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Das Magazin fÜr Die Menschenrechte
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aMnesty journal
besser schenKen Der schutz Der Menschenrechte fängt beiM einKauf an
briefMarathon Dein brief kann leben retten!
verborgene liebe sexuelle Minderheiten im Kosovo
gezeichnete geschichten immer öfter greifen comics politische themen auf
01
2014 DezeMber/ januar
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Illustration: Jens Bonnke
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Anton Landgraf ist Redakteur des Amnesty Journals
Foto: Mark Bollhorst / Amnesty
eDitorial
eine Kleine iDee Kann … … manchmal eine große Wirkung nach sich ziehen. So wie im Fall der polnischen Amnesty-Aktivisten, die vor 13 Jahren eine ungewöhnliche Aktion starteten: Sie schrieben 24 Stunden lang Briefe für Menschen in Gefahr. Die Idee wurde bald von anderen Amnesty-Gruppen in Polen übernommen. Mittlerweile ist aus der lokalen Initiative eine globale Aktion geworden: Im vergangenen Jahr wurden rund um den Tag der Menschenrechte am 10. Dezember in insgesamt 80 Ländern fast zwei Millionen Appellschreiben verschickt. Der große internationale Einsatz zeigt oft unmittelbar Wirkung: Menschen werden aus dem Gefängnis entlassen oder erhalten Hafterleichterungen. Genauso wichtig ist es, den Opfern von Menschenrechtsverletzungen ein Zeichen der Solidarität zu senden. Auch in diesem Jahr ruft Amnesty International deshalb dazu auf, sich am Briefmarathon zu beteiligen (siehe Seite 48). Viel Zeit, um einen Appell zu unterschreiben oder per Mail auf unserer Journal-App zu versenden, braucht es nicht. In der hektischen Vorweihnachtszeit sind schließlich viele damit beschäftigt, passende Geschenke zu finden. Wir wollen Ihnen natürlich nicht die Freude am Schenken verderben. Doch viele Produkte, mit denen wir anderen eine Freude machen, werden unter fragwürdigen Bedingungen hergestellt. Wer Menschenrechte schützen will, kann damit beim Einkauf beginnen (siehe Seite 21). In den vergangenen Monaten haben wir ausführlich über die neuen Protestbewegungen berichtet, die in vielen Teilen der Welt entstanden sind. Wie in der Türkei, wo gegen die autoritären Maßnahmen der Regierung Erdoğan demonstriert wurde, oder in Brasilien, wo soziale Missstände großen Unmut in der Bevölkerung provozierten. Wir werden auch im kommenden Jahr diese Entwicklungen intensiv begleiten. Das renommierte Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe zeigt ab Mitte Dezember eine Ausstellung über globale Protest- und Bürgerrechtsbewegungen. Dabei geht es unter anderem um deren mediale Darstellung, wobei auch das Amnesty Journal als Exponat zu sehen ist. Ein Besuch der Ausstellung lohnt sich. Die Redaktion wünscht Ihnen schöne Feiertage und einen guten Rutsch ins neue Jahr!
eDitorial
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Titelillustration: Jens Bonnke
theMa 21 Spielregeln für die »Global Player« Von Mathias John
22 Kinderschokolade Kakao wird überwiegend mit Hilfe von Kinderarbeit gewonnen. Von Tanja Dückers
25 Brot und Spiele Über soziale Mindeststandards in der Spielzeugindustrie. Von Hannes Koch
rubriKen 06 Weltkarte 07 Erfolge 10 Panorama 12 Nachrichten 13 Porträt: Malala Yousafzai 15 Interview: Jesús Zapata und Arley Usuga 17 Kolumne: Michael Bochenek 77 Rezensionen: Bücher 78 Rezensionen: Film & Musik 80 Aktiv für Amnesty 81 Selmin Çalışkan über zugeklebte Münder
26 Die Macht des Portemonnaies Unternehmen sind an Menschenrechtsverletzungen beteiligt. Von Maja Liebing
29 In der Nähstube der Welt Bangladesch zahlt den niedrigsten Mindestlohn der Welt. Von Bernhard Hertlein
30 Ende des Goldrauschs In Honduras haben die Goldminen Krankheit und Umweltzerstörung gebracht. Von Kathrin Zeiske
33 Bei Anruf Tod In der Elektronikindustrie werden Arbeitsrechte und Umweltschutz missachtet. Von Sven Hansen
34 Das Gold der Armen Elektroschrott aus Europa wird oft illegal in Entwicklungsländer verschifft. Von Kurt Stukenberg
35 Fairschenken Viele Anbieter bemühen sich um faire Produktionsbedingungen. Von Annette Jensen
38 »Für die Unternehmen ist die Klage ein Schock« Fotos und Zeichnungen oben: Jens Bonnke | Hannes Jung | Amnesty | Mana Neyestani
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Ein Gespräch mit Miriam Saage-Maaß (ECCHR).
aMnesty journal | 01/2014
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berichte
Kultur
42 Verborgene Liebe
66 Der Comic meint es ernst
Das Kosovo hat zwar eine fortschrittliche Verfassung, in der Praxis nutzt dies Schwulen und Lesben aber wenig. Von Dirk Auer
48 Dein Brief kann Leben retten Rund um den Internationalen Tag der Menschenrechte am 10. Dezember ruft Amnesty dazu auf, sich beim weltweiten Briefmarathon für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen einzusetzen. Von Daniel Kreuz
56 Der Kreml auf allen Kanälen Die russische Regierung hat das Fernsehen zu einem ihrer wichtigsten Machtmittel geformt. Kritische Töne sind rar, die Sender liefern fast ausschließlich kremlfreundliche Kommentare. Von Ulrike Gruska
59 »Keine Gnade!« Die Olympischen Winterspiele in Sotschi kommen nicht nur die russische Staatskasse teuer zu stehen. Von Ramin M. Nowzad
60 »Gebt mir Carlos zurück – oder nehmt mich auch!« Als junge Frau kämpfte Ana Lucía Cuevas in Guatemala gegen die Schreckensherrschaft des Militärs. In ihrem Dokumentarfilm »The Echo of Pain of the Many« erzählt sie nun von der Tragödie ihrer Familie. Von Ramin M. Nowzad
62 Bloggen für die Bauern Der Blogger Nguyen Van Hai aus Vietnam hat den »International Press Freedom Award« erhalten. Von Hanne Schneider
inhalt
Auffallend viele Graphic Novels, die in den vergangenen Jahren erschienen sind, behandeln politische Themen. Von Wera Reusch
68 Frauen mischen mit Knapp drei Jahre Aufstand, knapp drei Jahre Fortschritte und Rückschläge in der arabischen Welt: Der Journalist Karim El-Gawhary porträtiert sehr unterschiedliche Frauen. Von Maik Söhler
70 Wut und Schmerz Der kongolesische Tänzer und Choreograf Faustin Linyekula zählt zu den bekanntesten Künstlern Afrikas. Von Georg Kasch
72 »Zur Kulturpolitik gehört der Respekt vor den indigenen Völkern« Interview mit Susana Baca, der »Stimme des schwarzen Peru«.
74 Bitte recht zornig! Der Saarbrücker Fotograf Axl Klein hat 55 Prominente darum gebeten, zornig in seine Kamera zu blicken. Im Interview erklärt er, warum.
76 Ein Humanist auf Reisen Die politischen Erinnerungen von Gerd Ruge sind erschienen. Von Maik Söhler
79 Rock aus der Wüste Die Tuareg-Band Tamikrest aus Mali lebt heute im algerischen Exil – und spielt weiterhin gegen Islamisten und die Misere der Wüstennomaden an. Von Daniel Bax
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guateMala
europäische union
tÜrKei
Die Opfer müssen weiter auf Gerechtigkeit warten: Der ehemalige Diktator Guatemalas, Efraín Ríos Montt, wird sich frühestens im Januar 2015 erneut wegen Völkermordes vor Gericht verantworten müssen, wie Anfang November bekannt wurde. Ein guatemaltekisches Gericht hatte den 87-Jährigen im Mai 2013 zu 80 Jahren Haft verurteilt, wenige Tage später hob das Verfassungsgericht des Landes das Urteil jedoch wegen Verfahrensfehlern wieder auf. Ríos Montt war im März 1982 durch einen Putsch an die Macht gekommen und im August 1983 gestürzt worden. Er soll für den Mord an Tausenden wehrloser MayaBauern verantwortlich sein. Amnesty kritisierte die Entscheidung der Behörden, den neuerlichen Prozess gegen Ríos Montt zu verzögern.
Rund 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs klagen Europas Juden über wachsenden Antisemitismus. Dies dokumentiert eine Studie der EU-Agentur für Grundrechte in Wien. Fast jeder zweite Befragte gab an, er befürchte, innerhalb der nächsten zwölf Monate Opfer einer antisemitischen Pöbelei zu werden. Jeder Dritte äußerte die Sorge, körperlich attackiert zu werden. Die Umfrage wurde in acht EULändern durchgeführt: Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Lettland, Schweden und Ungarn. In diesen Staaten leben rund 90 Prozent aller Juden in der EU.
Ein Witz drohte ihn ins Gefängnis zu bringen: Der türkische Krimiautor Emrah Serbes stand vor Gericht, weil er sich über Premierminister Recep Tayyip Erdoğan lustig gemacht hatte. Kurz nach Prozessbeginn wurde die Anklage von der Staatsanwaltschaft fallengelassen. Serbes hatte in einer Fernsehshow den mittleren Namen des Premiers in »Tazyik« abgewandelt, was übersetzt so viel wie »Druck« bedeutet. Der Schriftsteller spielte damit auf die Wasserwerfer an, die die türkische Polizei während der Proteste am 1. Mai 2013 gegen friedliche Demonstranten eingesetzt hatte. Amnesty wirft der türkischen Regierung seit langem massive Einschränkungen der Presse- und Meinungsfreiheit vor.
Ausgewählte Ereignisse vom 11. September bis 5. November 2013
banglaDesch chile Auch vier Jahrzehnte nach dem Militärputsch vom 11. September 1973 warten Tausende Überlebende des Pinochet-Regimes noch immer auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung. Zwischen 1973 und 1990 wurden in Chile Zehntausende Menschen Opfer von Folter, Entführung und Mord. Ein Amnestiegesetz, das 1978 erlassen wurde, schützt nach wie vor all jene vor strafrechtlicher Verfolgung, die damals Menschenrechtsverletzungen begangen haben. Amnesty hat die chilenischen Behörden aufgefordert, das Gesetz aufzuheben.
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Katar Ein Gedicht brachte ihn ins Gefängnis. Nun hat das oberste Gericht des arabischen Emirats Katar die 15-jährige Haftstrafe gegen Mohammed al-Adschami bestätigt. Der Dichter war im November 2011 festgenommen worden, weil er in einem seiner Gedichte die Hoffnung geäußert hatte, der Arabische Frühling möge auch seine Heimat erfassen. Das Wüstenemirat Katar, das im Jahr 2022 die Fußball-WM austragen wird, ist eine absolute Monarchie. Amnesty International betrachtet Mohammed al-Adschami als gewaltlosen politischen Gefangenen und hat die Behörden aufgefordert, den Dichter unverzüglich freizulassen.
Mehr als 150 Ex-Soldaten erwartet in Bangladesch der Tod, weil sie an der blutigsten Meuterei in der Geschichte des Landes beteiligt gewesen sein sollen. Im Jahr 2009 hatten Hunderte Grenzsoldaten aus Protest gegen niedrige Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen rebelliert. Dabei töteten sie mehr als fünfzig ranghohe Offiziere. Anfang November verhängte ein Sondergericht in der Hauptstadt Dhaka 152 Todesurteile. Amnesty hat die Urteile scharf kritisiert: »Zwar ist es zu begrüßen, dass sich die Täter juristisch verantworten müssen«, sagte Amnesty-Expertin Polly Truscott. »Doch die Todesstrafe verhilft nicht der Gerechtigkeit zum Sieg, sondern nur der Rache.«
aMnesty journal | 01/2014
Foto: Ferghana
erfolge
Schnellverfahren ohne Rechtsbeistand. Sergei Naumov.
geheiMe ernte Der Journalist Sergei Naumov ist Anfang Oktober nach zwölf Tagen Verwaltungshaft freigelassen worden. Er war in Urgench im Nordwesten des Landes ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten worden, nachdem man ihn in einem Schnellverfahren ohne Rechtsbeistand wegen »ordnungswidrigen Verhaltens und Ruhestörung« verurteilt hatte. Sergei Naumov recherchiert und schreibt über Menschenrechtsthemen für internationale Medien und arbeitet mit Menschenrechtlern innerhalb und außerhalb Usbekistans aktiv zusammen. Er glaubt, dass seine Inhaftierung mit seiner Berichterstattung über die Baumwollernte in der Region Khorezm zusammenhängt und ihn von einem Treffen mit Beobachtern der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) abhalten sollte.
usbeKistan
ehrung fÜr russische MenschenrechtsverteiDiger
schweiz Die Jury des Martin-Ennals-Preises für Menschenrechtsverteidiger hat die diesjährige Auszeichnung an die russische »Joint Mobile Group« vergeben. Der Preis wurde am 8. Oktober 2013 in Genf überreicht. Igor Kalyapin gründete die »Joint Mobile Group« in Russland, nachdem mehrere Menschenrechtsaktivisten in Tschetschenien ermordet worden waren. Die Organisation schickt Ermittler nach Tschetschenien, die Menschenrechtsverletzungen dokumentieren. Die recherchierten Informationen werden anschließend verwendet, um die Vergehen öffentlich zu machen und gerichtliche Wiedergutmachung zu fordern. »Wenn uns die internationale Gemeinschaft beobachtet, ist es für die Behörden schwieriger, gegen uns vor-
erfolge
Usbekistan steht bei Menschenrechtsorganisationen stark in der Kritik, da dort während der Baumwollernte Kinder zur Zwangsarbeit eingesetzt werden. Naumov hatte kritisch über die Bedingungen auf den Baumwollfeldern berichtet und war vor seiner Festnahme von den usbekischen Behörden unter Druck gesetzt worden, seine Berichterstattung einzustellen. Die Behörden sind sehr darauf bedacht, dass in diesem Zusammenhang keine Beweise gefunden und der internationalen Gemeinschaft bekannt werden. Einen Tag nach seiner Freilassung gab der Journalist der unabhängigen Nachrichtenagentur Ferghana.ru ein Interview, in dem er sich bei allen bedankte, die in seinem Fall aktiv geworden waren. Amnesty hatte kurz nach seiner Verhaftung eine weltweite Eilaktion für Naumov gestartet.
zugehen«, sagte Igor Kalyapin. Die Vorsitzende der Martin-Ennals-Stiftung, Micheline Calmy-Rey, erklärte: »Die Wahl der Jury hat einmal mehr gezeigt, dass Menschenrechtsverteidiger äußerst wichtige Akteure sind und wirklich etwas bewegen können.« Zudem wurde die Ägypterin Mona Seif, Gründerin der Organisation »No to Military Trials for Civilians« (Keine Militärgerichtsverfahren für Zivilisten) sowie der Menschenrechtsanwalt Mario Joseph aus Haiti geehrt. Der Martin-Ennals-Preis für Menschenrechtsverteidiger wird jedes Jahr von zehn Organisationen, darunter Amnesty International, vergeben. Der Preis geht an Menschen, die sich unter hohem persönlichem Risiko für die Menschenrechte engagieren.
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Foto: Pete Muller
panoraMa
europäische union: verpasste chance
Verfolgte Homosexuelle haben in der EU Anspruch auf Asyl. Das hat der Europäische Gerichtshof in Luxemburg entschieden. Als Verfolgte gelten homosexuelle Asylsuchende jedoch nur dann, wenn ihnen in ihrem Herkunftsland schwere Sanktionen wie Gefängnisstrafen drohen. Zudem müssten die dortigen Behörden die vorgesehenen Strafen in der Regel auch vollstrecken. Allein das Verbot homosexueller Handlungen stelle noch keine Verfolgung dar. Amnesty International kritisierte die Entscheidung. Gleichgeschlechtliche Beziehungen zu kriminalisieren, widerspreche internationalem Recht und sei nicht zu rechtfertigen. Das Gericht habe die Gelegenheit verpasst, dies klarzustellen. Homosexualität ist in zahlreichen afrikanischen und asiatischen Staaten gesetzlich verboten.
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aMnesty journal | 01/2014
nigeria: lecK Mit systeM
Amnesty International hat dem Ölkonzern Shell vorgeworfen, keine präzisen Angaben zu Öllecks in Nigeria zu machen. Ziel sei es, auf diese Weise Schadenersatzzahlungen zu entgehen. Die Zahl der Öllecks im südlichen Nigerdelta sei »atemberaubend«, heißt es in einer Erklärung von Amnesty, die Anfang November veröffentlicht wurde. Demnach habe Shell seit Anfang 2012 nur 348 Lecks in der Region gemeldet – die nigerianische Tochter des italienischen Ölkonzerns ENI hingegen fast 1.000. Außerdem mache Shell regelmäßig Öldiebstahl für die Lecks verantwortlich, obwohl deren wirkliche Ursache möglicherweise eine vernachlässigte und verrottete Infrastruktur sei, kritisierte Amnesty. »Shells Angaben zu Öllecks kann man nicht vertrauen«, sagte Audrey Gaughran, Afrika-Expertin von Amnesty. Finanziert und kontrolliert würden die Ermittlungen zur Ursache von Öllecks größtenteils durch den Konzern selbst. Foto: Kadir van Lohuizen / Noor
panoraMa
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syrische flÜchtlinge zurÜcKgeschicKt
in der Falle und kämpfen um ihr Überleben. Selbst jene, die es bis nach Jordanien geschafft haben, sind dort nicht sicher. Obwohl Menschenrechtsstandards festlegen, dass Flüchtlinge Schutz genießen, droht ihnen die Abschiebung. So wurden im August rund 200 Flüchtlinge gegen ihren Willen nach Syrien zurückgebracht. Im Flüchtlingslager Za’atari in Jordanien leben rund 120.000 syrische Flüchtlinge unter katastrophalen Bedingungen und in ständiger Angst um ihre Sicherheit. Eine angemessene Grundversorgung zu erhalten, ist dort fast unmög-
lich. Der Zugang zu sauberem Trinkwasser, die hohe Kriminalitätsrate und die mangelnde Sicherheit im Lager gehören zu den größten Problemen. Frauen und Mädchen in Za’atari berichteten außerdem, dass sie in ständiger Angst vor sexuellen Übergriffen leben. Amnesty International ruft dazu auf, die Nachbarländer Syriens, die nur über begrenzte Ressourcen verfügen, international zu unterstützen und die humanitäre Hilfe für diese Länder aufzustocken, damit sie eine größere Zahl schutzbedürftiger syrischer Flüchtlinge aufnehmen können.
Foto: Linda Forsell / Kontinent / laif
jorDanien Internationale Unterstützung ist notwendig, damit Jordanien die Einreisebeschränkungen für Flüchtlinge aus Syrien aufhebt. Das fordert Amnesty International in einem aktuellen Bericht, der dokumentiert, dass Hunderte von Flüchtlingen an der Grenze zu Jordanien abgewiesen werden. Die jordanischen Behörden versichern zwar, die Grenze sei für Flüchtlinge aus Syrien offen. Amnesty liegen aber Beweise dafür vor, dass Menschen, die vor dem Bürgerkrieg in Syrien auf der Flucht sind, beim Grenzübertritt abgewiesen wurden. Tausende Vertriebene sitzen dort
Katastrophale Bedingungen. Flüchtlingscamp Za’atari in Jordanien.
iMMunität fÜr staatschefs?
Nach dem Willen der Afrikanischen Union (AU) sollen sich führende Politiker in Zukunft nicht mehr vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag verantworten müssen: Die Staatschefs der AU appellierten anlässlich eines Gipfeltreffens Mitte Oktober 2013 in Addis Abeba an den UNOSicherheitsrat, die Verfahren gegen Kenias Präsident Uhuru Kenyatta und Vizepräsident William Ruto zu verschieben. Der im März gewählte Kenyatta muss sich in Den Haag dem Vorwurf stellen, für den Ausbruch politischer Gewalt im Anschluss an die Wahlen im Jahr 2007 massgeblich verantwortlich gewesen zu sein. Die führenden Politiker der AU drohten damit, alle 34 afrikanischen Unterzeichnerstaaten des Römischen Statuts zum Austritt aufzufordern, sollten die Verfahren gegen die Kenianer nicht aufgehoben oder zumindest aufgeschoben werden. Die AU bezichtigte den Internationalen Strafgerichtshof in einer fast einstimmig angenommenen Erklärung sogar offen des Rassismus.
afriKanische union
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fall oury jalloh: neues branDgutachten spricht fÜr MorDthese
DeutschlanD Vor knapp neun Jahren fand man die verbrannte Leiche des Asylbewerbers Oury Jalloh in einer Zelle der Dessauer Polizei (Amnesty Journal 10/112012). Ein neues Brandgutachten nährt nun den Verdacht, dass es sich um Mord gehandelt haben könnte. Bisher ging die Justiz von Suizid aus. Die »Initiative in Gedenken an Oury Jalloh«, die das Gutachten in Auftrag gegeben hatte, hat nun Strafanzeige beim Generalbundesanwalt gestellt – gegen »unbekannte Polizeibeamte«. Der Dessauer Oberstaatsanwalt Folker Bittmann nannte die neuen Informationen »sehr ernst, überraschend und zum Teil auch erschreckend«. Vermutlich müssten nun auch die Ermittlungsbehörden ein neues Gutachten beauftragen. Amnesty International hatte sich als Prozessbeobachter an der juristischen Aufarbeitung des Falls beteiligt.
aMnesty journal | 01/2014
KoluMne: Michael bocheneK
Zeichnung: Oliver Grajewski
Seit bekannt wurde, dass die US-amerikanische National Security Agency (NSA) weltweit 35 Regierungschefs abgehört hat, ist die internationale Entrüstung über das massive elektronische Überwachungsprogramm weiter gestiegen. Einige der Betroffenen verlangen nicht nur Antworten von Präsident Barack Obama, sondern wollen die Auseinandersetzung darüber auch in der UNO führen. Jede Debatte der UNO zu diesem Thema muss sich darüber im Klaren sein, wie sehr diese Überwachung grundlegende Menschenrechte verletzt. Sie darf sich nicht darauf beschränken, Regierungschefs zu schützen oder grenzüberschreitende Überwachung zu verhindern. Sie muss sich vielmehr mit den Auswirkungen befassen, die diese weitreichenden elektronischen Überwachungsprogramme auf die gesamte Gesellschaft haben.
Überwachung verletzt Menschenrechte
Die Art und das Ausmaß der Kommunikationsüberwachung, wie sie von Großbritannien, den USA und anderen Nationen betrieben wird, gibt Anlass zu ernsthaften Bedenken bezüglich der Menschenrechte. Es ist offensichtlich, dass das Recht auf Privatsphäre nicht respektiert wird, betroffen sind aber auch die Rechte auf Meinungs- und Vereinigungsfreiheit. Die Privatsphäre ist essenziell für die Freiheit und Würde eines Menschen. Sie ist entscheidend für seine persönliche Identität, Integrität, Intimität, Autonomie und Kommunikation, und sie ist von entscheidender Bedeutung für die Gesellschaft insgesamt. Jegliche Maßnahmen, die in die Privatsphäre eingreifen, müssen im Verhältnis stehen zu dem legitimen Ziel, das sie verfolgen. Die jeweiligen Rechtfertigungen müssen von Gerichten und Parlamenten transparent, konsequent und unabhängig kontrolliert werden. Selbst wenn die individuelle Kommunikation nicht überwacht wird, können die Daten, die massenhaft aus den verschiedensten Quellen gesammelt werden, so zusammengesetzt werden, dass die individuelle Privatsphäre auf alarmierende Weise verletzt wird. So lässt sich ein sehr genaues Bild gewinnen vom Privatleben einer Person, ihrem sozialen Umfeld, ihrem Tagesablauf, ihrem Gesundheitszustand, ihren politischen Ansichten, etc. Wenn wir persönliche Informationen an Unternehmen weitergeben, können wir die Geschäftsbedingungen einsehen, unter denen wir unsere Daten offenlegen. Wenn Regierungen das Internet jedoch flächendeckend überwachen, scheint es keinerlei Bedingungen zu geben. Unsere Privatsphäre ist offenbar zum Abschuss freigegeben. Anders gesagt: Stellen Sie sich vor, ein Regierungsmitarbeiter sitzt in Ihrem Wohnzimmer, blättert durch Ihre Aufzeichnungen, schaut den E-Mail-Verkehr des Tages durch und notiert die besuchten Webseiten. Würden Sie sich dabei nicht unwohl fühlen? Einigen mag das egal sein. Doch in meinem Arbeitsbereich ist diese Vorstellung sehr bedrohlich. Wir wissen, dass die Regierungen die gesammelten Informationen regelmäßig an ihre Verbündeten weiterleiten. Was, wenn Teile der Unterhaltung, die ich gestern mit einer Anwältin in einem anderen Land führte, ihrer Regierung bekannt werden? Was wenn diese Regierung bereits lange einen Grund sucht, um die Arbeit der Menschenrechtsanwältin zu unterbinden? Selbst wenn ihre Regierung derzeit nicht repressiv reagiert, wie sieht es in zehn Jahren aus? Wir haben es hier mit schwerwiegenden Gefahren für die Menschenrechte zu tun. Sie erfordern eine ernsthafte Reaktion, um sicherzustellen, dass persönliche Freiheiten künftig nicht mehr durch massenhafte Überwachungsprogramme beschnitten werden. Die Staaten müssen ihr Vorgehen einer eingehenden Prüfung unterziehen und ehrlich über die Risiken sprechen, die sie eingehen. Sie müssen sich dazu verpflichten, ein angemessenes Gleichgewicht zwischen Datenschutz und Sicherheit einzuhalten, das die grundlegenden menschlichen Freiheiten angemessen würdigt. Michael Bochenek ist Leiter der Abteilung Recht und Politik im Internationalen Sekretariat von Amnesty in London. Den ungekürzten Originaltext in englischer Sprache finden Sie unter www.amnesty.org/en/news
nachrichten
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KoluMne
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Thema: Besser schenken
Die Zeichnungen auf den Seiten 18 bis 39 wurden von dem Berliner Illustrator Jens Bonnke f端r das Amnesty Journal angefertigt.
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Spielregeln für die »Global Player« Seit mehr als 30 Jahren setzt sich Amnesty International dafür ein, dass Unternehmen, Banken und andere wirtschaftliche Akteure ihre Verantwortung für die Menschenrechte endlich wahrnehmen. Unternehmen müssen alle Menschenrechte respektieren – sowohl bürgerliche und politische als auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle. Ziel von Amnesty ist es, Opfern zu helfen und Übergriffe bereits im Vorfeld zu verhindern. Trotz wachsenden Menschenrechtsbewusstseins in der »Business Community« und Ansätzen für verantwortliches Wirtschaften gibt es immer noch zu viele »schwarze Schafe«, die in Menschenrechtsverletzungen verwickelt sind. Rücksichtsloses und rein profitorientiertes Vorgehen von Unternehmen kann zu schweren Menschenrechtsverletzungen entlang der gesamten Wertschöpfungskette führen – von der Rohstoffgewinnung über die Herstellung von Produkten bis zum Vertrieb und der Entsorgung. Dies zeigen auch die Beispiele auf den folgenden Seiten. Häufig werden Gesundheit und Umwelt der einheimischen Bevölkerung zugrunde gerichtet, in vielen Fällen werden nicht einmal minimale Arbeitsrechtsstandards eingehalten. Sehr oft trifft es die Armen und Ausgegrenzten. In den seltensten Fällen werden die Verantwortlichen in den Konzernen zur Rechenschaft gezogen, da die Staaten ihrer Pflicht zum Schutz der Menschenrechte nicht nachkommen. Menschenrechtsorientierte Leitlinien, faire Produktion, fairer Handel sowie nachhaltige Vertriebsund Entsorgungswege sind erste wichtige Schritte der Wirtschaft. Allerdings sind solche freiwilligen Maßnahmen bislang nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Zu wenige Unternehmen tun etwas, zu viele bleiben untätig und profitieren von Menschenrechtsverletzungen. Die Wirtschaft ist weitgehend Teil des Problems und nicht Teil der Lösung. Wirklich helfen können nur einheitliche und verbindliche Regeln für alle international tätigen Unternehmen: Wir brauchen globale Spielregeln für die »Global Player« und spürbare Sanktionen bei Fouls. Daher fordert Amnesty von den Regierungen, endlich die Regelungslücken zu schließen und Unternehmen dazu zu verpflichten, ihre Sorgfaltspflichten auch auf die Menschenrechte anzuwenden und Menschenrechtsstandards im operativen Geschäft anzuwenden. Zudem müssen die von Menschenrechtsverletzungen Betroffenen Zugang zu Beschwerdewegen, Rechtsschutz und gegebenenfalls Entschädigungen erhalten. Mathias John ist Sprecher der Gruppe Wirtschaft, Rüstung und Menschenrechte der deutschen Sektion von Amnesty International.
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Kinderschokolade Kakao aus konventionellem Anbau wird überwiegend mit Hilfe von Kindern gewonnen, die unter sklavenähnlichen Bedingungen arbeiten müssen. Allein in der Elfenbeinküste, dem größten Kakaoexporteur der Welt, arbeiten 600.000 Minderjährige in der Ernte. Von Tanja Dückers
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uch in diesem Jahr werden wieder viele SchokoWeihnachtsmänner, Lebkuchenherzen, Pralinen, Kekse, Plätzchen, Printen, Dominosteine und andere Süßwaren mit Schokolade in den Adventskalendern stecken und unter den Weihnachtsbäumen liegen. Zwar spenden viele Menschen in der Weihnachtszeit Geld für Hilfsprojekte in aller Welt, doch nur wenige machen sich Gedanken darüber, woher die Schokolade auf den Gabentischen eigentlich kommt und wer dafür schuften musste. Jeder Deutsche isst im Durchschnitt elf Kilo Schokolade pro Jahr. Damit liegt Deutschland im internationalen Vergleich nach der Schweiz und Belgien auf Platz drei, was den Schokoladenkonsum angeht. Hundert Gramm kosten in der Regel weniger als einen Euro. Dass die Kakaobauern für ihre Arbeit nicht fair entlohnt werden, kann sich jeder Käufer denken. Doch wie bei der Kleidung, die Textildiscounter in Ländern wie Bangladesch unter Missachtung jeglicher Arbeits- und Menschenrechte produzieren lassen und in Europa und den USA zu Niedrigstpreisen verkaufen, wird dies kollektiv verdrängt. »Ein Kind kostet 230 Euro.« Das sagt ein Kakaobauer aus der Elfenbeinküste in der Dokumentation »Schmutzige Schokolade« des dänischen Filmemachers Miki Mistrati – als ob Kinderhandel das Normalste auf der Welt sei. »Wenn ihr meinem Bruder sagt, wie viele ihr braucht, dann besorgt er sie euch.« Der Mann spricht über Kinder zwischen 10 und 14 Jahren, die aus Mali und anderen Nachbarstaaten entführt werden, um auf Kakaoplantagen in der Elfenbeinküste zu arbeiten. Knapp 70 Prozent der weltweiten Kakaoproduktion stammen aus Westafrika. Die Elfenbeinküste ist der größte Kakaoexporteur der Welt. Insgesamt 1,2 Millionen Tonnen werden dort jährlich produziert. Dennoch gehört das Land zu den 20 ärmsten Staaten weltweit. Nach Angaben der Organisation Transfair arbeiten 600.000 Minderjährige unter sklavenähnlichen Bedingungen auf den Plantagen des Landes, etwa 12.000 davon kommen aus den Nachbarstaaten Mali, Togo und Burkina Faso. Der Dokumentarfilmer Mistrati, der bereits zahlreiche preisgekrönte Dokumentationen für das dänische Fernsehen drehte, hat in Westafrika zum Thema Kinderarbeit recherchiert: »Es war erschreckend einfach, Kinderarbeiter zu finden«, sagte er in einem Interview mit »Spiegel Online«: »Ich war auf 17 verschiedenen Plantagen, und überall arbeiteten Kinder.«
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Mistratis Reportage »Schmutzige Schokolade« macht deutlich, wie das Geschäft der Menschenhändler funktioniert und wie die Süßwarenkonzerne davon profitieren. Die Kinder müssen schwere Kanister mit hochgiftigen Pestiziden schleppen und damit die Felder gießen. Weil den Kindern oft kein Atemschutz gegeben wird, leiden sie unter Ekzemen im Gesicht, Ausschlägen am ganzen Körper, tränenden Augen. Auch der Umgang mit der Machete ist gefährlich und kann zu schweren Verletzungen führen. Mit der Machete werden die reifen Kakaofrüchte von den Bäumen geschlagen – eine harte Arbeit. Die Früchte werden anschließend in Säcke verladen und zu Sammelstellen geschleppt. Die Säcke wiegen um die 30 Kilo. Selbst für einen Erwachsenen eine schwere Last – für Kinder erst recht. »Viele Kinder, die sehr viele Stunden in der Woche arbeiten, haben schon von klein auf Rückenschäden«, sagt Friedel Hütz-Adams vom Siegburger Forschungsinstitut Südwind und Autor der Studie »Die dunklen Seiten der Schokolade«. Oft werden die Kinder für die Knochenarbeit nicht einmal bezahlt, sondern bekommen nur gerade so viel zu essen, dass sie nicht verhungern. Ein Junge aus Mali berichtete der Kampagne der NGO Earth Link, »Aktiv gegen Kinderarbeit«: »Wir schliefen auf dem Boden einer Hütte aus Schlamm und Stroh. Wir durften sie nur zur Arbeit in den Feldern verlassen. Die Arbeitszeiten waren sehr hart, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, und manchmal, wenn Vollmond war, sogar bis zehn Uhr
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abends. Uns wurde Lohn versprochen, aber sie sagten, dass wir erst die Kosten der Reise zurückzahlen müssten. Ich habe mich dort zwei Jahre lang abgerackert, ohne jemals Geld zu bekommen. Kinder, die sich weigerten zu arbeiten, wurden mit dem Motorgurt des Traktors geschlagen oder mit Zigaretten verbrannt. Wir bekamen kaum etwas zu essen: mittags zwei Bananen, die wir aßen, ohne die Arbeit zu unterbrechen, und eine Maismehlsuppe am Abend. Einige Kinder sind vor Erschöpfung zusammengebrochen. Diejenigen, die krank wurden, wurden fortgeschafft. Wir haben sie nie wieder gesehen.« Die Rohstoffhändler und Schokoladenproduzenten behaupten, die Kakaoplantagenbesitzer würden nur ihre eigenen Kinder mitarbeiten lassen. Dagegen könne man nichts tun. Mistrati entlarvt diese Behauptung jedoch mit Bildern aus Mali als falsch: Täglich werden entführte Kinder mit Bussen oder Motorrädern aus dem nördlichen Nachbarland der Elfenbeinküste über die Grenze gebracht. Auch ein Menschenhändler kommt in Mistratis Film zu Wort: »Die Plantagenbesitzer geben uns Geld, damit wir die Kinder über die Grenze fahren«, gibt er offenherzig zu. »Ich habe das oft gemacht.« Im September 2001 unterzeichnete die Elfenbeinküste das Kakaoprotokoll. Es sollte gewährleisten, dass in der Kakaoproduktion auf Kinderarbeit verzichtet wird. Seitdem sind zwölf Jahre vergangen und trotz vollmundiger Versprechen der Süßwarenindustrie hat sich nichts geändert. Die im Protokoll festgelegten Fristen sind folgenlos verstrichen. Nach wie vor arbeiten Tausende von Kindern auf Kakaoplantagen, anstatt in die Schule zu gehen. Die Kinder und Jugendlichen kommen dabei selbst nie in den Genuss von Schokolade. Sie haben nicht das Geld, um sich Schokoriegel zu kaufen. Viele wissen nicht einmal, wofür der Kakao verwendet wird. Um wirklich etwas an den Bedingungen im Kakaohandel zu ändern, müsste neben den Verbrauchern die Politik aktiv werden. In Mistratis Heimat Dänemark hat die Regierung nun einen Kodex verabschiedet, den die Schokoladenhersteller unterzeichnen müssen: Darin verpflichten sie sich, ihre Lieferanten künftig stärker zu beaufsichtigen. »Die Konzerne müssen für die Kinderarbeit verantwortlich gemacht werden«, sagt der Filmemacher. Doch ein Verzicht auf Kinderarbeit kann die Armut der Kakaobauern verschärfen: Auch das zeigt die Studie »Die dunklen Seiten der Schokolade«. Nachdem mehrere große Lebensmittelkonzerne ihre Rohstofflieferanten ermahnt hatten, bei der Ernte auf den Kakaoplantagen keine Kinder mehr einzusetzen, gingen die Erträge der Bauern zurück. Unternehmen wie Mars, Nestlé oder Ferrero hatten den Verzicht auf Kinderarbeit gefordert, nachdem sie durch Berichte über Kinderarbeiter unter Druck
»Die Konzerne müssen für die Kinderarbeit verantwortlich gemacht werden.« 24
geraten waren. Die Lösung liege nicht allein im Verbot von Kinderarbeit, sagt Hütz-Adams. Die Kleinbauern müssten gerechter bezahlt werden, um sich erwachsene Arbeiter leisten zu können. Faire Handelsbedingungen seien dringend erforderlich. Wie kann man nun als Konsument in Deutschland in der Vorweihnachtszeit eine vernünftige Wahl treffen? Woran erkennt man »gute Schokolade«? Auf vielen Verpackungen ist leider nur das Herstellungs- aber nicht das Herkunftsland verzeichnet. Das Herstellungsland ist das Land, in dem die billigen Kakaobohnen zu einem teuren Schokoladenprodukt verarbeitet werden, also etwa die Schweiz oder Belgien. Das Herkunftsland ist hingegen das Land, in dem die Kakaobohnen angebaut und geerntet wurden. Wenn kein Herkunftsland auf der Verpackung steht, kommt der Kakao mit hoher Wahrscheinlichkeit aus Westafrika. Damit ist auch das Risiko, dass die Schokolade mithilfe illegaler Kinderarbeit produziert wurde, sehr hoch. Gütesiegel können bei der Kaufentscheidung helfen. Rainforest Alliance, UTZ und Fairtrade gehören zu den großen international anerkannten Gütesiegeln. Daneben gibt es weitere vertrauenswürdige Organisationen wie die GEPA, die faire Produkte vertreiben. Sie garantieren einen nachhaltigen Landbau und bessere wirtschaftliche Bedingungen für die Bauern. Das bedeutet unter anderem, dass den Bauern ein Mindestpreis bezahlt wird und dass bessere Gesundheitsbedingungen und mehr Sicherheit bei der Arbeit herrschen. Teilweise stehen die Siegel auch für soziale Maßnahmen (mehr erwerbstätige Frauen) oder für ökologische Nachhaltigkeit, zum Beispiel bei der GEPA. Nicht zu vergessen: Fairtrade schont das Klima. Beim Vergleich der Ökobilanz zwischen konventioneller und fair gehandelter Schokolade schneidet die fair gehandelte weitaus besser ab. Doch muss auch klar gesagt werden: Obwohl bei diesen Siegeln stichprobenartig auf Kinderarbeit kontrolliert wird, kann niemand wirklich garantieren, dass keine Kinderarbeit geleistet wurde. Irreführende Siegel gibt es auch: »The Cocoa Plan« ist Nestlés eigenes Siegel. Das entsprechende Logo setzt der Konzern immer öfter auf seine Verpackungen und macht damit Werbung für eine firmeneigene Initiative zur Unterstützung von Kleinbauern. Nestlé zertifiziert sich also selbst. Auf der anderen Seite verwenden einige kleinere, gute Edel-Schokoladen-Manufakturen kein Fairtrade-Siegel, weil sie sich den hiermit verbundenen bürokratischen Aufwand nicht leisten können, teilweise auch aus verpackungsästhetischen Gründen. Nicht jeder schätzt die bunten Logos. Sie beziehen ihren Kakao aber dennoch von fair bezahlten Kleinbauern und haben hohe Ansprüche an ethische und ökologische Standards. Verlässliche Informationen erhält man auch von der »International Cacao Initiative« – einer Initiative der Kakao-Industrie in Zusammenarbeit mit Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen. Auch wenn ein verbindliches Abkommen für konventionelle Schokoladenproduzenten noch aussteht, gibt es Hoffnung: Anfang der neunziger Jahre lag der Umsatz mit Fairtrade-zertifizierten Produkten bei 50 Millionen Euro pro Jahr, 2011 betrug er bereits 400 Millionen Euro. Doch herrscht bei vielen Konsumenten noch immer eine »Geiz-ist-geil«-Haltung vor. Viele denken eher an ihren Geldbeutel als daran, unter welchen Bedingungen ein Lebensmittel hergestellt wurde. Hoffentlich setzt sich der Trend zu mehr Fairtrade-Produkten fort, auch wenn dies den Kindersklaven, die jetzt auf den Kakaoplantagen arbeiten müssen, wohl nicht mehr rechtzeitig helfen wird. Die Autorin arbeitet als Schriftstellerin und Publizistin in Berlin.
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Brot und Spiele Viele Spielzeugunternehmen haben sich verpflichtet, soziale Mindeststandards einzuhalten. Die Arbeitszeiten im Hauptproduktionsland China sind dennoch oft zu lang und der Lohn ist zu niedrig. Von Hannes Koch
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ie Organisation »China Labor Watch« (CLW) veröffentlichte unlängst einen Bericht über die US-Firma Mattel, die unter anderem Barbie-Puppen herstellt. Er legt nahe, dass Spielzeug unter ähnlich unsozialen Bedingungen hergestellt wird wie Textilien und Elektronikprodukte. Die Organisation wirft dem Konzern unter anderem gesetzwidrig lange Arbeitszeiten und ungerechtfertigte Lohnabzüge in seinen chinesischen Zulieferbetrieben vor. Dennoch haben Spielzeugunternehmen und ihre Zulieferfirmen in den vergangenen Jahren auch Fortschritte bei den Arbeitsbedingungen gemacht. Lego ist ein Beispiel dafür: Die Firma bezieht rund zehn Prozent ihres Konstruktionsspielzeugs aus China. Nach Angaben von Lego-Deutschland-Sprecherin Helena Seppelfricke lässt das Unternehmen seine Produktionskette seit 2006 nach den Kriterien der ICTI CARE-Stiftung überprüfen. Dieser Ableger des Internationalen Verbandes der Spielzeug-Industrie versucht seit 2001, grundlegende Standards in den Fabriken durchzusetzen. So soll beispielsweise die wöchentliche Arbeitszeit nicht länger sein als 66 Stunden, und die Bezahlung soll den gesetzlichen Mindestlohn des jeweiligen Landes nicht unterschreiten. Etwa 70 Prozent der Spielzeugexporte chinesischer Fabriken würden mittlerweile durch Sozial- und Umweltprüfungen erfasst, sagt Christian Ewert, der Präsident von ICTI CARE. Auch die Initiative »fair spielt«, die 1999 unter anderem vom katholischen Hilfswerk Misereor gegründet wurde, sieht Fortschritte. »Mehr Firmen als früher verpflichten sich, gewisse Mindeststandards einzuhalten«, sagt Uwe Kleinert von »fair spielt«. »Es finden mittlerweile auch unangekündigte Überprüfungen der Fabriken statt. Es gibt Beschwerdeverfahren, die Arbeiter gefahrlos nutzen können. Und die Beschäftigten werden über ihre Rechte informiert.« Etwa zwei Drittel des in Deutschland verkauften Spielzeugs stammen aus China. Dort wird jedoch weiterhin oft unter fragwürdigen Arbeitsbedingungen gefertigt, bemängelt Kleinert: »Häufig sind die Arbeitszeiten viel länger als vom chinesischen Arbeitsgesetz erlaubt – besonders zwischen Juni und September, wenn die Fabriken die Weihnachtsproduktion abwickeln.« Das Gesetz begrenzt die Wochenarbeitszeit auf 49 Stunden. »Viele Beschäftigte müssen jedoch 80 bis 100 Stunden arbeiten.« Als weiteren Kritikpunkt führt Kleinert an, »dass weder der internationale, noch der deutsche Verband der Spielzeugindustrie bereit sind, über existenzsichernde Löhne für die Arbeiter in den globalen Produktionsketten zu sprechen«. So reicht der
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staatlich garantierte Mindestlohn von 1.600 Yuan (etwa 200 Euro) pro Monat, den die Spielzeugfirmen ihren Arbeitern etwa in der südchinesischen Industriemetropole Shenzhen zahlen müssen, in der Regel nur für den Unterhalt einer Person. Die Arbeiter können damit weder eine Familie gründen noch für das Alter vorsorgen. Dies sei auch vielen in Deutschland beheimateten Spielzeugfirmen völlig egal, kritisiert Kleinert. Kunden, denen das Thema wichtig ist, können die Firmenliste von »fair spielt« studieren. Sie wird jährlich auf Basis einer Umfrage unter den 250 größten der ungefähr 800 deutschen Spielzeug-Unternehmen erstellt. Die Hersteller geben unter anderem an, welcher Teil ihrer Produktion aus China kommt, und wie viele dieser Fabriken nach den ICTI-Standards zertifiziert sind. »fair spielt« ermittelt zudem, welche Firmen nur in Deutschland oder der Europäischen Union produzieren lassen. Doch die geografische Zuordnung ist nicht unbedingt eine Garantie für gute Arbeitsbedingungen, denn sie erfasst zum Beispiel nicht, ob die heimische Firma einen Betriebsrat hat. Der Autor arbeitet als freier Journalist in Berlin.
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Ende des Goldrauschs
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Goldschmuck gilt als zeitlos schönes Geschenk, Goldbarren sind als krisenfeste Wertanlage beliebt. Die Nachfrage nach einem der seltensten Metalle der Erde ist in den vergangenen Jahren enorm gestiegen. Multinationale Unternehmen fördern es in den Ländern des Südens im Tagebau. In Honduras haben diese Minen Krankheit und Umweltzerstörung gebracht. Ein neues Gesetz öffnet Bergbaufirmen Tür und Tor. Dagegen wächst der Widerstand – aber gleichzeitig wächst auch die Repression gegen soziale Bewegungen. Von Kathrin Zeiske
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ulio Aguirre begann mit 18 Jahren in der Goldmine San Martín zu arbeiten. Entre Mares, eine Tochterfirma des kanadischen Minenunternehmens Goldcorp, zahlte ihm dafür umgerechnet 400 Dollar pro Monat: ein extrem hoher Lohn für einen jungen Mann im ländlichen Honduras. Julio kletterte dafür in die »Goldkammer«, den Blausäuretank der Auswaschungsanlage, und spülte sie mit Natronlauge aus. Als Schutzkleidung gegen giftige Rückstände und Dämpfe wurden ihm lediglich Gummistiefel, Handschuhe und Mundschutz gestellt. In der Mittagspause legten er und seine Kollegen sich oft auf das Dach des Schuppens, in dem die Blausäurebriketts lagerten. Nachdem die Mine 2009 ihre Arbeit eingestellt hatte, erklärte ihm ein Freund, mit was für hochgiftigen Substanzen sie gearbeitet hatten: Zyanid, Arsen, Quecksilber und Blei. Inzwischen ist Julio Anfang zwanzig und leidet unter weit heftigeren Gelenkschmerzen als seine Großmutter. Seine Krankheitsgeschichte ist eine von vielen, die an diesem Abend im Halbdunkel eines Gartens in der Kleinstadt San Ignacio erzählt werden. Den rund dreißig Anwesenden, die einst als Hilfsarbeiter in der Goldmine angestellt waren, fällt das Sitzen schwer. Sie berichten von Krebs, von entfernten Lungenflügeln, von Tumoren an der Wirbelsäule. »Alle, die dort gearbeitet haben, leiden heute unter schweren Gesundheitsproblemen«, sagt Carlos Silva vom Kollektiv der ehemaligen Minenarbeiter. Die einstigen Gewinner des Goldrauschs im Siriatal fühlen sich alleingelassen. Ohne Einkommen müssen sie für horrende Arztrechnungen aufkommen. Die Minengesellschaft ist hingegen reich geworden. Mit den Gewinnen aus dem Siriatal kaufte Goldcorp weitere Minen in Mittelamerika und wurde zum zweitgrößten Goldproduzenten Kanadas und einem weltweit führenden Unternehmen. Laut »World Gold Council«, einer Lobby-Organisation der Goldindustrie, werden etwa 43 Prozent des weltweit geförderten Golds zur Herstellung von Ringen, Ketten, Armreifen, Uhren und anderem Schmuck verwendet. Zehn Prozent werden zur Herstellung von Smartphones, Notebooks und anderen Elektrogeräten eingesetzt, während der Rest als Privatanlage und Währungsgegenwert in Banken eingelagert wird. Deutschland ist nach China, Indien und den USA der viertgrößte Goldaufkäufer der Welt. Im Siriatal besitzt kaum jemand Schmuckstücke. Von San Ignacio führen Staubpisten durch ausgetrocknete Flussbetten zum ehemaligen Minengelände von San Martín. Die Mine ent-
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zog der einstigen Kornkammer von Honduras in nur neun Jahren ihre Wasservorkommen. Ganze Bergkuppen wurden abgetragen, um im Tagebau Gold zu gewinnen. Die Gemeinde Palo Ralo wurde damals an einen neuen Ort zwangsumgesiedelt. »Doch auch in Nuevo Palo Ralo fanden wir keinen Frieden«, sagt Rodolfo Arteaga, Gründer des lokalen Umweltkomitees. Der braungebrannte Mann mit den feinen Gesichtszügen legt sich die Hand über die Augen und schaut zum ehemaligen Minengelände hinüber. »Die täglichen Detonationen waren nervenaufreibend und beschädigten unsere Häuser.« Nicht nur das. Giftige Rückstände aus der Mine sickerten still und leise über Jahre in den Dorfbrunnen. »Wir bekamen Magenprobleme. Unseren Kindern fielen die Haare aus.« Viele Frauen litten unter Fehlgeburten; Kinder kamen mit hohen Arsen- und Bleiwerten im Blut zur Welt und wiesen genetische Veränderungen auf. Wie der kleine Antony Misael Nuñez. Die Füße des Babys stecken in Schuhen, die von einer Metallstrebe auseinandergehalten werden. Er wird vermutlich nie laufen können. Seiner rechten Hand fehlt ein Finger, die anderen sind nur kleine Knoten. Im Siriatal ist die Kindersterblichkeit zwölf mal so hoch wie im Rest von Honduras, stellte die Untersuchung eines italienischen Experten 2006 fest. Ein kürzlich erschienener Bericht des Honduranischen Instituts für Umweltrecht (IDAMHO) und der NGO Oxfam listet außer den entstandenen Umwelt- und Gesundheitsschäden weitere Folgen des Goldabbaus auf. Die Gemeinde ist gespalten, Aktivisten werden bedroht und das ehemalige Minengelände ist nach wie vor verunreinigt: Rund 55 Millionen Tonnen toxischer Erde wurden lediglich mit einer dünnen Gummimembran bedeckt und dürftig mit Gras bepflanzt. Das Bergbauunternehmen scheint diesen Anschuldigungen zu spotten: Mit der »Stiftung San Martín« wurde vor vier Jahren ausgerechnet ein »Ökotourismuszentrum« auf der ehemaligen Mine eingerichtet. Nur einen Steinwurf von den zyanidverseuchten Gifthalden entfernt erstreckt sich nun eine Poollandschaft, umgeben von Liegestühlen und Hollywoodschaukeln. Ein Rehgehege und ein Forellenteich sollen den Besuchern zeigen, dass hier alles in bester Ordnung ist. Auf einer Aussichtsplattform sind Fotos der vormaligen Detonationen mit einem »Bummmm!« in Comicschrift versehen. Bergbau als Ereignis. »Die Vergangenheit des Gold- und Silberabbaus, der Honduras schon zu Kolonialzeiten prägte, holt uns wieder ein«, sagt Jesuitenpater Ismael »Melo« Moreno. Der Direktor des kritischen
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»Radio Progreso« und des Forschungs- und Kommunikationsinstituts ERIC beobachtet die Entwicklung des mittelamerikanischen Landes schon seit langem. Anfang 2013 beschloss der honduranische Kongress ein neues Bergbaugesetz. Parallel dazu wurde in einem zweiten Anlauf die Verfassung geändert, um die Einrichtung autonomer Sonderwirtschaftszonen, unter anderem für Bergbau, zu ermöglichen. Seither haben Minenunternehmen von der Regierung 280 Konzessionen erhalten und mit der Ausbeutung einer Fläche begonnen, die etwa 15 Prozent des gesamten honduranischen Territoriums ausmacht. Pater Melo hält nichts von dem neuen Gesetz. »Es öffnet der verheerenden Praxis des Tagebaus erneut Tür und Tor. Nur scheinbar gibt es Mitbestimmungsmöglichkeiten für die betroffenen Gemeinden. Gleichzeitig sollen die Steuergelder der Minenunternehmen direkt an staatliche Sicherheitsorgane wie die neu installierte Militärpolizei fließen – das verheißt nichts Gutes.« Die Basis und die Spitze der katholischen Kirche seien wegen des neuen Gesetzes einmal mehr gespalten, sagt der Pater. »Kardinal Óscar Rodríguez, das Oberhaupt der honduranischen Kirche, zeigte sich schon nach dem zivil-militärischen Putsch 2009 eng mit der politischen Elite verbunden. Nun steht er hinter den Interessen der honduranischen Unternehmer, die das Feld für die internationalen Bergbaukonzerne ebnen.« Dagegen unterstützen viele Gemeindepriester in den vom Bergbau betroffenen Regionen im Norden und Westen des Landes die lokale Bevölkerung in ihrem Protest gegen Minen und Wasserkraftwerke, die diese mit Strom und Wasser versorgen sollen. Die Kleinstadt La Esperanza in den pinienbewaldeten Bergen des Westens ist ein solcher Hort des Widerstandes. Schon seit Jahrzehnten protestieren die indigenen Lenca gegen die Ausbeutung von Ressourcen auf ihrem Territorium. Allen voran die Organisation COPINH (Consejo Cívico de Organizaciones Populares e Indígenas de Honduras), die auch ein Lokalradio betreibt. »Wir fordern Information und Konsultation über Megaprojekte, die uns betreffen. Wir fordern, dass unsere entschiedene Ablehnung des Bergbaus auf dem Gebiet unserer Vorfahren anerkannt wird«, spricht Tomás Gómez in einer mit Eierkartons verkleideten Radiokabine in das Mikrofon. Der Widerstand gegen das Wasserkraftwerk Agua Zarca, an dem auch die deutsche Siemenstochter Voith Hydro GmbH beteiligt ist, forderte im Juli 2013 einen Toten. Armeeangehörige
»Die Repression in Honduras hat ein neues Niveau erreicht. Die Menschen vor Ort befinden sich in ständiger Bedrohung.« 32
ächtung von quecKsilber 60 Jahre nach der Quecksilber-Katastrophe in der Bucht von Minamata im Südwesten Japans unterzeichneten 140 Staaten im Oktober 2013 die »Minamata-Konvention« des UNO-Umweltprogramms UNEP. Mit dem Abkommen soll der Einsatz von Quecksilber ab 2020 weltweit massiv reduziert werden. Das Schwermetall wird auch zur Extraktion goldhaltiger Schlämme in kleinen Minen eingesetzt. Dabei treten weltweit jährlich 727 Tonnen Quecksilber aus. Bis zu 15 Millionen Arbeiter sind nach Angaben der UNEP hierdurch gefährdet. In Kraft tritt die Konvention erst nach der Ratifikation durch die Parlamente von mindestens 50 Staaten, dies wird noch drei bis vier Jahre in Anspruch nehmen. Umweltorganisationen kritisieren die vereinbarten Fristen, in denen das Schwermetall noch eingesetzt werden darf, als viel zu lang.
schossen ohne Vorwarnung auf eine friedliche Demonstration, töteten den Indigenensprecher Tomás García und fügten seinem 17-jährigen Sohn Allan García schwere Verletzungen zu. Während ein verantwortlicher Armeeangehöriger gegen Kaution freigelassen wurde, wurden die COPINH-Aktivisten Tomás Gómez und Aureliano Molina aus einem politischen Schauprozess wegen »Vereinnahmung, Nötigung und anhaltender Schädigung« unter Auflagen und mit dem Verbot entlassen, sich der Zone großräumig zu nähern. Bertha Cáceres, eine energische Frau mit schwarzen Locken, die der Lenca-Bewegung vorsteht, musste untertauchen, um einer Haftstrafe zu entgehen. Amnesty International spricht von »unbegründeten Anklagen« und startete eine Eilaktion für Cáceres, die für ihre unermüdliche Menschenrechtsarbeit 2012 den Eichstätter Shalom-Preis erhielt. »Die honduranische Justiz reagiert prompt, wenn es darum geht, Proteste zu kriminalisieren«, sagt Daniel Langmeier von der Organisation PROAH (Proyecto de Acompañamiento en Honduras). Ansonsten herrsche absolute Straflosigkeit vor – dabei weist das Land die höchste Mordrate weltweit auf. Der Schweizer Menschenrechtsbeobachter steht kurz vor der Abreise nach Washington, um der Interamerikanischen Menschenrechtskommission drei exemplarische Fälle von Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit Protesten gegen die neuen Megaprojekte in Honduras vorzutragen. Im Juli war er selbst von bewaffneten Söldnern entführt worden, als er versuchte, den von einer Minengesellschaft bedrohten Gemeindemitgliedern durch seine Anwesenheit Schutz zu bieten. Diese leisteten in Nueva Esperanza, einem Ort inmitten des Dschungels an der Karibikküste, friedlich Widerstand gegen eine geplante Mine. Daniel Langmeier und seine französische Kollegin Orlane Vidal kamen nach mehreren Stunden wieder frei und mussten sich aus der Region zurückziehen. »Die Repression in Honduras hat ein neues Niveau erreicht«, sagt Langmeier. »Während wir uns aber zurückziehen können, befinden sich die Menschen vor Ort in einer Situation ständiger Bedrohung.« Zahlreiche Personen mussten die Gemeinde verlassen, durch die immer wieder Söldner patrouillieren. Die Minengesellschaft rückte währenddessen mit schweren Gerätschaften auf Privatland vor. Die Autorin arbeitet als Mittelamerika-Korrespondentin.
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Bei Anruf Tod In der Elektronikindustrie werden Arbeitsrechte und Umweltschutz flächendeckend missachtet. Von Sven Hansen
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iu Fuzong war 14 Jahre alt, als er am 21. Mai starb. Er wurde tot in seinem Bett im Schlafsaal eines Arbeiterheims gefunden. »Plötzlicher Tod« lautete der Obduktionsbefund. Liu hatte bei der Yinchuan Electronic Company im südchinesischen Dongguan gearbeitet, deren Firmengruppe auch für Samsung, Canon und Sony produziert. Täglich zwölf Stunden. Bei guter Auftragslage auch mehr. Das berichtet die amerikanisch-chinesische NGO China Labour Watch (CLW). Liu hatte den Job mit dem Ausweis eines 18-Jährigen bekommen. Das fiel niemandem auf, weil bei Yinchuan regelmäßig Kinder unter 16 arbeiten, wie CLW feststellte. Dass Schülerpraktikanten als billige Arbeitskräfte missbraucht werden, ist neu. Sie ersetzen die teurer gewordenen Wanderarbeiter. Beide Gruppen sind nahezu rechtlos und leicht ausbeutbar. Schülerpraktikanten fallen zudem nicht unter den Mindestlohn, der in den vergangenen Jahren mehrfach erhöht wurde. Dazu beigetragen hatten Berichte über die Missachtung grundlegender Rechte in der globalen Elektronikindustrie. Eine Studie der CLW und der dänischen NGO Danwatch vom November 2013 zeigte einen Zwang zu 48 bis 136 Überstunden im Monat bei chinesischen Zulieferern des US-amerikanischen Computerkonzerns Dell. Zwei der vier untersuchten Firmen zahlten nicht einmal den gesetzlichen Mindestlohn. 2010 hatte eine Suizidwelle unter chinesischen Beschäftigten des taiwanischen Produzenten Foxconn für Schlagzeilen gesorgt. Foxconn produziert für Apple und andere namhafte Elektronikkonzerne. Mit rund einer Million Beschäftigten allein in China ist Foxconn der weltgrößte Elektronikproduzent. Die Suizidwelle wurde genährt durch Ausbeutung, extrem lange Arbeitszeiten, monotone Tätigkeiten, militärischen Umgangston, Schikanen sowie Isolation und Perspektivlosigkeit der Beschäftigten. Nach einem Apple-internen Bericht von 2006 hatte ein Viertel der Foxconn-Beschäftigten keinen freien Tag in der Woche. Bei 35 Prozent betrug die Wochenarbeitszeit mehr als 60 Stunden – Chinas gesetzliche Höchstarbeitszeit liegt bei 49 Stunden. Das verstößt auch gegen Apples Unternehmenskodex. 2011 legte Apple Kinderarbeit und Schuldknechtschaft offen – Jobs in den Werken wurden gegen hohe Provisionen vermittelt. Auch waren Beschäftigte beim Reinigen von Touchscreens vergiftet worden. Wegen anhaltender Kritik kündigte der Konzern 2012 Untersuchungen der Fair Labor Association (FLA) an, einer industrienahen Arbeitsrechtsorganisation. Auch sie bestätigte überlange und gesetzeswidrige Arbeitszeiten. Trotzdem wollten 34 Prozent der Befragten noch mehr arbeiten. 64 Prozent sagten, sie könnten von ihrem Gehalt ihre Grundbedürfnisse nicht decken. Apple versprach bis Juli 2013 ein Ende der überlangen Arbeitszeiten. Laut FLA und CLW ist das nicht erfolgt. Vielmehr zeigten sich die Bedingungen beim neuen Apple-Produzenten Pegatron nicht besser als bei Foxconn, von wo Apple einen Teil seiner Produktion abgezogen hatte. Gesetzes- und Grundrechtsverstöße sind symptomatisch für die Branche. Die Wertschöpfungskette der als hochtechnisiert
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wahrgenommenen Branche wird dabei von millionenfacher Handarbeit ungelernter Arbeitskräfte dominiert – von der Gewinnung der Rohstoffe, der Herstellung der Komponenten, der Montage der Hardware bis zum Recycling –, die überwiegend in Entwicklungs- und Schwellenländern stattfindet. Die Betriebe sind quasi gewerkschaftsfrei. Als im Oktober 2012 in der indonesischen Fabrik des südkoreanischen Samsung-Konzerns erstmals 200 Arbeitern die Gründung einer Gewerkschaft gelang, wurden die Gewerkschafter einfach entlassen. Samsung zählt zu den profitabelsten Konzernen der Welt. Oft noch schlimmer sind die Bedingungen in den Minen, in denen die Metalle für die Computer, Mobiltelefone und Playstations gewonnen werden. In den Coltan-Minen in der Demokratischen Republik Kongo (DRK), ein bedeutender Weltmarktlieferant, arbeiten viele Kinder. Umweltschutz wird vernachlässigt, Arbeitskräfte und Umgebung werden vergiftet. Der Abbau der Mineralien im Ostkongo wird zudem mit der Finanzierung von Bürgerkriegsmilizen in Verbindung gebracht. Seit 2010 ist es allen börsennotierten Unternehmen in den USA verboten, Metalle zu verwenden, die Milizen im Kongo finanzieren. Auch müssen Zahlungen aus dem Rohstoffabbau an die Regierung der DRK offengelegt werden. In der EU gibt es kein entsprechendes Gesetz. Sven Hansen ist Asien-Redakteur der taz in Berlin.
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Das Gold der Armen Elektroschrott aus Europa wird oft illegal in Entwicklungsländer wie Ghana verschifft. Dort zerlegen die Ärmsten Monitore, Computer und Handys, um Altmetalle zu gewinnen und riskieren dabei ihre Gesundheit. Von Kurt Stukenberg
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ichter dunkler Rauch liegt über Agbogbloshie, einem Slum in Ghanas Hauptstadt Accra. Er kommt von Dutzenden kleinen Feuern, die zumeist Kinder und Jugendliche mit Schaumstoffresten am Laufen halten. Wie große Marshmallows grillen sie an Stangen befestigte Kabelbündel über den Flammen. Sie fackeln die Kunststoffisolierungen ab, um an das wertvolle Kupfer zu gelangen – das auch Gold der Armen genannt wird. Der Boden ringsum ist pechschwarz, überall türmen sich mannshohe Abfallberge. Bilder wie diese, die Greenpeace vor ein paar Jahren in Ghana machte, zeigen die Kehrseite der strahlenden Technikwelt, die uns Elektronikkonzerne hierzulande präsentieren. Denn die Kabel, Platinen und Monitore, die in Agbogbloshie über den Feuern geschwenkt werden, stammen fast ausschließlich aus Europa. Als Gebrauchtware deklariert erreichen jährlich schätzungsweise 7.000 Container Elektroschrott Tema, den größten Tiefseehafen Westafrikas, und werden dann weitertransportiert. Accra ist einer der Hotspots der europäischen Elektroschrott-Verwertung. Mit dem Ausschlachten alter Geräte bestreiten allein in der Hauptstadt rund 20.000 Menschen ihre kärgliche Lebensgrundlage. Durchschnittlich 18 Monate nach dem Kauf ist ein Handy in den westlichen Industrienationen schon wieder aus der Mode, ein neues muss her. Jeder von uns erzeugt 20 Kilo Elektroschrott pro Jahr – Bildschirme, Computer, Drucker und Kühlschränke. So kommen weltweit jährlich 50 Millionen Tonnen zusammen, schätzen die Vereinten Nationen. Laut europäischer Umweltbehörde wächst die Menge an Elektroschrott rund dreimal schneller als jede andere Abfallart. Zwei Drittel davon werden in Entwicklungsländer wie Ghana verschifft und dort ausgeschlachtet. 40 Prozent derjenigen, die in Agbogbloshie Kupfer und andere Metalle aus dem Elektromüll brennen, sind Kinder. Einige von ihnen sind gerade einmal fünf Jahre alt. Bis zu zwölf Stunden am Tag atmen sie die giftigen Dämpfe der brennenden Kabelhaufen ein, die halogenhaltige Flammschutzmittel enthalten und Dioxine und Furane freisetzen. Beim Aufbrechen von Röhrenmonitoren mit Steinen, Brecheisen und den bloßen Händen treten außerdem gefährlicher Kadmiumstaub, Blei und andere Schadstoffe aus. 2008 nahmen Wissenschaftler von Greenpeace in Agbogbloshie Boden-
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und Ascheproben und ermittelten Werte an giftigen Substanzen, die hundertfach über einem gesundheitsverträglichen Maß lagen – Nierenschäden, Lungenkrebs, Unfruchtbarkeit, Entwicklungsstörungen im Gehirn von Kindern und Erkrankungen des Nerven- und Blutkreislaufsystems können die langfristigen Folgen sein. Für ihre gefährliche Arbeit erhalten die Kupfersammler meist nicht mehr als anderthalb Dollar am Tag, laut UNO-Definition leben sie damit an der Schwelle zur extremen Armut. Die meisten Kinder, die tagsüber Elektroschrott verbrennen, leben auch in dem Slum, dessen behelfsmäßige Hütten sich am Rande der Müllberge gruppieren. Rund 40.000 Menschen leben in Agbogbloshie. Viele von ihnen stammen aus dem verarmten Norden des Landes und kamen auf der Suche nach einem besseren Leben in die Hauptstadt. Umgeben von giftigen Chemikalien und einer Wüste aus Schrott endeten sie stattdessen als Ausputzer der westlichen Konsumgesellschaft. Dabei verbietet das 1992 in Kraft getretene Basler Übereinkommen die grenzüberschreitende Verschiebung von Elektroschrott von Industrieländern in Entwicklungsländer. Bis heute sind dem internationalen Regelwerk 176 Länder beigetreten, darunter die Europäische Union. Die Händler und Importeure berufen sich darauf, dass die prall gefüllten Container Gebrauchtware enthielten, die vor Ort repariert und verkauft werden soll – doch wirklich überprüfen kann das niemand. Einzig die Schrottberge am Rande Accras und die dichten schwarzen Rauchwolken, die über die verbrannte Erde von Agbogbloshie ziehen, geben einen Hinweis darauf, was mit einem Großteil der vermeintlichen Gebrauchtware tatsächlich passiert. Kurt Stukenberg ist Redakteur beim »Greenpeace Magazin« in Hamburg.
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Fairschenken Ob Fußbälle, Goldringe, Kleider oder Elektronik – in vielen Bereichen gibt es inzwischen Anbieter, die sich um faire Produktionsbedingungen bemühen. Von Annette Jensen
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iele Leute wollen gerne faire und ökologische Produkte haben, aber sie wissen oft nicht, wo sie sie herbekommen können«, sagt Lovis Willenberg, Initiator der ersten Messe für nachhaltigen Konsum. Der gelernte Landschaftsplaner kennt kleine Firmen, die zwar ein hervorragendes Angebot haben, sich aber kein professionelles Marketing leisten können. Das brachte ihn vor vier Jahren auf die Idee des sogenannten Heldenmarkts. Die Messe im Berliner Postbahnhof ist längst eine feste Institution, die Stellplätze sind jedes Mal überbucht und Besucher müssen am Einlass mit langen Schlangen rechnen. Auch in anderen Städten erwies sich das Konzept schon als voller Erfolg. Lovis Willenberg trifft damit offenbar das Interesse einer wachsenden Zahl von Konsumenten: »Geld ist soziales Gestaltungsmittel. Mit unseren Kaufentscheidungen bestimmen wir, wie sich unsere soziale und ökologische Umwelt entwickelt.« Nie wird so viel umgesetzt wie vor Weihnachten. Fast 500 Euro gibt ein Normalverbraucher für Geschenke, Leckereien und den Festtagsbraten aus. Ein Großteil dessen, was unterm Tannenbaum landet, ist unter menschenunwürdigen Bedingungen hergestellt. Doch inzwischen gibt es auf fast jedem Gebiet auch Anbieter, die sich um faire Produktionsbedingungen bemühen. Goldschmiede können in den seltensten Fällen Auskunft darüber geben, wo das Material herkommt, das sie verarbeiten. In der Regel kaufen sie es von einer Scheideanstalt, die Edelmetalle sowohl recycelt als auch neues Material ankauft. Was im Kerzenlicht funkelt und glänzt, hat oft in anderen Weltregionen Menschen, Tiere und Pflanzen vergiftet. Doch es gibt Alternativen: 2009 schlossen sich Schmuckhersteller zum gemeinnützigen Verein »Fair Trade Minerals & Gems« zusammen, der inzwischen 100 Mitglieder in ganz Deutschland hat. Eine der Gründerinnen ist Dagmar Fleck, die den Edelsteinimport Laurins Garten betreibt und bei Reisen nach Lateinamerika geschockt war über die katastrophalen Auswirkungen der Rohstoffgewinnung.
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Sie und ihre Mitstreiter garantieren den Kunden, dass für ihre Ringe und Ketten kein Schürfer seine Gesundheit ruiniert hat. So arbeiten die Mitglieder der kolumbianischen Kooperative »Oro Verde« ohne Quecksilber und Zyanid. Für das Gold bekommen sie nicht nur den vollen Weltmarktpreis, sondern auch einen 20-prozentigen Aufschlag, mit dem soziale und ökologische Projekte der Kooperative finanziert werden, berichtet Fleck. Ein Fair-Trade-Siegel für Edelmetalle gibt es in Deutschland – anders als in Großbritannien – noch nicht. »Wir arbeiten daran«, versichert Edith Gmeiner von Transfair. »Nach den Schlagzeilen über Blutdiamanten wollten mehr Leute wissen, wo die Rohstoffe für Schmuck herkommen«, hat Goldschmiedemeisterin Ina Kargus beobachtet, die in der Nürnberger Werkstatt »Hobbygoldschmiede« arbeitet. Dort können Brautpaare und andere Menschen unter Anleitung selbst Ringe, Anhänger und Broschen fertigen. Etwa zehn bis 15 Prozent der Kundschaft verlangen faire Rohstoffe und sind dafür bereit, pro Gramm Gold etwa 15 Euro mehr auszugeben, schätzt Kargus. Auch im Elektronikbereich gibt es Bemühungen, faire Produkte auf den Markt zu bringen. Allerdings räumen alle Anbieter ein, dass es aufgrund der vielfältigen Komponenten bislang unmöglich ist, den gesamten Produktionsprozess zu überwachen. So stecken in einem Smartphone allein 30 verschiedene Metalle und Mineralien und selbst eine Computermaus besteht aus 20 verschiedenen Komponenten; entsprechend verschlungen sind die Lieferketten. Vermutlich im Dezember kommt das Fairphone auf den Markt, das der Niederländer Bas van Abel zusammen mit anderen Enthusiasten entwickelt hat. Coltan und Zinn stammen aus überprüften Minen im Kongo, an denen nachweislich keine Warlords verdienen. Auch die Bedingungen der Arbeiterinnen in der chinesischen Montagefirma sind wesentlich besser als üblich und 8,5 Prozent des Kaufpreises gehen in eine Sozialkasse. Die Hersteller haben eine gemeinnützige Stiftung gegründet,
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alle Kostenpunkte transparent aufgelistet und wollen keinen Gewinn erzielen. Finanziert wurde die Entwicklung durch Crowdfunding. Wenn 5.000 Menschen den Kaufpreis im Vorhinein überweisen, kann die Produktion starten, hatte das Fairphone-Team angekündigt. Tatsächlich waren Anfang Oktober schon 17.500 Geräte verkauft. »Es ist nicht das beste Smartphone auf dem Markt, aber gut genug«, kommentiert Bas van Abel die technischen Daten des Geräts, dessen Konstruktion »open source« ist – also theoretisch für jeden nachbaubar. Außerdem ist es reparaturfreundlich, hat einen austauschbaren Akku und ein recyclebares Kunststoffgehäuse. Das Fairphone will kein Marktführer sein, sondern die etablierte Industrie inspirieren, es selbst besser zu machen. Bei Fußbällen ist das schon teilweise gelungen: Zwangs- und Kinderarbeit gibt es in der pakistanischen Sportartikelstadt Sialkot immerhin nicht mehr. Trotzdem ist die Lage vieler Näherinnen verzweifelt: Sie haben kaum noch Aufträge, weil die großen Hersteller zunehmend Maschinen einsetzen – und wo noch in Handarbeit gefertigt wird, gibt es nicht einmal den gesetzlichen Mindestlohn. Anders sieht das für die Mitarbeiterinnen der Firma Talon aus, wenn der Auftrag aus fairem Handel kommt. Dann verdienen sie nicht nur 16 bis 25 Prozent mehr pro Ball. Die dezentralen Werkstätten bieten ihnen außerdem die Möglichkeit, ihre Kinder während der Arbeitszeit gut unterzubringen. Mit trendigen Kleidungsangeboten tun sich faire Handelshäuser traditionell schwer, doch neue Unternehmen wie Armed Angels aus Köln bieten inzwischen moderne und vielfältige TShirts, Pullover und Jeans an, die man übers Internet bestellen kann. Die Biobaumwolle kommt aus Indien, gefärbt, genäht und bestickt werden die Kleidungsstücke in Portugal, der Türkei, Marokko und Indien. Die Verpackung übernehmen zum Großteil Behindertenwerkstätten in Deutschland. Mindestens alle drei Monate ist einer aus dem 20-köpfigen Team bei den Produzenten vor Ort, berichtet Marlene Putsche. Doch weil sie selbst nicht alles kontrollieren können, lassen sie ihre Ware auch durch die Fairtrade-Labelorganisation und die Biokleidungskontrolleure von Ceres überprüfen und dürfen dafür deren Siegel verwen-
»Geld ist soziales Gestaltungsmittel. Mit unseren Kaufentscheidungen bestimmen wir, wie sich unsere Umwelt entwickelt.« 36
den. Der Anspruch der jungen Crew ist hoch: »Wir wollen mit Armed Angels die Textilindustrie verändern, revolutionieren! Wir wollten nicht länger zusehen, wie Mensch und Natur für minderwertige Produkte ausgenutzt und zerstört werden«, sagt Marlene Putsche. Selbst Schokolade, bei der der Welthandel seit den achtziger Jahren durch wenige Großkonzerne wie Cargill dominiert wird, die die Rohstoffpreise drücken und so für katastrophal ungesunde und gefährliche Arbeitsbedingungen sorgen, gibt es inzwischen ohne bitteren Beigeschmack. Der Marktanteil des fairen Handels beträgt allerdings weniger als 0,3 Prozent. Das in Hildesheim ansässige Importunternehmen El Puente verkauft jährlich etwa 20 bis 30 Tonnen Schokolade, vor allem in Weltläden. »Wir sind damit in der Szene eher ein kleinerer Fisch«, sagt Martin Moritz von El Puente. Der Rohstoff stammt überwiegend von Kleinbauernkooperativen aus Lateinamerika und Afrika. Die können im fairen Handel nicht nur mit einem deutlich höheren Preis kalkulieren, sondern haben auch einen Abnehmer, der langfristig mit ihnen zusammenarbeitet. Etwa alle zwei Jahre besuchen El Puente-Mitarbeiter die Handelspartner vor Ort und überlegen gemeinsam mit ihnen, wie Absatz und Qualität der Produkte verbessert werden können. Der Kontakt zu der bolivianischen Kooperative El Ceibo besteht seit Anfang der neunziger Jahre. Die Bauern sind Selbstversorger und bauen darüber hinaus Biokakao für den Export an. Dank Beratung und fairer Preisen konnten sie eine eigene Fabrik errichten, in der sie selbst ihre Bohnen zu Kakaomasse und -butter verarbeiten, die EU-Standards genügen. Gescheitert ist dagegen der Versuch, auch die Verarbeitung zu Schokolade im Herkunftsland zu organisieren. »Die Qualität reichte nicht aus und so etwas wird dann einfach nicht gekauft«, erklärt Martin Moritz. Außerdem ist der Transport schwierig, wenn die Menge zu klein ist, um einen ganzen Kühlcontainer zu füllen. Deshalb übernimmt die Schweizer Schokoladenfabrik Bernrain, die für viele faire Handelshäuser in Europa produziert, die Herstellung. Wer faire Waren sucht, wird also zunehmend fündig; demnächst soll es auch ein Fair-Trade-Siegel für Kosmetik geben. Doch das Ganze ist nach wie vor eine winzige Nische. Selbst fair gehandelter Kaffee als mit Abstand wichtigstes Fairhandelsprodukt erreicht in Deutschland nur einen Markteil von 2,2 Prozent. Zugleich haben viele Großkonzerne erkannt, dass ihre Kundschaft zwar gern billig einkauft, dabei aber nicht an Tote in Bangladeschs Billigfabriken oder Kindersklaven in der Elfenbeinküste denken mag. Deshalb versuchen sie, ihre Fairness durch einen Verhaltenskodex zu demonstrieren. Sehr beliebt ist es, die Selbstverpflichtung durch die »Business Social Compliance Initiative« (BSCI) überwachen zu lassen. Nach außen vermittelt das zwar den Eindruck einer unabhängigen Überprüfung, tatsächlich kommt das Verfahren aber einer Selbstkontrolle gleich. Für die Produzenten von Exportgütern ändert sich dadurch so gut wie nichts. Soll sich die Arbeitssituation auf den Feldern, in den Bergwerken und Fabriken armer Länder tatsächlich verbessern, führt deshalb an rechtsverbindlichen Regelungen kein Weg vorbei. Die Autorin arbeitet als freie Umwelt- und Wirtschaftsjournalistin in Berlin. Diesen Artikel können Sie sich in unserer iPad-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app
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theMa
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besser schenKen
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Berichte
42 Kosovo: Sexuelle Minderheiten 48 Briefmarathon: Mach mit! 56 Russland: Kreml auf allen Kanälen 59 Russland: Olympische Spiele in Sotschi 60 Porträt: Ana Lucía Cuevas 62 Vietnam: Bloggen für die Bauern
Progressives Recht trifft auf patriarchale Werte. Private Party für Schwule und Lesben in einem Restaurant in Priština. Foto: Hannes Jung
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Verborgene
»Newborn«. Denkmal für die Unabhängigkeit des Kosovo in Priština.
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Liebe Viel ist im Kosovo vom Schutz der Minderheiten die Rede, gemeint sind damit normalerweise Serben und Roma. Doch die grĂśĂ&#x;te Minderheit des Landes ist zugleich die am wenigsten sichtbare: Schwule, Lesben und Transsexuelle. Das Land hat zwar eine fortschrittliche Verfassung, in der Praxis nutzt dies aber wenig. Von Dirk Auer (Text) und Hannes Jung (Fotos)
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Kosovo
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Mit dem Rucksack ins Grüne. Park in Priština.
»SEX« stand in großen Lettern auf der Titelseite des Gesellschaftsmagazins »Kosovo 2.0«. Es sollte ein Meilenstein des kritischen Journalismus werden: Ein pralles Heft mit mehr als 150 Seiten, das auch Artikel über homosexuelles Leben im Kosovo und anderen Balkanstaaten enthielt. Die Ausgaben zuvor hatten mit Themen wie »Religion« und »Korruption« bereits heiße Eisen der kosovarischen Gesellschaft angefasst, und auch die neue Ausgabe sollte durch öffentliche Podiumsdiskussionen und Filmvorführungen begleitet werden. Doch die Stimmung war angespannt. Auf der Facebook-Seite der Redaktion gab es Drohungen und Schmähungen und so forderten die Journalisten vorsorglich Polizeischutz an. Eine Vorsichtsmaßnahme, die nicht übertrieben war: Die Veranstaltung hatte noch nicht einmal begonnen, als Islamisten und Anhänger des Fußballfanclubs Plisat den Saal stürmten. Die jungen Männer zerstörten Mobiliar und attackierten einzelne Teilnehmer. Die Veranstaltung wurde abgesagt. Am späteren Abend versammelten sich die Randalierer erneut, diesmal vor einer Party und in noch größerer Anzahl. Begleitet von »Jasht, jasht pederast«Rufen (»Päderasten raus!«) mussten Polizisten schließlich die Gäste aus dem Gebäude eskortieren. Das war im Dezember 2012. Mit einem Mal stand eine Gruppe im Licht der Öffentlichkeit, die ansonsten fast vollständig im Verborgenen lebt. Kosovo ist das einzige europäische Land, in dem die Organisation einer »Gay Pride«-Parade noch nicht einmal angedacht wurde. Kaum jemand lebt »offen«, stattdessen führen viele ein Doppelleben –, aufgezwungen von einem Rollenverständnis, das keine Alternative zum patriarchal geprägten Familienmodell kennt. Auch gibt
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es immer noch keinen öffentlichen Ort, an dem sich Schwule und Lesben ungezwungen treffen könnten. Ein erster Versuch, eine homosexuellenfreundliche Bar zu eröffnen, endete 2011 im Desaster. Der Ort war hochsymbolisch: Er befand sich im Zentrum von Priština, direkt hinter dem gelben Schriftzug »Newborn«, den ein Künstler aus Anlass der Unabhängigkeit des Kosovo installiert hatte. Bereits vor der Eröffnung der Bar wurde der Betreiber bedroht. Fußballhooligans marschierten auf und so sollte die erste Bar gerade einmal für eine Nacht existieren. Wenig später wurde der Ort komplett renoviert. Der ehemalige Besitzer musste vor den anhaltenden Drohungen ins Ausland fliehen. Inzwischen gibt es immerhin ein Büro, das als Treffpunkt dient, betrieben wird es von der neuen NGO »Libertas«. Ein neuer Anlauf also, ein neuer Ort, auf den von außen freilich nichts hinweist. Es gibt kein Schild und auch auf der Webseite wird man nicht fündig, wenn man nach der Adresse sucht. Drinnen sitzen die kosovarischen Mitarbeiter, diskutieren und planen anstehende Veranstaltungen und Kampagnen. Einer von ihnen ist Ilir*, aufgewachsen in einer Kleinstadt im Westen des Kosovo. »Ich wusste eigentlich schon immer, dass irgendetwas ›falsch‹ mit mir war«, erinnert er sich. Mit 13 begann er zum ersten Mal mit einem anderen Jungen aus der Nachbarschaft zu experimentieren. »Er ist heute verheiratet«, sagt Ilir mit einem Lächeln auf den Lippen. Auch nach seinem Umzug nach Priština erzählte Ilir niemandem von seinen Neigungen. »Wir Schwule im Kosovo leben sehr lange Zeit nur in unserem Kopf«, bestätigt Jeton, der eine ähnliche Geschichte er-
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Neuer Anlauf. Schwuler Aktivist, der unerkannt bleiben möchte, in den Räumen des Vereins »Libertas«.
lebt hat. Lange Zeit gab es keine Informationen, vor allem nicht in den Dörfern und Kleinstädten. Heute ist durch Internet und Satellitenfernsehen vieles einfacher, auch die Ankunft zahlreicher Mitarbeiter internationaler Organisationen nach dem Krieg war durchaus hilfreich. Ilir war 21 Jahre alt, als er in einem Café dem Gespräch zweier Ausländer lauschte, die sich über die schwule Dating-Webseite »Gayromeo« unterhielten. Zu Hause tippte er die Adresse in seinen Computer ein, wenig später kam es zu einem ersten Treffen. Ilir und Jeton wissen um die paradoxe Situation, in der sich Schwule und Lesben im Kosovo befinden. Einerseits können sie sich auf ein äußerst fortschrittliches Recht berufen: Als eines der wenigen Länder der Welt hat der Kosovo ein explizites Verbot »sexueller Diskriminierung« in der Verfassung stehen. Auch das Anti-Diskriminierungsgesetz aus dem Jahr 2004 verbietet eine entsprechende Benachteiligung bei Arbeit, Ausbildung, sozialer Sicherheit oder Wohnungssuche. Doch wie in vielen anderen Bereichen existieren rechtliche Normen im Kosovo nur auf dem Papier. Die Verfassung wurde von westlichen Experten geschrieben und dem jüngsten Staat Europas als Bedingung für seine Unabhängigkeit 2007 aufgezwungen. Sie trifft auf eine Gesellschaft, die von einem patriarchalen Familienmodell bestimmt wird. In der Praxis führt das zu einer spannungsreichen Koexistenz von progressivem Recht und jahrhundertealten Traditionen und patriarchalen Werten, die im Konfliktfall oft noch immer über staatliche Institutionen gestellt werden. Wie tief homophobe Einstellungen in der kosovarischen Kultur verwurzelt sind, zeigen verschiedene Umfragen. Nach einer
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2010 von »Gallup Balkan Monitor« durchgeführten Erhebung halten 90 Prozent der Befragten Homosexualität für moralisch falsch. Ein Befund, der durch eine neue Studie von »Libertas« bestätigt wurde: Fast 70 Prozent der Befragten glauben, dass Homosexualität überhaupt nur aufgrund des Drucks durch den Westen zu einem Thema wurde, fast zwei Drittel sind der Überzeugung, dass Homosexuelle die Gesellschaft gefährden. Deutlich sind die Zahlen auch, wenn etwa gefragt wird, wie die Befragten reagieren würden, wenn sich ein Kollege als homosexuell offenbarte: Nur gut zehn Prozent würden nicht homophob reagieren. Sollte es sich um ein Familienmitglied handeln, sinkt diese Zahl sogar auf fünf Prozent. Und so ist es kein Wunder, dass ein »Outing« allenfalls im vertrauten Freundeskreis stattfindet. »Wir sind wirkliche Meister darin, zu spüren, wo etwas möglich ist und wo nicht«, sagt Jeton. Kosovo ist ein kleines Land, die soziale Kontrolle immens, und über allem steht die Familie. Sie ist die Institution, um die sich für den Einzelnen alles dreht, die fortgeführt werden muss – und das keineswegs nur in ländlichen Gegenden. Hatte in den sechziger bis achtziger Jahren ein gesamtjugoslawischer Modernisierungsschub auch den Kosovo nicht unberührt gelassen, so scheinen sich die innerfamiliären Beziehungen seit den neunziger Jahren wieder zu festigen. Bei etwa 40 Prozent Arbeitslosigkeit und der Abwesenheit eines Sozialstaats ist der Familienverband die einzige Institution, die eine Absicherung noch halbwegs gewährleisten kann. Die Erfahrung des Krieges trug ebenfalls dazu bei, althergebrachten Werten wie Männlichkeit und Ehre wieder zu Geltung zu verhelfen. »Männer werden als Krie-
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ger verherrlicht und Frauen als Mütter«, fasst Nita Luci, Anthropologin an der Amerikanischen Universität Kosovo, ihre Forschungen zur Geschlechterkonstruktion in der kosovarischen Nachkriegsgesellschaft zusammen. Und vor diesem Hintergrund sei der soziale Druck einfach viel stärker als jedes Gesetz. »Zur wirklichen Unabhängigkeit kommt es für uns nie«, bestätigt Jeton, der als Kind und Jugendlicher in Deutschland gelebt hat. Vor allem von Männern wird erwartet, dass sie heiraten und eine Familie gründen, um die Tradition fortzuführen: »Das wird uns permanent beigebracht.« Gleichgeschlechtliche Vorlieben haben in dieser Vorstellungswelt keinen Platz, ihre Existenz wird entweder geleugnet oder als Schande für die Familienehre betrachtet, was nicht selten den Verstoß und soziale Stigmatisierung nach sich zieht. »Es gab tatsächlich Fälle, wo ein Outing den Ausschluss aus dem Familienverband zur Folge hatte. Oder wo der Druck so groß wurde, dass dann doch in eine Heirat eingewilligt wurde.« Gleichwohl sind die Geschichten zu vielfältig, um sie über einen Kamm zu scheren. Isen etwa arbeitet als Model und hat in der Modebranche keine Probleme, denn »viele Models sind schwul«, sagt er lachend. In der Öffentlichkeit gilt aber auch für ihn: Gesten, die als feminin ausgelegt werden könnten, sind tabu, Berührungen und verliebte Blicke sowieso. Das Doppelleben, das Schwule und Lesben im Kosovo führen, geht so weit, dass fast jeder ein doppeltes Facebook-Profil hat. Denn Internetforen sind der wichtigste Ort, wo sich Homosexuelle kennenlernen und austauschen können; dort werden Partner gesucht und gefunden. Dies allerdings oft nur für den schnellen sexuellen Kontakt, wie Jeton beklagt. »Die allermeisten von uns wohnen zu Hause, man kann sich nicht zurückziehen – wie will man da eine Beziehung führen?« Hotels bieten Räume an, aber die wenigsten können sich das leisten. »Letztlich nimmst du dir einen Rucksack und gehst ins Grüne«, sagt Jeton schmunzelnd. Teuta ist Anfang dreißig, und hat es da einfacher. Sie wohnt allein, das erleichtert vieles. Und die Erwartungen an Frauen sind geringer, meint sie: »Denn es sind ja die Männer, die die Traditionslinie fortführen müssen.« Teuta kennt deshalb auch nur eine verheiratete Lesbe, aber etwa sechzig Schwule, die sich dem Druck gebeugt und schließlich doch eine Familie gegründet haben. Auch in der Öffentlichkeit empfindet sie den Zwang zur Selbstkontrolle nicht so stark. Während zwei Männer immer leicht unter Verdacht geraten können, könnten Frauen schließlich auch »beste Freundinnen« sein, sagt Teuta und lacht. Unter Beschimpfungen und beruflichen Nachteilen leiden zwar potenziell alle, aber Opfer von Gewalt wurden bislang fast ausschließlich Männer. Frauen schlägt man nicht. Zumindest nicht in der Öffentlichkeit. Doch kaum jemand ist bereit, sich bei Diskriminierungsoder Gewalterfahrungen an staatliche Stellen zu wenden, beob-
»Männer werden als Krieger verherrlicht und Frauen als Mütter.« 46
achtet Sami Kurteshi. Der Ombudsmann für Menschenrechte sitzt in einem modernen Büro im Stadtteil Sunny Hill. Er hat die Aufgabe, Beschwerden von Bürgern nachzugehen, die diese gegenüber staatlichen Institutionen vorbringen. Doch in seinen Berichten ist kein einziger Fall von Schwulen- oder Lesbendiskriminierung registriert, was aber zunächst nur so viel heißt: »Es gab keinen einzigen Fall, der mir gemeldet worden wäre.« Kurteshi weiß gleichwohl, dass sich dahinter ein großes Problem verbirgt. Das Vertrauen in staatliche Institutionen ist im Kosovo äußerst gering, insbesondere das Justizsystem hat einen denkbar schlechten Ruf. Entscheidend aber ist: Wer sich beschwert, muss sich zu erkennen geben. Wenn aber Polizisten und Richter über Homosexuelle nicht anders denken als der Rest der Gesellschaft, wird das zum Problem. Kurteshi kennt die
Geringes Vertrauen in die Institutionen. Schwuler Student vor dem Bill Clinton-Denk
Schande für die Familienehre. In den Räumen von »Libertas«.
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kursierenden Geschichten von Fällen, in denen sich Polizisten über die Opfer homophober Gewalt auch noch lustig gemacht haben. Die Bereitschaft, sich deren Anliegen anzunehmen, sei tatsächlich oft nicht vorhanden, räumt er ein. Und dennoch: »Sie müssen sich einmal entscheiden, zur Polizei zu gehen. Auch mit dem Risiko, dass alles an die Öffentlichkeit kommt. Die Probleme müssen öffentlich werden.« Auch Nita Luci fordert mehr Risiko: »Wer politisch werden will, muss sich exponieren«, sagt sie. Manchmal jedoch werden einem die Entscheidungen durch Ereignisse aus der Hand genommen. So war es ausgerechnet die Gewalt im Dezember 2012, die der schwul-lesbischen Szene zu einem unverhofften Mobilisierungsschub verholfen hat. »Viele Leute, die wir vorher nicht kannten, haben sich plötzlich bei uns gemeldet«, berichtet Jeton. Das Büro musste zwar umziehen, der Eingang ist nun durch Videokameras überwacht, aber nach innen wurde die Szene durch den Druck zusammengeschweißt, bestätigen die anderen Mitarbeiter von »Libertas«. Auch die Zusammenarbeit mit der Polizei sei gut gewesen, in den Medien wurde berichtet, das Fernsehen sendete Diskussionen zum Thema. Die Probleme von Schwulen und Lesben im Kosovo waren plötzlich Gegenstand einer öffentlichen Debatte. Mediale Aufmerksamkeit sei sehr wichtig,
sagt Jeton, damit das Thema in der Öffentlichkeit bleibe und nicht mehr wie in der Vergangenheit unter den Teppich gekehrt werden könne. Aber jetzt müssten auch die Regierungsstellen nachlegen und den Solidaritätsbekundungen Taten folgen lassen. »Mitarbeiter von Polizei und Justiz müssen für unsere Probleme sensibilisiert werden und ein Training in Menschenrechten bekommen.« »Libertas« hat in diesem Sinne bereits vorgelegt. Wochenlang zierten Plakate mit der Aufschrift »Mein Freund ist schwul. Seine Rechte sind unser Stolz« die öffentlichen Flächen von Priština. Als nächstes ist ein »Coming-out Guide« geplant. Auch wenn darin eher zur Behutsamkeit und Geduld geraten wird: In einzelnen Fällen gibt es immerhin kleine Erfolge zu vermelden. Jeton spielt mit dem Gedanken, sich gegenüber seinen Eltern zu offenbaren. Und Teuta hat es gegenüber ihrer Mutter bereits getan. »Sie hat toll reagiert. Ich war total überrascht.« Nur eine erste »Gay Pride«-Parade scheint noch in weiter Ferne. »In 50 Jahren werden wir das vielleicht einmal erleben«, sagt Isen. Vielleicht. *Alle Namen von der Redaktion geändert. Der Autor ist Journalist und lebt in Belgrad. Diesen Artikel können Sie sich in unserer iPad-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app
mal in Priština.
Nita Luci. Anthropologin an der Universität von Priština.
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Kosovo
Sami Kurteshi. Obmann für Menschenrechte im Parlament.
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Der Kreml auf allen
Foto: James Hill / laif
Kanälen
Reißerisches Propagandaorgan. Fernsehauftritt von Präsident Wladimir Putin, April 2013.
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Die russische Regierung hat das Fernsehen zu einem ihrer wichtigsten Machtmittel geformt. Kritische Töne sind rar, die Sender liefern fast ausschließlich kremlfreundliche Kommentare. Von Ulrike Gruska Modern, dynamisch und offen will sich Russland zu den Olympischen Winterspielen im Februar 2014 in Sotschi präsentieren. Doch die Realität im Land sieht oft ganz anders aus: Der Kreml regiert mit harter Hand und verweigert der Bevölkerung grundlegende Bürgerrechte. Auf den Olympia-Baustellen an der Schwarzmeerküste arbeiten Migranten unter miserablen Bedingungen, Naturschutzgebiete wurden zerstört und Tausende Bewohner zwangsumgesiedelt. Der Fernsehzuschauer erfährt von all dem wenig. Die staatlichen russischen Kanäle verbreiten in stromlinienförmigen Nachrichten die offiziell genehmigte Version dessen, was in Russland und der Welt passiert. In der Berichterstattung über die bevorstehenden Olympischen Spiele konzentrieren sie sich auf Erfolgsmeldungen: auf reibungslos verlaufende Testwettbewerbe, die Eröffnung neuer Stadien oder die Präsentation der Medaillen. Zwischentöne sind rar, die Kommentare sind fast ausschließlich kremlfreundlich. Wie es die Staatsspitze schafft, das Fernsehen derart effektiv zu kontrollieren, beschreibt die Organisation »Reporter ohne Grenzen« in ihrem Bericht »Der Kreml auf allen Kanälen«, der im Oktober erschienen ist. Das Fernsehen ist für die russische Regierung eines der wichtigsten Machtmittel, denn fast 90 Prozent der Bevölkerung informieren sich vor allem dort über das politische Geschehen. Die drei größten Sender (Perwyj Kanal, Rossija und NTV) gehören entweder direkt dem Staat oder kremltreuen Unternehmen und Oligarchen. Und weil der Staat auch das Monopol über das aus sowjetischer Zeit stammende Übertragungssystem besitzt, das fast alle Haushalte des riesigen Landes erreicht, werden die drei großen Sender in ganz Russland kostenlos ausgestrahlt. Für alternative Kanäle ist es meist zu teuer, eigene Übertragungssysteme aufzubauen. Der Politikwissenschaftler Robert Orttung hält den Zugang zu politisch relevanten unabhängigen Nachrichten in Russland deshalb heute für »stärker eingeschränkt als jemals zuvor seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion«. In den frühen neunziger Jahren hatten noch mehrere Sender im Besitz konkurrierender Oligarchen mit politischen Informationen und Enthüllungen um die Gunst der Zuschauer geworben. Doch bereits kurz nach dem ersten Amtsantritt Wladimir Putins im Jahr 2000 zerschlug der Kreml die Konzerne privater Medienmogule. Er eignete sich deren Sender an und besetzte leitende Posten in den Redaktionen mit überzeugten Kremlanhängern. Nach und nach wurden sämtliche Sendungen gestrichen, die Kritik an führenden Politikern wagten. Zahlreiche Journalisten wechselten den Beruf oder gingen ins Ausland. Übrig geblieben sind jene, die sich den Machthabern nicht entgegenstellen und ihre Überzeugungen nicht offen auf dem Bildschirm vertreten. Das beste Beispiel für die Politik der jahrelangen systematischen Gleichschaltung ist der Sender NTV. Anfang der neunziger Jahre galt er als die Speerspitze des kritischen
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russlanD
Journalismus im postsowjetischen Russland, heute ist er für viele nur noch ein reißerisches Propagandaorgan des Kreml. Während der Massenproteste Ende 2011 und Anfang 2012, als Zehntausende Russen auf der Straße freie Wahlen forderten, diffamierte er Kritiker der Regierung als Staatsfeinde. Der einzige Fernsehsender, der sich in seinen Berichten offen gegen das Regime stellt, ist der im April 2010 gegründete private Kanal TV Doschd. Er spricht ein gebildetes Publikum in den großen Städten des Landes an und unterscheidet sich vor allem durch zahlreiche Live-Sendungen von den staatlichen Kanälen. Im Staatsfernsehen werden selbst Sendungen, die »live« im Titel tragen, oft vorher aufgezeichnet. Und wenn doch einmal etwas Unvorhergesehenes ins Programm gerät, ist nach der ersten Ausstrahlung im sieben Zeitzonen von Moskau entfernten Wladiwostok immer noch genügend Gelegenheit, nicht genehme Stellen oder Beiträge zu streichen, bevor das Programm im Westen des Landes über den Bildschirm läuft. Die Live-Sendungen bei TV Doschd wirken zwar gelegentlich improvisiert, dafür aber unverfälscht. Dmitri Medwedew verhalf dem Sender im April 2012 zu Bekanntheit, als er ihn zu seinem letzten Interview als amtierender Präsident einlud. Normalerweise sind zu solchen Interviews in Russland nur die großen Staatssender zugelassen. Hier ließ sich zum ersten Mal ein Staatsoberhaupt nicht ausschließlich von Chefredakteuren und Generaldirektoren kremltreuer Medien interviewen, sondern auch von kritischen politischen Journalisten. Wladimir Putin hingegen gilt als weit weniger medienfreundlich. Seit Beginn seiner dritten Amtszeit als Präsident im Mai 2012 wurden zahlreiche Gesetze verabschiedet, die Journalisten einschüchtern sollen. So ist Verleumdung seit Juli 2012 wieder ein Straftatbestand. Für Reporter erhöht das die Gefahr, wegen kritischer Artikel verklagt zu werden. Auch der »Verrat von Staatsgeheimnissen« und »Spionage« werden strenger bestraft. Seit 2013 ist es verboten, in den Medien Schimpfwörter zu benutzen, religiöse Werte zu beleidigen oder für »nichttraditio-
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Foto: Alexey Sazonov / AFP / Getty Images
Kreml im Print-Bereich mit dem Projekt »Russia beyond the Headlines«, das Beilagen für international renommierte Medien – darunter die »Süddeutsche Zeitung« – produziert und sein Material ebenfalls zum Teil kostenlos abgibt. Gerade vor und während der Olympischen Spiele in Sotschi ist es deshalb umso wichtiger, dass internationale Berichterstatter verantwortungsvoll mit Texten und Fernsehbildern aus Russland umgehen. Sender, die Material staatsnaher russischer Kanäle übernehmen, sollten dies deutlich kennzeichnen und die Herkunft der Bilder durch Quellenhinweise transparent machen. Sie sollten die Realität vor Ort im Blick behalten und sich nicht durch professionell produziertes, vermeintlich journalistisches Material täuschen lassen, das im Auftrag der russischen Regierung entsteht und deren Image im Ausland verbessern soll. Systematische Gleichschaltung. Demonstration gegen Medienzensur. Moskau, März 2012. Konkret bedeutet das für die SotschiBerichterstattung: Den Problemen und Skandalen rund um die Olympischen Spiele muss ein angemesnelle sexuelle Beziehungen« zu werben. Die Strafen für Zusener Platz eingeräumt werden. Themen wie Umweltzerstörung, widerhandlungen betragen zum Teil mehrere zehntausend Zwangsumsiedlungen, Korruption und die Ausbeutung von Euro, im schlimmsten Fall können Medien geschlossen werden. Gastarbeitern dürfen dabei nicht nur Randnotizen sein. Durch ihre dehnbaren Formulierungen lassen sich diese Gesetze leicht missbrauchen, um Kritiker mundtot zu machen. Erst Ende Oktober verlor die Nachrichtenagentur Rosbalt ihre Lizenz, Die Autorin ist Mitarbeiterin von »Reporter ohne Grenzen«. weil sie angeblich Videos verlinkt hatte, die Schimpfwörter enthielten – dabei ist völlig unklar, welche Wörter genau verboten Zum Weiterlesen: Reporter ohne Grenzen (Hrsg.): Der Kreml auf allen sind. Kanälen. Wie der russische Staat das Fernsehen lenkt (Oktober 2013). Selbstzensur ist daher unter russischen Journalisten weit Im Internet unter: http://bit.ly/17f0H8Q, oder unter E-Mail: kontakt@reporter-ohne-grenzen.de verbreitet. Nur wenige Redakteure – zumeist in kleineren Sendern mit überschaubarem Publikum – versuchen, Grenzen auszuloten und in ihren Sendungen von der vorgegebenen Linie abzuweichen. Prominente Fernsehgesichter, die sich zumindest gelegentlich offen gegen das Regime stellen, kann man an einer Hand abzählen. Zu ihnen gehörte Alexej Piwowarow, der bis sibirisches straflager Ende Oktober Sprecher der Hauptnachrichten bei NTV war und Die Pussy-Riot-Musikerin Nadeschda Tolokonnikowa wurparallel dazu ein Dokumentarfilmprojekt über die Opposition de nach Auskunft des russischen Menschenrechtsbeauforganisierte. Auch Wladimir Posner, der eine Interviewsendung tragten Wladimir Lukin in ein neues Straflager in Sibirien für den staatlichen Perwyj-Kanal produziert, spricht immer wieverlegt. Das Lager soll in der Region Krasnojarsk liegen, der offen über Zensur. rund 4.000 Kilometer von Moskau entfernt, wo ihr EheDoch nicht nur in Russland, sondern auch im Ausland verman und ihre kleine Tochter leben. Die Musikerin hatte sucht der Kreml inzwischen zunehmend, mit Hilfe kontrollierimmer wieder gegen die Haftbedingungen in ihrem bisheter Bilder seine Sicht der Dinge zu vermitteln. Der mit einem rigen Straflager in Zentralrussland protestiert. Sie kritisierte Budget von jährlich etwa 250 Millionen Euro ausgestattete Ausin einem Schreiben unter anderem, dass die Haftbedinlandssender RT (Russia Today) produziert Nachrichten auf Enggungen an »Sklaverei« grenzten und an das sowjetische lisch, Arabisch und Spanisch und will eine Alternative zu CNN Gulag-System erinnerten. Wochenlang wusste die Familie International und BBC World werden. Chefredakteurin Margarinichts über den Aufenthaltsort der Musikerin. Amnesty ta Simonjan bezeichnet den Sender als »VerteidigungsministeInternational hatte sich daraufhin besorgt über den Verrium des Kreml«. Er soll Russland helfen, den Kampf um die öfbleib Nadeschda Tolokonnikowas geäußert und eine weltfentliche Meinung mittels der Medien zu gewinnen. RT stellt weite Eilaktion gestartet. Darin forderte Amnesty die russiinternationalen Fernsehsendern einen Teil seines Materials kosschen Behörden auf, ihren Aufenthaltsort sofort bekannt tenlos zur Verfügung und hat 2012 in Berlin die Videoagentur zu geben und sie freizulassen. Die Musikerin war im AuRuptly gegründet, die ihr Material weit unter den Preisen etagust 2012 in einem international kritisierten Prozess zu blierter Nachrichtenagenturen anbietet. Ähnliche Wege geht der zwei Jahren Lagerhaft verurteilt worden.
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»Keine Gnade!« Die Sportler sind noch im Trainingslager, doch schon ist der erste Rekord gebrochen: Die Olympischen Winterspiele in Sotschi werden das kostspieligste Sportereignis aller Zeiten. Die Spiele kommen aber nicht nur die russische Staatskasse teuer zu stehen. Von Ramin M. Nowzad
Foto: James Hill / laif
Wladimir Putin ist ein Meister der Inszenierung. Und am liebsten inszeniert er sich selbst. Kein Wunder also, dass der russische Staatspräsident die Olympischen Winterspiele 2014 zur Chefsache erklärt hat. Die Spiele in Sotschi sollen im Februar alles Dagewesene übertrumpfen. Das lässt sich der Kreml einiges kosten: Rund 40 Milliarden Euro werden die Spiele verschlingen, mehr als alle bisherigen Winterspiele zusammen. Doch das Großereignis kommt nicht nur die russische Staatskasse teuer zu stehen. Viele Arbeiter, die seit Monaten auf den Olympia-Baustellen schuften, fühlen sich ausgebeutet. Vor sechs Jahren, als Sotschi den Zuschlag erhielt, konnte der Kurort noch nicht einmal einen vernünftigen Skilift vorweisen – ganz zu schweigen von Sportstadien, Eissportpalästen, Rodelbahnen oder den 42.000 Hotelbetten, die das Internationale Olympische Komitee verlangt. Rund 100.000 Arbeiter rackern seither rund um die Uhr, um einen Neubau nach dem anderen aus dem Boden zu stampfen. Die Arbeitsbedingungen sind katastrophal. Jüngst nähte sich ein Tagelöhner aus Protest den Mund zu, im Internet kursiert ein Video der grausigen Aktion. Der Mann ist Russe – und damit noch in einer besseren Lage als das Heer der Migranten, das in Sotschi arbeitet. Es wird geschätzt, dass mehr als 40.000 Ausländer, vor allem aus Zentralasien, auf den Baustellen schuften. Manche Baufirmen beantragen für die Migranten keine Arbeitsgenehmigungen und nehmen den Männern die Pässe ab. So sind die Arbeiter illegal im Land und den Firmen ausgelie-
fert: Sie können weder die Baustelle verlassen, noch sich bei der Polizei beschweren. Viele Migranten malochen sieben Tage die Woche, zehn Stunden am Tag. Wenn es gut läuft, verdienen sie pro Stunde zwei Euro. Doch manche warten monatelang auf ihr Geld, andere werden gänzlich um ihren Lohn betrogen. Erst werden sie ausgebeutet, dann abgeschoben: Wenn die Olympischen Spiele mit großem Pomp eröffnet werden, soll kein Arbeitsmigrant das Stadtbild verschandeln. Der Gouverneur der Region ließ daran jüngst keinen Zweifel: »Alle müssen nach Hause geschickt werden«, sagte Alexander Tkatschow. »Unsere Brigaden werden die Straßen säubern. Ich fordere: Keine Gnade!« Dabei gäbe es anderes aufzuräumen, denn auch die Natur hat unter der olympischen Bauwut zu leiden: Nördlich von Sotschi wurden jüngst im Wasserschutzgebiet mehrere Tonnen Olympia-Müll entdeckt. Umweltschützer befürchten, dass Giftstoffe bereits ins Grundwasser gesickert sein könnten. Bei den Einheimischen ist das Olympiaprojekt ohnehin umstritten. Bulldozer haben Hunderte Häuser zerstört – für Schienen, Straßen und Sportarenen. Und der nächste Skandal steht schon ins Haus, denn auch Putins Schlapphüte sind längst im Trainingslager: Wie ein russisches Journalistenduo enthüllte, hat der Geheimdienst FSB das ausgefeilte Überwachungssystem »SORM« in Sotschi in Stellung gebracht. Die Agenten wollen in der Lage sein, am Austragungsort alle Besucher, Athleten und Journalisten lückenlos auszuspähen. Jedes Telefon soll angezapft, jeder Chat gespeichert, jede SMS gelesen werden können. Als die Olympische Flamme im Oktober Moskau erreichte, versprach Putin, dass die Spiele von großer »Offenheit« geprägt sein werden. Es steht zu befürchten, dass er sein Versprechen einlösen wird.
Teure Inszenierung. Wintersportler in Sotschi.
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»Gebt mir Carlos zurück – oder nehmt mich auch!« Als junge Frau kämpfte Ana Lucía Cuevas in Guatemala gegen die Schreckensherrschaft des Militärs. In ihrem Dokumentarfilm »The Echo of Pain of the Many« erzählt sie nun von der Tragödie ihrer Familie – in der sich die Tragödie ihres Landes spiegelt. Von Ramin M. Nowzad Eine Zahl ist eine Zahl. Und die Zahl »300« ist auch nur eine unter anderen. Ana Lucía fiel die Zahl zunächst auch gar nicht auf. Wie gebannt starrte sie auf das Passbild ihres Bruders. Es war das Jahr 1999, seit 15 Jahren hatte sie täglich auf ein Lebenszeichen von Carlos gewartet. Dass sie nun sein Foto in einer vergilbten Geheimakte des Militärs fand, elektrisierte sie. Das Schwarz-Weiß-Bild musste kurz vor seinem Verschwinden aufgenommen worden sein. Carlos sah darauf aus, wie ihn Ana Lucía in Erinnerung hatte: ein junger Mann, Anfang zwanzig, mit schönem, ebenmäßigem Gesicht, der mit wilder Entschlossenheit in die Kamera blickt. Es dauerte eine Weile, bis Ana Lucía bemerkte, dass jemand mit Bleistift das Datum »1. August 1984« und die Zahl »300« neben das Foto gekritzelt hatte. Und plötzlich begriff sie: Ihr Bruder würde nicht mehr zurückkehren. Den Mördern war bewusst, dass sie Ungeheuerliches taten. Selbst in ihren geheimen Dossiers nannten sie ihre Verbrechen nicht beim Namen, sondern chiffrierten sie mit einer Zahl: »300« stand für Mord. Während des Bürgerkriegs in Guatemala verschleppte das Militär rund 45.000 Oppositionelle. Carlos Cuevas ist einer von ihnen. Wenn die Filmemacherin Ana Lucía Cuevas von ihm spricht, wird ihre sanfte Stimme brüchig. »Carlos war nicht nur mein Bruder«, sagt sie mit einem zaghaften Lächeln. »Er war mein Seelenverwandter.« Die 49-jährige Regisseurin, die heute in Manchester lebt, kämpfte als junge Frau in ihrer Heimat gegen die Militärdiktatur. Als sie im Jahr 1984 um ihr Leben fürchtete, flüchtete sie aus dem Land. Sie wollte auch Carlos zur Flucht überreden. Doch ihr Bruder blieb – und wurde zwei Monate später entführt. In ihrem Dokumentarfilm »The Echo of Pain of the Many« erzählt sie seine Geschichte. Ihr Film handelt nicht nur von der Tragödie ihrer Familie, sondern auch von der Tragödie ihres Landes. Es war ein brütend
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heißer Sommertag, der Guatemala ins Verderben stürzte: Am 18. Juni 1954 putschten die USA den demokratisch gewählten Präsidenten aus dem Amt und setzten einen Militärdiktator ein. Für die USA war es nur ein kleiner Schachzug im Kalten Krieg: Ein unliebsamer Staatschef wurde durch eine gefügige Marionette ersetzt. Doch für Guatemala war es der Beginn einer Leidensepoche, deren Wunden bis heute nicht vernarbt sind. Nach dem Staatsstreich zogen von der CIA ausgebildete Todesschwadronen durchs Land und ermordeten Tausende Andersdenkende. Als linke Rebellen gegen die Junta aufbegehrten, rotteten die Machthaber ganze Dörfer aus, um den Widerstand zu brechen. Zwischen 1960 und 1996 tötete das Militär fast 200.000 Zivilisten, auch Frauen und Kinder blieben nicht verschont. Bis heute werden in Guatemala neue Massengräber gehoben. Ana Lucía hofft, dass man eines Tages auch auf das Skelett ihres Bruders stoßen wird. »Uns ist es wichtig, Carlos bestatten zu können«, sagt sie. Irgendwann soll er wieder neben seiner Ehefrau Rosario liegen. Wenn schon nicht im Leben, dann wenigstens im Grab. Carlos’ Geschichte ist auch die Geschichte seiner Frau. Er hatte Rosario das erste Mal im Hörsaal bemerkt. Sie war schlank, hochgewachsen und selbstbewusst. Eine junge Frau mit großem Charisma, klugen Augen und pechschwarzem Haar. Die beiden gefielen sich, verliebten sich und heirateten. Als Rosario schwanger wurde, war sie gerade einmal zwanzig Jahre alt. Die Zukunft schien Glück zu versprechen. Dann verschwand Carlos. Als er am Abend des 15. Mai 1984 nicht nach Hause kam, ahnte Rosario sofort, dass man ihn entführt haben könnte. Mit seinen feurigen Reden gegen die Schreckensherrschaft des Militärs hatte sich Carlos nicht nur unter Studenten einen Namen gemacht. Monatelang suchte Rosario ihn in Krankenhäusern, Haftanstalten und Leichenhallen. Dann erhielt sie einen anonymen Anruf: Der Geheimdienst halte ihren Mann gefangen. Rosario war entschlossen, Carlos zu befreien. Sie konnte nicht wissen, dass der Anrufer eine falsche Fährte gelegt hatte und Carlos’ Leiche längst verscharrt war. Rosario schrieb Bitt-
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Foto: Jacob Russell
»Er war nicht nur mein Bruder, er war mein Seelenverwandter.« Die guatemaltekische Filmemacherin Ana Lucía Cuevas.
briefe an Polizeibeamte und Minister. Und sie schloss sich mit anderen Frauen zusammen, deren Angehörige ebenfalls spurlos verschwunden waren. Archivaufnahmen zeigen, wie die Frauen mit Plakaten und Trommeln durch die Straßen der Hauptstadt ziehen. Rosarios Stimme hallt durchs Megafon: »Gebt mir Carlos zurück – oder nehmt mich auch!« Als man ihre Leiche fand, sprachen die Behörden von einem »tragischen Unfall«. Ein Passant hatte das Auto am Karfreitag 1985 in einem Straßengraben entdeckt. In dem Wagen lagen drei Tote: Rosario, ihr jüngerer Bruder Mynor und Augusto, ihr dreijähriger Sohn. Es sei ein Verkehrsunfall gewesen, beteuerte auch der Arzt, der die Obduktionen vornahm. Im Leichenhaus bot sich Rosarios Angehörigen ein anderes Bild. Auf Rosarios Brüsten waren Biss-Spuren zu sehen, ihr Schlüpfer war blutgetränkt. Dass Rosarios kleiner Sohn keine Fingernägel mehr hatte, fiel ihnen erst bei der Beerdigung auf. Jemand musste sie dem Jungen gewaltsam herausgerissen haben. Die Trauergäste fragten sich, ob man Rosario gezwungen hatte, dabei zuzusehen. Die Morde blieben ungesühnt – wie die meisten Verbrechen aus der Zeit des Bürgerkriegs. Nach 36 Jahren endete der bewaffnete Konflikt im Winter 1996 mit einem Friedensabkommen zwischen Armee und Aufständischen. Die katholische Kirche rief eine Untersuchungskommission ins Leben, um die Gräuel der Vergangenheit aufzuarbeiten. Bischof Juan Gerardi, ein lebenslustiger Befreiungstheologe, der die Endphase des Bürger-
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ana lucía cuevas
krieges im Exil verbracht hatte, leitete die Kommission. Als der Bischof am 26. April 1998 den 1.400 Seiten starken Abschlussbericht in der Kathedrale von Guatemala-Stadt vorstellte, platzte das Gotteshaus aus allen Nähten. Obwohl der Bischof an diesem Frühlingstag von geschändeten Frauen, gepfählten Kindern und Leichenbergen im ganzen Land sprach, herrschte unter den Zuhörern ein stilles Hochgefühl. Endlich durfte man über die Schrecken der Vergangenheit sprechen. Endlich musste man keine Angst mehr haben. Zwei Tage später fand man den Bischof in der Garage seines Pfarrhauses. Seine Mörder hatten ihm den Schädel mit einer Betonplatte zertrümmert. »Wer die Untaten des Militärs zur Sprache bringt, lebt noch immer gefährlich«, sagt Ana Lucía Cuevas. Nachdem ihr Film in Guatemala Premiere feierte, wurde auch sie bedroht. »Die alten Eliten ziehen weiterhin die Strippen im Land.« Allzu vielen Verbrechern von einst ist der geschmeidige Sprung in die Zivilgesellschaft geglückt. Wie beispielsweise dem General Pérez Molina. In den achtziger Jahren soll er wehrlose Maya-Bauern massakriert haben. Nun sitzt der Ex-Militär im Präsidentenpalast. Nicht ein Putsch, sondern freie Wahlen haben ihn dort hingebracht. »Mein Land leidet unter kollektivem Gedächtnisverlust«, diagnostiziert Ana Lucía Cuevas. »Auch deswegen habe ich meinen Film gedreht.« Der Autor ist Volontär des Amnesty Journals.
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66 Graphic Novels: Das neue politische Buch 68 Rezension: Frauenpower auf Arabisch 70 Tanz: Faustin Linyekula 72 Interview: Susana Baca 74 Fotoprojekt: »Zorn« 76 Bücher: Von »Unterwegs« bis »Secondhand-Zeit« 78 Film & Musik: Von »Zaytoun« bis »Tamikrest«
Krieg in der Idylle. Szene aus den »Reportagen« von Joe Sacco. Zeichnung: Joe Sacco / Edition Moderne
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Der Comic meint es ernst Mit Marjane Satrapis »Persepolis« fing der Boom der Graphic Novel in Deutschland an: Seither interessieren sich auch Menschen außerhalb der Comic-Szene für die gezeichneten Bücher. Auffallend viele Graphic Novels, die in den vergangenen Jahren erschienen sind, behandeln politische Themen. Von Wera Reusch
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Peggy Adams schlichte Zeichnungen mit ihren starken Schwarz-Weiß-Kontrasten erzeugen eine ausweglose, bedrückende Stimmung. Nur ein einziges Mal kommt Hoffnung auf, als Alma einen jungen französischen Touristen kennenlernt und einen Ausbruchversuch wagt. Doch verzichtet die Autorin auf ein Happy End – der junge Mann macht in Mexiko viele schöne Fotos und fliegt dann nach Europa zurück. Peggy Adams ist mit »Luchadoras« ein eindrucksvolles Buch und ein starkes Plädoyer gegen Gewalt an Frauen gelungen. Politische Themen anhand fiktiver Geschichten zu verarbeiten, hat in Romanen und Filmen eine lange Tradition. Im Vergleich dazu ist die Graphic Novel eine junge Kunstform. Die gezeichneten Bücher erfreuen sich vor allem bei der Generation großer Beliebtheit, die überwiegend mit visuellen Medien aufgewachsen ist. Durch die enge Verbindung von Text und Bild wirken Graphic Novels auf verschiedenen Ebenen. Sie können komplexe Inhalte verdichten, aber auch einen leichteren Zugang zu schwierigen Themen schaffen. Oft kann die Bildsprache weiterhelfen, wo Sprache an ihre Grenzen stößt. So fliegen bei Peggy Adam mehrfach Eulen durch die nächtliche Wüste – als Zeugen von Gewalttaten, die nicht näher ausgeführt werden. Aufgrund ihres im Wortsinn »aufzeichnenden« Charakters ist die Graphic Novel auch ideal für Reportagen. Und so verwundert es nicht, dass in den vergangenen Jahren zahlreiche Bücher erschienen sind, die politische Entwicklungen in Bildgeschichten dokumentieren. Als Beispiele seien Joe Saccos Reportagen
Zeichnungen: Mana Neyestani / Edition Moderne
in Artikel im Schweizer Amnesty Magazin war für die französische Zeichnerin Peggy Adam der Auslöser für ihr Buch »Luchadoras«. Das Magazin hatte über die Frauenmorde in der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez berichtet. Dort wurden seit 1993 Hunderte junger Frauen vergewaltigt, verstümmelt und ermordet. Zahllose weitere Frauen sind spurlos verschwunden. Die Frauenmorde in Ciudad Juárez haben für internationale Schlagzeilen gesorgt, die mexikanischen Behörden zeigen jedoch bis heute kein Interesse daran, die Täter ausfindig zu machen und zu bestrafen. Vor diesem realen Hintergrund erzählt Peggy Adam in »Luchadoras« die fiktive Geschichte von Alma. Die junge Frau mit dem Totenkopf-Tattoo auf dem Oberarm wirkt selbstbewusst. Sie jobbt in einer Bar in Ciudad Juárez und trägt ein Messer bei sich, denn sie will nicht »wie all die anderen Mädchen im Straßengraben enden«. Doch auch Alma kann der Frauenverachtung und Gewalt nicht entkommen: Ihr Freund ist Mitglied einer Gang, krankhaft eifersüchtig und brutal. Ihre kleine Tochter stößt beim Spielen auf eine verstümmelte Leiche und Alma erlebt aus nächster Nähe, wie junge Frauen auf dem Weg zur Arbeit in die Weltmarktfabriken verschleppt werden und tot in der Wüste enden. »Luchadoras« wirft ein gnadenloses Bild auf eine Gesellschaft, die von Machismo und Gewalt durchdrungen ist: Ob Lebensgefährte oder Polizist, Barbesucher, Vorarbeiter oder Busfahrer – wenn es darum geht, Frauen zu demütigen, stehen sich alle in nichts nach.
Frauenmorde in Mexiko. Szenenfolge
Opfer der Comic-Affäre. Szenenfolge aus »Ein iranischer Albtraum«.
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Zeichnungen: Peggy Adam / Avant Verlag
aus dem Comic »Luchadoras«.
aus Bosnien, Palästina und anderen Ländern genannt, die Berichte des italienischen Zeichners Igort aus der Ukraine und Russland (Amnesty Journal 4/5-2013) oder die Aufzeichnungen des kanadischen Autors Guy Delisle aus China, Nordkorea und Birma (Amnesty Journal 8/2009). Auf aktuelle Ereignisse bezieht sich auch die Gerichtsreportage von Wiktoria Lomasko und Anton Nikolajew, die den Prozess um die Moskauer Ausstellung »Verbotene Kunst« schildert (Amnesty Journal 8/9-2013). Eine der größten Stärken der Graphic Novel ist ihr subjektiver, »handgemachter« Charakter, der sich aus dem individuellen Zeichenstil des Autors ergibt. Diese persönliche Handschrift kommt ganz besonders zum Tragen, wenn Zeichner ihre eigene Biografie reflektieren und politische Ereignisse mit privatem Erleben verbinden. »Persepolis« – Marjane Satrapis 2004 auf Deutsch erschienenes Meisterwerk über ihre Kindheit und Jugend im Iran des Ayatollah Chomeini ist da an erster Stelle zu nennen. Der vor kurzem veröffentlichte Band »Das Spiel der Schwalben« der libanesischen Künstlerin Zeina Abirached über die Zeit des Bürgerkriegs in Beirut steht dem jedoch in nichts nach (Amnesty Journal 10/11-2013). Auch »Ein iranischer Albtraum« von Mana Neyestani hat einen autobiografischen Hintergrund. Der Karikaturist erzählt darin eine unglaubliche, aber wahre Geschichte: Sie beginnt damit, dass Neyestani im Sommer 2006 einen harmlosen Comic für die Kinderseite einer iranischen Zeitung zeichnet. Darauf ist ein kleiner Junge zu sehen, der sich mit einer Kakerlake unterhält. »Namana?« fragt die Kakerlake, was so viel heißt wie
»Hä?«. Der Zeichner ahnt nicht, dass er damit politische Proteste von Angehörigen der aserbaidschanischen Minderheit im Iran auslöst. Da das Wort »Namana« ursprünglich aus ihrer Sprache stammt, vermuten sie, die Zeitung habe sie als Kakerlaken diffamieren wollen. Die »Comic-Affäre« forderte 2006 etliche Opfer. Im Nordwesten des Landes, wo vor allem Aserbaidschaner leben, kam es wegen der Zeichnungen zu Demonstrationen. Nach Informationen von Amnesty International nahmen die Sicherheitskräfte Hunderte, wenn nicht Tausende Menschen in Haft und waren für zahlreiche Todesfälle verantwortlich. Die iranischen Behörden inhaftierten auch den Zeichner der Kakerlake. In »Ein iranischer Albtraum« hat Neyestani seine Erlebnisse im Teheraner Evin-Gefängnis künstlerisch verarbeitet. In fein schraffierten Schwarz-Weiß-Zeichnungen schildert er Tage in Einzelhaft und Verhöre, Erlebnisse mit Mitgefangenen, Korruption, Gewalt und Drogenhandel. Mit dem geübten Strich des Karikaturisten schafft er typische Figuren, die an ihrem grimmigen Gesicht, ihren abstehenden Ohren oder ihrem hinterlistigen Grinsen leicht wiederzuerkennen sind. Neyestani, der mit seiner Nickelbrille wie ein großer Junge aussieht, gerät im Laufe der Geschichte vom Regen in die Traufe. Doch trotz aller Tragik behält der Zeichner seine feine Ironie. Als er die Hoffnung auf Freilassung schon fast aufgegeben hat, wird ihm Hafturlaub gewährt. Er nutzt die Gelegenheit und verlässt gemeinsam mit seiner Frau den Iran. Doch der Albtraum ist damit nicht vorbei: Als Flüchtlinge, die keiner haben will, irren die beiden durch die Welt. Im Epilog schildert Mana Neyestani, dass er schließlich von »Reporter ohne Grenzen« unterstützt wurde und seit 2011 in Paris lebt. »Ein iranischer Albtraum« ist nicht nur ein brillantes Buch, sondern auch ein weiterer Beweis dafür, welch starke politische Aussagekraft eine gute Graphic Novel entwickeln kann. Peggy Adam: Luchadoras. Aus dem Französischen von Volker Zimmermann. Avant-Verlag, Berlin 2013, 96 Seiten, 17,95 Euro. Mana Neyestani: Ein iranischer Albtraum. Aus dem Französischen von Marin Aeschbach und Wolfgang Bortlik. Edition Moderne, Zürich 2013, 200 Seiten, 24 Euro. Weitere Auszüge finden Sie in unserer iPad-App: www.amnesty.de/app
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Frauen mischen mit Knapp drei Jahre Aufstand, knapp drei Jahre Fortschritte und Rückschläge in der arabischen Welt: Der Journalist Karim El-Gawhary porträtiert sehr unterschiedliche Frauen. Von Maik Söhler
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ie erste ägyptische Lkw-Fahrerin ist ihm genauso viel Aufmerksamkeit wert wie die erste Richterin am Verfassungsgericht in Kairo. Eine Kämpferin im Krieg gegen Syriens Machthaber Assad findet ebenso ihren Platz wie eine Frau, die in Saudi-Arabien einfach nur selbst Auto fahren will. Karim El-Gawhary, in Kairo lebender ÄgyptenKorrespondent deutscher und österreichischer Medien, hat mit seinem neuen Buch »Frauenpower auf Arabisch« ein kurzweiliges, weil interessantes und abwechslungsreiches Werk vorgelegt. Im Vorwort beschreibt er die Probleme, die Frauen derzeit von Bahrain bis Libyen und vom Jemen bis in die palästinensischen Gebiete bereitet werden: »Islamisch-konservative Strömungen und Traditionalisten versuchen die Frauen immer wieder an die Wand zu drängen.« Doch das sei nur die halbe Wahrheit, die Porträts in seinem Buch erzählten auch von komplexeren Perspektiven: »Die Geschichten zeigen, dass die Wirklichkeit nicht schwarz oder weiß ist und westliche Stereotypen die Realität nicht abbilden.« Diesen Stereotypen – das Kopftuch und die angebliche Unvereinbarkeit von Frauenrechten mit dem Islam, um nur zwei zu nennen – setzt El-Gawhary andere, subjektive Erzählungen entgegen. Da ist zum Beispiel Asmaa, die in Bengasi und an der Front im Krieg gegen Gaddafi als Helferin und Kurierin Aufgaben übernahm, die schließlich zum Sturz des Regimes beitrugen. Da ist Hadil, eine Syrerin im Aufstand gegen Assads Truppen, die das Land verlassen musste, noch im Exil verfolgt wird und trotzdem bekennt: »Der Kampf der Frauen um ihre Stellung in Gesellschaft und Politik wird sicherlich auch nach dem Aufstand weitergehen.«
Mit ganz anderen Nöten hat indes Umm Naama am Stadtrand von Kairo zu kämpfen. Nur wenig mehr als ein Euro am Tag stehen ihr zur Verfügung, um ihre sechsköpfige Familie zu ernähren. Das Geld reicht gerade mal für Ausschusskartoffeln, überreife Tomaten und ein wenig Brot. El-Gawhary schafft es in diesem Kapitel, große Nähe zu Umm Naama und ihrer Familie zu erzeugen und zugleich deutlich zu machen, dass ihr Leben dem Alltag Tausender Ägypterinnen entspricht. »Vier von zehn Ägypterinnen, die mit etwas mehr als einem Euro am Tag auskommen müssen, geht es vor allem um ihre ökonomischen Rechte«, schreibt er denn auch folgerichtig im Nachwort und nimmt konsequent in den Blick, was in der Berichterstattung der westlichen Medien über die Arabellion so oft zu kurz kam: die weitverbreitete Armut. Die Leistungen mancher »stolzer Pionierinnen«, die uns der Autor nahebringt, erscheinen auf den ersten Blick nicht der Rede wert: Was sagt es schon aus, eine Taxifahrerin in Kairo, eine Fotografin im Jemen oder eine Gewerkschafterin in Suez zu sein? Im Porträt erschließt sich dann jedoch schnell die besondere Leistung der jeweiligen Frau in einer strikt patriarchalen und autoritären Umgebung. Und: All jene Frauen leben, arbeiten, diskutieren und engagieren sich in Verhältnissen, die eben alles andere als normal sind: »Sie können jedem arabischen Mann, aber auch jeder europäischen Frau das Wasser reichen. Das gilt umso mehr, als sie oft unter viel widrigeren Umständen für ihre Rechte zu kämpfen haben: in Armut, im Krieg, in der permanenten Krise, also immer steil bergauf.« Wir lesen von den libyschen Politikerinnen Wafa und Intisar, die einen Krieg gewonnen haben und nun in der weiter von Männern geprägten libyschen Gesellschaft für Gleichstellung, Frauenrechte und die Abschaffung männlicher Privilegien kämpfen. Wir lesen davon, wie sich der Tahrir-Platz in Kairo von Ägyptens erstem Ort der Gleichberechtigung zu einem Ort der organisierten sexuellen Übergriffe entwickelt hat und was Ägypterinnen und Ägypter unternehmen, um diese zu verhindern. Und wir lesen vom Alltag von Frauen in Saudi-Arabien, einem Land, an dem der Arabische Frühling scheinbar spurlos
Aktivistinnen des Arabischen Frühlings. Nidhal Halaiem, Omayma Miladi, Rim Saghrouni, Sara Tawfiq, Amel El-Saidi, Nehar Serry, Sohair El Abssy (von links unten
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»Traditionen werden gebrochen, alte Werte hinterfragt und vermeintlich zeitlose Tabus demontiert.« vorbeigegangen ist. Doch auch hier nehmen sich Frauen wie Salwa und Abier inzwischen mehr Freiheiten heraus als noch vor drei Jahren. Die meisten Porträts hat El-Gawhary in den vergangenen zwei, drei Jahren geschrieben, bei einigen wurde mit einem kurzen Update sogar der weitere Werdegang der jeweiligen Frau notiert. Anders verhält es sich mit drei Berichten über palästinensische Frauen, die zum Kapitel »Die bitteren Verliererinnen« gehören. Diese Texte sind älter und wirken in dem Buch etwas deplatziert. Ein Unterkapitel heißt »Ajat: Wenn eine junge Palästinenserin als Waffe stirbt« und erzählt die Geschichte einer palästinensischen Selbstmordattentäterin. Im Kontext eines Buches mit dem Titel »Frauenpower auf Arabisch« könnte der Beitrag nicht unpassender sein. Claudia Roth, Politikerin von Bündnis 90/Die Grünen, schreibt im Vorwort: »Das Buch gibt keine abschließenden Antworten, es zeigt die Wege, die Frauen erkunden, um im Dickicht der Alltagswidersprüche zu bestehen.« Dieser Alltag reicht, das zeigt El-Gawharys Buch sehr deutlich, vom Kampf ums Überleben bis zur Ausübung politischer Macht. Eminent politisch ist jedoch beides. »Traditionen werden gebrochen, alte Werte hinterfragt und vermeintlich zeitlose Tabus demontiert. Im Zentrum dieses gesellschaftlichen Wandels steht die Rolle der Frau«, betont der Autor. »Was immer geschieht, die Frauen werden dabei sein.«
Fotos: Ilya van Marle / Amnesty
Karim El-Gawhary: Frauenpower auf Arabisch. Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 2013, 208 Seiten, 22 Euro.
nach rechts oben).
Kultur
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»frauenpower auf arabisch«
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Wut und Schmerz Der kongolesische T채nzer und Choreograf Faustin Linyekula z채hlt zu den bekanntesten K체nstlern Afrikas. In seinen Arbeiten thematisiert er die grausame Geschichte und Gegenwart seines Heimatlandes. Von Georg Kasch
Tanzt die blutige Geschichte des Kongo. Faustin Linyekula.
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Foto: Agathe Poupeney
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ch will keine Geschichten mehr vom Elend erzählen«, sagt der kleine drahtige Mann am Rand der Bühne. »Ich will mich auf die Suche nach den Träumen machen.« So sehr Faustin Linyekula den Träumen an verschiedenen Orten seines Heimatlandes nachspürt, so sehr die Tänzer und Schauspieler kreiseln und stampfen, singen und brüllen und ihre Körper zucken lassen, als könnten sie so ein besseres Leben beschwören – am Ende erkennt Linyekula: »Hier ist der Traum nicht mehr. Man muss weiter nach ihm suchen.« Seit langem schon thematisiert der Tänzer und Choreograf in seinen Arbeiten Geschichte und Gegenwart der Demokratischen Republik Kongo, die Jahrzehnte der Kriege, des Terrors, der Angst und des wirtschaftlichen Zusammenbruchs. »Ich erzähle immer wieder von Wut und Schmerz«, erklärt Linyekula den Beginn von »Drums and Digging« (Trommeln und Graben), das in diesem Jahr unter anderem beim Theaterfestival in Avignon und beim Berliner Festival »Tanz im August« zu sehen war. Eigentlich will er das nicht mehr, aber bislang ist ihm kein anderes Thema geglückt – zu tief sitzen die Wunden der vergangenen Jahrzehnte, zu chaotisch sind die Zustände in seinem Heimatland. Besonders tief steigt er hinab in den Keller der kongolesischen Geschichte in seinem Stück »Sur les traces de Dinozord« (Auf den Spuren von Dinozord), das im Sommer beim »Foreign Affairs«-Festival in Berlin gezeigt wurde. Er setzt damit auch dem kongolesischen Dichter Kabako ein Denkmal, der 1997 an der Pest starb. Nach seinem Jugendfreund hat Linyekula auch seine Produktionsplattform benannt, die Studios Kabako. Die Demokratische Republik Kongo hat eine blutige Geschichte: Der belgische König Leopold II. erklärte das Gebiet zu seinem Privatbesitz und beutete es brutal aus. Nachdem das Land 1960 die Unabhängigkeit erlangt hatte, putschte sich 1965 Mobutu an die Macht. Der Diktator regierte das Land unter dem Namen Zaire bis 1997. Unter seinem Nachfolger, Ex-Rebellenführer Laurent Désiré Kabila, spitzte sich die Situation weiter zu. Dessen Sohn Joseph wurde zwar 2006 als erster Präsident demokratisch gewählt, dem Land geht es jedoch dennoch schlecht, sagt Linyekula: »Wir fallen gerade hinter die schlimme MobutuZeit zurück. Das ist tragisch! Mobutu hatte eine bestimmte Idee von sich selbst, er brachte die Menschen wenigstens zum Träumen. Heute zeichnet sich die Regierung durch den kollektiven Mangel an Ehrgeiz aus.« Jenseits der Hauptstadt herrscht Chaos und Selbstorganisation – bestenfalls. »Eine Folge der Diktatur, als jede Individualität unterdrückt wurde, ist die Tatsache, dass zu wenige Menschen in der Gesellschaft Verantwortung übernehmen. Wenn es ein Problem gibt, warten wir auf jemanden, der von außen kommt und es löst.« Der 39-Jährige gehört längst zu den bekanntesten Künstlern Afrikas. Nach längeren Aufenthalten in Europa kehrte er 2001 in sein Heimatland zurück und gründete in Kinshasa seine Produktionsplattform, die er mittlerweile in Kisangani im Norden des Landes betreibt. In den Studios Kabako produziert er Tanz und visuelles Theater, Musik und Videos; außerdem bietet das Zentrum Trainingsprogramme an und unterstützt Forschungsprojekte. Längst sind die Studios zur Anlaufstelle für Künstler aus dem ganzen Land geworden, ein »Raum zum Denken und Träumen«, wie Linyekula sagt. Das Geld für die Studios verdient Linyekula im Ausland: Die Hälfte des Jahres choreografiert, tourt und unterrichtet er in Europa und den USA. In »Sur les traces de Dinozord« etwa verarbeitete er die Trauer um seinen Freund Kabako, aber auch die Trauer um die verlorenen Träume und Utopien. Mozarts »Requiem« legt die Klang-
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faustin linyeKula
spur, allerdings verfremdet: Ein kleiner Chor singt nur die Männerstimmen, rhythmisch zuweilen frei interpretiert, dazu kommen eine Orgel und Countertenor Serge Kakudji. Gespenstisch klingt das, skelettiert wie die Knochenmänner, als die die Tänzer später über die Bühne klappern. Dazwischen sprechen die Performer Texte von Kabako und von Antoine Vumilia Muhindo, genannt Vumi. Auch er gehörte einst zu Linyekulas Clique: Sie alle träumten davon, die Gesellschaft zu verändern und die afrikanische Literatur zu revolutionieren. Einmal hört man eine alte Aufnahme, auf der Vumi euphorisch von seiner Zeit in der kongolesischen Rebellenbewegung gegen Mobutu Anfang der neunziger Jahre berichtet. Er vergleicht die Paraden der Rebellenarmee mit einer Theaterbühne, weil beim Kommando »Stillgestanden!« selbst der Gesichtsausdruck korrigiert wurde. Sei es nicht Ziel der Kunst, die Welt zu verzaubern? Und hätten die Rebellen nicht mit ihren Pistolen Mozart gespielt? Als Idealist sei er in den Dschungel gegangen, sagt Vumi – und als Fanatiker zurückgekehrt. Das bezahlte er beinahe mit seinem Leben. Als Rebellenchef Laurent-Désiré Kabila die Macht übernimmt, wird Vumi Geheimdienstmitarbeiter. Nach der Ermordung des Präsidenten 2001 wird er in einem umstrittenen Prozess zum Tode verurteilt. Die Aufnahme, die da knistert, war Vumis Beitrag zu Linyekulas »The Dialogue Series: iii. Dinozord« von 2006 – die Kassette ließ er aus der Todeszelle des Malaka-Gefängnisses in der Hauptstadt Kinshasa schmuggeln. Heute sitzt Vumi in »Sur les traces de Dinozord« selbst auf der Bühne – nach zehn Jahren Gefängnis und Folter, gelang ihm die Flucht. Er lebt in Schweden. Er ist auch der Grund, warum Linyekula seinen »Dialogue«-Abend weiterentwickelte: Jetzt kann Vumi selbst seine Texte vortragen. »Meine Rolle ist, Zeugnis über das abzulegen, was ich im Gefängnis erlebt habe«, sagt er. »Ich bin die Person, die zurückkehrt in die Gemeinschaft, wie ein Toter, der wieder zum Leben erwacht.« So ist dieser Abend auch ein Ritual, um den Freund wieder aufzunehmen in die Gemeinschaft der Lebenden. Gefängnisbilder werden zu »Requiem«-Tonfolgen eingeblendet, Tänzer winden sich, beben am ganzen Körper, umsorgen und umhüllen einander in Gruppen. Vumi schockiert mit seinem »Monolog eines Hundes«: »Ich bin von der Art derer, die man für den Rest ihres Lebens zum Tode verurteilt, mit geschlossenen Augen, zugehaltener Nase und das Gesicht abgewandt. Ich bin das Vomitorium der Republik.« Das Stück ist ein Ringen mit der Frage, wie und ob man Schönheit darstellen kann nach den extremen Erfahrungen, die die jungen Kongolesen gemacht haben. »Manchmal kann Kunst die Kraft geben, das Leiden zu überwinden«, sagt Linyekula. »Im Kongo ist vielleicht nicht die Kunst das Wichtigste, sondern an etwas zu glauben. Wenn die Kunst vermag, den Glauben an sich selbst zu stärken, dann ist diese Arbeit es wert, auch wenn sie nur zehn von einer Million Menschen sehen.« Dennoch fragt er sich oft: »Woher nehmen wir die Energie hierzubleiben? Die Ruinen des Landes sind so tief in uns verwurzelt. Die Situation wird sich nicht morgen verändern, vielleicht nicht einmal in den nächsten 20 Jahren.« Dennoch lässt er »Sur les traces de Dinozord« entsprechend mit einem Hoffnungsschimmer enden: Da gehört die Bühne ganz dem jungen, titelgebenden Hip-Hopper Dinozord, der energiegeladen zu Jimi Hendrix’ »Voodoo Child« tanzt. Hier kreist nicht mehr die Trauer, sondern ballt sich die Kraft zum Weitermachen. Der Autor arbeitet als Kulturjournalist in Berlin.
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Bitte recht zornig! Herr Klein, wann waren Sie das letzte Mal so richtig zornig? Das kommt schon sehr häufig vor. Da reicht es, die Nachrichten einzuschalten. Ich empfinde Zorn, wenn ich großes Unrecht wahrnehme. Und davon gibt es in der Welt ja leider genug! Zwei Jahre lang haben Sie Prominente darum gebeten, möglichst zornig in Ihre Kamera zu blicken. Warum fließen die Erlöse des Projekts eigentlich an Amnesty? Die Fotoserie ist für mich kein Selbstzweck. Ich will die Menschen aufrütteln. Meine Botschaft lautet: Angesichts von Ungerechtigkeiten ist es durchaus legitim, Zorn zu empfinden. Und Amnesty ist für mich die Menschenrechtsorganisation, die sich weltweit am effektivsten gegen Missstände einsetzt. Der Zorn ist besser als sein Ruf? Ja, unbedingt! Unsere Kulturgeschichte hat den Zorn stark tabuisiert, die Kirche hat aus ihm sogar eine Todsünde gemacht. Dabei bringt der Zorn bisweilen Kreatives und Neues hervor. Wenn wir Missstände wahrnehmen, kann der Zorn in uns Energien mobilisieren und uns zum Handeln antreiben. Wie fühlt es sich eigentlich an, einem zornigen Markus Lanz gegenüberzustehen? Ich hatte tatsächlich oft Gänsehaut bei den Shootings! Im Studio war ich mit meiner Kamera ja immer ganz nah an den Porträtierten dran, der Abstand betrug gerade einmal 40 Zentimeter. So entstanden unglaublich intime Momente. Verraten Sie doch mal: Wie bringt man einen Star am schnellsten in Rage? Musik kann dabei zumindest helfen. Ich habe zu Beginn der Aufnahmen immer vorgeschlagen, »Rage Against The Machine« zu hören. Das ist ziemlich harte Rockmusik, die ich persönlich ganz stark mit dem Projekt verbinde. Für die Schauspielerin Meret Becker war das aber offenkundig nicht hart genug. Sie hat sich Songs der Metal-Band »Slayer« gewünscht. Herbert Feuerstein und der Kabarettist Jochen Busse wollten hingegen klassische Musik hören. Während der ARD-Literaturkritiker Denis Scheck auf seinem Porträt unendlich verletzlich wirkt, fletscht Sänger Patrice angriffslustig die Zähne. Warum hat der Zorn so viele Gesichter? Weil jeder das Gefühl anders interpretiert. Der Tatort-Kommissar Dietmar Bär scheint fast nüchtern in die Kamera zu blicken, weil bei ihm Empörung im Zentrum steht. Bei der Schauspielerin Annette Frier schwingt hingegen eine große Trauer mit. Sie hat während der Aufnahmen auch tatsächlich geweint.
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Im Studio flossen Tränen? Ja, das Shooting mit Meret Becker war besonders intensiv. Zwischendurch wirkte sie fast weggetreten. Sie schrie und heulte, dann wurde sie wieder ganz still und in sich gekehrt. Sie hat sich auf den Zorn vollständig eingelassen, in all seinen Facetten. Sie blickte auch immer wieder auf ihr Handy. Erst dachte ich, sie sei nicht ganz bei der Sache und lese private Nachrichten. Dann merkte ich: Sie sieht sich Fotos an, die sie zornig machen. Was war auf den Fotos zu sehen? Ich habe sie nicht danach gefragt. Ich wollte gar nicht so genau wissen, was die Prominenten in Zorn versetzt. Die Menschen haben mich ja sehr nah an sich herangelassen. Da musste ich ihnen nicht auch noch in den Kopf kriechen! Manch ein prominentes Gesicht ist kaum wiederzuerkennen. Von der NDR-Moderatorin Julia Westlake ist nur noch die Frisur übriggeblieben. Ja, dieser Verfremdungseffekt war mir unglaublich wichtig. Als ich das Projekt entwickelte, fotografierte ich zunächst Freunde und Bekannte. Es war spannend zu sehen, wie der Zorn ihre Gesichter verändert, manchmal bis zur Unkenntlichkeit. Ich wollte das einem breiten Publikum erlebbar machen. Deswegen habe ich beschlossen, Menschen abzulichten, die viele kennen. Wie haben die Prominenten reagiert, als sie die fertigen Aufnahmen zu sehen bekamen? Die meisten waren sehr überrascht. Für manche war es beinahe eine Form der Selbsterfahrung. Peter Brugger, der Sänger der »Sportfreunde Stiller«, war zum Beispiel total verblüfft, wie ruhig er im Zorn eigentlich wirkt, obwohl beim Shooting sein Körper fast bebte. Wir alle wissen ja, wie wir lächelnd aussehen. Das eigene Zorn-Gesicht kennt kaum einer. Stars sind eigentlich auf Dauergrinsen abonniert. War es schwierig, Prominente für das Projekt zu gewinnen? Klar, ich habe sehr viele Absagen kassiert. Der Zorn ist ja nicht unbedingt ein Gefühl, mit dem man sich gerne in der Öffentlichkeit präsentiert. Aber ich hatte das große Glück, dass Anke Engelke, Annette Frier und Roger Willemsen sofort zugesagt hatten. Das machte es einfacher, auch andere Prominente für das Projekt zu begeistern. Und natürlich war es auch hilfreich, dass Amnesty International hinter dem Projekt stand! Der Zorn kommt ja furchtbar ernst daher. Wurde im Studio auch mal gelacht? Das kam tatsächlich selten vor. Die Shootings waren emotional schon sehr aufwühlend. Nicht nur für die Prominenten, sondern auch für mich. Gelacht wurde meist erst dann wieder, wenn das perfekte Bild im Kasten war! Fragen: Ramin M. Nowzad Mehr Informationen finden Sie unter www.zorn-projekt.de.
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Fotos: Axl Klein
Der Saarbrücker Fotograf Axl Klein hat 55 Prominente darum gebeten, zornig in seine Kamera zu blicken. Die Erlöse seines Fotoprojekts fließen an Amnesty International. Im Interview erklärt er, warum.
»Unglaublich intime Momente.« Meret Becker, Peter Brugger (oben), Dietmar Bär und Annette Frier (unten).
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Foto: Florian Jaenicke
Ruge war bereits dabei, als 1961 mit dem »Amnestie-Appell« die deutsche Sektion von Amnesty International entstand – zwei Monate nach Gründung der internationalen Organisation. Sie setzte sich von Anfang an für politische Gefangene, Menschenrechte und Meinungsfreiheit auf beiden Seiten des »Eisernen Vorhangs« ein – allen politischen Attacken aus West und Ost und so mancher Erwähnung in Geheimdienstberichten in BRD und DDR zum Trotz. Von seiner Jugendzeit im Nationalsozialismus bis zu seinen Reportagereisen im Ruhestand reichen Ruges Erinnerungen. Viel Raum nehmen die vierziger und fünfziger Jahre ein, als er nach politischen Freiräumen sucht, unter den Nazis ebenso wie später im Rundfunk des besetzten Westdeutschlands. Bis zum Schluss vernimmt man in und zwischen den Zeilen Dankbarkeit gegenüber der einstigen britischen Besatzungsmacht. Unter den Briten kam Ruge nicht nur zu seinen ersten journalistischen Aufträgen, auch den englischen Pragmatismus machte er sich zu eigen. Im Auftrag des WDR folgten bald Reisen an die Orte der Weltpolitik: Washington, Moskau, Paris, Peking. Dazwischen finden sich immer wieder Stationen als Kriegsreporter, etwa im KoreaAmnesty-Mann der ersten Stunde. Gerd Ruge. Konflikt und in Vietnam. Ruge schilderte in seinen Berichten nicht nur anschaulich, sondern versuchte auch, jenseits von Pressekonferenzen und verbreiteten Erklärungen die Wahrheit herauszufinden. Es blieb bei ihm stets ein Rest Misstrauen gegenüber der Viele kennen den Journalisten Gerd Ruge als TV-Auslandsreporter. Macht bestehen, insbesondere was Geheimdienste und Militärs betraf. Nicht Weniger bekannt ist, dass er Amnesty International in Deutschland zuletzt seine Schilderungen des Vermitbegründet hat. Nun sind seine politischen Erinnerungen erschienen. falls der Sowjetunion sind präzise und zeugen vom großen diplomatischen Von Maik Söhler Geschick des Reporters. »Unterwegs« ist ein Buch, das in einer klaren Sprache und gänzlich unaufgeregt zurückblickt in die r ist jüngst 85 Jahre alt geworden und Autobiografien hochbetagter Autoren bergen oft die Gefahr, altväterZeit der Systemkonfrontation. Dabei stellt er aber zugleich eine lich-abgeklärt daherzukommen – alles schon gesehen, wichtige Frage, die auch die Gegenwart prägt: Wie lässt sich polialles schon erlebt. Bei Gerd Ruge, dem langjährigen Hör- tische Macht mit Maßstäben der Moral und Menschlichkeit in funk-, Fernseh- und Zeitungsjournalisten, ist das nicht der Fall. Einklang bringen? Ruges Antwort darauf ist eine Seine unter dem Titel »Unterwegs« erschienenen politischen Erlinksliberale; so entschieden, wie man sie lange innerungen sind zwar von einem eher ruhigen Ton geprägt, nicht mehr vernehmen konnte. doch seine Haltung zu Politik und Sozialem, zu Ökonomie und Kultur, zu Menschenrechten und Medien bleibt eine engagierte, Gerd Ruge: Unterwegs. Politische Erinnerungen. dem Humanismus verpflichtete. Hanser Berlin, Berlin 2013, 328 Seiten, 21,90 Euro.
Ein Humanist auf Reisen
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Eine lyrische Rückkehr
Ohne Papiere in der Schweiz
Eine erstaunliche Neuerscheinung stammt von Dany Laferrière, einem in Haiti geborenen und im kanadischen Montréal lebenden Schriftsteller. Sie heißt »Das Rätsel der Rückkehr« und ist als Roman ausgewiesen. Doch wer zu lesen beginnt, bekommt mehr geboten: Poesie, Aphorismen, Kurzreportagen – all das kunstvoll montiert zu einem Text, der von einem Besuch in Haiti erzählt und davon, wie es dazu kam. Der Vater des Erzählers ist gestorben. Er lebte in New York im Exil, so wie auch der Erzähler vor vielen Jahren aus Angst vor politischer Verfolgung Haiti verlassen hat. Der Tod des Vaters wird für den Sohn zum Anlass, Mutter und Schwester sowie einstige Wegbegleiter des Vaters aufzusuchen. Sie alle eint die Feindschaft zu Haitis ehemaligem Diktator Jean-Claude Duvalier (»Baby Doc«) und seiner für Mord und Folter verantwortlichen Miliz. Doch auch Jahre nach dem Ende der Schreckensherrschaft präsentiert sich dem Erzähler das einstige Zuhause als ein Ort, an dem nur gut leben kann, wer über genügend Geld und Macht verfügt. Gewalt, Armut, Krankheiten und Zerfall sind gegenwärtig. So dichtet Laferrière: »Mit fünfundfünfzig Jahren sind drei Viertel / der Menschen, die ich kannte, tot. / Das halbe Jahrhundert, eine schwierige Grenze, / wenn man sie in einem solchen Land überschreiten muss. / Sie nähern sich dem Tod so rasch, / dass man statt von Lebenserwartung / besser von Todeserwartung sprechen sollte.«
Schon bei den genauen Zahlen beginnen die Schwierigkeiten: Auf 70.000 bis 300.000 schätzt Autor Pierre-Alain Niklaus die Zahl der Menschen ohne regulären Aufenthaltsstatus (»Sans-Papiers«) in der Schweiz. Nichtsdestotrotz macht er sich in seinem Sachbuch an eine Bestandsaufnahme der humanitären, sozialen und ökonomischen Probleme, die das rigide Schweizer Ausländerrecht jenen bereitet, die ohne Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis in der privaten Altenpflege, in Haushalten, auf Bauernhöfen und in der Kinderbetreuung schuften. Niklaus hat für sein Buch mit zehn Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern von »Sans-Papiers« Gespräche geführt sowie mit sieben Migrantinnen und Migranten, die »irregulär« in Haushalten arbeiten. Herausgekommen ist ein informatives Buch, das von der Gesetzgebung über die Bedürfnisse und Nöte der »Sans-Papiers« bis zu Härtefallregelungen, Repression und möglichen Auswegen berichtet. Der Autor erzählt die Geschichte der »Papierlosen« und stellt Initiativen zur Legalisierung inner- und außerhalb der Parlamente vor. Er beschreibt eine Situation, in der jeder weiß, dass ohne die Migranten die private Altenpflege kollabieren würde, dass Änderungen am Status der Pflegekräfte jedoch politisch nicht erwünscht sind. Vor allem aber kommen jene zu Wort, die ansonsten mangels Papieren zum Schweigen verdammt sind: die »Sans-Papiers« selbst. Pierre-Alain Niklaus: Nicht gerufen und doch gefragt.
Dany Laferrière: Das Rätsel der Rückkehr. Aus dem
Sans-Papiers in Schweizer Haushalten. Lenos, Basel 2013,
Französischen von Beate Thill. Verlag Das Wunderhorn,
158 Seiten, 15 Euro.
Heidelberg 2013, 300 Seiten, 24,80 Euro.
Leid des Ostens Wer nicht verstanden hat, warum die Weißrussin Swetlana Alexijewitsch in diesem Jahr mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde, dem mag ihr neues Buch »Secondhand-Zeit« helfen. Hier begegnen uns knapp 100 Jahre der Geschichte Russlands, Weißrusslands, der Ukraine, der kaukasischen und baltischen Staaten und Georgiens – bis 1990 bildeten alle gemeinsam die Sowjetunion – aus der widersprüchlichen Sicht und mit den vielfältigen Stimmen aus allen Teilen der Bevölkerung. Denn »Secondhand-Zeit« zeichnet sich dadurch aus, dass die Autorin Menschen zum Sprechen bringt, die ansonsten nur im privaten Kreis erzählen. Ehemalige Kreml-Funktionäre und hohe Generäle der Sowjetarmee ebenso wie einfache Bauern und Arbeiter. Kommunisten, Liberale, Nationalisten, Religiöse, Verschwörungstheoretiker, Männer und Frauen, Junge und Alte – hier erzählt jeder von seinem Leben in der Sowjetunion oder in Russland, erst unter Jelzin, nun unter Putin. Die Erzählungen machen das vielfache Leid deutlich: zwei Weltkriege, nationalsozialistische Besatzung, die Zeit der stalinistischen Verfolgungen, Lagerhaft und Massenmord in Sibirien, später der Krieg in Afghanistan und postsowjetische Konflikte samt Pogromen in Georgien, Abchasien, Aserbaidschan, Armenien und Tschetschenien.
Waisen in Swasiland Sie gehen unter die Haut und stimmen nachdenklich: Kirsten Boies Kurzgeschichten »Es gibt Dinge, die kann man nicht erzählen«. Die Geschichten handeln von vier Kindern aus Swasiland, die stellvertretend stehen für eine ganze Generation. Eine Generation, die ohne Eltern aufwächst. Denn nirgendwo auf der Welt sind so viele Menschen mit HIV infiziert wie in der kleinen Monarchie im südlichen Afrika. »120.000 Kinder in Swasiland haben mindestens einen Elternteil verloren, viele von ihnen auch beide; dabei leben im ganzen Land nur ungefähr 900.000 Menschen«, schreibt Boie in ihrem Nachwort. In leisen und empfindsamen Tönen erzählt die Autorin vom Schicksal eben jener Kinder, die mit gerade mal zehn oder zwölf Jahren für sich, ihre jüngeren Geschwister und manchmal auch die Gugu, die Großmutter, sorgen müssen. Ganz nah rückt sie dabei an die Gedanken- und Gefühlswelt der Jungen und Mädchen heran und macht die harte Arbeit und die große Verantwortung erlebbar, die auf den Waisenkindern lastet. Boie zeigt das Leben mit Krankheit und Tod, mit Angst und Trauer, sowie unbändige Wut und leise Hoffnung: Die Hoffnung, dass der Schulbesuch, auf den die »Großen« verzichten, um zumindest ihre jüngeren Geschwister zur Schule schicken zu können, eine bessere Zukunft sichert. Hoffnung, dass nicht auch sie »die Krankheit« in sich tragen.
Swetlana Alexijewitsch: Secondhand-Zeit. Aus dem
Kirsten Boie / Regina Kehn (Illustration): Es gibt Dinge,
Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Hanser Berlin,
die kann man nicht erzählen. Oetinger, Hamburg 2013.
Berlin 2013, 576 Seiten, 27,90 Euro.
112 Seiten, 12,95 Euro. Ab 12 Jahren.
Bücher: Maik Söhler, Marlene Zöhrer Kultur
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Befreundete Feinde
Das Gedächtnis der Vertreibung
»Zaytoun« ist Arabisch und bedeutet Olive. Der Ölzweig, an dem die Steinfrucht wächst, steht für Frieden. Aus diesem Umstand hat der israelische Regisseur Eran Riklis nun einen Film gemacht: »Zaytoun«, der dieses Jahr das Jüdische Filmfest in Berlin eröffnete. Libanon, 1982: Es donnert am Horizont, im palästinensischen Flüchtlingslager nimmt Fahed das Gewehr und zielt auf den israelischen Bomber. Der erfahrene Kampfpilot mit dem schönen Namen Yoni stürzt ab. Die PLOKämpfer nehmen den zerschundenen Flieger in Geiselhaft. Aber Fahed, das Kind, will nach Israel. In dem feindlichen Soldaten sieht er seine Chance, das Testament seines verstorbenen Vaters zu vollstrecken: den letzten verbliebenen Olivenbaum der Familie zurück in das palästinensische Heimatdorf zu bringen. Mit der PLO-Miliz verbindet den Jungen nichts, weil sie keine Kompromisse macht und nicht für eine Verbesserung der Lebensverhältnisse kämpft – ihrer Ansicht nach kämpfen die Palästinenser besser, wenn es ihnen schlecht geht. Eher sieht Fahed Gemeinsamkeit mit dem Soldaten: Denn auch der will nach Hause. Er befreit den Kampfpiloten, und es beginnt eine krude Stiefvater-Sohn-Geschichte. Denn Fahed kämpft mit den typischen Schwierigkeiten eines Jugendlichen. Da kommt ihm der Pilot als doppelter Feind – Jude und Erwachsener – gerade recht. Als zwei Figuren, die sich hassen, machen sie sich auf den Weg nach Israel. Und wie beiläufig finden sie in diesem erstaunlichen Werk inmitten all der Grausamkeiten des Krieges zu Menschlichkeit und Freundschaft.
Die Sängerin Rosa Eskenazi war eine der berühmtesten Stimmen des Rembetiko, jener Sehnsuchtsmusik der in den zwanziger Jahren aus Kleinasien vertriebenen Griechen. Weil sie Türkisch konnte, wurde die jüdische Sängerin aus Istanbul von armenischen Musikern dazu ausgewählt, mit ihnen in den Cafés und Weinstuben von Athen, Piräus und Saloniki für die Vertriebenen vom Festland zu singen. Über eine Million Griechen mussten nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs das Gebiet der neu entstandenen Türkei verlassen, im Gegenzug siedelten Hunderttausende Türken aus Griechenland zwangsweise nach Anatolien über. Rosa Eskenazi starb 1980, im Alter von fast 90 Jahren, als eine Symbolfigur für eine untergegangene Mischkultur. Die in London lebende Sängerin Cigdem Aslan, die selbst aus einer kurdischalevitischen Familie stammt, haucht ihrem musikalischen Erbe jetzt neues Leben ein. Auf ihrem Album »Mortissa« verleiht sie den ägäischen Gassenhauern jener Zeit neuen Schwung. Die Lieder bewahren den Schmerz der Vertreibung und die Erinnerung an eine verlorene Zeit, in der sich die Kulturen ganz selbstverständlich vermischten. Auch wenn es sich dabei vorwiegend um tragische Liebeslieder handelt, haftet ihnen bei aller Wehmut oft auch eine freudige Note an. Das Album ist eine Hommage, nicht nur an Rosa Eskenazi: Der Titel »Mortissa« bezeichnet eine Frau, der das ausschweifende Vergnügen nicht fremd ist und die, allen Schicksalsschlägen zum Trotz, ihren eigenen Weg geht.
»Zaytoun«. GB/ISR 2012. Regie: Eran Riklis, Darsteller:
Cigdem Aslan: Mortissa (Asphalt Tango)
Stephen Dorff, Abdallah El Akal. Derzeit in den Kinos
Asymmetrische Arbeitsgesellschaft »Workers« erzählt aus der Welt misshandelter Arbeiter in Mexiko. Mit Rafael und Lidia greift sich Regisseur José Luis Valle zwei Schicksale aus dem Heer der kleinen Dienstleister heraus. Der altgediente Rafael ist seit 30 Jahren Putzkraft in einer Glühbirnenfabrik. Nun steht die Rente an, gleich findet das Abschlussgespräch mit dem Chef statt. Dafür hat sich der fleißige Putzmann extra neue Schuhe gekauft. Jetzt sitzt er im Büro und freut sich auf seinen Lebensabend. Aber der Vorgesetzte weiß etwas Besseres: Weil Rafael aus El Salvador stamme, habe er gar keinen Rentenanspruch. Aber er könne ja einfach weiterarbeiten. Und das macht Rafael auch – als Experte für videodokumentierte Sabotage. Kaum zu glauben, was man mit normalen Putzmitteln alles anrichten kann … Szenenwechsel: Lidia ist quasi Leibeigene einer reichen Frau. Als diese stirbt, hinterlässt sie ihrer Hündin »Prinzessin« das komplette Erbe. Und »Prinzessin« ist eine durchaus launische Chefin. »Workers« ist ein böses, satirisches, aber auch nervenzehrendes Porträt. Mit viel Gewalt und Komik soll hier deutlich gemacht werden: Nicht nur alle materiellen Dinge, auch die Menschen gehören der Oberschicht. Hier wird ein globaler, asymmetrischer Krieg geführt, der schleunigst einer Friedensinitiative bedarf: einer Agenda für menschenwürdige Arbeit.
Revival der Garifuna Als Andy Palacio vor fünf Jahren, im Alter von 47, überraschend starb, war das ein großer Schock für Belize. Wie kaum ein anderer hatte der Musiker zu einem Revival der GarifunaKultur des Landes beigetragen. Die Garifuna sind eine afrokaribische Minderheit, die aus der Vermischung von indigenen Völkern mit entflohenen Sklaven entstanden und im zentralamerikanischen Küstenstaat Belize zu Hause ist. Ihre Kultur schien schon vom Aussterben bedroht. Das Garifuna Collective ist ein loser Verbund ehemaliger Musiker aus der Band von Andy Palacio, der sein Andenken bewahrt. Mit dem Produzenten Ivan Duran haben sie »Ayo« aufgenommen, das mehr ist als nur ein Abschiedsgruß an den einstigen Mitstreiter: Es ist ein Ausdruck der Selbstbehauptung und eine Feier der Garifuna-Gemeinschaft. Bei aller Traditionspflege ist es ganz zeitgemäß, nicht nur in musikalischer Hinsicht und was die Hochglanz-Produktion betrifft. Denn auf geschmeidigen Gitarrengrooves und tänzelnder Percussion schwingt stets etwas Gesellschaftskritik mit: »Gudemei« ist ein Stoßgebet gegen die Armut, in »Pomona« hallt das Echo der Arbeitsmigration wieder, die Erntehelfer aus Nachbarländern wie Honduras auf die Zitronenplantagen nach Belize verschlagen hat. Und auf »Ubou« fragen sie, was mit dieser Welt eigentlich los ist, wenn Regierungen Waffen kaufen, während in ihren Ländern noch immer Kinder verhungern.
»Workers«. D/Mex 2013. Regie: José Luis Valle, Darsteller: Susana Salazar, Jesús Padilla. Kinostart: 12. Dezember 2013
Garifuna Collective: Ayo (Exil)
Film: Jürgen Kiontke | Musik: Daniel Bax 78
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Foto: Peter Braatz / Glitterhouse Records
Rock aus der Wüste
Nomaden im Exil. Die Tuareg-Rockband Tamikrest.
Die Tuareg-Band Tamikrest aus Mali lebt heute im algerischen Exil – und spielt weiterhin gegen Islamisten und die Misere der Wüstennomaden an. Von Daniel Bax
D
ie Musiker kommen gerade aus Paris, wo sie ihr neues Album vorgestellt haben. Sie haben ihre Instrumente aus dem Band-Bus auf die Bühne verfrachtet, jetzt lümmeln sie im Backstage-Bereich des Clubs, in dem sie am Abend auftreten werden, und daddeln am iPad und Handy, während die Sängerin die Kartusche am Gaskocher wechselt, um darauf einen anständig starken Minztee zu kochen. Wenn man mal vom Tee absieht, gleicht die Tour-Routine von Tamikrest der jeder anderen Rockband. Nur dass die Region, aus der die Musiker stammen, in den vergangenen Monaten einiges durchgemacht hat: Innerhalb eines knappen Jahres gab es einen Aufstand bewaffneter Tuareg-Rebellen, dann die Machtübernahme durch radikale Islamisten und eine Rückeroberung mit Hilfe französischer Truppen. Knapp 150.000 Menschen flohen vor den Kämpfen in die Nachbarländer. Auch die Mitglieder von Tamikrest, die aus Kidal im Nordosten Malis stammen, leben heute in Algerien im Exil. »Die Probleme der Tuareg sind die gleichen geblieben«, sagt Ousmane Ag Mossa. Nur eines habe sich durch die französische Intervention geändert: »Als ich angefangen habe, dachte ich: Vielleicht weiß die Welt nichts von unserem Leid. Heute denke ich: Alle Welt weiß, was in der Wüste passiert, die Kameras sind auf uns gerichtet. Aber es gibt noch immer keine angemessene Antwort der internationalen Gemeinschaft.« Auf die Misere der Tuareg aufmerksam zu machen, ist eines der Anliegen der Band, die sich 2006 zusammengeschlossen und 2009, mithilfe des amerikanischen Gitarristen Chris Eck-
Kultur
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filM & MusiK
man, ihr erstes Album aufgenommen hat. Dürren und der politische Wandel haben das ehemals stolze Nomadenvolk in den Ländern der Sahara an den Rand gedrängt, als Söldner und Schmuggler suchen viele ein Auskommen. Auch in Mali hätten sich manche Tuareg den Islamisten angedient, sagt Ousmane Ag Mossa. »Es gibt keine Jobs, die Ökonomie ist zusammengebrochen – da ist die Aussicht, als Fahrer für die Milizen schnelles Geld zu machen, natürlich verlockend.« Doch die Islamisten hätten die Revolte der Tuareg gegen die Regierung in Bamako gekapert und für ihre eigenen Zwecke ausgenutzt, ärgert er sich. »Seit 2003 sind sie in der Wüste und versuchen, die Tuareg zu manipulieren«, sagt er. »Leider ist ihr Plan aufgegangen.« Als aber die ersten französischen Bomben fielen, hätten sich die Islamisten in alle Winde zerstreut und die Bevölkerung im Stich gelassen. Das neue Album von Tamikrest heißt »Chatma«, was auf Tamashek »Schwestern« bedeutet. Aufgenommen in Prag, atmet »Chatma« die unendliche Weite der Wüste: Rockig, bluesig, mit psychedelischen Dub-Echos, suggestiven Gitarrenklängen und kernigen Funk-Riffs angereichert, kreisen die Lieder um das Los ihres Volkes. Im Opener heißt es: »Wer kann das Leid in der Seele nachempfinden / von einem, der seine Schwestern vom Warten erschöpft sieht / vom Warten zwischen den Ländern / in tiefer Not und täglicher Unterdrückung.« Gerade alte Leute, Frauen und Kinder hätten nach der französischen Intervention am meisten gelitten, klagt Ousmane Ag Mossa, denn Malis Armee habe anschließend die lokale Bevölkerung schikaniert. »Wer nur einen Bart, ein traditionelles Gewand oder einen Turban trug, wurde umgebracht«, empört er sich. Und er schließt bitter: »Es gibt zwei Arten von Terroristen: Die einen benutzen den Islam, die andere beschwören die nationale Einheit von Mali. Die Bevölkerung aber leidet unter beiden.« Tamikrest: Chatma (Glitterbeat / Indigo)
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Foto: Christian Ditsch / Amnesty
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Zeichen der Solidarität. Konzertbesucher unterschreiben auf einer Protestpostkarte gegen das russische »Agentengesetz«.
»wir lassen uns nicht unterKriegen« Im Oktober organisierte Amnesty mit anderen NGOs in der Berliner Philharmonie ein Solidaritätskonzert für Russland. Der Abend »To Russia with Love« wurde zu einem unvergesslichen Erlebnis – nicht nur wegen der Musik. Von Peter Franck Die Idee stammte von Gidon Kremer. Der weltberühmte Geiger schlug Amnesty im Sommer vor, im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie ein klassisches Konzert zu veranstalten. Am 7. Oktober, dem Jahrestag der Ermordung Anna Politkowskajas, sollte von Berlin ein Zeichen der Solidarität mit Russland ausgehen, um Menschen zu unterstützen, die dort Opfer einer politisch motivierten Justiz geworden sind, und diejenigen, die unter immer schwierigeren Bedingungen weiter für die Menschenrechte eintreten. »Das Bemühen, jedes Fragezeichen zum Erlöschen zu bringen, erinnert an schlimme Zeiten, nicht nur in Russland, sondern auch in Deutschland«, so Gidon Kremer. Bereits zwei Stunden vor dem Konzert gab es die Möglichkeit, sich auf einem »NGO-Forum« über die Lage der Zivilgesellschaft in Russland zu informieren. Amnesty International hatte die Koordination des Forums übernommen, an dem neben der Stiftung Menschenrechte langjährige Kooperationspartner von Amnesty wie der Deutsch-Russische Austausch, Reporter ohne Grenzen, Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, Memorial Deutschland, das Lew Kopelew Forum, Young Human Rights Movement, die iDecembrists und die Freunde von der Zeitschrift »osteuropa« teilnahmen. Zivilgesellschaftliche Aktivitäten zu Russland wurden dargestellt und das Publikum zum Mittun aufgefordert. »To Russia with Love« wurde ein Erfolg. Nicht nur, weil das Konzert ausverkauft war. Bereits vor dem Konzert hatten sich
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Hunderte im Foyer eingefunden, um die von der Fernsehmoderatorin Astrid Frohloff geleitete Gesprächsrunde »Wir lassen uns nicht unterkriegen« zu verfolgen. Swetlana Gannuschkina, Flüchtlingsreferentin von Memorial aus Moskau, und Peter Franck, Amnesty-Russlandexperte, schilderten die nach Einführung des sogenannten »Agentengesetzes« in Russland entstandene Lage. Im Foyer unterschrieben Hunderte Besucher eine große Postkarte, die den Vorsitzenden der Staatsduma aufforderte, das »Agentengesetz« aufzuheben. Zu Beginn des »grandiosen Konzerts« (taz) begrüßten Amnesty-Generalsekretärin Selmin Çalışkan und Swetlana Gannuschkina das Publikum. Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller setzte sich wortgewaltig mit den derzeitigen Verhältnissen in Russland auseinander. Martina Gedeck und Sebastian Koch lasen aus Texten von Anna Politkowskaja und Michail Chodorkowski. Gidon Kremer spielte mit der Kremerata Baltica, unterstützt von Nicolas Altstaedt, Elsbeth Moser, dem Kinderchor Shchedryk, Kathia Buniatishvili, Emmanuel Pahud, Sergei Nakariakov und Nikoloz Rachveli. Mit dem vierhändigen Rondo in A-Dur von Franz Schubert beschlossen Martha Argerich und Daniel Barenboim am Flügel den unvergesslichen Abend. »Wir müssen einander schützen und die Rechte von anderen auch. Wenn wir sehen, dass jemand vor uns fällt, und wir können nicht helfen, weil wir keine Kraft dafür haben, müssen wir schreien. Wenn wir das nicht tun, wird das etwas Normales werden und das kann ich nicht akzeptieren«, brachte die Pianistin Kathia Buniatishvili die Dinge auf den Punkt. Der Autor ist Sprecher der Russland-Ländergruppe der deutschen Sektion von Amnesty International.
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Als sich die Spitzen von Union und SPD Ende Oktober in Berlin zu ersten Koalitionsverhandlungen trafen, war auch Amnesty vor Ort. Rund zwei Dutzend Amnesty-Aktivisten appellierten mit Transparenten und Sprechchören an die Politiker der beiden großen Volksparteien, den Schutz der Menschenrechte in einem künftigen Koalitionsvertrag zu verankern. Unter anderem müsse es eine strengere Kontrolle von Waffenexporten geben: »Rüstungstransfers dürfen nicht stattfinden, wenn ein offenkundiges Risiko besteht, dass diese in den Empfängerländern zu schweren Menschenrechtsverletzungen oder zum Bruch des humanitären Völkerrechts beitragen«, sagte Amnesty-Expertin Imke Dierßen. Auch in Sachen Flüchtlingspolitik forderten die Aktivisten ein Umdenken: Schutzbedürftige Flüchtlinge sollen in größerem Umfang als bislang direkt aus dem Ausland aufgenommen werden. Außerdem soll sich die neue Bundesregierung auf EU-Ebene für ein Ende der Diskriminierung von Roma einsetzen.
aKtiv fÜr aMnesty
Durch ganz unterschiedliche Veranstaltungen geben Amnesty-Mitglieder den Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme. Diese Aktionen vor Ort sind ein unentbehrlicher Teil der Arbeit von Amnesty International. Mehr Informationen darüber finden Sie auf http://blog.amnesty.de und www.amnesty.de/kalender
iMpressuM Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, Tel.: 030 - 42 02 48 - 0, E-Mail: info@amnesty.de, Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion Amnesty Journal, Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, E-Mail: journal@amnesty.de (für Nachrichten an die Redaktion) Redaktion: Bernd Ackehurst, Markus N. Beeko, Anton Landgraf (V.i.S.d.P.), Ramin M. Nowzad, Larissa Probst Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit Albrecht, Dirk Auer, Daniel Bax, Michael Bochenek, Selmin Çalışkan, Tanja Dückers, Peter Franck, Ulrike Gruska, Sven Hansen, Bernhard Hertlein, Annette Jensen, Mathias John, Georg Kasch, Jürgen Kiontke, Hannes Koch, Daniel Kreuz, Maja Liebing, Selene Mariani, Wera Reusch, Hanne Schneider, Uta von Schrenk, Maik Söhler, Kurt Stukenberg, Wolf-Dieter Vogel, Kathrin Zeiske, Marlene Zöhrer Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck: Hofmann Druck, Nürnberg Vertrieb: Carnivora Verlagsservice, Berlin Bankverbindung: Amnesty International, Kontonr. 80 90 100, Bank für Sozialwirtschaft (BfS), Köln, BLZ 370 205 00, BIC: BFSWDE33XXX, IBAN: DE23370205000008090100 Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und erscheint sechs Mal im Jahr. Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Nichtmitglieder können das Amnesty Journal für 30 Euro pro Jahr abonnieren. Für unverlangt eingesandte Artikel oder Fotos übernimmt die Redaktion keine Verantwortung. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder. Die Urheberrechte für Artikel und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, für die Verbreitung im Internet oder für Vervielfältigungen auf CD-Rom.
ISSN: 1433-4356
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Foto: Amnesty
Menschenrechte in Den Koalitionsvertrag!
Wenn der Mund auf einmal zugeklebt ist, dann ist das ein seltsames, ja geradezu beklemmendes Gefühl. Man kann nur schwer und stoßweise durch die Nase atmen, und beim Sprechen versteht einen niemand, weil es dumpf und unverständlich klingt. Menschen, deren Münder nicht zugeklebt sind, schauen einen irritiert an. Es ist für mich ein furchtbares Gefühl, wenn ich auf einmal nicht mehr sagen kann, was ich will. Als ich im Oktober bei der Bezirkssprecherkonferenz von Amnesty in Heidelberg war, haben wir abends in der Fußgängerzone für Meinungs- und Versammlungsfreiheit in Russland demonstriert, deren Einschränkung wir seit dem erneuten Amtsantritt von Präsident Putin beobachten. Die »Mundtot«-Aufkleber »Freiheit statt Kontrolle«, die wir uns aufgepappt hatten, symbolisierten die Einschränkung der Meinungsfreiheit in Russland. Auf dem Marktplatz sprach ich lange mit einer russischen Studentin, die mir sehr eindrücklich über die Lage in ihrem Land berichtete. Sie las unsere Petitionen am Stand und sagte: »Ich dachte, wir wären total allein in Russland.« Solidarität mit Russland hat Amnesty auch als Mitveranstalter bei einem Konzert Anfang Oktober in der Berliner Philharmonie gezeigt. Weltberühmte Musiker wie der Dirigent Daniel Barenboim, der Geiger Gidon Kremer und die Pianistin Martha Argerich haben an diesem Abend den politisch Verfolgten und der unabhängigen Zivilgesellschaft in Russland den Rücken gestärkt. Es war ein feierlicher Abend und ein ganz spezielles Ereignis für mich, weil die Atmosphäre so anders war als sonst. Sich für Menschenrechte einzusetzen, ist manchmal schwer vermittelbar und verlangt viel Kraft. Auf der Straße stehen und Unterschriften zu sammeln oder in Lobbygesprächen Politiker von unseren Anliegen zu überzeugen, kann manchmal auch ganz schön öde sein. Durch dieses klassische Konzert und die begleitenden Veranstaltungen konnten Amnesty und andere Nichtregierungsorganisationen ein anderes Publikum ansprechen als auf der Straße. Wir konnten unsere Solidarität mit den unabhängigen russischen NGOs einmal anders ausdrücken – in einer Sprache, die alle Menschen dieser Welt verstehen und beherrschen, selbst wenn ihre Münder zugeklebt sein sollten. Selmin Çalışkan ist Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International.
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russlanD: freiheit statt Kontrolle!
Schikanen gegen Minderheiten, langjährige Haftstrafen für Oppositionelle: Seit Beginn der dritten Amtszeit von Präsident Putin geht die russische Regierung verstärkt repressiv gegen Aktivisten und Andersdenkende vor. Dennoch setzen sich in Russland weiterhin Menschen für die Menschenrechte ein. Jetzt Solidarität zeigen und Mut machen: Online Liebesgrüße nach Russland schicken!
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GraďŹ k: Publicgarden / Amnesty
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ICH HAB EIN GEHEIMNIS. ARTIKEL 12:
Niemand darf willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung und seinen Schriftverkehr ausgesetzt werden.
DIE ALLGEMEINE ERKLÄRUNG DER MENSCHENRECHTE ICH SCHÜTZE SIE – SIE SCHÜTZT MICH Mehr zu den 30 Artikeln der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und weitere Informationen unter www.amnesty.de