeinsamen Töchter Estela, Beatriz, Marina und Diana »verschwanden«. Die Militärdiktatur ließ alle ermorden, weil sie im Verdacht standen, zu den linksperonistischen »Montoneros« zu gehören. Nur Beatriz’ Leichnam wurde der Mutter überlassen. »Von allen Foltermethoden, die sich die Diktatoren ausdachten, ist das Verschwindenlassen die perfideste. Eine Folter, die

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Abbildung: Avant-Verlag

»Nichts als Monster überall!« Szenen aus »Eternauta«.

niemals aufhört. (…) Die Ungewissheit lässt es nicht zu, Abschied zu nehmen«, schreibt Kemper, die mit Elsa Oesterheld in Buenos Aires sprach. Die Leichen von Estela, Marina, Diana und Héctor Germán Oesterheld sind bis heute nicht aufgetaucht. Oesterheldts Buch »El Eternauta« (Deutsch: Der ewig Reisende) entstand 1957 und ist der wohl berühmteste Comic Argentiniens. Die Science Fiction-Geschichte erzählt von der Landung übermächtiger Außerirdischer, aber auch vom solidarischen Kampf der Menschen, die mit ihren begrenzten Mitteln gegen die Invasion vorgehen. »Es ist beinahe undenkbar, den Eternauta von Héctor Germán Oesterheld (…) nicht als erstaunlich antizipatorisches Porträt der argentinischen Gesellschaft unter der Militärdiktatur zu lesen«, schreibt die Soziologin Estela Schindel im Nachwort. Sie verweist auf die vielen Orte, an denen in »El Eternauta« Menschen gegen Aliens kämpfen und an denen nur wenige Jahre später der Staatsterrorismus tatsächlich mit Folter und Mord gegen vermeintliche und echte Gegner vorging. Einer dieser Orte, an dem massenhaft gefoltert und getötet wurde und von dem aus Gefangene abtransportiert wurden, um sie über dem Meer abzuwerfen, ist die Mechanikerschule der Marine in Buenos Aires (ESMA). Das Kasino der Offiziere wurde 1976 zum geheimen Gefangenenlager umgebaut, heute dient es als »Ort der Erinnerung und der Menschenrechte«. Bereits 20 Jahre vor der Diktatur war die ESMA einer der Schauplätze, an denen Oesterhelds Protagonist Juan Salvo gegen die Invasoren

Argentinien

kämpft, die neben der konventionellen auch die psychologische Kriegsführung beherrschen. All das erinnert Estela Schindel an die »haarfeine, netzartige Ausbreitung des Terrors in den Raum des Alltags«. Doch in »El Eternauta« führt der Widerstand der Menschen durchaus zu kurz- und mittelfristigen Erfolgen, die Angst des Einzelnen weicht, wo die kollektive Aktion beginnt. »Die Hinterlassenschaft des Autors von El Eternauta stellt somit ein verbindendes Element für ein ebenso aktuelles wie zukünftiges Projekt dar, nämlich, die politische Jugend anzusprechen«, meint Schindel. In die anhaltende Diskussion um die Hinterlassenschaften der Diktatur in Argentinien haben sich längst wieder Stimmen gemischt, die Folter und Terror relativieren wollen oder einen Schlussstrich fordern. Das ist das Gegenteil dessen, wofür die so unterschiedlichen Bücher von Oesterheld und Verbitsky stehen. Héctor Germán Oesterheld (Text)/Francisco Solano Lopéz (Zeichnung): Eternauta. Aus dem Spanischen von Claudia Wente. Avant-Verlag, Berlin 2016. Schwarz-weiß, 392 Seiten, 39,95 Euro. Horacio Verbitsky: Der Flug. Wie die argentinische Militärdiktatur ihre Gegner im Meer verschwinden ließ. Aus dem Spanischen von Sandra Schmidt. Mandelbaum, Wien 2016. 200 Seiten, 19,90 Euro.

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Hölle im Diesseits

Vierzig Jahre nach dem Beginn der argentinischen Militärdiktatur veröffentlicht der Historiker Christian Dürr eine erhellende Studie über das Lagersystem von General Videla. Von Christian v. Ditfurth

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u den Müttern der Folter zählt die Viehzucht. Ihr verdankten die argentinischen Militärs die »Picana«. Das Gerät erzeugt Stromschläge, die schmerzhaft, aber nicht tödlich wirken. Perfekt, um Rinder auf die Weide zu treiben. Perfekt, um Menschen zu quälen. Die Opfer wurden nackt auf ein Bettgerüst oder einen Metalltisch geschnallt. Gern klebten die Folterer die Kabelenden an die Geschlechtsteile. An manchen Gefangenen wurde die Picana tagelang befestigt, um immer wieder Stromschläge zu verabreichen. Dazu kam die »Capucha«, die Kapuze, darunter eine Augenbinde, die »Tabique«. Monatelang waren die Folteropfer in ihren Zellen eingeschlossen, bis auf den Toilettengang, bei dem es Prügel setzte. Eine Hölle im Diesseits. Die Rede ist von Argentinien während der Militärdiktatur von 1976 bis 1983. Der südamerikanische Staat, von dem der Fußballer Berti Vogts schwärmte, es sei ein »Land, in dem Ordnung herrscht. Ich habe keinen einzigen politischen Gefangenen gesehen«. Was kein Wunder ist, denn die Fußballfans in Generalsuniform ließen ihre Gefangenen in Folterzentren verschwinden, nicht nur während der Fußball-Weltmeisterschaft 1978. In Argentinien gab es 762 Folterlager, stellt der Historiker Christian Dürr fest. Der Archivleiter der KZ-Gedenkstätte Mauthausen hat eine erhellende Studie über die Diktatur des Gene-

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rals Videla und ihre Opfer verfasst. In den Folterzentren verschwanden politische Aktivisten und Menschen, die dafür gehalten wurden: Mütter, Väter, Kinder von Aktivisten, weil sie Verwandte von angeblichen Staatsfeinden waren. Polizisten oder Soldaten überfielen ihre Wohnungen und verschleppten die Opfer. Zu den 30.000 Todesopfern des Staatsterrors gehörte auch die Deutsche Elisabeth Käsemann: 1977 brachten die Militärs sie in ein Folterzentrum, sperrten sie in einen Hundezwinger, folterten sie – auch mit der Picana – und vergewaltigten sie, bevor die junge Frau erschossen wurde. Ihre Leiche entsorgten die Mörder auf einem Acker. Die Überreste anderer Opfer wurden nie gefunden. Es zählte zu den Spezialitäten der argentinischen Militärs, Gefangene nach der Qual aus Flugzeugen in den Rio de la Plata zu werfen. Seit 2010 gilt »Verschwindenlassen« als Menschenrechtsverletzung. Die UNO-Konvention gegen dieses Verbrechen war nicht zuletzt eine Reaktion auf den Staatsterror in Argentinien, Chile, Paraguay, Uruguay, Bolivien und Brasilien in den siebziger und achtziger Jahren. Vereint bekämpften die damaligen Militärregierungen ihre Gegner – beraten, geschult und gesponsert von der CIA, Deckname »Operation Condor«. Noch heute bemühen sich Politiker, Menschenrechtsaktivisten, Journalisten, Richter und Staatsanwälte, die Verbrechen aus dieser Zeit aufzuklären. Christian Dürrs Buch leistet dazu einen herausragenden Beitrag. Und zwar nicht wegen seines Versuchs, argentinische Folterzentren und deutsche Konzentrationslager historisch zu vergleichen, sondern aufgrund der verstörenden Aussagen der Überlebenden der argentinischen Folterzentren, die er interviewt hat. Selten ist es so gut gelungen, den Begriff »Verschwindenlassen« mit dem Schrecken zu füllen, den er in Wahrheit

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Foto: Marcos Brindicci / Reuters

Einschusslöcher. In dem Folterzentrum »Pozo de Arana«  der argentinischen Militärjunta fanden Forensiker  die Knochenfragmente von über 10.000 Menschen.

eher verhüllt. Denn die Opfer verschwinden nicht im eigentlichen Wortsinn, sie werden vielmehr verschleppt, um sie zu foltern und zu töten. Im Argentinien der Militärdiktatur hatte diese Praxis Methode und Dürrs Verdienst ist es, diese Methode entschlüsselt zu haben. Er zeigt, was es hieß, in Argentinien zu »verschwinden«. Wer in die Fänge der Militärs geriet, wurde umgehend gefoltert: aus dem Wagen gezerrt, ins Internierungslager geschleppt und misshandelt. Es blieb keine Zeit, um das Geschehen zu begreifen. Die Opfer wurden geprügelt, vergewaltigt, mit Stromschlägen gequält. Gedemütigt ohnehin. Die Intensivphase dauerte Tage, manchmal Wochen. Die Täter wollten Auskünfte. Sie suchten weitere Opfer. Sie verschleppten und folterten Verwandte, um Informationen zu erhalten. Aber Auskünfte genügten ihnen nicht. Sie wollten ihre Feinde zerstören, sofern sie diese nicht gleich ermordeten, ihre Persönlichkeit auslöschen und womöglich neu schaffen. Auf die Brachialfolter der Intensivphase folgte, was Dürr die »Normalisierungsphase« nennt. Die Folterer beendeten die Befragung. Es wurde weniger gefoltert, doch Kapuze und Augenbinde blieben. Die Gefangenen vegetierten vor sich hin. Auch wer Informationen preisgegeben hatte, war keineswegs gerettet. Nicht zu entschlüsseln ist bis heute, wer warum überlebte. Nach vier bis sechs Monaten »Normalisierung« folgte die »Überstellung« oder die Entlassung. Warum wurde der eine ermordet – nichts anderes bedeutete »Überstellung« –, warum durfte der andere weiterleben? Die Folterer töteten auch Kollaborateure. Viele Opfer kontrollierten sich nach der Tortur selbst, kämpften mit den Folgen des Terrors. Es gab keine Befreiung nach der Freilassung. Nur wenige kollaborierten, doch fanden sich viele mit der Gewaltherrschaft ab. Die Folterer überwachten

Argentinien

»Viele Opfer kontrollierten sich nach der Tortur selbst, kämpften mit den Folgen des Terrors. Es gab keine Befreiung nach der Freilassung.« ihre Opfer weiter, zwangen manche, in den Folterzentren Handwerksarbeiten auszuführen. Forderten Telefonanrufe, riefen selbst an, besuchten die Opfer nach der Freilassung wie alte Freunde, tranken ein Bier mit ihnen. Die Offiziere waren nicht dumm: Sie wussten, dass aus Folteropfern selten glühende Anhänger werden. Die Militärs wollten aus Widerständigen angepasste Menschen formen. Für die überlebenden Opfer bedeutete dies, sich abfinden, einen Weg finden in der Diktatur, die unveränderbar erschien – besser im Anzug studieren anstatt in Jeans und T-Shirt Widerstandsaktionen organisieren. Wer die Hölle verließ, trug den Schrecken in die Gesellschaft. Offiziell gab es keine Folterlager, aber jeder wusste davon. Diejenigen, die entkamen, bezeugten die Existenz der Hölle, ob sie es wollten oder nicht – durch Schweigen oder durch Reden. Der Schrecken sollte den Widerstand brechen. Die Angst vereinzelte die wenigen, die sich mit der Herrschaft der Militärs nicht abfanden. Die Gesellschaft wandte sich ab von der Politik. Das genügte den Herrschenden. 1983 stürzte die Diktatur über die Wirtschaftskrise und die Niederlage im Falklandkrieg. Wie Dürrs Zeugen eindringlich bekunden, haben die Folterer auch in der Demokratie ihre Spuren hinterlassen – in ihren Opfern, in der Gesellschaft. Der Schrecken klingt nach. Aber nach Jahren der Verdrängung landen die Generäle und ihre Folterknechte nun auf der Anklagebank. Und die Menschen fragen weiter nach den Opfern, die immer noch verschwunden sind. Christian Dürr: »Verschwunden«. Verfolgung und Folter  unter der argentinischen Militärdiktatur (1976–1983),  Metropol, Berlin 2016. 221 Seiten, 19 Euro.

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»Engagiert euch« Ankunftszeit in Deutschland: Hunderttausende Flüchtlinge müssen menschenwürdig untergebracht werden. Dies thematisiert der Deutsche Pavillon auf der 15. Internationalen Architektur-Biennale in Venedig. Die Projektkoordinatorin Anna Scheuermann sieht Architekten und Städteplaner in sozialer Verantwortung. Interview: Lena Reich

Der Deutsche Pavillon steht in diesem Jahr unter dem Motto »Making Heimat.« Kann man Heimat »machen«? Deutschland ist weder starr an den historischen Heimatbegriff noch an den Wohnungsbau gebunden. Das haben wir mit dem »offenen Pavillon« in Venedig erfolgreich zum Ausdruck gebracht: Der 1909 von einem Italiener erbaute und 1938 durch den deutschen Architekten Ernst Haiger erweiterte Pavillon für die Biennale stand bisher unter Denkmalschutz. Es gab in der jüngsten Vergangenheit Vorschläge, ihn abzureißen. Wir haben stattdessen einige Wände geöffnet. So wie sich eben durch die Flüchtlingspolitik in Deutschland der Blick der Gesellschaft für die Zukunft öffnen sollte. Die Flüchtlingskrise und den demografischen Wandel müssen wir als Chance begreifen und nutzen.

Kann Architektur so dynamisch sein? Na klar. Es muss nicht immer Jahre dauern, bis das Supergebäude steht – oder auch nicht. Einige der Flüchtlingsunterkünfte, die auf unserer Website zu sehen sind, sind in kurzer Zeit entstanden. Zum Beispiel das Wohn- und Gemeinschaftsgebäude im hessischen Hünfeld des Architekturbüros »trapp wagner«, das in nur viereinhalb Monaten errichtet wurde. Ihr Biennale-Beitrag basiert auf der Idee der »Arrival City« des britischen Autors Doug Saunders. Er fordert dynamische Viertel in der Stadt, die in der Lage sind, Fremde aufzunehmen und ihnen schnell eine neue Heimat zu bieten. Saunders hat weltweit in Problemvierteln recherchiert, die von Migration und Armut geprägt sind: in Berlin-Kreuzberg, im Londoner East End, in den Banlieues von Paris, den Favelas von Rio de Janeiro oder den Barrios in Los Angeles. Saunders ist überzeugt davon, dass wenn die »Arrival City« klug strukturiert ist, hieraus ein neues Bürgertum entstehen kann. Die architektonischen Vorschläge, die wir auf unserer Website gesammelt und im Deutschen Pavillon in Venedig präsentiert haben, umfassen nicht nur den sozialen Wohnungsbau, sondern gehen auch andere Bauaufgaben und den Städtebau an. Weltweit wird das Recht auf Wohnen ignoriert. Ist die »Arrival City« eine Chance für die Menschenrechte? Die acht Thesen »Die Arrival City ist/braucht …« bilden die Grundlage für eine funktionierende »Arrival City«, in der die

Vorher, nachher. Die »Arrival City« des Architekten Alejandro Aravena in Iquique, Chile, im Rohzustand (links) und nach dem Weiterbau durch die Bewohner.

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Menschenrechte selbstverständlich gewahrt werden müssen: Die »Arrival City« ist eine Stadt in der Stadt. Sie ist informell und selbst gebaut, wie die Favelas. Sie ist bezahlbar und durch ihre Ebenerdigkeit stemmt sie den »Integrationsmotor Arbeit« – hier können Läden eröffnet werden – und sie ist verknüpft mit weiteren Arbeitsorten. Das Recht auf eine Bleibe, die an Wasser und Stromversorgung angeschlossen ist, ist genauso unabdingbar wie die Möglichkeit für Kinder, ihr Recht auf Bildung und auch die Pflicht dazu in Anspruch zu nehmen und einen Schulweg zu haben, den sie meistern können. Daher fordern wir: Die »Arrival City« braucht die besten Schulen. In unserer städtischen Idee kann man günstig und gut wohnen, hat Zugang zu Bildungs- und Freizeitangeboten, die zu einer stabilen Entwicklung beitragen. Das alles ist aber nur zu schaffen, wenn Architekten, Stadtplaner und Kommunen gemeinsam neue Wohnungsbautypen finden und vorhandene Wohnviertel in ihrer baulichen Eigenart respektiert werden. Vielleicht bringen uns auch die »Self-Built«-Vorschläge des chilenischen Architekten Alejandro Aravena auf neue Lösungen. Aravena ist in diesem Jahr Direktor der Biennale und propagiert einen partizipativen sozialen Wohnungsbau: Ein Rohbau wird von den Bewohnern weitergebaut – dies stärkt Eigenverantwortung und Integration. Lassen sich solche Konzepte auch in Deutschland zeitnah umsetzen? Ähnliche Konzepte werden bereits von Architekten wie beispielsweise »Praeger Richter« in ihren Ausbauhäusern oder »BeL« in ihrem Wohnprojekt für die städtische Projektentwicklung IBA Hamburg getestet und ausgeführt. Auch die neuen Baugemeinschaften, wie sie im Laufe der vergangenen Jahre etwa in Berlin oder Frankfurt entstanden sind, basieren auf dem Konzept, durch Eigeninitiative den Wohn- und Städtebau mitzugestalten – und sich von der Herrschaft der Investoren zu lösen. Das müsste natürlich und vor allem auch für die vielen Migran-

ten gelten, die im vergangenen Jahr nach Deutschland gekommen sind. Allerdings wird die wohnliche Integration oft noch durch Sparmaßnahmen und Alltagsrassismen behindert. Asylbewerber, die in einer Massenunterkunft wohnen, dürfen keine Möbel besitzen und nicht selbst kochen. Wie kann eine Integration in den Unterkünften ermöglicht werden? Es sollte nach einem beschleunigten Asylverfahren keine reinen Flüchtlingsunterkünfte mehr geben, sondern früh auf eine Kombination mit Studentenwohnungen oder mit bezahlbarem Wohnungsbau geachtet werden. Die sich ergebende Chance wäre ähnlich wie bei den Baugruppen: Es können neue Wohngemeinschaften entstehen und mit ihnen neue Gemeinschaftsräume. Ließen sich so die Probleme des mangelnden bezahlbaren Wohnraums, der fehlenden Durchmischung und der Verdrängung bestimmter Gruppen überwinden? Wenn in den Städten genügend Platz und Wohnraum für alle da wäre, müsste nicht so viel Verdrängung stattfinden. Da gibt es kein Patentrezept, außer: Es sollte einfach mehr durchmischte Stadtviertel wie die »Arrival Cities« geben. Wenn Sie etwa nach Offenbach ins Nordend schauen, gibt es dort sozialen Wohnungsbau neben hippen Loftausbauten und das Zusammenleben funktioniert gut, weil jeder dort seine Heimat findet und eine eigene wichtige Rolle spielt. Für Großevents wie die Olympischen Spiele oder die FußballWM werden immer wieder provisorische Viertel mit Bulldozern abgeräumt. Müssen Slums ein Dorn im Auge der Stadtplaner bleiben? Slums wird es immer geben und wenn sie verdrängt werden, entstehen sie wieder an anderer Stelle. Wichtiger ist es, diese nicht zu meiden, sondern sie in ihrer Entwicklung zu eigenständigen Stadtvierteln zu unterstützen. Jede Gesellschaft braucht solche Durchgangsstationen. Eine globale Generallösung gibt es nicht, dafür sind diese Orte viel zu unterschiedlich. In welcher sozialen Verantwortung sehen Sie Architekten und Stadtplaner? Ich kann nur sagen: Engagiert euch! Jetzt ist die Stunde der Architekten und Stadtplaner, um im Wohnungs- und Städtebau sowie bei der Integration der neuen Mitbürger langfristige Lösungsvorschläge zu machen. Weitere Informationen: www.makingheimat.de

Architektur-biennAle

Foto: Kirsten Bucher

Fotos: Tadeuz Jalocha, Cristobal Palma

intervieW AnnA scheuermAnn Anna Scheuermann, geboren 1977, arbeitet als Kuratorin und Autorin. Sie war unter anderem Co-Kuratorin für den deutschen Beitrag auf der 7. Internationalen Architektur-Biennale in São Paulo. Neben Peter Cachola Schmal und Oliver Elser war Scheuermann als Projektkoordinatorin für den Deutschen Pavillon auf der diesjährigen Architektur-Biennale in Venedig verantwortlich.

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Jungenglück. Samuele auf seiner Insel, Szene aus »Seefeuer«.

Leuchten im Kino Gianfranco Rosis drastischer Dokumentarfilm »Seefeuer« zeigt das Leben auf Lampedusa, dem Anlaufziel für Flüchtlinge, aus dem Blickwinkel eines zwölfjährigen Jungen. Von Jürgen Kiontke

S

amuele schaut, zielt und drückt ab. Mit seinem Freund spielt er Krieg, aber käme es drauf an, hätte er schlechte Karten: Er hat ein träges Auge, er sieht nicht gut, er muss zum Arzt. Samuele lebt auf der Insel Lampedusa, dem italienischen Anlaufziel für Flüchtlinge aus Nordafrika, dort wo die Seelenverkäufer der Schlepper anlanden und gerettete Schiffbrüchige hingebracht werden. Auf einem Auge blind, das ist nicht nur der Zwölfjährige, der hier über die Wiese tobt, so will dies Regisseur Gianfranco Rosi verstanden wissen, dessen Dokumentarfilm »Seefeuer«, im italienischen Original »Fuocoammare«, der Insel Lampedusa ein Denkmal setzt. Die Krankheit des Jungen, der Fischer werden soll und hier ganz normal aufwächst, soll eine Metapher sein für das Agieren in der Flüchtlingsdebatte. Und schon der Titel soll erhellen: Seefeuer, das ist das Licht der Leuchtraketen, die die Rettungskräfte auf der Suche nach Überlebenden untergegangener Schiffe abschießen. Leucht-

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punkte will auch Rosi mit seinem Film in der aktuellen Debatte setzen, das Schicksal der Bootsinsassen soll nicht vergessen werden, »Seefeuer« soll dazu beitragen. Ein Film zwischen jugendlicher Lebensfreude und Todeszone – zu Beginn der Arbeiten war diese Entwicklung zunächst nicht abzusehen. Als Rosi auf die Insel kam, waren keine Flüchtlinge da, das Zentrum für die Erstaufnahme wurde renoviert und war für einige Zeit geschlossen. Da lag es nahe, das andere, das eigentliche Lampedusa kennenzulernen, abseits des großen politischen Themas. So blieb es bekanntlich nicht und Rosi bleibt auch nicht bei Samuele stehen. Er filmt beim einzigen Arzt auf der Insel, Pietro Bartolo, der Rosi mit seinen Schilderungen überhaupt erst dazu gebracht hat, den Film zu drehen. Zu Bartolo gehen Samuele und auch die Menschen, die über das Meer kommen. Er erzählt von den Notrufen, die in der Rettungszentrale einlaufen, von sinkenden Schiffen und Überlebenden, die er aufsucht. Und auch Rosis Kamera ist dabei, wenn die Rettungskräfte die Boote ausräumen. Bei einem der abgeschleppten Schiffe ist der Innenraum voller Leichen. Ein Moment, in dem das Medium Kino gleichsam zu einem Ende findet: Da ist auf der einen Seite der Wille des Künstlers, authentische Bilder für sein Anliegen zu finden, und das dürfte in diesem Moment auch gelungen sein. Drastischere Bilder als die von den während der Überfahrt Ver-

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Fotos: 21 Uno Film

Seefeuer, das ist das Licht der Leuchtraketen, die die Rettungskräfte auf der Suche nach Überlebenden untergegangener Schiffe abschießen. storbenen lassen sich schwerlich filmen; wie die Menschen gestorben sind, mag sich das Publikum dann ausmalen. »Anders als beim Holocaust oder bei Ruanda gibt es simultan Bilder und nicht erst danach«, sagt Rosi. Niemand könne sagen, er habe nichts gewusst. »Das nimmt die Politik in die Verantwortung: So wie die Regierungschefs sich zum Klimagipfel treffen, müssen sie zu Flüchtlingsgipfeln zusammenkommen und gemeinsam die Probleme in den Herkunftsländern angehen. Und sie müssen sich gemeinsam um die Aufnahme der aus Kriegen, Hungersnöten und schrecklichem Elend Geflüchteten kümmern.« Die Bilder haben aber noch eine andere Seite: Sie befördern auch den Gewöhnungseffekt. Mit der Verarbeitung zum stilisierten Dokumentarfilm ist zudem gerade der Wille, die Ereignisse in ihrer ganzen Drastik aufzuzeigen, ad absurdum geführt – hat man es nicht mit einem Kunstprodukt zu tun, das in diesem Februar einen bedeutenden Filmpreis gewinnt und im nächsten Jahr tut dies ein anderer Film? Der Kunstbetrieb befördert auch die Beliebigkeit, das Flüchtige und Serielle; morgen sehen wir uns etwas anderes an. Flucht als Kultur-Event. Und was mag es überhaupt für einen Jungen bedeuten, neben den Toten als Hauptfigur zu agieren und dann als Premieren-V.I.P. auf dem roten Teppich zu stehen? Dieses Dilemma, die Frage nach der Reproduzierbarkeit des Schrecklichen, das später dann im Nachtprogramm von Arte gesendet wird, umschifft Rosi, er debattiert es nicht. Und vielleicht ist es so am elegantesten: Er stellt die beiden Wirklichkeiten nebeneinander: Hier die Welt der Italiener, dort die der Geflüchteten und mittendrin der Arzt. Hätte es anders gehen können? Vielleicht ist für diese Art Fragen keine Zeit. »Seefeuer« soll im Kino leuchten, will ein brutaler, ein emotional krasser Film sein, der sein Publikum in ein Wechselbad der Gefühle taucht. Ist das Mittelmeer nicht auch ein solches Wechselbad? Szenen wie der beschriebenen folgen solche aus dem Alltag Samueles, der reichlich Talent zum Slapstick hat. Sei es beim Spaghetti-Schlürfen oder auch bei der Vorbereitung auf das zukünftige Leben. Talent zum Lügen hat er nicht unbedingt, wenn die Familie sich nach den Hausaufgaben erkundigt. Aber die Schule steht auch nicht ganz oben auf der Prioritätenliste; Samuele soll schließlich Fischer werden, wie alle auf Lampedusa. Da gibt es ganz andere Probleme: Er ist seekrank, für die Seefahrt ist er schlecht geeignet. 400.000 Menschen haben in den vergangenen Jahren die

»seefeuer«

Flüchtlingselend. Auf Lampedusa gelandet, Szene aus »Seefeuer«.

Überfahrt riskiert, man rechnet mit 15.000 Toten. Die Schiffe feuern Leuchtraketen ab, Seefeuer. Wieder und wieder sind am folgenden Morgen die geborgenen Reste der maroden Boote zu besichtigen. Der Arzt Bartolo rückt dabei immer wieder erklärend ins Zentrum. Er untersucht die Flüchtlinge, wenn sie vom Boot kommen, kümmert sich um die Kranken und die Schwangeren, erklärt die Vorgänge, kritisiert die europäische Politik, die von den Einwohnern Lampedusas, einem Eiland von 20 Quadratkilometern, gemanagt wird. Die Geflüchteten selbst kann Rosi nicht ins Bild setzen oder nur unzureichend, wenn nicht gleich als Verstorbene, dann als Wesen ohne Namen. Er habe zwar ein Jahr auf der Insel zugebracht, aber diese Menschen blieben immer nur ein bis zwei Tage, sagt der Regisseur zur Erklärung. Nur einmal gelingt eine längere Einstellung: Ein Afrikaner rappt seinen Reiseweg durch die Wüste über Libyen bis nach Europa – ein trostloser, harter und trockener Sound, eine gesungene Klage. Gesprochen wird mit ihm und den Männern um ihn herum nicht. Gleichwohl steckt hier die Essenz des Dramas, denn diese Szenen brechen mit der Routine, die man vorher im Film erlebt: Ankunft der Boote, Flüchtlinge im Bus, die Stationen der Erstaufnahme – ein geregelter Ablauf, der sich fast täglich wiederholt. Ein denkwürdiger, Film, einer, der noch nicht zu Ende ist. Mit seiner Mischung aus »skurrilen, traurigen, komischen und bedrückenden Szenen« vermittle der Film das ganze Ausmaß der Tragödie von Lampedusa, urteilte die Film-Jury von Amnesty International auf den diesjährigen Berliner Filmfestspielen und vergab den Amnesty-Filmpreis an »Seefeuer« (und zu gleichen Teilen an den iranischen Beitrag »Royahaye Dame Sobh«). Die Berlinale-Hauptjury um Meryl Streep sah das nicht viel anders und vergab den Goldenen Bären ebenfalls an Rosi – so erhielt seit 60 Jahren das erste Mal ein Dokumentarfilm diese Auszeichnung. Falsch liegt man damit nicht: Jetzt, im Sommer, ist der Film wieder erschreckend aktuell. Im vergangenen Jahr war es auf Lampedusa ruhiger geworden. Doch nach dem Abkommen mit der Türkei und der Schließung der Balkanroute, landen hier wieder vermehrt Flüchtlinge. Bilder wie sie dieser Film zeigt, werden wieder die Nachrichten beherrschen. »Seefeuer«. F/I 2015. Regie: Gianfranco Rosi.  Kinostart: 28. Juli 2016

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Foto: Romain Beurrier / REA / laif

Erschütterte Sicherheit

Nach dem Anschlag. Das wiedereröffnete Pariser Café »La Belle Equipe«. Bei dem islamistischen Terrorakt 2015 starben hier 20 Menschen.

»Es geht ums Ganze«: Die Schriftstellerin Gila Lustiger wendet sich dem islamistischen Terror in Frankreich zu. Von Maik Söhler

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er erschüttert wird, sucht erst einmal Sicherheit. So ergeht es auch Gila Lustiger, Schriftstellerin, Jüdin, Wahl-Pariserin. Die Terrornacht vom 13. November 2015 und die Anschläge auf das Satire-Magazin »Charlie Hebdo« und einen jüdischen Supermarkt in Paris haben Lustiger erschüttert, aus ihrer Suche nach Sicherheit resultiert ihr neues Buch »Erschütterung. Über den Terror«. Was Lustigers Buch zu etwas Besonderem macht, ist der Ansatz, sich nach der Erschütterung und der Suche nach Sicherheit sogleich wieder der Unsicherheit zuzuwenden. Sei es die Informationsfülle in den Tagen nach dem 13. November, sei es die Hinwendung zu den Terroropfern, sei es die Ideologie der Täter, sei es das marginalisierte Leben junger Migranten in den Banlieues französischer Metropolen, sei es der Aufstieg des rechtsextremen Front National, seien es die sexuellen Übergriffe in der Silvesternacht in Köln. Lustiger versucht, all das zu verarbeiten, und mit jedem Aspekt wächst die Erschütterung. Da sind die hausgemachten Probleme Frankreichs, die Banlieues und ihre Bewohner, die »Banlieuesards«, nicht selten ausgegrenzt im Land der »Liberté, Égalité, Fraternité«. Schon 2005 richtete sich ihre Gewalt gegen »alles, was entfernt an den Staat erinnerte, und sei es nur eine Bushaltestelle, der Staat aber, seine Institutionen und Repräsentanten, blieben unbehelligt«. Da

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ist der Terror gegen Künstler und einfache Bürger der Stadt Paris, den Lustiger als »radikale Integrationsverweigerung« charakterisiert. Und da sind die historischen Linien, die Frankreichs postkoloniales Erbe ebenso sichtbar machen wie die Gegenwart des Landes innerhalb einer globalisierten Welt. »Es geht jedes einzelne Mal ums Ganze«, betont Lustiger mit Blick auf die Gewalt und den Sexismus von Migranten in der Kölner Silvesternacht. Gemeint ist damit, jeder einzelne Fall ist einer zu viel, jeder Frau steht das Recht zu, unbehelligt zu bleiben. Und gemeint ist auch: Jeder Einzelfall gehört zum großen Ganzen, und das ist bei Lustiger die demokratische Gesellschaft. Mit Wissen, Aufklärung und Humor hat sie sich dem zu stellen, was den Terror des »Islamischen Staates« und Al-Qaidas genauso prägt wie das Weltbild des Front National: eine rückwärtsgewandte Ideologie, absolute Wahrheit, »charismatische, scheinbar unfehlbare Führer«, Traditions-, Helden- und Todeskult. Lustigers »Erschütterung« ist ein Buch, aus dem man viel lernen kann. Dass Erkenntnis in Zeiten der Unsicherheit besonders wichtig ist. Dass Bildung und Erziehung auch dort, wo sie – wie in so manchen Banlieues – mit allen Mitteln bekämpft werden, Eingang finden müssen. Dass die Zivilgesellschaft manchmal mehr erreichen kann als der Staat. Vor allem aber lernt man, dass es Schlimmeres gibt als Erschütterungen und Unsicherheit. Denn sie können auch die Basis für etwas Neues sein, das dem Terror unerschütterlich entgegentritt. Gila Lustiger: Erschütterung. Über den Terror. Berlin Verlag, Berlin 2016. 160 Seiten, 16 Euro.

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Kolonie der Unwürde

Menschenrechte und Unternehmen

Aktuelle Prozesse in Chile und auch Florian Gallenbergers im Frühjahr erschienener Spielfilm »Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück« holen ein Kapitel der von Deutschen begangenen Menschenrechtsverbrechen zurück in die öffentliche Debatte: Es geht um Morde, Folter, Verschwindenlassen von Gegnern, Kindesmissbrauch, Misshandlung und Zwangsarbeit in der von deutschen Evangelikalen in Chile gegründeten Colonia Dignidad, die bis heute als Villa Baviera fortbesteht. Wer über die vereinzelte Berichterstattung und den Film hinausgehen mag, dem sei das neu erschienene Buch »Colonia Dignidad« von Dieter Maier empfohlen. Maier war einst Mitarbeiter der deutschen Sektion von Amnesty International. Als Mitglied der Chile-Koordinationsgruppe von Amnesty machte er in den siebziger und achtziger Jahren öffentlich, dass die Sekte mit dem chilenischen Geheimdienst DINA paktierte und auf ihrem Siedlungsareal Gegner des Diktators Pinochet gefoltert und ermordet wurden. Maier recherchiert nun seit 40 Jahren zu diesem Thema und das merkt man seinem Buch auch an. Die Faktenbasis ist riesig, für Einsteiger in das Thema vielleicht sogar zu groß. Wer aber verstehen will, wie aus der Niederlassung des deutschen Laienpredigers Paul Schäfer »ein frühes Beispiel für eine Allianz zwischen staatlicher und privater Repression« werden konnte, der kommt an diesem Buch nicht vorbei.

Vom großen Ganzen zum Einzelfall und zurück: Die auf Menschenrechte spezialisierten Anwälte Wolfgang Kaleck und Miriam Saage-Maaß legen mit »Unternehmen vor Gericht« einen kleinen Band vor, der es in sich hat. Von der Entstehung des Kapitalismus bis zum »emanzipatorischen Potenzial des Rechts« werden Grundlagen von juristischen und politischen Kämpfen für Menschenrechte aufgezeigt. Längst haben sich multinationale Konzerne Abteilungen zugelegt, die unter Stichworten wie »Corporate Social Responsibility« auf den wachsenden öffentlichen Druck bei Verletzungen von Arbeitsschutzgesetzen, Schadensersatzklagen und Strafverfahren wegen gefährlicher bis tödlicher Arbeitsbedingungen reagieren – etwa nach Fabrikeinstürzen oder Bränden in Produktionsstätten in den Jahren 2012 und 2013 in Pakistan und Bangladesch, bei denen Hunderte starben. Gleichzeitig aber organisieren sich Arbeiter, Gewerkschafter und NGOs und suchen nach Wegen, um ihre politischen Kämpfe auch juristisch voranzubringen oder zumindest abzusichern. Kaleck und SaageMaaß skizzieren den komplexen juristischen Rahmen und betonen, »dass der Einsatz juristischer Mittel in mehr oder weniger strategischer Weise politischen und sozialen Kämpfen zur Durchsetzung universeller Menschenrechte einen zusätzlichen Impuls verleihen kann«.

Dieter Maier: Colonia Dignidad. Auf den Spuren eines deutschen Verbrechens in Chile. Schmetterling Verlag, Stuttgart 2016. 198 Seiten, 14,80 Euro.

Eine Erfolgsgeschichte Gute 250 Seiten für 20 Jahre Flucht- und Migrationsgeschichte: Der Journalist Christian Jakob legt mit »Die Bleibenden« ein erstaunliches Buch vor. Erstaunlich, weil er bereits jetzt das Hauptthema vieler politischer Debatten der Jahre 2015 und 2016, Flüchtlinge in Deutschland und Europa, in den Blick nimmt. Erstaunlicher noch, weil sein Blick zuerst auf den Flüchtlingen selbst ruht, auf ihren Wünschen und Nöten, und erst in zweiter Linie auf Staaten und Gesellschaften, die sich mit der Migration schwer tun. Am Ende schreibt Jakob: »Die Flüchtlinge und MigrantInnen haben dieses Land verändert, zum Besseren. Und egal, was jetzt geschieht: Dieser Wandel ist irreversibel. Er wird bleiben.« Zuvor nimmt uns der Autor mit auf eine Zeitreise, die von den Ausschreitungen gegen Ausländer in Hoyerswerda Anfang der neunziger Jahre bis zur europäischen Flüchtlingspolitik des Jahres 2015 reicht. Wir begegnen Flüchtlingen, die sich selbst organisieren, um Einfluss auf die Instanzen zu nehmen, die über Asylanträge, Duldungen und Aufenthaltsgenehmigungen entscheiden. Und wir begegnen einer Politik, die sich verändert – weil Flüchtlinge Druck machen, weil Medien anders berichten, weil die Wirtschaft Arbeitskräfte braucht und weil Migration nicht mehr, anders als viele Jahrzehnte zuvor, als »Unfall« betrachtet wird. Sondern als Normalität. Christian Jakob: Die Bleibenden. Wie Flüchtlinge Deutschland seit 20 Jahren verändern. Ch. Links Verlag, Berlin 2016. 256 Seiten, 18 Euro.

Wolfgang Kaleck, Miriam Saage-Maaß: Unternehmen vor Gericht. Globale Kämpfe für Menschenrechte. Wagenbach, Berlin 2016. 128 Seiten, 9,90 Euro.

Die Sprache der Anderen »Am Tag, als Saída zu uns kam, wusste ich sofort, dass ich sie immer gernhaben würde.« Es sind diese wohltuende kindliche Offenheit und die vorbehaltslose Zuneigung, die das Bilderbuch von Susana Gómez Redondo und Sonja Wimmer prägen. Leise, poetisch und doch eindringlich in seiner Bildsprache erzählt es von den Hürden, aber auch den schönen Seiten des Ankommens in einem fremden Land. Dabei rückt es die Wahrnehmung der namenlosen kindlichen Ich-Erzählerin in den Blick, die Saída in ihrer Heimat willkommen heißt. Das Mädchen spürt Saídas Traurigkeit, versucht diese aus ihrer Sprachlosigkeit zu befreien. Und tatsächlich ist die Überwindung der Sprachbarriere der Schlüssel für ein glückliches Miteinander – ein fruchtbares Geben und Nehmen: »So erfuhr ich dank Saída von anderen Ländern und anderen Sprachen.« Und so zeigt das poetische Bilderbuch nicht nur die beängstigende Situation, wenn man sich nicht verständigen kann, sondern auch den Reichtum, den die Auseinandersetzung mit einer fremden Kultur und Sprache mit sich bringt. Beide Mädchen lernen die Sprache der anderen: die eine Deutsch, die andere Arabisch. Und auch die Leser können eine erste Begegnung mit der fremden Sprache wagen – denn in den Bildern werden viele Dinge auf Deutsch und Arabisch (in Umschrift und in arabischer Schrift) benannt. Susana Gómez Redondo (Text), Sonja Wimmer  (Illustrationen): Am Tag, als Saída zu uns kam. Aus dem Spanischen von Catalina Rojas Hauser. Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2016. 32 Seiten, 15,90 Euro. Ab 5 Jahren.

Bücher: Maik Söhler, Marlene Zöhrer bücher

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Der Läufer und die Nazis

Sozialkritischer Latin-Hip-Hop

Ohio 1934: Das Leichtathletik-Ass Jesse Owens trainiert für die Olympischen Spiele in Berlin. Dort werden die Nationalsozialisten 1936 ein Vorzeigesportfest organisieren, das der große Propagandasieg für Adolf Hitler werden soll. Owens wird diese Pläne durchkreuzen: Als schwarzer Sportler gewinnt er vier Goldmedaillen und führt die Rassenideologie der Nazis ad absurdum. In Hitlerdeutschland zum Helden geworden, in den USA weiterhin Opfer von Rassismus: Das Bankett in der Heimat zu seinen Ehren betritt Owens durch den Dienstboteneingang. Man wünschte sich, seine Biografie würde weitererzählt: In den USA war das Interesse an seinen Siegen gering, er wurde Schauläufer und trat gegen Pferde an. Erst spät wurde Owens als Olympionike wahrgenommen. Der Spielfilm »Zeit für Legenden« erzählt die Ereignisse von damals als hochkomplexes Drama. Owens wird von dem Schauspieler Stephan James meisterhaft dargestellt, der dafür einen Oscar verdient hätte. Der Film insgesamt reicht daran allerdings nicht heran. Glänzend wiederum agiert Jeremy Irons als US-Sportpolitiker Avery Brundage. Dem Prototyp eines korrupten Funktionärs fällt bei den Verhandlungen mit den Nazis ein, dass er zufällig ein Bauunternehmen besitzt. Politik habe im Sport nichts zu suchen, wird er versichern. Und damit scheint Sport nichts anderes als korrupte Politik zu sein. Ein topaktueller Film.

Mit 39 Jahren zählt Ana Tijoux bereits zu den Veteraninnen des Latin-Hip-Hop. Ihre Eltern flüchteten einst vor der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet aus Chile nach Frankreich, dort wurde sie 1977 geboren. Durch sporadische Verwandtenbesuche lernte sie Chile kennen. 1993 zog sie dorthin, um sich der dortigen Rap-Szene anzuschließen. Mit der Rap-Band »Makiza« und dank der Zusammenarbeit mit der mexikanischen Sängerin Julieta Venegas wurde sie in Chile bereits zum Star, bevor sie vor zehn Jahren eine Solo-Karriere begann, die sie wieder zurück nach Frankreich führen sollte. »Vengo« ist der Nachfolger ihres Erfolgsalbums »1977«, dessen Titelsong sogar Eingang in die Kultserie »Breaking Bad« fand. Das Album ist nicht nur eine musikalische Wundertüte, die fette Hip-Hop-Beats und Dub-Reggae mit souligen Bläsersätzen, Cumbia-Melodien und Anden-Folklore verbindet. Statt auf Samples zu setzen, wurde alles live im Studio eingespielt. Nie hat sich eine Panflöte besser in einen rumpelnden Hip-Hop-Bass eingepasst. Ana Tijoux spart auch nicht an Sozialkritik, besingt Themen wie Feminismus (»Antipatriarca«), Postkolonialismus und den Nord-Süd-Konflikt, feiert den Behauptungswillen indigener Völker und schlägt im Song »Somos Sur« (»Wir sind der Süden«) mit dem palästinensischen Rapper Shadia Mansour einen Bogen von Ciudad Juarez bis Ramallah. Musikalisch mag sie von einem anderen Planeten und aus einer anderen Zeit stammen, aber politisch steht sie in einer Reihe mit anderen chilenischen Künstlern wie Violeta Parra und Víctor Jara.

»Zeit für Legenden«. Can/USA 2016. Regie: Stephen Hopkins, Darsteller: Stephen James, Jason Sudeikis.  Kinostart: 28. Juli 2016

Ana Tijoux: Vengo (Nacional Records / Flowfish)

Die Kunst des Widerstands Berlin 1940: Das nationalsozialistische Deutschland feiert den erfolgreichen Feldzug in Frankreich – aber Anna und Otto Quangel nicht: Das Ehepaar im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg trauert um den einzigen Sohn, der an der Front gefallen ist. Lange haben der Fabrikmeister und seine Frau an die Versprechungen Adolf Hitlers geglaubt. Nun gehen sie in den privaten Widerstand. Sie beginnen, Postkarten mit defätistischen Botschaften zu verfassen, legen sie in Treppenhäusern oder Hauseingängen aus. Das Regime setzt SS und Polizei in Gang. Es nützt jedoch nichts, zwei Jahre lang bleiben die Quangels unerkannt. Vinzent Perez versucht sich an der Verfilmung des berühmten Hans-Fallada-Romans »Jeder stirbt für sich allein«, der im Nachkriegsjahr 1946 entstand. Das Ergebnis ist jedoch nicht völlig überzeugend: Die Darsteller wirken zuweilen, als seien sie in der üblichen Kulisse auf Durchreise. Nichtsdestotrotz gelingt es ihnen, das bedrückende Klima der damaligen Zeit zu transportieren. Insbesondere, wenn die Gestapo die Nachbarschaft drangsaliert, Hass die Hausgemeinschaft spaltet und Menschen nur noch Selbstmord als Ausweg sehen, steht die Frage im Raum: Wann und wie muss der Einzelne handeln angesichts eines totalitären Regimes? Der Titel deutet es bereits an: Der Film ist ein Plädoyer für schwierige Entscheidungen. »Jeder stirbt für sich allein«. D/F/GB 2016.  Regie: Vincent Perez, Darsteller: Emma Thompson, Brendan Gleeson. Kinostart: 11. August 2016

Der Sound der ukrainischen Revolution Viele Bands verliehen den Protesten auf dem Maidan in Kiew im Winter 2013 den Hoffnungen der Ukrainer auf einen Wandel musikalischen Ausdruck. Viele dieser Hoffnungen mögen seitdem zerbrochen sein. Doch die Musikszene der Ukraine hat sich durch den Aufbruch von damals verändert. Yuriy Ghurzhy ist Kopf der Berliner Balkan-Ska-Band »Rotfront« und DJ-Partner des russisch-deutschen Schriftstellers Wladimir Kaminer, mit dem er viele Jahre lang auf den »Russendisco«-Partys aufgelegt und bereits mehrere CD-Compilations herausgegeben hat. Ghurzhy stammt aus der Ukraine und kam 1995 mit seiner Familie nach Berlin. Im Dezember 2013 kehrte er in seine Heimatstadt Charkiw zurück, traf alte Freunde und trat selbst auf dem Maidan von Charkiw auf. Auf seinem Sampler »Borsh Division« huldigt er dem »Sound der ukrainischen Revolution«: melodiöser Ethnopop mit polyphonem Gesang, dörflicher Folk-Punk, Klezmer-Reggae, Karpaten-Groove und spaciger Kosaken-Rock. Die wichtigsten Bands der Ukraine sind vertreten. Mit Ausnahme von Titeln wie »Maidan« drehen sich zwar die wenigsten Stücke um politische Themen. Aber allein das bunte Nebeneinander der Sprachen, Stile und Stimmungen ist Botschaft genug: ein Ausdruck der multikulturellen Vielfalt des Landes. Sampler: Borsh Division. Future Sound of Ukraine. Compiled by Yuriy Ghurzy (Trikont)

Film: Jürgen Kiontke | Musik: Daniel Bax 62

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Lieder einer versunkenen Welt Das Repertoire des jüdischen Musik-Labels »Semer« aus Berlin wurde in der Reichspogromnacht 1938 zerstört. Nun ist es neu aufgenommen worden. Von Daniel Bax

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n der Nacht des 9. November 1938 griff der organisierte Mob nicht nur zahlreiche Synagogen an und brannte sie nieder. Auch andere Zentren jüdischen Lebens in Deutschland wurden angegriffen, darunter die »Hebräische Buchhandlung« im Berliner Scheunenviertel. Deren Besitzer Hirsch Lewin betrieb den Musikverlag »Semer«, der Aufnahmen jüdischer Musiker herausgab. In seinem Geschäft verkaufte Lewin Gegenstände des religiösen Alltags wie Gebetsschals und Kerzen, aber auch Geschichts- und Kinderbücher sowie Grammophonplatten. In der Pogromnacht verbrannten die Nazi-Schergen vor dem Laden unzählige Bücher, Schallplatten und Möbel auf einem Scheiterhaufen mitten auf der Straße. 4.500 Schallplatten und 250 Matrizen wurden dabei zerstört. Hirsch Lewin war im Ersten Weltkrieg als Zwangsarbeiter aus Vilnius verschleppt worden, um in einer Lokomotivfabrik zu arbeiten, und anschließend in Berlin geblieben. Erst 1930 hatte er sich mit seinem Buchladen selbstständig gemacht, 1932 gründete er das Label »Semer« (Hebräisch für »Gesang«). Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten verboten diese jüdischen Musikern, mit nicht-jüdischen Musikern zu spielen und aufzutreten. Bei »Semer« fanden sie Aufnahme, im doppelten Wortsinne, das Programm der Veröffentlichungen reichte von jiddischen Schlagern und Volksliedern über Opernarien bis hin zu kantoraler Musik. Gesungen wurde auf Jiddisch, Hebräisch, Deutsch, Russisch und Italienisch.

film & musik

1939 wurde Hirsch Lewin verhaftet und im Lager Sachsenhausen bei Oranienburg inhaftiert. Nach einem halben Jahr wurde er unter der Bedingung entlassen, das Land sofort zu verlassen. Über Umwege gelangte er nach Palästina, wo sich die ganze Familie 1944 wiedertraf – sie gehörte zu den wenigen, die vollzählig den Holocaust überlebte. Mit Hilfe seines Sohnes Zeev stieg Hirsch Levin in Israel wieder ins Musikgeschäft ein, nach seinem Tod 1958 führte jener die Geschäfte weiter. 2012 beauftragte das Jüdische Museum in Berlin den Klezmer-Experten und Musiker Alan Bern damit, das »Semer«-Repertoire neu zu interpretieren. Zuvor hatte es der Musikethnologe Rainer E. Lots geschafft, den gesamten Katalog aus allen Ecken der Erde zusammenzutragen: Viele Originalaufnahmen wurden nur gerettet, weil Auswanderer sie im Koffer ins Exil mitgenommen hatten. Mit namhaften Künstlern wie Lorin Sklamberg (The Klezmatics), Daniel Kahn und Paul Brody aus Berlin stellte Allen Bern ein AllStar-Ensemble zusammen, das den verschollenen Weisen neues Leben einhaucht. In drei Exklusiv-Konzerten im Studio des Berliner Maxim Gorki Theaters wurden sie eingespielt: Opernarien und jiddische Chansons, Cabaret-Schlager, russische Volksweisen und liturgische Gesänge. Es sind Lieder von Liebe, Affären und Eifersucht, von Krieg, Religion und Sozialismus, Zeugnisse einer versunkenen Welt. So wie der populäre jiddische Schlager »Lebka fährt nach Amerika«, der von einem Familienvater erzählt, der Frau und Kinder in Europa sitzen lässt, in die Neue Welt auswandert und dort wieder heiratet. Semer Ensemble: Rescued Treasure (Piranha / Indigo / K7)

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Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt oder man lässt sie »verschwinden«. Amnesty internAtionAl veröffentlicht regelmäßig an dieser Stelle drei Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden. Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie bitte eine digitale Kopie an: info@amnesty.de

Amnesty internAtionAl Zinnowitzer Straße 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 Fax: 030 - 42 02 48 - 488 E-Mail: info@amnesty.de www.amnesty.de Spendenkonto Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE 233 702050 0000 8090100 BIC: BFSWDE33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00)

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Foto: Amnesty

briefe gegen dAs vergessen

irAn nArges mohAmmAdi Narges Mohammadi ist eine bedeutende Menschenrechtsverteidigerin und stellvertretende Geschäftsführerin des iranischen Menschenrechtszentrums. Im Mai 2016 verurteilte ein Revolutionsgericht in Teheran sie im Zusammenhang mit ihrer friedlichen Arbeit zu insgesamt 16 Jahren Haft: Wegen »Gründung einer verbotenen Gruppierung« erhielt sie eine zehnjährige Haftstrafe. Der Vorwurf bezog sich auf ihre Verbindungen zu »Legam«, einer Gruppe, die sich gegen die Todesstrafe im Iran einsetzt. Wegen »Versammlung und Verschwörung gegen die nationale Sicherheit« wurde sie zu fünf Jahren und wegen »Verbreitung von Propaganda gegen das System« zu einem Jahr Haft verurteilt. Sollte das Urteil im Berufungsverfahren bestätigt werden, muss Narges Mohammadi mindestens zehn Jahre Gefängnis verbüßen – das Strafmaß, das wegen »Gründung einer verbotenen Gruppierung« gegen sie verhängt wurde. Das iranische Strafgesetzbuch sieht seit 2013 vor, dass bei einem Schuldspruch in mehreren Anklagepunkten lediglich die längste Einzelstrafe verbüßt werden muss. Narges Mohammadi sitzt bereits im Gefängnis – wegen einer sechsjährigen Haftstrafe, zu der sie in einem anderen Fall verurteilt wurde. Die Menschenrechtsverteidigerin ist schwerkrank. Sie leidet an einem Blutgerinnsel in der Lunge und an einer neurologischen Erkrankung, die zu Krampfanfällen und Lähmungserscheinungen führt. Sie benötigt permanente fachärztliche Behandlung, die im Gefängnis nicht möglich ist. Die Behörden verweigern Narges Mohammadi das Recht auf Kontakt zu ihren Kindern. Ihre neunjährigen Zwillinge mussten ins Ausland zu ihrem Vater ziehen, da sich im Iran niemand um sie kümmern konnte. Narges Mohammadi durfte seit Mitte 2015 nur ein einziges Telefongespräch mit ihren Kindern führen. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an die Oberste Justizautorität, Ayatollah Sadegh Larijani, in denen Sie ihn darauf hinweisen, dass Narges Mohammadi eine gewaltlose politische Gefangene ist, die sich nur aufgrund ihrer friedlichen Menschenrechtsarbeit in Haft befindet. Fordern Sie die Aufhebung des Urteils und Strafmaßes sowie ihre sofortige und bedingungslose Freilassung. Bitten Sie ihn, sicherzustellen, dass Narges Mohammadi sofort und permanent Zugang zu fachärztlicher Behandlung außerhalb des Gefängnisses erhält und vor jeglicher Form der Folter oder anderweitiger Misshandlung geschützt ist. Bitten Sie ihn zudem darum, dafür zu sorgen, dass sie regelmäßigen Kontakt zu einem Rechtsbeistand ihrer Wahl und zu ihrer Familie erhält. Schreiben Sie in gutem Persisch, Arabisch, Englisch oder auf Deutsch an: Ayatollah Sadegh Larijani (Anrede: Your Excellency / Exzellenz) Senden Sie Ihre Briefe bitte über die Botschaft der Islamischen Republik Iran S. E. Herrn Ali Majedi Podbielskiallee 65–67, 14195 Berlin (Standardbrief bis 20 g: 0,70 €)

Amnesty journAl | 08-09/2016


Der mauretanische Staatsbürger Mohamedou Ould Slahi wird seit dem 5. August 2002 ohne Anklage oder Gerichtsverfahren im US-Gefangenenlager Guantánamo festgehalten. Nach seiner Festnahme 2001 in Mauretanien wurde er rechtswidrig nach Jordanien überstellt. Die US-Regierung ist der Ansicht, dass er Al-Qaida angehört, obwohl er erklärt hat, bereits 1992 alle Verbindungen zu der Gruppe beendet zu haben. Mohamedou Ould Slahi gibt an, in Jordanien und auf dem US-Stützpunkt Bagram in Afghanistan sowie in Guantánamo und während seiner Transporte gefoltert und anderweitig misshandelt worden zu sein. 2003 wurde er in Guantánamo einem 90-tägigen »besonderen Verhörplan« unterzogen. Seine Zellentüren wurden so umgebaut, dass kein Licht hindurchdrang, und bis Juli 2004 durfte er sich tagsüber nicht im Freien aufhalten. Er wurde einer simulierten Überstellung unterzogen, indem das Wachpersonal ihn dreieinhalb Stunden lang auf einem Boot festhielt und ihm Schläge versetzte. Ebenfalls 2003 wurde er 70 Tage in Folge Schlafentzug ausgesetzt. Man bedrohte ihn und seine Familie, setzte ihn kalten Temperaturen aus, begoss ihn mit kaltem Wasser, griff ihn tätlich an und entzog ihm die Nahrung. Im April 2010 ordnete ein US-Bundesrichter die Freilassung von Mohamedou Ould Slahi an. Die US-Regierung legte Rechtsmittel gegen die Entscheidung ein und im November 2010 kippte das US-Berufungsgericht das Urteil und verwies den Fall zurück an das Bezirksgericht. Mehr als fünf Jahre später befindet sich Mohamedou Ould Slahi nach wie vor ohne Anklage oder Gerichtsverfahren in Haft. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Rechtsberater des Verteidigungsministeriums, in denen Sie Ihre Sorge über die mutmaßliche Folterung von Mohamedou Ould Slahi ausdrücken. Bitten Sie darum, dass Mohamedou Ould Slahi umgehend freigelassen wird, wenn er nicht angeklagt und vor ein unabhängiges Zivilgericht gestellt wird. Betonen Sie auch, dass alle Guantánamo-Häftlinge, die angeklagt werden, vor Zivilgerichte gestellt werden und ein Verfahren erhalten sollten, das internationalen Standards entspricht und in dem nicht auf die Todesstrafe zurückgegriffen wird. Fordern Sie die umgehende und bedingungslose Freilassung aller Guantánamo-Häftlinge, gegen die kein Strafverfahren eingeleitet wird. Schreiben Sie in gutem Englisch oder auf Deutsch an: Stephen W. Preston Office of the General Counsel Department of Defense, 1400 Defense Pentagon Washington DC, 20301–1400, USA (Anrede: Dear General Counsel / Sehr geehrter Herr Preston) E-Mail: über die Website: https://kb.defense.gov/ (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,90 €)

Foto: privat

Foto: ICRC

vereinigte stAAten von AmerikA mohAmedou ould slAhi

türkei Ahmet yildiZ Am 15. Juli 2008 verließ Ahmet Yıldız seine Wohnung, um ein Eis zu kaufen. Kurz darauf hörte sein Lebenspartner Ibrahim Can Schüsse. Als er hinunterlief, sah er, dass auf Ahmet Yıldız geschossen worden war. Die Tötung wird weithin als »Ehrenmord« betrachtet. Wie bei anderen mutmaßlichen Ehrenmorden holte die Familie von Ahmet Yıldız den Leichnam nicht zur Bestattung ab. Nach drei Monaten wurde schließlich ein Haftbefehl gegen den einzigen Verdächtigen, den Vater des Ermordeten, ausgestellt. Bislang ist er jedoch nicht verhaftet worden. Der Fall zeigt, dass die türkischen Behörden nicht ausreichend gegen Gewalt gegen Lesben, Schwule Bisexuelle, Transgeschlechtliche und Intersexuelle (LGBTI) vorgehen. Ibrahim Can teilte Amnesty International mit, dass Ahmet Yıldız in den Monaten vor seiner Ermordung von seiner Familie und insbesondere vom Vater bedroht worden war. Im Oktober 2007 erstattete Ahmet Yıldız Anzeige gegen seine Familie und bat die Staatsanwaltschaft im Istanbuler Stadtteil Üsküdar um Schutz. Statt etwas zu unternehmen, gab die Staatsanwaltschaft die Anzeige an einen benachbarten Bezirk weiter. Nach dem Mord stellte sich heraus, dass die Anzeige gar nicht bearbeitet worden war. Im türkischen Recht gibt es noch immer kein explizites Verbot von Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung oder der Geschlechtsidentität, obwohl sich Menschenrechtsgruppen schon lange dafür einsetzen. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den türkischen Justizminister und legen sie den Fall von Ahmet Yıldız dar. Fordern Sie ihn auf, den einzigen Verdächtigen endlich in einem fairen Verfahren vor Gericht zu stellen. Verlangen Sie eine Untersuchung bezüglich der unterlassenen Schutzmaßnahmen für Ahmet Yıldız und dringen Sie darauf, dass Gewaltverbrechen mit homofeindlichen oder transfeindlichen Tatmotiven wirksam bekämpft werden. Schreiben Sie in gutem Türkisch oder auf Deutsch an: Bekir Bozdağ Ministry of Justice Adalet Bakanlığı 06659 Ankara, Türkei (Anrede: Dear Minister / Sehr geehrter Herr Justizminister) Fax: 00 90 - 312 417 71 13 E-Mail: ozelkalem@adalet.gov.tr Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Türkei S. E. Herrn Hüseyin Avni Karslioğlu Tiergartenstraße 19–21, 10785 Berlin Fax: 030 - 27 59 09 15 E-Mail: botschaft.berlin@mfa.gov.tr

Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika S. E. Herrn John Bonnell Emerson Pariser Platz 2, 10117 Berlin Fax: 030 - 83 05 10 50

briefe gegen dAs vergessen

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Fotos: Henning Schacht / Amnesty

»Trotz aller Unterschiede gleich.« Aktivistinnen und Aktivisten von Amnesty International auf dem Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg.

»dAgegenhAlten« »Hand in Hand gegen Rassismus« – unter diesem Motto gingen am 18. und 19. Juni bundesweit mehr als 40.000 Menschen auf die Straße. Auch in Berlin kamen Tausende zusammen und machten sich für Vielfalt und Menschenrechte stark. Das bunte Berlin ist grün, rot, weiß und gelb: In diesen Farben tanzen die Ballons über den Köpfen der vielen Menschen, die am 19. Juni auf den Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg gekommen sind, um ein Zeichen für Toleranz und Vielfalt zu setzen. Es ist kurz nach 14.30 Uhr. Nach und nach schlendern immer mehr Menschen auf den Platz. Familien mit Kinderwagen und Hund, Punks, aufgeregt kichernde Teenager, Männer in Karohemd und Sandalen. Sie alle wollen heute eine fast sieben Kilometer lange Menschenkette durch die Stadt bilden – vom Roten Rathaus bis zur Flüchtlingsunterkunft in der Zeughofstraße, um so gegen Rassismus und Hass zu demonstrieren. Dazu aufgerufen hatten Amnesty International und 28 weitere Organisationen und Verbände. »Es ist wichtig, dass man so ein Signal setzt«, sagt Barbara, mit weißem Pagenkopf und Blümchenbluse, »aber man sollte auch sonst etwas tun für andere Menschen«. So wie die 77-Jährige selbst, die seit Jahren in einem Hospiz engagiert ist. Von der Menschenkette hat ihre Pastorin in der Kirche erzählt. Von der Bühne dringt Musik herüber. »Ist das nicht die Sängerin von Rosenstolz?«, fragt eine junge Frau, die auf einer der Bänke sitzt. Natalie ist gerade angekommen und hat sich erstmal an den verschiedenen Ständen mit Infomaterial eingedeckt. »Ich habe von der Aktion bei Facebook erfahren und fand die Idee echt cool! Es ist sehr wichtig zu zeigen, dass wir Menschen trotz

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aller Unterschiede gleich sind und gleich an Rechten«, sagt sie. Sie wünscht sich vor allem ein gutes Medienecho der Aktion, »denn von Pegida und sowas wird ja immer viel zu ausführlich berichtet. Da muss man doch auch mal die Gegenseite zeigen!«. Am Ende des Tages wird sich die Gegenseite sehr deutlich gezeigt haben: Bundesweit beteiligten sich mehr als 40.000 Menschen an der Aktion, in Berlin waren es mehr als 9.000. Das wird auch auf dem Oranienplatz immer spürbarer: Es ist kaum mehr ein Durchkommen zwischen den Leuten, die jetzt eng nebeneinanderstehen. Havva, die mit ihrer Mutter im Rollstuhl da ist, schaut dem Treiben um sich herum lächelnd zu. »Es ist aufregend für uns beide, hier zu sein«, sagt Havva. »Ich habe die Flyer überall bei uns in Neukölln gesehen und zu meiner Mama gesagt ›Komm, da müssen wir hin!‹.« Havva und ihre Mutter kommen ursprünglich aus der Türkei, leben aber schon jahrzehntelang in Deutschland. »Alle haben einen Platz in diesem Land und wir müssen laut dagegenhalten, wenn jemand etwas anderes sagt.« Laut wird es auch auf dem Oranienplatz, als von der Bühne die Ansage kommt, die Kette jetzt in zwei Richtungen aufzufädeln. »Es geht los!«, ruft Alexander und beeilt sich, Anschluss an seine Freunde zu finden. Der 20-Jährige war noch nie zuvor bei einer Demo, ist aber begeistert und will in Zukunft öfter bei solchen Aktionen dabei sein. »Vielfalt zu sehen ist schon toll, aber am besten ist es, selbst daran mitzuwirken und richtig mitanzufassen«, sagt er und nimmt lachend die Hand seines Nebenmannes, als sie an der Bühne vorbei vom Platz laufen. »Ich bin jetzt öfter am Start gegen Rassismus!« Vera Dudik

Amnesty journAl | 08-09/2016


Es war ein ungewöhnlicher Schulunterricht: Mieze, die Sängerin der Band MIA, und der syrische Pianist Aeham Ahmad waren am 21. Juli 2016 zu Gast im Georg-Büchner-Gymnasium in Düsseldorf, um einen Amnesty-Workshop über Menschenrechte und Musik abzuhalten. Zusammen mit den Schülerinnen und Schülern des Philosophiekurses der 11. Klasse gingen sie den Fragen nach, was Menschenrechte bedeuten und was Musik mit Mut und Engagement zu tun hat. Besonders die Geschichte des Pianisten Aeham Ahmad bewegte die Schüler. Der Palästinenser ist im syrischen Flüchtlingslager Jarmuk in Damaskus aufgewachsen. In den zerbombten Straßen Syriens spielte er 2015 gegen den Schrecken des Bürgerkrieges an. Videos seiner Auftritte machten ihn weltweit bekannt. Als ein Kämpfer des »Islamischen Staats« sein Klavier in Brand steckte, floh er aus Syrien – seine Frau und seine beiden Söhne musste er zurücklassen. Heute lebt der 28-Jährige in Wiesbaden. Aeham Ahmad berichtete den Schülerinnen und Schülern auch davon, dass ihn sein Vater früh dazu angehalten habe, eine solide musikalische Ausbildung zu erlangen, um als staatenloser Palästinenser seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können.

Foto: Amnesty

von dAmAskus nAch düsseldorf

Selfie zum Abschied. Mieze und Ahmad (vorne) mit der 11. Klasse.

Aktiv für Amnesty

Durch ganz unterschiedliche Veranstaltungen geben Amnesty-Mitglieder den Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme. Diese Aktionen vor Ort sind ein unentbehrlicher Teil der Arbeit von Amnesty International. Mehr Informationen darüber finden Sie auf http://blog.amnesty.de und www.amnesty.de/kalender

Schon vor dem bundesweiten Start der neuen Amnesty-Kampagne gegen rassistische Gewalt haben Mitglieder und Gruppen in Ostdeutschland mit einer gemeinsamen Aktion am 4. Juni 2016 in Magdeburg ein Zeichen gegen Rassismus gesetzt. Dafür hatten sie zuvor rund 1.000 Fotos von Menschen in der Region gesammelt, die das antirassistische Anliegen von Amnesty teilen. Die Fotos wurden auf große Landkarten der ostdeutschen Bundesländer gedruckt, um deutlich zu machen, dass sich auch hier zahlreiche Menschen gegen Hass, Rassismus und Gewalt einsetzen. Das Ganze wurde von kurzen Ansprachen von Mitgliedern begleitet, die auf die spezifische Situation in ihren Bundesländern eingingen.

Foto: Amnesty

gemeinsAm gegen rAssismus

Gesichter zeigen. Fotoaktion der ostdeutschen Amnesty-Gruppen in Magdeburg.

imPressum Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V.,  Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin,  Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 E-Mail: info@amnesty.de Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redak tion Amnesty Journal,  Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin,  E-Mail: journal@amnesty.de  Adressänderungen bitte an:  info@amnesty.de Redaktion: Markus N. Beeko, Jessica Böhner, Andreas Koob, Anton Landgraf (V.i.S.d.P.), Ramin M. Nowzad,  Katrin Schwarz

Aktiv für Amnesty

Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit   lbrecht, Daniel Bax, Markus  Bickel, A Selmin  Çalışkan, Christian v. Ditfurth, Vera Dudik, Bernhard Hertlein, Jürgen Kiontke, Michaela Maria Müller, Robert  Misik, Pascal Nufer, Lena Reich, Wera Reusch, Uta von Schrenk, Maik Söhler, Keno Verseck, Wolf-Dieter Vogel, Veronika Wulf, Marlene Zöhrer Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck: hofmann infocom,  Nürnberg Vertrieb: Carnivora Verlagsservice,   erlin B

Bankverbindung: Amnesty International, Bank für Sozialwirtschaft  IBAN: DE 233 702050 0000 8090100, BIC: BFS WDE 33XXX  (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00) Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und  erscheint sechs Mal im Jahr.  Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.

und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, für die  Verbreitung im Internet oder für Vervielfältigungen auf CD-Rom.

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