Amnesty Journal: Ausgabe Oktober/November

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DAS MAGAZIN FÜR DIE MENSCHENRECHTE

AMNESTY JOURNAL

GENERATION TERROR VON HOYERSWERDA BIS ZUM NSU-PROZESS: WIE RECHTE GEWALT DEUTSCHLAND VERÄNDERT

CAN DÜNDAR Wie türkische Medien zum Schweigen gebracht werden

ÜBERWACHUNG Weshalb die Privatsphäre zu wenig geschützt wird

OLIVER STONE Warum Edward Snowden zum Kinohelden taugt

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2016 OKTOBER/ NOVEMBER


INHALT

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TITEL: GENERATION TERROR Generation Hoyerswerda: Das rechtsextreme Milieu, aus dem der NSU und seine Unterstützer stammen

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Pogrome gegen Flüchtlinge waren Anfang der neunziger Jahre nahezu alltäglich. Nur wenige Täter wurden zur Rechenschaft gezogen. Dies formte das Selbstbewusstsein jenes rechtsextremen Milieus, aus dem sich auch das Unterstützer-Netzwerk des NSU rekrutierte.

Protokoll: »Ich dachte, die Deutschen hätten ein gutes Herz« 21 Flüchtlinge und Migranten: Ausgrenzung als Prinzip

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Amnesty-Bericht: Institutioneller Rassismus

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NSU-Prozess: Noch viel aufzuklären

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Interview: »Nach dem NSU ist vor dem NSU«

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THEMEN Türkei: Die Pinguine und der Pool. Von Can Dündar

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Türkei: Verschärfte Repression

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Überwachung: Die Daten von Millionen Bürgern werden abgeschöpft

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Crypto-Partys: »Verschlüsselung ist der einzige Weg, sich zu wehren«

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Ukraine: Menschliches Faustpfand

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Frauen in Afghanistan: »Der gefährlichste Ort ist Zuhause« 44 Mexiko: Ein Pfarrer kämpft für Flüchtlinge

Wie türkische Medien zum Schweigen gebracht werden. Ein Gastbeitrag von Can Dündar, dem ehemaligen Chefredakteur der Tageszeitung »Cumhuriyet«.

32 Auch in Mexiko spielt sich ein Flüchtlingsdrama ab – und das seit Jahrzehnten. Regierung, lokale Behörden und kriminelle Banden machen den Schutzsuchenden aus Mittelamerika das Leben zur Hölle. Sie kommen dennoch – 400.000 jedes Jahr. Mittendrin kämpft ein Pfarrer für einen Wandel und mit ihm Tausende Aktivisten.

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KULTUR Politik im Kino: Oliver Stone über »Snowden«

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Nowosibirsk: Das hier ist nicht Moskau

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Buchmesse: Neuerscheinungen zu Menschenrechten, Terror, Flucht und Migration

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Kroatien: Gehen oder ausharren

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Zensur: Robert Darntons historische Analyse

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Flucht-Komödie: »Welcome to Norway«

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RUBRIKEN Weltkarte 04 Good News: DR Kongo: Lucha-Aktivisten in Freiheit 05 Panorama 06 Interview: Anetta Kahane 08 Nachrichten 09 Kolumne: Sumit Bhattacharyya 11 Einsatz mit Erfolg 12 Hausmitteilung: Führungswechsel 13 Rezensionen: Bücher 61 Rezensionen: Film & Musik 62 Briefe gegen das Vergessen 64 Aktiv für Amnesty 66 Impressum 68

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Der rechtsradikale Kulturminister Kroatiens, Zlatko Hasanbegović, hat in seiner kurzen Amtszeit die Kulturlandschaft des Landes »gesäubert«. Nach seinem Rücktritt im Sommer hoffen oppositionelle Künstler nun auf Besserung.

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ES SIND SZENEN, DIE UNGLAUBLICH SIND …

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… nach Ausschreitungen verhängte die Polizei in Bautzen eine Ausgangssperre für Flüchtlinge und überließ Rechtsextremen das Feld. Bereits im Februar 2016 war in der Stadt eine geplante Flüchtlingsunterkunft angezündet worden: Unter dem Jubel von Schaulustigen brannte sie nieder. Vorkommnisse wie kürzlich in Bautzen zeigen, dass Flüchtlinge und ihre Unterkünfte in Deutschland nach wie vor nicht ausreichend vor rassistischer Gewalt geschützt sind. Dies erinnert fatal an jene Ereignisse, die sich vor fast genau 25 Jahren in Hoyerswerda, Rostock und anderen deutschen Städten abspielten. Das staatliche Versagen beim Schutz von Flüchtlingen trug damals erheblich zu einem gesellschaftlichen Klima bei, aus dem die »Generation Hoyerswerda« hervorgegangen ist. Dabei handelt es sich auch um jene Rechtsextreme, die heute die Proteste gegen Flüchtlingsheime organisieren.

Institutioneller Rassismus ist kein Thema, es gibt kaum Auskünfte über die Rolle von V-Leuten: Mehmet Daimagüler, der als Nebenkläger Angehörige von Opfern des NSU vertritt, zieht eine bittere Zwischenbilanz des Prozesses.

Weltweit greifen Geheimdienste durch Überwachung in das Menschenrecht auf Privatsphäre ein – auch der Bundesnachrichtendienst. Seine Datenbanken unterlaufen die gesetzlich vorgeschriebene Kontrolle. Der Bundestag will nun – ein wenig – nachbessern.

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Regisseur Oliver Stone sieht in Edward Snowden eine zentrale Figur unserer Zeit. Ein Gespräch über Politik im Kino.

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Titelbild: Die erste Tatwaffe der NSU-Mordserie, eine Ceska 83 mit Schalldämpfer. Foto: Winfried Rothermel / dpa / pa [M] Fotos oben: Oliver Killig / dpa / pa  |  Uwe Zucchi / dpa / pa  |  Regina Schmeken / SZ Photo / laif Lennart Gäbel  |  Antonia Zennaro  |  Universum Film  |  Antonio Bronic / Reuters Foto Editorial: Amnesty

INHALT

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EDITORIAL

Welche weiteren Folgen dieses Staatsversagen nach sich zog, wird derzeit im NSU-Prozess untersucht. Über Jahre hinweg konnten rechtsextreme Gewalttäter unbehelligt morden, während Behörden und Polizei die Täter im Umfeld der migrantischen Opfer suchten. Ohne die Selbstenttarnung des NSU wäre wohl noch heute von der »Türkei-Mafia« die Rede. Nun naht das Ende des Prozesses, grundlegende Fragen sind jedoch nach wie vor offen. Weder die Rolle des Verfassungsschutzes noch das Ausmaß des institutionellen Rassismus wurden aufgedeckt. Dabei wäre angesichts der zunehmenden Gewalt gegen Flüchtlinge eine rückhaltlose Aufklärung wichtiger denn je. Während der Aufklärungswille im NSU-Prozess begrenzt zu sein scheint, ist die Neugier der Geheimdienste bei anderen Themen schier grenzenlos. So speichert allein der Bundesnachrichtendienst die Kommunikationsdaten von Millionen unbescholtener Bürger. Der Bundestag will nun zwar nachbessern. Dabei sollen aber nur deutsche und EU-Bürger besser geschützt werden (S. 38). Das ganze Ausmaß der Überwachung wäre wohl nie bekannt geworden, hätte der Whistleblower Edward Snowden nicht ausgepackt. Seine Geschichte wird nun in dem Film »Snowden« von Oliver Stone erzählt. Stone, der Amnesty-Mitglied ist, erhofft sich von seinem Film, dass mehr Menschen eine kritische Haltung gegenüber der zunehmend ubiquitären Massenüberwachung entwickeln (S. 50). Wir wünschen uns, dass er Recht behält und können den Kinobesuch sehr empfehlen. Anton Landgraf ist verantwortlicher Redakteur  des Amnesty Journals.

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WELTKARTE

KANADA Ein Staudammprojekt bedroht den Frieden im Peace River Valley in British Columbia: Es würde 100 Kilometer des Peace  Rivers fluten und die Indigenen, die in dem Tal leben, von Gebieten abschneiden, die ein wichtiger Bestandteil ihrer Kultur und Lebensgrundlage sind, wie ein Bericht von Amnesty International zeigt. Obwohl die Völker der »West Moberly First Nations«â€‚und der »Prophet River First Nation«â€‚den Bau des Staudamms derzeit gerichtlich anfechten und obwohl die Rechte der Indigenen durch die kanadische Verfassung ausdrücklich geschützt sind, treiben die Behörden das Projekt voran. Mehr als 48.000 Menschen haben inzwischen eine Petition der kanadischen Sektion von  Amnesty gegen den Bau des Staudamms unterschrieben. í¢±

ELFENBEINKÃœSTE Das Rohstoffunternehmen Trafigura muss endlich vollständig über die  Inhalte der Giftabfälle informieren, die es vor zehn Jahren in der ivorischen Hauptstadt Abidjan entsorgt hat, fordert Amnesty International. Trafigura hat nie genau offengelegt,  welche toxischen Stoffe die mehr als 540.000 Liter Giftmüll enthielten, die am 19. August 2006 auf 18 Deponien in Abidjan gebracht worden waren. Mehr als 100.000 Menschen mussten sich danach wegen Schwindel, Übelkeit, Atemproblemen und anderen Symptomen in ärztliche Behandlung begeben. Die Behörden meldeten zudem 15 Todesfälle. í¢²

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BRASILIEN Traurige Bilanz der Olympischen Spiele in Rio: Mindestens acht Menschen wurden während des Sportevents von Sicherheitskräften getötet. Mindestens zwei Polizisten verloren ihr Leben. Friedfertige Kundgebungen wurden mit Gewalt niedergeschlagen. »Die wichtigste Medaille hat Brasilien nicht gewonnen: jene nämlich, Champion der Menschenrechte zu werden«, sagte Atila Roque, Direktor von Amnesty Brasilien. »Die brasilianischen Behörden sind ihrem Versprechen, Rio zu einer sicheren Stadt für alle zu machen, nicht nachgekommen. Es gibt nur einen Weg, das gebrochene Versprechen teilweise wiedergutzumachen, nämlich zu gewährleisten, dass  Tötungen und andere von den Sicherheitskräften begangene Menschenrechtsverletzungen geahndet werden.«

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ÄTHIOPIEN Sicherheitskräfte verübten Anfang August in den Regionen Oromia und Amhara blutige Massaker. Sie schossen gezielt in die Menge, als Tausende Menschen in verschiedenen Orten auf die StraÃ&#x;e gingen, um unter anderem gegen eine von der Regierung geplante Neuordnung von Distrikten zu demonstrieren. Dabei sollen Augenzeugen zufolge 97 Menschen getötet und Hunderte verletzt worden sein. Das schlimmste Massaker ereignete sich demnach in Bahir Dar, wo allein 30 Menschen erschossen wurden. Seit Beginn der Proteste im November 2015 sollen fast 600 Menschen von Sicherheitskräften getötet  worden sein. 

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INDONESIEN Ende Juli wurden auf der Gefängnisinsel Nusa Kambangan trotz internationaler Proteste vier verurteile Drogendealer hingerichtet. Es soll sich um drei Nigerianer und  einen Indonesier gehandelt haben. Hintergrund ist die gnadenlose Antidrogenpolitik, die Indonesien verfolgt. So wurden im vergangenen Jahr 14 Menschen wegen Drogendelikten hingerichtet, derzeit sitzen noch 150 Personen wegen solcher Vergehen in Todeszellen. Amnesty International, die Vereinten Nationen und die Europäische Union haben an die  indonesische Regierung appelliert, die  Exekutionspraxis umgehend einzustellen. 

AMNESTY JOURNAL | 10-11/2016


GOOD NEWS

Foto: Amnesty

RUSSLAND StraĂ&#x;enmusik? Nicht in Moskau! VĂśllig unbekĂźmmert wollten die Musikstudentinnen Lyubov Startseva und Violetta Mikhay lova auf dem Moskauer Manezhnaya-Platz traditionelle Folkmusik vortragen, als zwei Polizisten aus einem Auto stiegen und sie in Gewahrsam nahmen. Die Polizisten verwiesen auf einen Gesetzesartikel, der bestimmte Versammlungen von BĂźrgern auf Üffentlichen Plätzen als Ordnungswidrigkeit einstuft. Der Artikel wird vor allem angewandt, um ungeregelte Protestmärsche oder Flashmobs zu verhindern. Den Musikerinnen drohen nun hohe Geldstrafen oder eine Gefängnisstrafe von bis zu 15 Tagen.    í˘ł

Aus der Haft entlassen. Menschenrechtsaktivist Fred Bauma.

ÂťJEDER BRIEF STĂ„RKT UNSERE ENTSCHLOSSENHEITÂŤ

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Ausgewählte Ereignisse vom  21. Juni bis 9. Juli 2016

WELTKARTE

DR KONGO In der Demokratischen Republik Kongo sind vier Aktivisten aus der Haft entlassen worden, darunter die beiden gewaltlosen politischen Gefangenen Fred Bauma und Yves Makwambala. Amnesty International hatte sich unter anderem im Rahmen des Briefmarathons 2015 fĂźr die Freilassung der beiden Männer eingesetzt und weltweit mehr als 170.000 Appelle gesammelt. Da die Anklagen gegen die Aktivisten bisher jedoch nicht fallengelassen worden sind, besteht die Gefahr einer erneuten Festnahme. ÂťDie Freilassung von Fred, Yves und den anderen beiden Aktivisten ist ein seltener positiver Schritt in einem Jahr, das fĂźr die Meinungsfreiheit in der Demokratischen Republik Kongo bislang besonders schwierig gewesen ist. Die Anklagen waren politisch motiviert und mĂźssen fallen gelassen werden, damit ihr Martyrium ein fĂźr alle Mal ein Ende hatÂŤ, sagte Sarah Jackson, stellvertretende Regionaldirektorin von Amnesty International fĂźr Ostafrika, das Horn von Afrika und die GroĂ&#x;en Seen. Fred Bauma und Yves Makwambala gehĂśren zur Jugendbewegung ÂťLutte pour le ChangementÂŤ (LUCHA), die fĂźr ihr Engagement mit dem ÂťAmbassador of Conscience Award 2016ÂŤ (ÂťBotschafter des GewissensÂŤ) von Amnesty International ausgezeichnet wurde. Die beiden waren im März 2015 zusammen mit 26 weiteren Aktivistinnen und Aktivisten festgenommen und wegen verschiedener angeblicher Straftaten angeklagt worden, unter anderem wegen einer Âťgeplanten VerschwĂśrung gegen das StaatsoberhauptÂŤ. Im Dezember 2015 haben Mitglieder und UnterstĂźtzerinnen und UnterstĂźtzer von Amnesty Briefe geschrieben, zahlreiche SMS gesendet und Petitionen unterzeichnet, um im Rahmen des jährlich stattfindenden Amnesty-Briefmarathons die Freilassung von Fred Bauma und Yves Makwambala zu fordern. Nach der Freilassung bedankte sich Makwambala bei Amnesty fĂźr die UnterstĂźtzung: ÂťJeder Brief, jeder Besuch und jedes Wort hat uns gestärkt und unsere Entschlossenheit in diesem langwierigen, aber wichtigen Kampf fĂźr Freiheit und Demokratie bekräftigt.ÂŤ

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Foto: Fernando Antonio / AP / pa

HONDURAS UND GUATEMALA: MORDE AN UMWELTAKTIVISTEN

Die beiden mittelamerikanischen Staaten Honduras und Guatemala stehen ganz oben auf der Liste der weltweit gefährlichsten Länder für Umwelt- und Landrechtsaktivisten. Besonders unter Beschuss stehen Einzelpersonen und Gemeinschaften, die den Schutz der Umwelt gegen Bergbau-, Rodungs- und Wasserkraftprojekte verteidigen, wie ein Amnesty-Bericht belegt. Im vergangenen Jahr wurden weltweit 185 Umwelt- und Landrechtsaktivisten umgebracht, zwei Drittel von ihnen (122) stammten aus Lateinamerika. Mit acht Morden in Honduras und zehn in Guatemala weisen diese beiden Länder bezogen auf die Bevölkerungszahl die höchste Mordrate auf. In Honduras wurde die bekannte indigene Aktivistin Berta Cáceres am 2. März 2016 in ihrem Haus unweit der Hauptstadt Tegucigalpa ermordet. Sie hatte sich seit 2013 für den Erhalt des Flusses Gualcarque und gegen ein Staudammprojekt eingesetzt, das indigene Gemeinschaften bedrohte.

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AMNESTY JOURNAL | 10-11/2016


PHILIPPINEN: OFFIZIELLE MENSCHENJAGD

»Schießen, um zu töten«, lautete die Aufforderung, die der philippinische Präsident Rodrigo Duterte Anfang August an Polizisten und Soldaten in seinem Land richtete. Er will auf diese Weise gegen Kriminalität und Drogenmissbrauch vorgehen. Seit seinem Amtsantritt am 30. Juni wurden bereits Hunderte Personen willkürlich erschossen. An Politiker gewandt, die sich an Drogengeschäften beteiligten, sagte er: »Mein Befehl lautet, euch zu erschießen. Menschenrechte sind mir egal, das könnt ihr mir glauben.« Polizisten und Soldaten, die seinen Befehl ausführten, würden niemals bestraft werden, versprach er. Nachdem die UNO-Beauftragte für außergerichtliche Hinrichtungen Agnes Callamard ein Ende der »rechtswidrigen Tötungen« gefordert hatte, drohte Duterte überdies mit dem Austritt seines Landes aus den Vereinten Nationen. Amnesty International sieht im Vorgehen des Präsidenten eine klare Verletzung des fundamentalen Menschenrechts auf Leben und befürchtet eine weitere Zunahme außergerichtlicher Hinrichtungen in dem Land. Foto: Bullit Marquez / AP / pa

PANORAMA

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INTERVIEW ANETTA KAHANE

vante Sachen löschen muss, wir finden es aber besser, einen richtigen Umgang damit zu erlernen, sodass jeder Einzelne in die Lage versetzt wird, sich damit auseinanderzusetzen und richtig zu diskutieren. Es ist wichtiger, die Zivilgesellschaft zu stärken, als Kommentare zu löschen. Dass ausgerechnet uns jetzt vorgeworfen wird, wir seien die Zensurbehörde, ist schwer zu erklären.

Foto: Amadeu-Antonio-Stiftung

Woher rührt die Empörung bei diesem Thema? Es gibt bestimmte Reizwörter und -themen, die immer wieder solche Reaktionen auslösen, das Thema Islam etwa, oder Israel. »Hate Speech« gehört auch in diese Reihe von Begriffen, die gerne ideologisch diskutiert werden. Das Thema »Hass im Netz« ist ein Symbolthema.

»WIR HALTEN UNS AN DIE VERNUNFT« Im Juni veröffentlichte die Amadeu-Antonio-Stiftung eine Broschüre gegen Hassreden im Internet. Darin werden Handlungsempfehlungen gegeben, wie mit Hetze gegen Flüchtlinge in den sozialen Medien, mit sogenannter »Hate Speech«, umgegangen werden kann. Inzwischen wurde die Stiftung selbst zum Ziel solcher Hassreden und erhält Morddrohungen. Leiterin Anetta Kahane sieht darin eine gezielte Kampagne. Interview: Stefan Wirner

Frau Kahane, Ihre Stiftung ist Ziel heftiger Attacken. Wie hat das begonnen? Die Angriffe gegen uns fingen an, als wir mit der vom Bundesjustizministerium eingesetzten »Task Force zum Umgang mit rechtswidrigen Hassbotschaften im Internet« über Hass im Netz gesprochen haben. Seither erhalten wir permanent Hass-Mails und Drohungen. Allein die Tatsache, dass das Justizministerium verschiedene Organisationen eingeladen hat, um sich zu beraten, was man tun könnte angesichts der Hetze im Netz, provozierte eine Kampagne. Dass dabei jetzt ausgerechnet die Amadeu-Antonio-Stiftung in den Mittelpunkt gestellt wird, als eine Art Punchingball, ist sehr willkürlich. Wir haben in der Task Force gesagt, dass man zwar rechtlich rele-

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Die Kampagne gegen Ihre Stiftung bindet ein großes Spektrum an sich: von Rechtsextremen der sogenannten Identitären, die sogar Ihre Stiftungsräume belagert haben, bis hin zu liberalkonservativen Publizisten … Dieses Spektrum verbreitet seit vielen Jahren islamfeindliche und rassistische Stereotype, und das im Namen der Freiheit, der Menschenrechte, der Würde der Frau. Das ist sehr bizarr, denn dieses Spektrum ist gleichzeitig selbst extrem frauenfeindlich und antiemanzipatorisch eingestellt. Mit Liberalismus hat es nichts am Hut. In diesem Milieu geht es schon lange so zu, aber es hat sich in jüngster Zeit enorm ausgebreitet. Es radikalisiert sich im Internet, in den sozialen Netzwerken und landet dann bei Pegida und der AfD. Es ist hysterischer geworden und schlägt jetzt auf uns ein, weil wir für das Gegenteil stehen. Wie gehen Sie damit um? Wo wir können, versuchen wir es mit der Gegenrede. Auf unserer Facebook-Seite nehmen wir das Hausrecht war, wenn es offen rassistisch wird. Wenn direkte Drohungen ausgesprochen werden oder strafrechtlich relevante Äußerungen fallen, übergeben wir das dem LKA. Wir halten uns also an unsere eigenen Ratschläge und versuchen, der Situation mit Vernunft zu begegnen, Fragen zu beantworten und Aufklärung zu betreiben. Werden diese Angriffe die Arbeit Ihrer Stiftung verändern? Ich kann nicht für alle sprechen, aber für mich als Menschen ist es eine ungewohnte und unangenehme Erfahrung, im Zentrum von so viel Hass zu stehen. Aber dass wir jetzt übervorsichtig werden und uns nicht mehr äußern würden – das ist nicht der Fall.

AMNESTY JOURNAL | 10-11/2016


»In den Haftzentren der Geheimdienste wurden wir gefoltert und geschlagen, um von uns ein Geständnis zu erzwingen. In Saydnaya geschah dies mit dem Ziel, zu töten. Es ist eine Art natürliche Selektion, um die Schwächsten loszuwerden, sobald sie dort ankommen.« OMAR S. IM AMNESTY-BERICHT »IT BREAKS THE HUMAN«.

Zeichnung: Forensic Architecture / Amnesty

MARTYRIUM IN SAYDNAYA

Warten auf Folter. Eine Zeichnung aus dem Inneren des Militärgefängnisses Saydnaya bei Damaskus, rekonstruiert aus Erinnerungen Überlebender.

Amnesty International dokumentiert in einem neuen Bericht, wie Gefangene in den Haftanstalten der syrischen Geheimdienste und im Militärgefängnis Saydnaya systematisch gefoltert und zu Tode geprügelt werden. Schätzungen gehen von mindestens 17.000 Todesopfern seit 2011 aus. Amnesty fordert, die Verantwortlichen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu bestrafen. Der Bericht »›It breaks the human‹:

Torture, disease and death in Syria’s prisons« stützt sich auf ausführliche Interviews mit 65 Überlebenden, unter ihnen elf Frauen. Alle flohen aus Furcht vor einer erneuten Inhaftierung ins Exil und leiden unter schweren physischen und psychischen Folgeschäden der Folter. Die Misshandlungen beginnen meist bereits bei der Festnahme, anschließend werden die Betroffenen in aller Regel in eines der zahlreichen Haftzentren der Ge-

heimdienste verschleppt. Dort erleiden sie in Verhören schwerste Folter. Die Täter versuchen so, Informationen und »Geständnisse« zu erpressen. Nach Monaten oder gar Jahren in diesen Hafteinrichtungen geht das Martyrium für viele im berüchtigten Militärgefängnis Saydnaya bei Damaskus weiter, in das die Gefangenen – teilweise nach grotesk unfairen »Prozessen« vor Militärgerichten – verlegt werden.

17.000 MENSCHEN DIES ENTSPRICHT DURCHSCHNITTLICH MEHR ALS 300 TOTEN PRO MONAT

ZWISCHEN MÄRZ 2011 UND DEZEMBER 2015 WURDEN IN DEN GEFÄNGNISSEN DES SYRISCHEN REGIMES MINDESTENS DURCH FOLTER UND GEWALT SOWIE UNMENSCHLICHE HAFTBEDINGUNGEN GETÖTET.

DIE TATSÄCHLICHE ZAHL DER TODESOPFER IST WAHRSCHEINLICH NOCH DEUTLICH HÖHER, DENN DAS REGIME HAT SEIT 2011 MINDESTENS VERSCHLEPPT UND IN KERKERN VERSCHWINDEN LASSEN.

65.000 MENSCHEN

INTERVIEW

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NACHRICHTEN

Quelle: Amnesty International und »Human Rights Data Analysis Group« (HRDAG)

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Foto: Tony Karumba / AFP / Getty Images

Am Flussufer angespülte Leichen. Hunderte Anwälte protestieren am 6. Juli 2016 in Nairobi gegen das »Verschwindenlassen«.

Kenianische und internationale Menschenrechtsorganisationen, darunter Amnesty International und Human Rights Watch, haben mehr als 300 Fälle von Personen dokumentiert, die seit 2009 »verschwunden« sind, nachdem die kenianische Polizei sie in Gewahrsam genommen hatte. Einige von ihnen wurden später ermordet aufgefunden. Die Organisationen haben die kenianische Regierung aufgefordert, eine Untersuchungskom-

KENIA

ANHALTENDE GEWALT

Seit Anfang Juli liefern sich Regierungseinheiten und Rebellen im Südsudan immer wieder Gefechte. Dabei kommt es zu Morden an Zivilisten, Vergewaltigungen und Plünderungen, Zehntausende Menschen wurden vertrieben. Der UNO-Sicherheitsrat beschloss Mitte August die Entsendung von 4.000 zusätzlichen Blauhelmsoldaten im Rahmen der Mission UNMISS. Amnesty International fordert darüber hinaus von der Afrikanischen Union, ein Sondertribunal einzurichten, das die seit Beginn des Konflikts im Jahr 2013 begangenen Verbrechen, wie etwa Beteiligung am Völkermord, untersucht und die Täter zur Rechenschaft zieht.

SÜDSUDAN

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mission einzusetzen, um außergerichtliche Hinrichtungen und Fälle von »Verschwindenlassen« aufzuklären und die Verantwortlichen zu bestrafen. Erst im Juli waren die Leichen des Anwalts Willie Kimani, seines Klienten Josephat Mwenda und des Taxifahrers Joseph Muiruri an einem Flussufer 70 Kilometer nördlich von Nairobi angespült worden. Die drei Männer waren zuletzt eine Woche zuvor lebend gesehen worden, als

sie in einer Polizeistation festgehalten wurden. Kimani und Mwenda hatten gegen eine Sondereinheit der Polizei wegen massiver Gewaltanwendung und versuchten Mordes vor Gericht geklagt. Die Ermordung der drei Männer sei eine erschreckende Erinnerung daran, dass mühsam errungene Menschenrechte in Kenia erneut in Gefahr seien, sagte die Direktorin von Amnesty International in Kenia, Muthoni Wanyeki.

ERSCHRECKENDE ZUSTÄNDE IM FLÜCHTLINGSLAGER

AUSTRALIEN Nachdem die britische Zeitung »Guardian« über die katastrophalen Bedingungen in einem Flüchtlingslager auf der Pazifikinsel Nauru berichtete, hat Amnesty International schwere Vorwürfe gegen die australischen Behörden erhoben, die das Lager betreiben. Anna Neistat, Leiterin der Ermittlungsabteilung von Amnesty, sagte: »Diese Enthüllungen haben ein System von Dysfunktion und Grausamkeit offengelegt, das atemberaubend ist.« Der »Guardian« hatte rund 2.000 Berichte von Wachleuten, Lehrern und Sozialarbeitern veröffentlicht, die alltägliche Gewalt und sexuellen Missbrauch von Kindern in dem Lager belegen. Jungen und Mädchen werden von Sicherheitskräften begrapscht, gedemütigt und geschlagen. Einige der Kinder reagieren darauf mit Selbstverstümmelungen. Amnesty fordert die Behörden auf, die Flüchtlinge nach Australien zurückzubringen und sie dort medizinisch und psychologisch zu versorgen.

Foto: Vlad Sokhin / laif

TOD IN POLIZEIGEWAHRSAM

Extraterritoriale Gewalt. Auf der Pazifikinsel Nauru interniert Australien Asylsuchende.

AMNESTY JOURNAL | 10-11/2016


KOLUMNE SUMIT BHATTACHARYYA

Ausgerechnet Khizr Khan aus Pakistan. Ausgerechnet ein Muslim. Der 66-jährige Anwalt könnte der Wendepunkt der Kampagne von Donald Trump sein, vielleicht wird sein denkwürdiger Auftritt auf dem Parteitag der Demokraten Ende Juli in Philadelphia die Wahl des US-Präsidenten entscheiden.

Zeichnung: Oliver Grajewski

Früher als sonst schaut die Welt dieses Jahr auf den Präsidentschaftswahlkampf in den USA. Die schrillen Auftritte von Donald Trump, der sich in der Rolle des »Anwalts der kleinen Leute« gefällt, lassen viele Menschen erschauern. Es ist aber nicht nur der komplette Verzicht auf »political correctness«, sondern die Inhalte seiner Reden, die sich durch Rassismus, Sexismus und Intoleranz auszeichnen. Menschenrechte spielen ebenso wenig eine Rolle wie internationale Verträge.

WAHLKAMPF GEGEN MENSCHENRECHTE

55 Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer plant Trump eine Mauer an der Grenze zwischen USA und Mexiko, die die mexikanische Regierung bezahlen soll. Schon heute ist diese Grenze extrem gesichert, doch sein Vorhaben begründete er mit der Aussage, Mexikaner seien zum größten Teil Dealer, Kriminelle und Vergewaltiger. Dass der Papst diese Pläne scharf kritisierte und Trumps christliche Einstellung in Frage stellte, schadete dessen Kampagne ebenso wenig wie seine Sprüche über Frauen: »Du musst Frauen wie ein Stück Scheiße behandeln«, sagte er dem »New York Magazine« zufolge einst zu einem Freund. An seiner Meinung hält er offenbar fest. Über seine innerparteiliche Konkurrentin Carly Fiorina sagte er: »Wer würde denn so ein Gesicht wählen?«, über Journalistinnen sagte er, es sei »egal, was sie schreiben, solange sie jung sind und einen schönen Arsch haben«. Die Abschaffung der Gesundheitsreform, die vielen tausend Bürgern erstmals eine medizinische Behandlung ermöglicht hat, steht auf Trumps Agenda ganz oben, eine Waffenkontrolle, die die Kriminalitätsrate senken würde, keineswegs. Internationale Verträge sollen nur noch dann weitergeführt werden, wenn sie von Interesse für die USA sind, Atombomben sind die Lösung zur Bekämpfung der IS-Terroristen. Mehrfach änderte Trump seine Rhetorik zum Thema Folter. Mitunter hatte er Folter sehr begrüßt, manchmal verneinte er die Frage, ob er sie anwenden würde. Muslime sind seiner Ansicht nach ein Problem und sollen prinzipiell nicht mehr in die USA einreisen dürfen. Selbst sein Vizepräsidentschaftskandidat Mike Pence bezeichnete diese Maßnahme ursprünglich als ungesetzlich. All dies schadete Trump jedoch nicht. Ausgerechnet der Muslim Khizr Khan, der seit 36 Jahren in den USA lebt und dessen Sohn im Irak fiel, fragte Trump: »Haben Sie jemals die Verfassung gelesen? Ich leihe sie Ihnen gerne aus, suchen Sie nach den Worten ›Freiheit‹ und ›Gleichheit vor dem Gesetz‹. Waren Sie jemals auf dem Arlington Friedhof? Sehen Sie auf die Gräber der tapferen Patrioten, die gestorben sind, als sie die Vereinigten Staaten verteidigt haben. Sie werden dort alle Religionen, Geschlechter und Völker sehen. Sie dagegen haben nichts geopfert – und niemanden.« Als Reaktion darauf griff Trump die Familie an und spekulierte über die Art, wie sie ihre Religion ausübt. Damit hatte er ein Tabu gebrochen, denn es ist ungeschriebenes Gesetz, dass man sich nicht abfällig über die Familien gefallener Soldaten äußert. Dieser Fauxpas führte zu einem deutlichen Knick in den Umfragen – nicht die verächtlichen Äußerungen über Frauen, Latinos und Muslime, nicht die aberwitzigen Pläne einer Mauer an Mexikos Grenze oder den IS mit der Atombombe zu besiegen. In diesem Wahlkampf ist es schwer, mit Menschenrechtsthemen zu punkten. Dennoch ist es wichtig, die Menschenrechte gegen Populisten wie Trump hochzuhalten – denn wie schon Benjamin Franklin, einer der Gründerväter der USA, sagte: »Wer die Freiheit für ein bisschen Sicherheit aufgibt, hat am Ende keins von beidem.« Der Autor ist Sprecher der Länderkogruppe USA der deutschen Amnesty-Sektion.

NACHRICHTEN

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KOLUMNE

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Foto: Tsering Topgyal / AP / pa

»DOWN DOWN AMNESTY«

Protest gegen Amnesty. Studenten der hindunationalistischen Indischen Volkspartei (BJP).

Proteste, Anzeigen, gewalttätige Übergriffe: Das indische Amnesty-Büro ist ins Visier von regierungsfreundlichen Kräften geraten, die der Organisation »staatsgefährdende Aktivitäten« vorwerfen. In Indira Nagar, einem ruhigen Wohnviertel von Bengaluru, in dem das Büro von Amnesty International in Indien liegt, wurde es an einem Freitag im August plötzlich laut. Mitglieder der »Akhil Bharatiya Vidyarthi Parishad« (ABVP), der Studentenorganisation der regierenden Indischen Volkspartei (BJP), riefen Slogans gegen Amnesty International: »Stop propaganda against Indian Army«, »Amnesty International go back«, »Down down Amnesty« und »Stop foreign-funded propaganda«. Die Demonstranten versuchten mit Gewalt, in das Gebäude einzudringen. Einige hatten angeblich Benzinkanister dabei. Nur wenige Amnesty-Mitarbeiter waren im Haus, die Direktion hatte sie auf Anraten der Polizei aufgefordert, ihre Arbeit von zu Hause aus zu erledigen. Dennoch war und ist die Lage angespannt. Eine Woche zuvor, am 13. August 2016, hatte Amnesty eine Veranstaltung zur Lage in Kaschmir unter dem Titel

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»Broken Families« organisiert – erste Etappe einer auf mehrere Städte angelegten Tour und Kampagne, mit der Gerechtigkeit für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen in dem indischen Bundesstaat gefordert werden sollte. Eingeladen waren betroffene Familien aus Kaschmir, deren Schicksal in einem Amnesty-Bericht beschrieben wurde. Darüber hinaus waren auch Vertreter der sogenannten Kaschmir-Pandits eingeladen: Hindu-Familien, die nach dem Ausbruch der Unruhen in den neunziger Jahren aus Kaschmir hatten fliehen müssen. Als es zu Meinungsverschiedenheiten über die Rolle der indischen Armee und Sicherheitskräfte kam, wurde es unruhig im Publikum. Am Ende waren »Azaadi«Rufe zu hören, mit denen Freiheit für Kaschmir gefordert wurde. Studenten der ABVP sahen hierin einen Angriff auf den indischen Staat und zeigten Amnesty als Veranstalter wegen Volksverhetzung an. Die Polizei, die während der Veranstaltung präsent war, verfasste einen ersten Bericht, ließ aber ebenso wie Politiker der im Bundesstaat Karnataka regierenden Kongresspartei durchblicken, dass es wenig Evidenz für eine Strafverfolgung gebe.

Dies rief Politiker der hindunationalistischen BJP auf den Plan. Sie warfen der Kongresspartei vor, das Verfahren gegen Amnesty aus politischen Motiven verhindern zu wollen. In mehreren Städten Karnatakas und anderer Bundesstaaten organisierten BJP und ABVP in den Tagen darauf Demonstrationen gegen Amnesty, auf denen die Verhaftung von AmnestyMitarbeitern und das Verbot der Organisation in Indien gefordert wurde. Die Menschenrechtsverletzungen in Kaschmir, um die es bei der Veranstaltung eigentlich ging, sind im Streit um eine Anklage gegen Amnesty in den Hintergrund gerückt. Im Zentrum der öffentlichen Debatte steht nun Artikel 124(a) des indischen Strafgesetzbuchs, der bestimmte Formen der Kritik an der Regierung als Volksverhetzung oder Aufwiegelung einstuft und Strafen bis hin zu lebenslänglicher Haft vorsieht. Mit diesem Gesetz, das noch aus Zeiten der Kolonialherrschaft stammt und u.a. gegen Gandhi angewandt wurde, werden in Indien immer häufiger Regierungskritiker und Menschenrechtsverteidiger zum Schweigen gebracht. Amnesty International hat diesen Artikel regelmäßig als Verletzung des Rechts auf Meinungsfreiheit kritisiert und sich mit Eilaktionen für die Opfer eingesetzt. Nun steht Amnesty in Indien selbst am Pranger. Dies könnte der Moment sein, an dem für die Abschaffung von Artikel 124(a) mobilisiert werden kann. Tatsächlich erklärten sich Menschenrechtsorganisationen wie »People’s Union of Civil Liberties«, »Forum Asia«, »People’s Watch« und andere mit Amnesty solidarisch. Die NGO »Common Cause« hat sich wegen Missbrauchs des Gesetzes an den Obersten Gerichtshof gewandt. Und auch Politiker und Journalisten haben sich für eine Abschaffung oder Überprüfung des Gesetzes ausgesprochen. In einigen Debattenbeiträgen, insbesondere im Fernsehen und in den sozialen Medien, zeigte sich aber auch eine erschreckende Aggressivität gegen Amnesty und die internationale Bewegung für die (angeblich westlichen) Menschenrechte. Wohin die Meinung der indischen Zivilgesellschaft tendiert, ist offen. Text: Michael Gottlob Weitere Informationen: www.amnesty-indien.de

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Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen mit Appellschreiben an den »Urgent Actions«, den »Briefen gegen das Vergessen« und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz drohende Menschenrechtsverletzungen verhindert und Menschen in Not hilft, zeigen diese Beispiele.

VERSCHLEPPT UND WIEDER FREIGELASSEN

Kostyantyn Beskorovayny ist in Freiheit. Am 27. November 2014 hatten vier Vermummte den Zahnarzt aus seinem Haus in Kostjantyniwka in der Ostukraine entführt. 15 Monate lang wurde er in geheimer Haft festgehalten. Beskorovayny sagte Amnesty International, er sei vom ukrainischen Inlandsgeheimdienst verschleppt, misshandelt und gefoltert worden. Er sollte gestehen, er habe eine Wasserquelle vergiften wollen. Am 25. Februar 2016 wurde er an einer Bushaltestelle in Charkiw ausgesetzt. Im Juli kündigte der Oberste Militärstaatsanwalt eine Untersuchung des Falles an.

UKRAINE

OPFER WERDEN ENTSCHÄDIGT

Ein bedeutender Tag für die Opfer staatlicher Gewalt im Tschad: Im Juli entschied ein Sondertribunal in der senegalesischen Hauptstadt Dakar, dass die Opfer der Gewaltherrschaft des früheren tschadischen Diktators Hissène Habré Entschädigungen in Höhe von umgerechnet mehreren Tausend Euro erhalten sollen. Entschädigt werden Menschen, die willkürlich inhaftiert und gefoltert wurden, und Angehörige. Habré wurde im Mai 2016 vom selben Gericht unter anderem wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in den Jahren 1982 bis 1990 zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Urteil basiert auch auf Berichten von Amnesty.

TSCHAD

UMWELTAKTIVIST AUF FREIEM FUSS

Amnesty betrachtete den Umweltaktivisten Ildefonso Zamora Baldomero als gewaltlosen politischen Gefangenen. Er war im November 2015 in San Juan Atzingo unter dem Vorwurf, an einem Einbruch beteiligt gewesen zu sein, festgenommen worden. Die vorgelegten Beweise waren offenbar erfunden. Nun ist er wieder frei. Ein Gericht urteilte, es gebe keinerlei Hinweise darauf, dass er an einem Verbrechen beteiligt gewesen sei. Baldomero engagiert sich gegen illegale Abholzungen. Deswegen werden er und seine Familie seit Langem bedroht. 2007 wurde sein Sohn Aldo ermordet, sein Sohn Misael bei einem Angriff schwer verletzt.

MEXIKO

JUGENDLICHE AKTIVISTEN BEGNADIGT

DEMOKRATISCHE REPUBLIK KONGO Sechs Jugendliche, die sich in der Organisation »Lutte pour le Changement« (Lucha) engagieren, sind im Juli begnadigt und aus dem Gefängnis entlassen worden. Sie waren am 16. Februar festgenommen worden, als sie sich auf einen landesweiten Streik vorbereiteten. Die Opposition wollte damit gegen Verzögerungen der Präsidentschaftswahlen protestieren. Gewählt werden soll im November, laut Verfassung kann Präsident Joseph Kabila nicht noch einmal antreten. Amnesty International hat die Regierung aufgefordert, auch alle anderen Häftlinge freizulassen, die aus dem gleichen Grund einsitzen.

ERFOLGE

HAUSMITTEILUNG

FÜHRUNGSWECHSEL

Foto: Bernd Hartung / Amnesty

EINSATZ MIT ERFOLG

Er ist seit gut zwölf Jahren bei Amnesty International – und seit dem 1. September steht Markus N. Beeko nun als Generalsekretär an der Spitze des Sekretariats der deutschen Sektion. »Ich freue mich darauf, mich weiter mit den vielen engagierten Mitgliedern, Unterstützerinnen und Unterstützern unserer Bewegung jeden Tag für bedrohte Menschen und einen besseren Menschenrechtsschutz einzusetzen«, sagte Markus Beeko zu seinem Amtsantritt. Der neue Generalsekretär kommt ursprünglich aus Köln. Der Sohn einer Ärztin und eines Ingenieurs aus Ghana zog nach seinem BWL-Studium Mitte der neunziger Jahre nach Hamburg, um in der LINTASKommunikationsagentur zu arbeiten. Als Leiter der Unternehmensentwicklung verließ er nach fünf Jahren Hamburg, um bei der Schweizer Politik- und Wirtschaftsberatung PROGNOS die Leitung der Kommunikation zu übernehmen. 2004 stieß er dann zu Amnesty International in Deutschland, wo er den Bereich »Kampagnen + Kommunikation« führte. In seiner bisherigen Zeit bei Amnesty hat Markus Beeko die Entwicklung der Organisation und insbesondere die Kampagnenarbeit auf nationaler und internationaler Ebene aktiv mitgestaltet. Er war unter anderem verantwortlich für die Entwicklung des weltweiten Aktions- und Erscheinungsbilds von Amnesty und prägte die Arbeit zum Thema »Menschenrechte im digitalen Zeitalter« mit. »Die Idee, dass wir alle gleich an Rechten geboren sind, dass wir entscheiden können, woran wir glauben und wen wir lieben, dass wir frei unsere Meinung äußern können und sicher vor staatlicher Willkür sind, gehört für mich zum ›Menschsein‹«, erklärte Markus Beeko. »Weltweit kommt es täglich zu Menschenrechtsverletzungen wie willkürlicher Haft, Folter, Hinrichtungen oder Verletzungen der Meinungsfreiheit. Millionen Menschen sind auf der Flucht vor Verfolgung und Gewalt. Hier sind wir als Amnesty gefordert. Wann immer es notwendig ist, wird Amnesty von den Regierungen der Welt wieder und wieder einfordern, dass die Menschenrechte die Leitlinien für jedes staatliche Handeln darstellen sollten.«

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TITEL

Enver Şimşek Abdurrahim Özüdoğru Süleyman Taşköprü Habil Kılıç Mehmet Turgut İsmail Yaşar Theodoros Boulgarides Mehmet Kubaşık Halit Yozgat Michèle Kiesewetter

Die Opfer des NSU-Terrors

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Generation Terror

25 Jahre Hoyerswerda, fünf Jahre NSU-Selbstenttarnung – die Bilanz fällt bitter aus: Die gewaltbereite rechtsextreme Szene hat seither in Deutschland an Selbstbewusstsein gewonnen, Übergriffe auf Flüchtlinge sind an der Tagesordnung, Behörden und Polizei können wenig aufklären. Eine der Ursachen: Institutioneller Rassismus ist hierzulande ein Problem.

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Generation BU. BU.

Hoyerswerda. In diesem Haus war das Ausländerwohnheim untergebracht,  das vor 25 Jahren tagelang von Rechtsextremen attackiert wurde. Foto: Oliver Killig / dpa / pa

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Hoyerswerda

GENERATION TERROR

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Pogrome und Brandschläge gegen Flüchtlinge waren Anfang der neunziger Jahre nahezu alltäglich. Nur wenige Täter wurden zur Rechenschaft gezogen, oft schauten Behörden und Polizei tatenlos zu. Die Botschaft, dass selbst schwerste Straftaten folgenlos bleiben, formte das Selbstbewusstsein jenes rechtsextremen Milieus, aus dem sich auch das Unterstützer-Netzwerk des NSU rekrutierte. Die Parallelen zu heutigen Ereignissen sind frappierend. Von Heike Kleffner

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in Vierteljahrhundert ist seit dem Pogrom von Hoyerswerda im September 1991 und dem nachfolgenden rassistischen Flächenbrand der frühen neunziger Jahre vergangen. Die Folgen der Kapitulation des Rechtsstaats vor rassistischen Gewalttätern und mit ihnen sympathisierenden Bürgern prägen bis heute das Leben vieler Menschen. Denn aus der überschaubaren Neonaziszene der frühen neunziger Jahre ist längst eine extrem rechte Bewegung geworden, die insbesondere in ländlichen Regionen fest in der Mitte der Gesellschaft verankert ist und die sich mit der Alternative für Deutschland (AfD) und der NPD nun sowohl in Landesparlamenten als auch Kommunalvertretungen repräsentiert sieht. Das mutmaßliche NSU-Kerntrio und dessen Unterstützerszene war Teil jener »Generation Terror«, deren Rassismus durch das Staatsversagen Anfang der neunziger Jahre und den dazugehörigen gesellschaftlichen und medialen Diskurs entscheidend geprägt wurde. Mangelnde Strafverfolgung auch bei schwersten Straftaten, pogromartige Angriffe wie in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen, Waffen- und Sprengstofffunde, Brandreden von politisch Verantwortlichen gegen Asylsuchende, die von den Tätern als Legitimation für schwerste Gewalttaten begriffen wurden, bereiteten den Boden für die »Generation Terror«. Die Aktivistinnen und Aktivisten des »Nationalsozialistischen Untergrunds«, aber auch Hunderte weiterer Neonazis – wie beispielsweise der Attentäter der Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker – wurden in dieser Zeit politisch sozialisiert. Ein kurzer Rückblick auf die Entstehungsgeschichte des Pogroms in Hoyerswerda liest sich erschreckend aktuell. Die Kapitulationserklärung der sächsischen Behörden war kurz: »Es besteht einheitliche Auffassung dazu, dass eine endgültige Problemlösung nur durch Ausreise der Ausländer geschaffen werden kann,« hieß es in der »Lageeinschätzung« des Landesratsamts Hoyerswerda am 20. September 1991 um 12 Uhr mittags. Nicht einmal 24 Stunden später wurden 240 Asylsuchende aus einem Dutzend Herkunftsländer in den frühen Morgenstunden in Busse verfrachtet – und unter dem johlenden Beifall der jugendlichen und älteren Zuschauer mit SEK-Begleitfahrzeugen aus der einstigen sozialistischen Musterstadt gefahren. Einige Naziskins warfen Steine und Flaschen auf die abfahrenden Busse; dabei wurde ein Flüchtling durch Glassplitter erheblich verletzt. Junge Neonazis grölten in laufende Kameras und erklärten, dass Hoyerswerda erst der Anfang sein werde. In den Weg stellte sich ihnen niemand. In den Worten des Landratsamtes vom 20. September 1991: »Die übergroße Mehrheit der Anwohner im unmittelbaren Umfeld des Ausländerwohnheims sieht in den Handlungen der Störer eine Unterstützung ihrer eigenen Ziele zur Erzwingung der Ausreise der Ausländer und erklärt sich folgerichtig mit ihren Gewalttätigkeiten sehr intensiv solidarisch. Die polizeilichen Handlungen werden dagegen strikt abgelehnt.«

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Wie es zu dem Pogrom kam, ist ebenso schnell erzählt. Am 17. September 1991 griffen Naziskins auf dem Marktplatz von Hoyerswerda zunächst einige vietnamesische Händler an. Die Betroffenen wehrten sich und flüchteten in ein Vertragsarbeiterwohnheim in der Albert-Schweitzer-Straße, mitten im riesigen Plattenbauviertel WK X der damals noch über 50.000 Einwohner großen Stadt. Hier lebten auch noch rund 120 ehemalige Vertragsarbeiterinnen und -arbeiter aus Mosambik und Vietnam. Sie waren mehrheitlich Mitte der achtziger Jahre in die DDR gekommen, hatten als junge Frauen und Männer Ausbildungen in Industrieberufen gemacht und wurden dann in diversen Werkstätten und im Braunkohletagebaubetrieb VEB Schwarze Pumpe eingesetzt. Ihre Arbeitsverträge mit der Nachfolgegesellschaft LAUBAG AG waren zu Ende September bzw. Ende Dezember 1991 gekündigt worden.

Erst die Vertragsarbeiter, dann die Flüchtlinge Die Naziskins trauten sich zwar nicht in das Wohnheim hinein, sie organisierten aber schnell immer mehr »Kameraden«, so dass sich innerhalb weniger Stunden drei bis vier Dutzend junge Neonazis Parolen grölend und Steine werfend vor dem Wohnheim versammelten. Am nächsten Tag griffen ab den frühen Abendstunden mehrere Dutzend junge Männer das Wohnheim mit Molotow-Cocktails und Steinen an. Nun begannen die Bewohner um ihr Leben zu fürchten, denn die Polizei ließ die Angreifer weitestgehend unbehelligt – während Nachbarn entweder teilnahmslos zusahen, wie sämtliche Fenster des Heims eingeworfen wurden oder Beifall klatschten. Unter ihnen erkannten die Vertragsarbeiter auch viele ihrer deutschen Kollegen – vor allem Vorarbeiter – aus dem Braunkohletagebau. Am 20. September 1991 um 13.50 Uhr notieren Polizeibeamte, offensichtlich erleichtert: »2 Kraftomnibusse mit 60 ausländischen Bürgern / AWH Albert-Schweitzer-Straße haben zwecks ordnungsgemäßer Rückführung Ort verlassen. Maßnahmen waren vom Ordnungsamt eingeleitet worden.« Ihr »Begleitschutz« von der sächsischen Polizei brachte sie mehrheitlich direkt nach Berlin und Frankfurt am Main, von wo sie nach Mosambik zurückkehrten. Ermutigt durch ihren Erfolg richteten die rassistischen Angreifer anschließend ihre Attacken gegen das Flüchtlings-

Tatort Hoyerswerda: Die Bewohner fürchteten um ihr Leben, denn die Polizei ließ die Angreifer weitestgehend unbehelligt.

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wohnheim in der Thomas-Münzer-Straße, in dem seit dem Frühsommer 1991 rund 240 Flüchtlinge u.a. aus Vietnam, Rumänien, Ghana, Iran, Bangladesch wohnen mussten. Sie waren aus den alten Bundesländern nach Sachsen zwangsumverteilt worden. Sie wurden genau so wenig geschützt und am 21. September 1991 mit Bussen unter SEK-Begleitung in Barackenheime im Umland verteilt.

Tödliche Folgen Die Bilanz jener fünf Tage im September 1991: Der Staat und seine Exekutivorgane hatten sich aus gleich mehreren Kernaufgaben – dem Schutz von schutzlosen Minderheiten sowie der Verfolgung von Straftaten – komplett zurückgezogen. Die Signalwirkung des Pogroms von Hoyerswerda war fatal. Neonazis feierten Hoyerswerda öffentlich als »erste ausländerfreie Stadt«. Schnell gab es bundesweit Nachahmer – Neonazis, rassistische Gelegenheitstäter und politisch rechts sozialisierte Jugendliche. Schon während der Pogromtage verbrannte in Saarlouis im Saarland der 27-jährige ghanaische Asylsuchende Samuel Yeboah bei einem Brandanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft. Im sächsischen Thiendorf griffen Jugendliche ein Flüchtlingsheim an und verletzten acht Menschen. Im brandenburgischen Cottbus machte die Nationale Alternative (NA) gegen die dortige Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber mobil; Weitere Brandanschläge z.B. in Münster, in March (Südbaden) und Tambach-Dietharz (Thüringen) folgten. Der erste NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags kam im Hinblick auf die Wirkung des Pogroms von Hoyerswerda zu einer eindeutigen Bewertung: »Die frühen neunziger Jahre waren geprägt durch eine Welle rassistischer und neonazistischer Gewalttaten, insbesondere gegen Flüchtlinge und Migranten. Diese rassistisch motivierte Gewalt wurde in den neuen Bundesländern vielfach im öffentlichen Raum, vor den Augen zahlreicher – oftmals sympathisierender – Anwohner verübt, ohne dass staatliche Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden wirksam auf Seiten der Opfer eingriffen und effektiv und er-

GENERATION TERROR

Foto: Timm Schamberger / dpa / pa

Enver Şimşek – 9. September 2000, Nürnberg

kennbar gegen die Täterinnen und Täter vorgingen. Potenzielle Nachahmer und Sympathisanten der extremen Rechten konnten sich dadurch ermutigt und bestätigt fühlen. Dies gilt insbesondere für die tagelangen pogromartigen Angriffe auf Wohnheime von Asylbewerbern und mosambikanischen Vertragsarbeitern im sächsischen Hoyerswerda im August 1991.« Die Kapitulation von Polizei und Justiz sorgte für ein enormes Selbstbewusstsein in der Neonaziszene, das bis heute vielerorts ungebrochen anhält. 1.483 rechtsextreme Gewalttaten registrierte das Bundeskriminalamt (BKA) Ende 1991, 1992 stieg die Zahl um mehr als das Doppelte auf 2.584 Fälle. Angesichts der großen Dunkelziffer bei rechten Gewalttaten in den frühen neunziger Jahren muss man davon ausgehen, dass diese Zahlen nur einen kleinen Ausschnitt der Realität widerspiegeln. Begleitet wurde diese rassistische Mobilisierung von schizophrenen Medienkampagnen: Einerseits kommentierten zumeist westdeutsche Journalisten den rassistischen Hass als Zivilisationsbruch, andererseits sekundierten nicht nur Boulevardmedien den rassistischen Schlägern. Es folgten die noch heute bekannten Titelbilder von »Spiegel«, »Bild« und anderen Zeitungen mit Überschriften wie »Das Boot ist voll«. In Rostock-Lichtenhagen hatten politisch Verantwortliche im Frühjahr und Sommer 1992 bewusst die Kapazität der Zentralen Aufnahmestelle für Asylsuchende des Landes Mecklenburg-Vorpommern nicht erhöht; Asylsuchende waren gezwungen, im Freien zu schlafen und ihre Notdurft in den Büschen der Vorgärten der Plattenbausiedlungen zu verrichten. Die Bilder, die zur Rechtfertigung des Pogroms benutzt wurden, wurden so erst geschaffen. Vom 24. bis 26. August 1992 griffen mehrere hundert organisierte Neonazis, Naziskins und rassistische Gelegenheitstäter unter dem Beifall von bis zu 3.000 Zuschauern die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber des Landes MecklenburgVorpommern und ein Wohnheim für vietnamesische Vertragsarbeiter in Rostock-Lichtenhagen an. In der Nacht vom 26. August 1992 zog sich die Polizei dann zeitweise völlig zurück und

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überließ die im brennenden Wohnheim eingeschlossenen 100 Vietnamesen, eine kleine Gruppe antifaschistischer Unterstützer und ein ZDF-Fernsehteam schutzlos dem rassistischen Mob.

Die damalige CDU/FDP-Bundesregierung nutzte die erste Welle rassistischer Gewalt seit der Öffnung der DDR-Grenzen 1989, um die von ihr selbst entfachte »Asyl-Debatte« weiter anzuheizen: bis zur de facto Abschaffung des Grundrechts auf Asyl im Juli 1993. Medien und Politik hatten die Debatte gleichermaßen geschürt. Unmittelbar nach dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen erklärte der damalige CDU-Fraktionsvorsitzende im Schweriner Landtag, Eckhardt Rehberg: »Dass die Ausländer unsere Sitten und Gebräuche nicht kennen und vielleicht gar nicht kennenlernen wollen, stört die Befindlichkeit unserer Bürger.« Ähnlich argumentierte der CDU-Bundestagsabgeordnete Erwin Marschewski bei der Plenardebatte anlässlich der de facto Abschaffung von Artikel 16 GG. »Unser Volk verlangt eine praktikable Antwort zur Lösung des Asylproblems – es kann rein akademische Diskussionen nicht mehr ertragen.« Am Ende stimmten 521 Abgeordnete für und lediglich 132 Abgeordnete gegen die Einführung des neuen Artikels 16a GG. Drei Tage nach dem »Asyl-Kompromiss«, am 29. Mai 1993, verübten vier junge Neonazis auf das Haus der Familie Genc in Solingen einen mörderischen Brandanschlag. Dabei starben fünf Familienmitglieder: Gürsün Ince (27), Hatice Genç (18), Gülüstan Öztürk (12), Hülya Genç (9) und Saime Genç (4). Das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen veränderte die Geschichte und die Gesellschaft der gerade vereinigten Bundesrepublik: Die Botschaft, dass Migranten keinen Schutz des Staates zu erwarten hatten – und entsprechend auch schwerste Straftaten folgenlos bleiben würden – formte das Selbstbild und Selbstbewusstsein eben jener »Generation Terror« – junge Neonazis und Naziskins – aus der sich auch das UnterstützerNetzwerk und der Kern des NSU rekrutierte. Die Notwendigkeit eines präzisen Erinnerns an die rassistischen Pogrome von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen liegt nicht allein darin begründet, dass in den vergangenen zwei Jahrzehnten konservativen Statistiken zufolge mehr als 10.000 Menschen Opfer rechter und rassistischer Angriffe wurden, an deren physischen und psychischen Folgen sie zum Teil ein Leben lang leiden. Die Aktualität des Jahrestages begründet sich auch nicht ausschließlich darin, dass die offiziellen Zahlen rechter und rassistischer Angriffe und Brandanschläge auf bewohnte und unbewohnte Flüchtlingsunterkünfte in den vergangenen zwei Jahren längst das Niveau der frühen neunziger Jahre erreicht haben. Nur fünf Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU wird eine neue »Generation Terror« sozialisiert, deren Aktivisten Sprengsätze unter Autos von Flüchtlingshelfern zünden, Brandanschläge verüben und Waffen und Sprengstoff horten.

Tatort Rostock-Lichtenhagen: Dieses Pogrom veränderte die Geschichte und die Gesellschaft der gerade vereinigten Bundesrepublik.

Abdurrahim Özüdoğru – 13. Juni 2001, Nürnberg

Foto: Florian Schuh / dpa / pa

Politik und Medien schürten Debatte

Dazu gehört auch die aktuelle gesellschaftliche und politische Debatte, die einen bürgerlichen Rassismus à la Thilo Sarrazin salonfähig macht und die zum Selbstbewusstsein derjenigen beiträgt, die im Minutentakt Hass-Mails gegen Geflüchtete und Politiker demokratischer Parteien verschicken, rassistische Kommentare in sozialen Netzwerken verbreiten oder sich jeden Montagabend in Dresden zu Pegida-Aufmärschen und andernorts zu »Nein-zum-Heim«-Kundgebungen treffen. Gerade hier wird auch die Kontinuität der Geschichte deutlich – viele Aktivisten, die heute um die 40 Jahre alt sind und die insbesondere in Sachsen den Kern rechter Mobilisierungen ausmachen, haben ihre ersten politischen Erfahrungen in der extrem rechten Erlebniswelt der frühen neunziger Jahre gesammelt. Ihre Lebenswege ähneln denen der vier mit Beate Zschäpe angeklagten Unterstützer und vieler namentlich bekannter weiterer Helfer des NSU-Netzwerks: von Fernfahrern, Steinmetzen und Landschaftspflegern, Elternvertretern in Schulen und Kitas über Sozialpädagogen, Juristen, rechten Ladenbetreibern bis hin zu NPD-Funktionären und Vollzeitaktivisten der militanten Kameradschaften und rechten Hooligan- und Rocker-Szene findet sich hier das ganze Spektrum an Lebensentwürfen. Ihr gemeinsamer Nenner: Rassismus, NS-Verherrlichung, offener Antisemitismus – und eine altbekannte Mischung aus Opferinszenierung und Allmachtsfantasien. Sie bilden mit ihren Erfahrungen, ihrem Selbstbewusstsein und ihren Ideen das Rückgrat der neuen Bewegung von rechts – sei es auf der Straße, in neu-rechten Think-Tanks oder in den Parlamenten. Bei den Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern Anfang September hat diese Gruppe überdurchschnittlich oft ihr Kreuz bei der AfD gemacht. Wie einflussreich diese Bewegung der Rassisten werden wird, hängt entscheidend davon ab, ob Zivilgesellschaft, Medien, Strafverfolger, Justiz und Politik anders als nach den Pogromen vor 25 Jahren nicht mit weiterem Asylrechtsabbau, weiterer Abschottung und weiterem Verständnis für die Täter von Brandanschlägen und schwersten Körperverletzungen reagieren. Die Autorin ist freie Journalistin.  Die autofocus Videowerkstatt e.V. aus Berlin und die Initiative »Pogrom 91« aus Hoyerswerda zeigen unter www.hoyerswerda-1991.de eine  Webdokumentation mit bislang unveröffentlichten O-Tönen und Bildern. Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen:  www.amnesty.de/app

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»Ich dachte, die Deutschen hätten ein gutes Herz« Vor 25 Jahren kam es im sächsischen Hoyerswerda zu ausländerfeindlichen Ausschreitungen. Emmanuel Adu-Agyeman aus Ghana war einer der Flüchtlinge, die damals angegriffen wurden.

Zeichnung: Susann Stefanizen

»Ich bin im November 1990 in Schwalbach bei Frankfurt angekommen. Zusammen mit anderen Flüchtlingen aus Ghana, Sri Lanka, Nigeria und Angola wurde ich im März 1991 nach Hoyerswerda gebracht, in ein DDR-Hochhaus, in dem auch Deutsche wohnten. Wir spürten bald, dass die Leute uns hier nicht haben wollten. Wenn wir im Supermarkt einkauften, gab es oft Ärger. Wir verstanden die Beschimpfungen am Anfang gar nicht, weil keiner von uns Deutsch konnte. Die Leute hielten Bananen hoch, wenn sie uns sahen, und riefen ›Ausländer raus!‹. Andererseits hatten wir guten Kontakt zur Kirchengemeinde in der Stadt. Man lud uns zum Fußballspielen ein und wir kochten afrikanisches Essen. Mit den jungen Leuten haben wir viel unternommen. Einmal waren wir gemeinsam an einem See schwimmen,und auf dem Rückweg kamen uns fünf Männer entgegen und griffen uns an. Ich wurde an der Hand verletzt.

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Eines Tages standen auch Leute vor unserem Haus und riefen ›Ausländer raus!‹. Das waren Skinheads. Die Sozialarbeiterin sagte, wir sollten lieber nicht rausgehen. Wir saßen alle in der sechsten Etage und warteten. Abends um sechs Uhr kamen dann sehr viele Leute auf Motorrädern. Sie schossen Feuerwerksraketen auf unser Haus. Vor dem Gebäude gab es ein Wäldchen, da versteckten sie sich. Um 10 Uhr abends warfen sie dann aus dem Versteck heraus Flaschen und Steine auf das Haus. Bei uns in der Etage entstand ein völliges Durcheinander, wir konnten uns ja auch untereinander schlecht verständigen wegen der verschiedenen Sprachen. Es dauerte eineinhalb Stunden, bis die Polizei kam. Aber das waren nur vier oder fünf Polizisten in einem kleinen Wartburg. Die Angriffe gingen immer weiter, alle Fenster des Hauses waren kaputt von den Steinwürfen. Erst um fünf Uhr morgens erhielt die Polizei Verstärkung. Auch ein Hubschrauber kam und die Angriffe wurden endlich gestoppt. Dann durften wir das ganze Wochenende das Haus nicht verlassen. Man wollte uns aus Hoyerswerda wegbringen. Am Montagvormittag wurden wir mit einem Bus abgeholt. Sehr viele Leute standen vor dem Haus und riefen ›Ausländer raus!‹. Junge, Alte, alle waren da. Wir wurden nach Meißen gebracht. Nach ein paar Tagen kam eine Gruppe von Autonomen zu uns, die sagten, sie würden uns nach Berlin bringen. Tatsächlich fuhren wir schließlich mit dem Zug dorthin. Sie haben uns in eine Kirche nach Dahlem ins Kirchenasyl gebracht. Es gab wochenlange Verhandlungen, was mit uns geschehen soll. Die reichen Leute, die in Dahlem wohnen, wollten auch keine Flüchtlinge in ihrer Gegend und machten Druck gegen uns. Am Ende bin ich wieder in Frankfurt gelandet. Heute lebe ich in Darmstadt. Ich habe eine Aufenthaltsgenehmigung und arbeite in einer Wurstfabrik. Ich habe guten Kontakt zum früheren Bürgermeister von Hoyerswerda, Horst-Dieter Brähmig. Er hat uns zehn Jahre nach den Ausschreitungen für eine Woche nach Hoyerswerda eingeladen. Die Stadt hatte sich völlig verändert, viele Häuser waren renoviert, die Stimmung war anders. Brähmig entschuldigte sich bei uns für das, was geschehen war. Heute denke ich nicht mehr so oft an die Zeit zurück. Aber es ist immer noch in meinem Kopf. Wir konnten es einfach nicht verstehen, denn in Ghana hatte man uns immer erzählt, die Deutschen hätten ein gutes Herz.« Protokoll: Stefan Wirner

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Ausgrenzung als Prinzip L

eben in Unsicherheit: Wie Deutschland die Opfer rassistischer Gewalt im Stich lässt« heißt der umfassende Bericht, mit dem Amnesty International im Juni 2016 auf den mangelnden Schutz Geflüchteter und ihrer Unterkünfte in Deutschland aufmerksam machte. Amnesty bemängelt zudem, dass die deutschen Strafverfolgungsbehörden nicht entschieden genug gegen Gewalt vorgehen und Polizisten rassistische Straftaten oftmals nicht als solche erkennen. Die politisch motivierten Straftaten gegen Flüchtlingsunterkünfte stiegen nach Angaben von Amnesty von 63 (2013) auf 1.031 im vergangenen Jahr. Gleichzeitig fanden 2015 durchschnittlich sechs Demonstrationen gegen Geflüchtete pro Woche statt, unter ihnen die Pegida-Kundgebungen in Dresden mit mehreren Tausend Teilnehmern. In den Kommentaren zum Bericht von Amnesty in den sozialen Medien zeigen sich viele Menschen empört: »Sorry aber was ist mit den ganzen Übergriffen von den Asylanten? Ich finde es wirklich erschreckend, was hier abgeht, hier werden Täter zum Opfer und Opfer zum Täter gemacht […]«, heißt es in einem Facebook-Beitrag. Neben dem Vorwurf, dass die Asylsuchenden die Brände selbst legen würden, stören sich viele Kommentare auch an der Kritik an der Polizei.

Foto: Bodo Marks / dpa / pa

Süleyman Taşköprü – 27. Juni 2001, Hamburg-Bahrenfeld

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In der »Asyldebatte« werden wie in den neunziger Jahren von Teilen der Politik apokalyptische Zustände beschworen, wenn der »Zustrom der Massen von außen« nicht beendet werde. Sprachen CDU-Politiker in den achtziger Jahren davon, dass 50 Millionen »Asylanten« kommen könnten, erklärt CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer heute, dass 60 Millionen Menschen an der Grenze zu Deutschland warten. Vor dem Hintergrund einer erstarkenden Parteienkonkurrenz von rechts prägen rassistische Alltagsdiskurse »besorgter Bürger« die gesamte politische Diskussion – das war damals nicht anders als heute. Gleichzeitig nimmt rechtsradikale Gewalt sprunghaft zu. Die Täter werden viel zu selten von der Polizei ermittelt und oft wird der politische Hintergrund ihrer Tat ausgeblendet. Stattdessen bestimmen diskriminierende Praxen und institutioneller Rassismus das Handeln der Strafverfolgungsbehörden. Im Ergebnis wurde die Asylgesetzgebung deutlich verschärft: 1993 mit einer Grundgesetzänderung und seit 2014 mit schrittweisen Verschärfungen der Gesetze. Die Abwehr von Geflüchteten rückt gleichzeitig geografisch von Deutschland weg. Die Vorverlegung des (europäischen) Grenzregimes begann mit der sicheren Drittstaatenregelung im Zuge des Asylkompromisses und wurde später durch europäische Partnerschaften mit Diktatoren wie Libyens Staatsoberhaupt Muammar al-Gaddafi fortgeführt. Zurzeit plant die EU unter anderem eine Kooperation beim Grenzmanagement mit dem sudanesischen Präsident Omar al-Bashir, der vom Internationalen Strafgerichtshof wegen Völkermords gesucht wird. Es werden jedoch auch Unterschiede zwischen der Situation damals und heute deutlich. Eine zuvor ungeahnte Welle der Hilfsbereitschaft erfasste Deutschland im vergangenen Jahr. In vielen Städten fanden sich Menschen zusammen, um die Geflüchteten willkommen zu heißen und bei ihrer Versorgung zu helfen. Auch wenn die gelebte Solidarität im Laufe der Monate abnahm, sind weiterhin unzählige Freiwillige im Einsatz, um die zum Teil völlig überforderten staatlichen Institutionen zu unterstützen. Das Internet und die sozialen Medien bieten einerseits einen Rahmen zur Vernetzung von hilfsbereiten Freiwilligen. Andererseits werden Hass und Verschwörungstheorien in einem bisher ungekannten Maße ungefiltert verbreitet. Emotional aufgeladene Mythen über sexualisierte Gewalt durch Ge-

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Foto: Florian Schuh / dpa / pa

Die rassistischen Ausschreitungen in den neunziger Jahren und die aktuelle Flüchtlingsdebatte markieren keineswegs eine Wiederholung der Geschichte. Es handelt sich vielmehr um zwei Stationen einer seit langem geführten Auseinandersetzung um den Umgang mit Flüchtlingen und Migranten. Von Tobias Peter


Habil Kılıç – 29. August 2001, München-Ramersdorf

flüchtete schüren unter anderem bei Facebook Hass und verunsichern die Menschen systematisch. Der Jahrestag der rassistischen Ausschreitungen von Hoyerswerda und die aktuelle Flüchtlingsdebatte markieren keineswegs eine Wiederholung der Geschichte. Es handelt sich vielmehr um zwei Stationen einer seit mehr als drei Jahrzehnten geführten Debatte, zumeist ausgelöst durch steigende Zahlen von Grenzübertritten. Das Ziel der deutschen und der europäischen Regierungspolitik ist dabei überwiegend die Abwehr von Geflüchteten, menschenrechtliche Aspekte spielen eine untergeordnete Rolle. In der gesellschaftlich-politischen Auseinandersetzung vermischen sich die verschiedenen Aspekte von Migration, Flucht und Zuwanderung zu einem rassistisch gefärbten Abwehrkampf gegen das als bedrohlich wahrgenommene Fremde. Im Ergebnis herrscht ein gesellschaftliches Klima vor, bei dem der Grundgedanke die Ablehnung des Fremden ist, der allein durch seine Einreise die (kulturellen und religiösen) Fundamente Europas bedroht. Teile der Politik zielen mit populistischen und rassistischen Parolen auf die Gunst der Wähler. Vermeintlich einfache Antworten, wie eine nationale Abschottung, werden komplizierten globalen Zusammenhängen entgegengesetzt. Der Schutz von Geflüchteten vor Gewalt in ihrem Herkunftsland, auf der Flucht, aber auch vor Übergriffen in Deutschland ist nachrangig. Im Gegenteil – der Alltagsrassismus in Deutschland wird geschürt und politisch so kanalisiert, dass die eigene Abschottungspolitik als alternativlos erscheint. Die Anknüp-

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fungspunkte sind groß: Rassistische Einstellungen sind in Deutschland und Europa weit verbreitet, auch Mitglieder von Menschenrechtsorganisationen sind nicht dagegen gefeit. Flüchtlingsbewegungen in Richtung Europa sind eine direkte Folge europäischer Politik und das Ergebnis der globalen Herrschaftsverhältnisse. Doch es sind nicht nur die geistigen Brandstifter in Teilen der Politik, die an der Verfestigung von Feindbildern arbeiten, um die eigene Herrschaft zu festigen. Jede und jeder von uns hat einen Anteil daran, wenn wir zulassen, dass in Deutschland wieder Flüchtlingsheime brennen und die Polizei tatenlos zuschaut. Der Autor ist Mitglied der Kogruppe Menschenrechte und Polizei der  deutschen Amnesty-Sektion.

Teile der Politik zielen mit populistischen und rassistischen Parolen auf die Gunst der Wähler. Vermeintlich einfache Antworten werden komplizierten globalen Zusammenhängen entgegengesetzt.

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Mehmet Turgut – 25. Februar 2004, Rostock-Toitenwinkel

Verharmlosen und verdrängen Auch fünf Jahre nach der NSU-Selbstenttarnung ist institutioneller Rassismus in Deutschland ein Problem, wie ein aktueller Amnesty-Bericht belegt. Von Alexander Bosch

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ls sich am 4. November 2011 nach einem fehlgeschlagenen Banküberfall Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt im thüringischen Eisenach vermutlich selbst das Leben nahmen, wurde das ganze Ausmaß einer der schlimmsten Mordserien der deutschen Nachkriegsgeschichte sichtbar. Zwischen 2000 und 2007 ermordete der sogenannte Nationalsozialistische Untergrund (NSU) in sechs Bundesländern zehn Menschen. Die türkeistämmigen Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat sowie den Griechen Theodoros Boulgarides und die Polizistin Michèle Kiesewetter. Sie wurden aus dem Leben gerissen, weil sie nach der rassistischen Auffassung der Mitglieder und Unterstützer des NSU nicht zu und auch nicht nach Deutschland gehören.

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Die Selbstenttarnung des NSU schockierte die Öffentlichkeit in Deutschland. Auf einer Trauerfeier im Februar 2012 in Berlin hielt Bundeskanzlerin Angela Merkel eine bewegende Rede, in der sie den Hinterbliebenen der Opfer »volle Aufklärung« versprach. Sie sagte, die Opfer seien eine Mahnung, dass für Rassismus in Deutschland kein Platz sei und dass die Bundesregierung alles unternehmen werde, damit sich solche Ereignisse nie mehr wiederholen können. Auf Bundes- und Landesebene wurden zahlreiche parlamentarische Untersuchungsausschüsse eingerichtet, die sich mit der Aufarbeitung des NSU-Desasters beschäftigen. Auch wurden angesichts der Empfehlungen des zweiten NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestages einige Reformen durch die deutschen Behörden eingeleitet. Trotz dieser Maßnahmen äußerte der Menschenrechtskommissar des Europarates 2015 in seinem Bericht zu Deutschland

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heitsbehörden. Auch Amnesty kommt in dem Bericht zu dem Schluss, dass die Art der Ermittlungen im Zusammenhang mit rassistisch motivierten Straftaten für die Existenz von institutionellem Rassismus in Deutschland sprechen. Fragt man die Bundesregierung und die deutsche Polizei, gibt es in Deutschland keinen institutionellen Rassismus. Das Problem wird mit der Begründung negiert, es gebe keine offizielle Definition des Begriffs »institutioneller Rassismus«. Zudem verschanzen sich Regierung und Behörden hinter der Behauptung, mit dem Begriff würden alle Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden als Rassisten diffamiert. Doch das ist falsch. Der Begriff bezeichnet das kollektive Versagen einer Institution, Menschen aufgrund angenommener oder tatsächlicher Kriterien wie »Hautfarbe«, kulturellem Hintergrund oder ethnischer Herkunft angemessen und professionell zu behandeln. Ein prägnantes Beispiel für institutionellen Rassismus ist eine Fallanalyse des Landeskriminalamtes Baden-Württemberg zu den Tathintergründen der Morde des NSU vor dessen Selbstenttarnung. Darin wurde ein möglicher rassistischer Hintergrund der Morde ausgeschlossen, weil die Tatsache, dass die meisten Mordopfer »türkischer Herkunft« waren, eine mögliche »türkische Herkunft« der Täter nicht ausschließe. Da die Tötung von Menschen in unserem Kulturraum mit einem hohen Tabu belegt sei, sei abzuleiten, dass der Täter hinsichtlich seines Verhaltens weit außerhalb des hiesigen Normen- und Wertesystems zu verorten sei. Auch vor dem Hintergrund, dass Rassismus in Deutschland leider nach wie vor oft verharmlost wird, werden allenfalls massive Formen rassistischer Vorkommnisse, wie körperliche Übergriffe, die mit offen rassistischen Beleidigungen einhergehen, als rassistisch motiviert verstanden. Deshalb muss man auch im fünften Jahr nach der Selbstenttarnung des NSU feststellen, dass es beim Kampf gegen rassistische Gewalt immer noch massive Defizite gibt. Aufgabe einer Menschenrechtsorganisation wie Amnesty ist es, darauf hinzuweisen.

Bedenken, »dass diese Maßnahmen sich nur am Rande mit den Ursprüngen der NSU-Affäre befassen, weil die strukturelle Voreingenommenheit bei den deutschen Polizeibehörden, die dazu führte, dass die rassistische Dimension der Verbrechen nicht gesehen und anerkannt wurde, außer Acht gelassen wurde«. Da das Grundgesetz sowie zahlreiche Menschenrechtsnormen, wie etwa die Europäische Menschenrechtskonvention, die Bundesrepublik Deutschland dazu verpflichten, sicherzustellen, dass Menschen vor rassistischer Diskriminierung geschützt werden, ist der NSU-Komplex auch ein Thema für Amnesty International. Deshalb hat Amnesty fünf Jahre nach der NSUSelbstenttarnung untersucht, wie die Ermittlungsarbeit der deutschen Sicherheitsbehörden bei rassistisch motivierten Straftaten verläuft und ob die Bundesregierung ihrer menschenrechtlichen Verpflichtung, Menschen vor Rassismus zu schützen, nachkommt. In dem im Juni 2016 veröffentlichten Amnesty-Bericht »Leben in Unsicherheit – Wie Deutschland die Opfer rassistischer Gewalt im Stich lässt« wird auf mehr als 80 Seiten dokumentiert, dass die deutschen Sicherheitsbehörden, insbesondere die deutsche Polizei, dieser menschenrechtlichen Verpflichtung nicht gerecht werden. So äußerten von den 48 zivilgesellschaftlichen Organisationen, mit denen Amnesty während der Recherche sprach, fast alle ernsthafte Bedenken angesichts der Einstufung und Untersuchung rassistisch motivierter Straftaten durch die Polizei. Auch in mehreren von Amnesty International dokumentierten Fällen zeigten die deutschen Sicherheitsbehörden Mängel bei der Untersuchung rassistisch motivierter Straftaten. Einige öffentlich bekannt gewordene Fälle zeigen, dass noch immer die gleichen Fehler wie während des NSU-Versagens gemacht werden, wie beispielsweise bei den Ermittlungen der im vergangenen Jahr entführten und ermordeten Kinder Elias aus Potsdam und Mohamed aus Berlin. So berichtete Anfang Februar das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel«, dass die Berliner Polizei im Fall Mohamed vorrangig gegen die Flüchtlingsfamilie ermittelt und die Suchmaßnahmen nach dem Jungen vernachlässigt habe. Dem Bericht zufolge vermuteten die Ermittler nach dem Bekanntwerden von Mohameds Verschwinden zunächst Familienstreitigkeiten und hielten es sogar für möglich, dass die Entführung des Jungen nur vorgetäuscht wurde, um die bevorstehende Abschiebung der Familie zu verhindern. Auch im NSU-Komplex wurden die möglichen Täter im familiären sowie kulturellen Umfeld der Ermordeten gesucht. Viele Menschenrechtsgremien wie die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) oder der UNO-Ausschuss gegen Rassismus (CERD) werten das wiederholte Versagen der deutschen Behörden, bei Straftaten das rassistische Motiv zu erkennen und zu untersuchen, als Indiz für die Existenz von institutionellem Rassismus innerhalb der deutschen Sicher-

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Der Autor ist Fachreferent für Polizei, Rassismus und »Hate Crimes« der deutschen Amnesty-Sektion.  Weitere Informationen zur aktuellen Amnesty-Kampagne unter:  www.amnesty.de/gegen-rassismus

Foto: Florian Schuh / dpa / pa

Foto: Florian Schuh / dpa / pa

In dem Amnesty-Bericht wird auf mehr als 80 Seiten dokumentiert, dass die deutschen Sicherheitsbehörden ihrer menschenrechtlichen Verpflichtung nicht gerecht werden.

İsmail Yaşar – 9. Juni 2005, Nürnberg

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Noch viel aufzuklären Seit dreieinhalb Jahren läuft das NSU-Verfahren vor dem Münchener Oberlandesgericht. Nach mehr als 300 Prozesstagen ist absehbar, dass in den nächsten Monaten das Urteil gesprochen wird. Zentrale Fragen werden aber offen bleiben. Von Felix Hansen

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er Prozess befindet sich in seiner Endphase, die Beweisaufnahme ist weitgehend abgeschlossen. Bislang wurden mehr als 600 Zeuginnen und Zeugen vernommen, darunter aktive Neonazis, frühere Unterstützer, ohne die es den NSU nicht hätte geben können, Polizeibeamte und Verfassungsschützer. Das Gericht beschäftigte sich ausführlich mit den zehn Morden des NSU, den schweren Bombenanschlägen mit zahlreichen teils Schwerverletzten und den 15 Raubüberfällen. Den fünf in München Angeklagten werden Unterstützung oder Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Beihilfe zum Mord oder Beteiligung an den Morden zur Last gelegt. Nach allem, was das Gerichtsverfahren bislang ergeben hat, werden die meisten Angeklagten hart verurteilt werden, für die Hauptangeklagte ist eine lebenslange Haftstrafe absehbar. Trotz allem werden wichtige Fragen offen bleiben: Wie wurden Opfer ausgewählt? Warum wurde in Nürnberg, Rostock, München, Dortmund, Hamburg, Kassel, Heilbronn und nicht in anderen Städten gemordet? Wer hat bei der Auswahl der Tatorte geholfen? Warum endete die rassistische Mordserie mit dem Mord an Halit Yozgat? Warum ein Jahr später der Mord an Michèle Kiesewetter und der Mordversuch an ihrem Kollegen? Und vor allem:

Foto: Bernd Thissen / dpa / pa

Mehmet Kubaşık – 4. April 2006, Dortmund

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Welche weiteren, bis heute unbekannten Helferinnen und Helfershelfer hatte der NSU? All dies ist bis heute offen, und es sind gerade diese Fragen, die von zentraler Bedeutung für viele der Opfer und die Angehörigen der Toten sind. Der Prozess hätte die Chance geboten, diese Fragen zumindest zum Teil intensiver zu beleuchten, doch ein Grundproblem findet sich bereits in der Anklageschrift der Bundesanwaltschaft. Dort wird der NSU als terroristische Vereinigung dargestellt, die lediglich aus drei Personen bestand und weitestgehend isoliert von der Nazi-Szene und einem Unterstützungsnetzwerk lebte und mordete. Die heute öffentlich bekannten Erkenntnisse zeigen ein anderes Bild, doch bei den Richtern mangelt es an Interesse, dies aufzuklären. So legen im Frühjahr dieses Jahres veröffentlichte Recherchen von Journalisten nahe, dass die drei untergetauchten NSUMitglieder in Zwickau durchaus enge Beziehungen zur örtlichen Neonazi-Szene rund um den früheren Zwickauer Neonazi Ralf Marschner hatten. Dieser berichtete als V-Mann »Primus« über Jahre dem Bundesamt für Verfassungsschutz über die Szene. Die Nebenklage stellte dazu einen umfangreichen Beweisantrag, um die Vorgänge weiter aufzuklären und im Prozess zu thematisieren. Doch nachdem schon die Bundesanwaltschaft den Antrag als »Gerüchte« abgetan hatte und erklärte, es sei alles ausermittelt, verwahrte sich auch das Gericht dagegen, Marschner oder seinen damaligen V-Mann-Führer als Zeugen zu laden und die entsprechenden Akten beizuziehen. Wie viele andere Beweisanträge wurde auch dieser Antrag mit den Worten abgelehnt, für die »Schuld- und/oder Straffrage bei den Angeklagten« sei dies nicht von Bedeutung, eine Aufklärung nicht geboten. Das heißt, selbst wenn Beweisanträge der Realität entsprechen, würde dieser Umstand für ein Urteil gegen die Angeklagten keine Rolle spielen. Folglich muss sich das Gericht aus seiner Perspektive damit auch nicht weiter auseinandersetzen. Dies zeigt deutlich die juristischen Grenzen des NSU-Strafverfahrens. Im Zweifel können sich die Richter darauf zurückziehen, dass es bei den Anträgen nicht direkt um die fünf Angeklagten gehe oder sie für ein Urteil ohnehin nicht relevant seien. Doch in ihrer Ablehnung des Nebenklageantrags ging das Gericht noch einen Schritt weiter und wies eine mögliche Mitverantwortung der Geheimdienste über das Wissen ihrer V-Leute zurück, da es keine Anhaltspunkte dafür gebe. Selbst wenn

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Der Autor ist Mitarbeiter der Initiative NSU-Watch.

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NSU-WATCH – »AUFKLÄREN & EINMISCHEN« An jedem der über 300 Prozesstage waren Vertreterinnen und Vertreter von NSU-Watch im Gerichtssaal. Die überwiegend ehrenamtlich getragene und spendenfinanzierte Initiative beschäftigt sich seit November 2011 mit dem NSU-Komplex, erstellt Analysen und Hintergrundrecherchen und veröffentlicht ausführliche Protokolle von jedem Prozesstag im Internet. Daneben beobachten Landes initiativen von NSU-Watch die Untersuchungssausschüsse in den jeweiligen Bundesländern. Weitere Infos unter: www.nsu-watch.info

Theodoros Boulgarides – 15. Juni 2005, München-Westend

Foto: Inga Kjer / dpa / pa

diese Informationen über den Aufenthaltsort gehabt haben sollten, sei dies irrelevant, da dies »nicht zwangsläufig dazu [führe], dass eine Festnahme der gesuchten Personen durchgeführt werden konnte und dass damit eine Verhinderung angeklagter Taten für die Behörden möglich gewesen wäre«. Kurzum: Was V-Leute und Behörden möglicherweise gewusst haben, spielt im Prozess keine Rolle mehr und wird auch nicht mehr aufgeklärt werden. »Eine Aufklärung des Netzwerkes NSU und der Möglichkeit der Verhinderung der Morde und Anschläge wird damit unterbunden: nicht weil man eine Aufklärung nicht betreiben könnte, sondern weil man sie nicht weiter betreiben will«, kommentierte der Nebenklagevertreter der Familie Kubaşık, Sebastian Scharmer, die Entscheidung des Gerichts. Nachdem sich das Gericht in der Anfangszeit teils sehr ausführlich mit Details, wie etwa Urlaubsbekanntschaften, beschäftigt hat, wollen die Richter nun zu einem Urteil kommen. In ähnlich lautenden Entscheidungen wurden in den vergangenen Wochen zahlreiche Beweisanträge der Nebenklage abgelehnt. Das Verfahren hat im vergangenen Jahr deutlich an Dynamik verloren und schleppt sich seinem Urteil entgegen. Prozesstage werden kurzfristig abgesagt, andere enden bereits zur Mittagspause. Ein Grund ist die mühsame Befragung Beate Zschäpes, die auf schriftliche Weise erfolgt und sich seit Dezember vergangenen Jahres hinzieht. Die Hauptangeklagte könnte wichtige Fragen klären, doch ihre Aussage hat bislang nichts Relevantes zu Tage gefördert. Für die Prozessbeteiligten und alle anderen, die den Prozess im Gerichtssaal oder von draußen verfolgen, ist diese Entwicklung enorm ermüdend. Auch das lange Zeit hohe Medieninteresse hat spürbar abgenommen, da es wenig zu berichten gibt. Aber es gibt auch Fortschritte. So zweifelt kaum noch jemand an der These, dass der NSU eben nicht eine von der Außenwelt und Neonazi-Szene abgeschottete, klandestine Zelle war, wie es die Bundesanwaltschaft in ihrer Anklage immer wieder behauptet hatte. Selbst Mitglieder des NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag sprechen mittlerweile von mehr als drei NSU-Mitgliedern. Den NSU komplett aufzuklären kann der NSU-Prozess nicht leisten – und will es auch nicht, wie der Vorsitzende Richter Götzl immer wieder deutlich macht. Auch die Bundesanwaltschaft wird nicht müde, darauf hinzuweisen, dass der Prozess kein Untersuchungsausschuss sei. Dabei verkennt sie die zentrale Bedeutung des Prozesses, gerade für viele Angehörige der Opfer. Der Prozess ist für sie die einzige Möglichkeit, als Nebenkläger selbst das Wort zu ergreifen, gehört zu werden und Fragen und Beweisanträge stellen zu können. Denn ob es überhaupt zu weiteren Verfahren gegen NSU-Unterstützer kommen wird, ist völlig offen. Zwar ermittelt die Bundesanwaltschaft gegen rund ein Dutzend weiterer Neonazis und es läuft ein Strukturermittlungsverfahren. Doch über die weiteren Ermittlungen bekommen selbst die Nebenkläger kaum nähere Informationen. Um den NSU mit Ende des Prozesses nicht komplett zu den Akten zu legen und zu historisieren, braucht es auch nach dem Urteil weitere Recherchen und Analysen, um die offenen Fragen weiter zu verfolgen. Ein Mittel dazu können die laufenden Untersuchungsausschüsse im Bundestag und in den Ländern sein. Doch ohne eine kritische Öffentlichkeit, die das Thema im Fokus behält und immer wieder auf die Agenda holt, wird es keine vollständige Aufklärung geben.

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»Nach dem NSU ist vor dem NSU« Über die Rolle von V-Leuten gibt es kaum Auskünfte, institutioneller Rassismus ist kein Thema: Mehmet Daimagüler, der als Nebenkläger Angehörige von Opfern vertritt, zieht eine bittere Zwischenbilanz des NSU-Prozesses. Interview: Anton Landgraf

den NSU unterstützt zu haben. Das steht in klarem Kontrast zur These der Bundesanwaltschaft einer isolierten Zelle. Ich gehe davon aus, dass der NSU größer ist und wir müssen uns fragen, ob es noch weitere Mordfälle aus diesem Umfeld gibt.

Nach der Selbstenttarnung des NSU vor fünf Jahren hatte die Bundesregierung eine vollumfängliche Aufklärung angekündigt. Haben Sie den Eindruck, dass der Prozess diesem Versprechen nachkommt? Das sind zwei Paar Schuhe: Das Gerichtsverfahren ist unabhängig von irgendwelchen Versprechungen der Exekutive. Jedoch: Das Gericht macht sich zwar ein eigenes Bild, aber es hat sich an der Anklage zu orientieren. Und die Anklage wird von der Bundesanwaltschaft geschrieben, die eine weisungsgebundene Behörde des Bundesjustizministeriums ist. Wenn wir heute nach mehr als drei Jahren Prozess eine Zwischenbilanz ziehen, haben wir auf der einen Seite Angeklagte, deren Schuld nach meiner Auffassung gut belegt ist. Das gilt insbesondere für die Hauptangeklagte, die nach meiner Einschätzung zu Recht als Mörderin angeklagt worden ist. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht ist: Wir haben heute wie vor fünf Jahren kein Verständnis davon, welche Rolle die Verfassungsschutzbehörden und deren V-Leute gespielt haben. Einerseits gibt es das Versprechen der Bundeskanzlerin auf volle Aufklärung. Auf der anderen Seite haben wir Verfassungsschutzbehörden auf Bundes- und Länderebene, die nicht zur Aufklärung beitragen, sondern im Gegenteil ihre Quellen schützen.

Wo mangelt es noch an Aufklärung? Neben der Bundesanwaltschaft und den Verfassungsschutzbehörden gibt es hier noch einen zweiten großen Bereich. Das ist die Frage des institutionellen Rassismus. Darüber wird in diesem Verfahren nicht gesprochen. Dieser Vorwurf trifft auch das Gericht, nicht nur die Staatsanwaltschaft. Die Aufgabe des Strafverfahrens besteht nicht nur darin, ein Urteil hervorzubringen, sondern auch, das Geschehen aufzuklären. Dazu gehört die Frage, warum die Morde zu keinem Zeitpunkt aufgeklärt wurden. Weder Staatsanwaltschaft noch Polizei haben den NSU enttarnt, der NSU hat sich vielmehr selbst enttarnt. Hätten Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt die Tatwaffe weggeworfen und kein Bekennervideo verschickt, dann würden wir heute noch mit dem polizeilichen Märchen von der Türkenmafia leben. Daher müssen wir insbesondere im Zusammenhang mit dem NSU über institutionellen Rassismus reden. Wir müssen fragen, wie es dazu kommen konnte und wie wir Ähnliches künftig verhindern können. Bei diesen Fragen sehe ich eigentlich nur eine große Leere. Das Thema scheint abgehakt.

Wie wirkt sich dieses Verhalten im Prozess aus? Wir haben zum Beispiel Folgendes erlebt: Ein Neonazi tritt in der Hauptverhandlung als Zeuge auf,und es stellt sich heraus, dass sein Anwalt vom Verfassungsschutz bezahlt wird. Wir fragen: Wie geht das? Die Bundesanwaltschaft antwortet: Alles in bester Ordnung. Es ist meiner Ansicht nach jedoch nicht die Aufgabe des Staates, für Neonazis zu sorgen. Und es ist auch nicht die Aufgabe der Bundesanwaltschaft, diesen Umstand zu verteidigen. Paradoxerweise stehen die Verfassungsschutzbehörden trotz aller Empfehlungen des Untersuchungsausschusses heute unabhängiger da als vor der Selbstenttarnung des NSU.

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Foto: Uwe Zucchi / dpa / pa

War der Anspruch an den Prozess zu hoch? Nein, denn die Exekutive könnte mehr zur Aufklärung beitragen, insbesondere durch die Offenlegung aller Akten auf Bundes- und Länderebene. Zum anderen könnte eine uneingeschränkte Aussagegenehmigung erteilt werden – sowohl für Verfassungsschutzbeamte als auch für V-Leute. Wir haben mehr als zwei Dutzend Zeugen gehört, die unumwunden zugaben,

Halit Yozgat – 6. April 2006, Kassel

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Liegt es auch daran, dass der öffentliche Druck nachgelassen hat? Das Medieninteresse ist noch da. Inwieweit die Öffentlichkeit noch an dem Thema interessiert ist, weiß ich nicht. Ich weiß jedoch, dass täglich Flüchtlingsheime angegriffen und Flüchtlinge misshandelt werden. Wenn der Staat ernsthaft gegen Rassismus vorgehen will, muss er bei sich selbst anfangen und über seine eigenen Gesetze, einige seiner Institutionen und über sein Personal nachdenken. So sind die Paragrafen 22 und 23 des Bundespolizeigesetzes, bei denen es um Ausweiskontrollen im öffentlichen Raum geht, ungeheuerlich. Selbst das Oberverwaltungsgericht Koblenz, eines der konservativsten Gerichte in Deutschland, urteilte, dass diese Paragraphen gegen Artikel 3 des Grundgesetztes, also gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, verstoßen. Wie ernst meint es der Staat mit dem Kampf gegen Rassismus, wenn er sich nicht an seine eigenen Gesetze hält? Es geht dabei um die Frage, wie die Mehrheit der Gesellschaft mit Minderheiten umgeht. Wenn ich die Debatten heute anschaue, bei denen es immer wieder auch gegen Muslime geht, habe ich nicht das Gefühl, dass wir sehr viel gelernt haben. Nach dem NSU ist vor dem NSU. Ich sage das offen: Bei mir schwingt da sehr viel Verbitterung mit, weil ich tatsächlich geglaubt und gehofft hatte, dass wir das Geschehene als Katharsis empfinden, als Läuterung der Seele durch eine Katastrophe. Wir haben die Katastrophe erlebt, aber wo bleibt die Läuterung?

Michèle Kiesewetter – 25. April 2007, Heilbronn

Foto: Florian Schuh / dpa / pa

Wie gehen die Angehörigen mit diesem für sie sicher sehr quälenden Prozess um? Ich habe großen Respekt vor den Angehörigen, die mit großer Gefasstheit und mit viel Hoffnung dieses Verfahren begleiten und die Worte der Bundeskanzlerin sehr ernst genommen haben. Aber sie sehen auch, dass gerade die Frage nach dem Rassismus in diesem Verfahren scheinbar keine Rolle spielt. Die Einzigen, die über Rassismus sprechen wollen, sind die Nebenkläger. Sehen Sie auch positive Entwicklungen? Wir können auf gesellschaftlicher Ebene wieder über Rassismus sprechen. Das war vor 2011 fast schon ein Tabu. Viele migrantische Jugendliche sind durch dieses Verfahren sehr positiv politisiert worden. Ich glaube, dass unbemerkt von der Mehrheitsgesellschaft eine Minderheit sich stärker mit diesen Themen befasst und sich genau die Frage stellt: In welchem Land, in welcher Gesellschaft möchten wir leben? Und was kann mein Beitrag dazu sein? Sehr viele Initiativen haben gesehen, dass sie nicht alleine sind. Viele, die im Halbschatten der Öffentlichkeit gegen Rassismus und für Gleichberechtigung gekämpft haben, erfahren, dass es viele andere Menschen in diesem Land gibt, die wie sie denken. Vielleicht ist es das Pfeifen im Walde, aber mir gibt das Kraft. Diejenigen, die glauben, dass sie mit einem Urteil über Frau Zschäpe und die anderen Angeklagten das Thema abhaken können, liegen falsch. Wir dürfen und können nicht aufgeben. Das ist das Mindeste, was wir den Toten und den Angehörigen schulden.

Gefühl, dass ich beruflich etwas Sinnvolles tue. Wenn ich mein Leben vergleiche mit dem vieler anderer Menschen, dann habe ich nicht viel Anlass zur Klage. Wir haben unter uns viele Menschen, die alles verloren haben: Familienangehörige, Eltern, Kinder, ihre Heimat.

Sie begleiten den Prozess seit Jahren. Welche Folgen hat das für Sie? Ich bin oft wütend und verbittert, aber dann gewinne ich auch wieder Kampfgeist und Hoffnung, weil ich viel Feedback erhalte von Menschen, die ähnlich denken. Auch wenn es sich paradox anhört: Ich habe das erste Mal in meinem Leben das

Wurden Sie in diesem Prozess selbst bedroht? Ja, das gehört dazu. Aber wissen Sie, wenn ich etwas gesagt habe und anschließend Morddrohungen bekomme, dann weiß ich wenigstens, dass ich etwas Richtiges gesagt habe. Vielleicht wäre es gesund, wenn ich Angst hätte, aber ich habe sie einfach nicht.

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»Viele migrantische Jugendliche sind durch dieses Verfahren sehr positiv politisiert worden. (…) In welchem Land wollen wir leben? Und was kann mein Beitrag dazu sein?«

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THEMEN

Medien in der Türkei

Die Pinguine und der Pool Trauriges Maskottchen. Erdoğan-gelenkte Medien berichteten statt über die Gezi-Proteste lieber über Pinguine.

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Wie türkische Medien zum Schweigen gebracht werden. Ein Gastbeitrag von Can Dündar, dem ehemaligen Chefredakteur der Tageszeitung »Cumhuriyet«. In der Türkei waren die Medien nie im eigentlichen Sinne frei. Doch eine derart drastische Knechtschaft gab es ebenfalls noch nie. Um diese starke Zwinge zu schaffen, die nicht einmal die Militärregime vor ihm zustande brachten, verfolgte Staatspräsident Erdoğan innerhalb von zehn Jahren eine dreistufige Strategie: Er übernahm zunächst die Kontrolle der Zentrumsmedien, dann baute er eine von ihm abhängige Medienmacht auf und schließlich brachte er die übrig gebliebenen Oppositionellen zum Schweigen.

Es fing in Deutschland an Die erste Stufe setzte 2007 in Deutschland ein. Im April durchsuchte die deutsche Polizei den Verein »Leuchtturm« und die Europa-Vertretung des türkischen TV-Senders »Kanal 7« in Frankfurt. Es hatte sich herausgestellt, dass der Löwenanteil der 41 Millionen Euro, die der Verein von Türken in Deutschland als Spenden eingesammelt hatte, zugunsten des regierungsnahen Senders Kanal 7 in die Türkei geschafft worden war. Die Zeitungen nannten das die »Veruntreuung des Jahrhunderts«. Türkische Staatsanwälte nahmen auch in der Türkei Ermittlungen auf. Der Fernsehsender, dem das überwiesene Geld zugeschanzt worden war, wurde durchsucht, die Verantwortlichen wurden festgenommen. Die Ermittlungen zeitigten in beiden Ländern allerdings unterschiedliche Ergebnisse: In Deutschland wurden die Schuldigen verurteilt und inhaftiert. In der Türkei dagegen wurden die Staatsanwälte, die die Ermittlungen eingeleitet hatten, vom Dienst suspendiert und die Akten geschlossen. Für Erdoğan, damals Premierminister, wurde dieser Fall zu einem Wendepunkt. Er begriff, dass er nicht zum Staatspräsidenten würde aufsteigen können, wenn er widerständige Medien nicht zerschlug und sich zugleich eine eigene Medienmacht aufbaute. Er krempelte deshalb unverzüglich die Ärmel hoch.

Die größte Strafe aller Zeiten

Foto: Regina Schmeken / SZ Photo / laif

Im Januar 2007 war die deutsche Axel-Springer-Gruppe mit einem über die Deutsche Bank transferierten Betrag zum 25prozentigen Anteilseigner der Doğan Yayın Holding geworden, der größten Mediengruppe der Türkei. Die türkische Regierung ärgerte sich wegen der Ermittlungen sowohl über die Deutschen als auch über die Doğan-Gruppe, weil sie täglich Schlagzeilen zu den Ermittlungen brachte. Nun war die einmalige Chance für Vergeltung da. Der Doğan-Holding wurden zwanzig Steuerbeamte auf den Hals geschickt, die 330 Tage lang die Bücher des Unternehmens

TÜRKEI

Erdog˘an begriff, dass er nicht Staatspräsident werden konnte, wenn er widerständige Medien nicht zerschlug. 33


prüften. Am Ende wurde in zwei Wellen die größte Steuerstrafe in der Geschichte der türkischen Republik gegen die DoğanGruppe verhängt: Rund drei Milliarden Dollar. Damit waren die »Leuchtturm«-Ermittlungen gerächt. Diese Strafe sorgte dafür, dass in den Sendern und Publikationsorganen der Doğan-Gruppe nie wieder über Veruntreuung und Korruption berichtet wurde, zugleich war die Botschaft bei allen anderen Medienbetreibern angekommen: »Seid auf der Hut!« Und zwar so nachhaltig, dass die Medienunternehmer, die der Reihe nach die renommiertesten Zeitungen der Türkei aufkauften, fortan bei Erdoğan persönlich anfragten, wen sie als Chefredakteur einsetzen sollten. Er verkündete dann die genannten Namen stolz in der Presse. Natürlich wurden auch die Listen mit Personen, die gefälligst aus den Medien entfernt werden sollten, den neuen Medienmogulen von Ministern und Beratern persönlich überreicht. So entstanden die sogenannten »Pinguin-Medien«.

Pinguin-Medien

Pool-Medien Doch die Zentrumsmedien zum Schweigen gebracht zu haben, reichte Erdoğan noch nicht. Nun ging es um Stufe 2: Es galt, umso lauter zu reden, wenn andere schweigen, sich selbst darzustellen und auch jene zum Schweigen zu bringen, die eventuell noch reden würden. Die Medien, die diese Aufgabe übernahmen, wurden nun »Pool-Medien« genannt. Warum, werden Sie fragen, »Pool-Medien« und nicht zum Beispiel »regierungstreue Medien«? Lassen Sie mich auch das erläutern: Die Gezi-Proteste fanden im Mai und Juni 2013 statt. Erdoğan, damals Premierminister, trommelte im August ihm nahestehende Unternehmer zusammen und »befahl« ihnen, eine der führenden Mediengruppen der Türkei zu kaufen. Die Unternehmer waren zunächst abgeneigt, doch als Gegenleistung wurden ihnen die 22-Milliarden-Euro-Ausschreibung für den dritten Istanbuler Flughafen sowie einige weitere Ausschreibungen in den Sektoren Eisenbahn, Brücken, Staudämme und U-Bahn versprochen. Angesichts der Summen, die sie verdienen würden, waren die verlangten Medieninvestitionen Peanuts. Damit war Abhilfe für ihre Unlust geschaffen. Mit insgesamt 630 Millionen Dollar von sechs Unternehmern wurde ein Kapitalpool gebildet. Das Geld wurde in einem gepanzerten Fahrzeug zur Bank gebracht, die »Pool-Medien« waren gegründet. Die Fernsehsender und Zeitungen dieser vor drei Jahren aufgekauften Mediengruppe rühmen noch heute einhellig die Regierung und verdammen die Oppositionellen. Und die Unternehmen, denen die Mediengruppe heute gehört, wachsen aufgrund der ihnen zugeschanzten Ausschreibungen weiter.

Die Propagandamaschine Die Resultate dieser Medienstrategie stellten sich prompt ein: Im Wahlkampf vor den Parlamentswahlen vom November 2015

Foto: Emrah Gurel / AP / pa

Seit drei Jahren werden in der Türkei von Regierungsseite übernommene Medien als »Pinguin-Medien« bezeichnet. Warum, werden Sie fragen, wurden sie nicht beispielsweise nach Straußen, sondern ausgerechnet nach Pinguinen benannt? Lassen Sie mich das erklären: In der Nacht, als sich der Protest, der sich am Widerstand gegen die Rodung der Bäume im Istanbuler GeziPark 2013 entzündet hatte, über die ganze Türkei ausdehnte, sendete der wichtigste Nachrichtensender des Landes eine Dokumentation über Pinguine. Während Medien in aller Welt live aus Istanbul berichteten, richteten die türkischen Fernsehsender ihre Kameras auf das Leben am Pol, dies war exemplarisch. Wie Sie sich denken können, gehörte der Sender, der die Dokumentation über Pinguine sendete, die zum Symbol einer Epoche werden sollten, zu eben jener Mediengruppe, die Erdoğan mit der Supersteuerstrafe belegt hatte. Seither werden Medien, die vor der Realität die Augen verschließen und Selbstzensur zur

Sende- bzw. Publikationspolitik machen, als »Pinguin-Medien« bezeichnet.

Wider den Maulkorb. Türkische Journalisten fordern Pressefreiheit vor dem Prozess gegen die »Cumhuriyet«-Journalisten Can Dündar und Erdem Gül.

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Nach dem gescheiterten Putsch leitete die Regierung eine Hexenjagd gegen die Medien ein. bekam der Vorsitzende der Regierungspartei mehr Redezeit als alle Vorsitzenden der anderen Parteien zusammen. Wie das beim staatlichen Fernsehen aussah? Innerhalb von 25 Tagen erhielten Staatspräsident und Premierminister 59 Stunden Sendezeit, die Vorsitzenden der drei Oppositionsparteien aber nur insgesamt 6,5 Stunden. Welchen Sender man auch einschaltete, Erdoğan war überall. Diese Propaganda-Offensive hatte ihren Anteil daran, dass die Regierung mehr als 40 Prozent der Wählerstimmen erhielt.

Kommen wir zur dritten Stufe der Strategie. Dabei geht es um uns. Wir, die aller Drangsalierung zum Trotz nicht schweigen, sondern weiter couragiert reden und schreiben: ein paar Zeitungen, ein paar Fernsehsender und eine Handvoll Journalisten, die sich hartnäckig für ihren Beruf einsetzen. Erdoğan hat versucht, einen Teil dieser Kräfte durch Beleidigungsklagen zu verschrecken. Seine Anwälte, die jede Kritik an ihm als Beleidigung auffassen, strengten mehr als 2.000 Prozesse gegen jeden an, der ein Wort gegen Erdoğan sagte. Wer sich dennoch nicht »bessern« wollte, wurde damit bedroht, »einen hohen Preis zu zahlen« und hatte von der Regierung ermunterte Attacken zu befürchten, es kam zu tätlichen Angriffen, Prügeln und Schüssen. Schließlich ergriff die Regierung beim militärischen Umsturzversuch im Juli 2016 die Gelegenheit beim Schopfe, bootete Justiz und Parlament vollständig aus und leitete eine Hexenjagd gegen die Medien ein. Sie schloss mehr als 100 Presseeinrichtungen und steckte mehr als 100 Journalisten ins Gefängnis. Sie verwandelte die Türkei in das weltgrößte Gefängnis für Journalisten.

Pinguine im Pool Soweit die Geschichte der Übernahme der türkischen Medien. Ist es nun unmöglich geworden, etwas anderes zu sagen als die Regierung und oppositionelle Texte zu schreiben? Nein, das nicht. Aber Zeitungen, die kritisch berichten, müssen damit rechnen, geschlossen zu werden. Journalisten, die abweichende Äußerungen wagen, riskieren Haftstrafen. Angesichts dieser Aussichten ziehen es die meisten Pinguine vor, im schmutzigen Pool zu schwimmen – und keinen Fuß auf vermintes Terrain zu setzen, indem sie sich mit Veruntreuung, Korruption, der kurdischen Sache oder der Repressionspolitik beschäftigen. Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe. Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen:  www.amnesty.de/app

TÜRKEI

Foto: Andreas Pein / laif

Die Überbleibsel

CAN DÜNDAR Der regierungskritische türkische Journalist Can Dündar (55) ist Mitte August ins Exil gegangen. Der ehemalige TVJournalist und Chefredakteur der Tageszeitung »Cumhuriyet« hält sich derzeit in Europa auf. Seiner Ehefrau ist Anfang September die Ausreise aus der Türkei verwehrt worden. Dündar hatte zuvor angekündigt, er werde nicht in die Türkei zurückkehren, solange der Ausnahmezustand andauere. Er habe das Vertrauen in die türkische Justiz verloren. Dündar und sein Kollege Erdem Gül, der Leiter des Hauptstadtbüros der »Cumhuriyet«, waren wegen »Geheimnisverrats« zu mehr als fünf Jahren Haft verurteilt worden, ein weiteres Verfahren wegen »Terrorverdachts« läuft. Die Journalisten waren im Mai für schuldig befunden worden, geheime Dokumente veröffentlicht zu haben, die türkische Waffenlieferungen an Islamisten in Syrien 2015 belegen sollen. Die Verteidigung hat Berufung angekündigt. Dündar und Gül saßen wegen des Verfahrens bereits drei Monate in Untersuchungshaft. Staats präsident Erdoğan hatte am 20. Juli den Ausnahmezustand über die Türkei verhängt. Dieser gilt zunächst für drei Monate, kann aber verlängert werden.

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Verschärfte Repression In der Türkei haben Teile der Militärs versucht, mit Gewalt die Regierung abzusetzen. Amnesty International hat den Umsturzversuch verurteilt, gleichzeitig aber auch die türkische Regierung aufgefordert, bei der legitimen strafrechtlichen Verfolgung der Verantwortlichen rechtsstaatliche Prinzipien und die Menschenrechte zu wahren. Von Amke Dietert Seit 1960 hat die Türkei drei Machtübernahmen durch das Militär erlebt. Auch in Zeiten ziviler, gewählter Regierungen war es in der Türkei mit den Menschenrechten nie zum Besten bestellt, aber nach den Putschen wurde die Situation immer besonders schlimm. Vor allem die Folgen des Militärputsches von 1980 haben das Land nachhaltig geprägt: durch eine restriktive Verfassung, zahlreiche Gesetze, die die Meinungsfreiheit einschränken, und eine gnadenlose Verfolgung der Kurden. Dies war mit verursacht durch den bewaffneten Kampf der PKK, aber in Ausmaß und Methoden damit nicht zu rechtfertigen. Die Regierung der AKP war mit dem Versprechen angetreten, die Türkei in die EU zu führen und die dafür erforderlichen Reformen, insbesondere im Bereich der Menschenrechte, voranzubringen. In den ersten Jahren nach ihrer Wahl Ende 2002 wurden in der Tat beachtliche Fortschritte erzielt. Bald ließ dieser Elan jedoch nach und die Repressionen nahmen wieder zu. Als Beispiele seien hier die extensive Anwendung der ohnehin sehr weit gefassten Antiterrorgesetzgebung, die wieder zunehmende Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit sowie das oft brutale Vorgehen der Polizei gegen zivilgesellschaftliche Proteste und Demonstrationen genannt. Jetzt spricht alles dafür, dass auch der jüngste gescheiterte Putschversuch in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli ein willkommener Anlass ist, die Repressionen zu verschärfen – Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan selbst bezeichnete den Putschversuch als ein »Geschenk Gottes.« Es ist ihm gelungen, den Putschversuch zu nutzen, um seinen Rückhalt in der Bevölkerung zu stärken und dies auch öffentlich durch zahlreiche Kundgebungen deutlich zu machen. Auf diesen Kundgebungen wurde auch die Forderung laut, die Todesstrafe wieder einzuführen, und Staatspräsident Erdoğan zeigte deutlich seine Sympathie für dieses Ansinnen. Es entstand eine Atmosphäre, in der es kaum noch jemand wagt, eine andere Sicht auf die Dinge öffentlich zu äußern. Am 20. Juli 2016 wurde in der Türkei für drei Monate der Ausnahmezustand verhängt. Die Regierung kann »Erlasse mit Gesetzeskraft« verabschieden, die Dauer der Polizeihaft wurde auf 30 Tage ausgedehnt und die Europäische Menschenrechts-

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konvention wurde teilweise außer Kraft gesetzt. Kernbereiche der Menschenrechtskonvention, wie das Verbot der Folter und das Recht auf einen fairen Prozess, dürfen auch unter Notstandsbedingungen nicht außer Kraft gesetzt werden. Am 24. Juli veröffentlichte Amnesty International erste Erkenntnisse über Folterungen. Dazu zählten die Verweigerung von Wasser und Nahrung, Schläge, Vergewaltigungen mit Schlagstöcken und die Fesselung von bis zu 48 Stunden Dauer in schmerzhaften Positionen. Anwälte berichteten, ihre Mandanten seien in blutigen T-Shirts zur Vernehmung durch den Staatsanwalt gebracht worden. Die zahlreichen Festgenommen nach dem Putschversuch werden auch an inoffiziellen Haftorten wie z.B. in Sporthallen festgehalten. Anwälte beklagen, dass ihnen der Zugang zu ihren Mandanten verweigert wird. In den türkischen Medien wurden Fotos von Festgenommenen veröffentlicht, die offensichtlich gefoltert worden waren, ohne dass die Regierung darauf reagiert hätte. Auf die Veröffentlichung des Amnesty-Berichts hin erklärte Justizminister Bekir Bozdağ: »Keiner der Festgenommenen wurde gefoltert.« Bis Mitte August wurden nach Angaben des türkischen Ministerpräsidenten Binali Yildirim mehr als 40.000 Personen festgenommen, rund die Hälfte davon befindet sich noch in Untersuchungshaft. Mittlerweile wurden mehr als 130.000 Staatsbedienstete nach Informationen der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu suspendiert oder entlassen, darunter über 30.000 Lehrer, denen die Lizenz zur Ausübung ihres Berufs entzogen wurde. Bereits in den ersten Tagen nach dem Putsch wurden etwa 8.000 Polizisten und mehr als 2.700 Angehörige der Justiz suspendiert. Verhaftungen und Suspendierungen wurden fortgesetzt, so dass die Zahlen seitdem weiter gestiegen sind. In den zwei Wochen nach dem Putschversuch wurden nach Regierungsangaben insgesamt 45 Zeitungen, 16 Fernsehsender, 23 Radiosender, 15 Zeitschriften, 29 Verlagshäuser und drei Nachrichtenagenturen geschlossen. Im gleichen Zeitraum wurden Haftbefehle gegen 89 Journalisten erlassen. Weitere Me-

»Ende Juli veröffentlichte Amnesty International erste Erkenntnisse über Folterungen.« AMNESTY JOURNAL | 10-11/2016


Foto: Hussein Malla / AP / pa

Im Anschlag. Ein Mitglied einer Sondereinheit bewacht das bei dem gescheiterten Putschversuch teilweise zerstörte Polizeihauptquartier in Ankara.

dienschließungen und Verhaftungen von Journalisten folgten, und es ist zu befürchten, dass derartige Maßnahmen noch weiter andauern. Da der Prediger Fethullah Gülen und die hinter ihm stehende Bewegung für den Putsch verantwortlich gemacht werden, waren zunächst Medien, die im Besitz oder unter dem Einfluss der Gülen-Bewegung standen, das vorrangige Ziel. Aber nicht nur die Medien, der gesamte Staatsdienst wurde von tatsächlichen oder vermeintlichen Gülen-Anhängern »gesäubert«. Neben Anhängern der Gülen-Bewegung sind vor allem Kurden von den verschärften Repressionen betroffen. Die Menschenrechtsstiftung der Türkei berichtet nahezu täglich von Verhaftungen in den kurdischen Gebieten – überwiegend von Mitgliedern und Funktionsträgern der (legalen) pro-kurdischen Partei HDP und Mitarbeitern regionaler kurdischer Medien. Über 10.000 Lehrerinnen und Lehrer wurden wegen angeblicher Nähe zur PKK entlassen. Am 16. August wurde in Istanbul eine Operation gegen die pro-kurdische Zeitung »Özgür Gündem« durchgeführt und die Zeitung anschließend verboten. 24 Personen wurden unter Schlägen festgenommen. Begründet wurde dieses Vorgehen mit angeblichen Ermittlungen gegen Verantwortliche der Zeitung wegen Gefährdung der territorialen Einheit des Staates, Bildung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und

TÜRKEI

Propaganda für eine terroristische Organisation. Anwälte der Zeitung erklärten, es habe bisher nur Ermittlungen wegen Propaganda für eine terroristische Organisation gegeben, nicht aber wegen der erstgenannten Anschuldigungen. Die Vorwürfe der Propaganda beruhen darauf, dass die Zeitung sich immer sehr kritisch zum Vorgehen des Staates in den kurdischen Gebieten geäußert und auch Erklärungen der PKK veröffentlicht hat. Schon vor dem Putschversuch hatte es immer wieder Repressionen gegen die Zeitung gegeben. Neben den für »Özgür Gündem« tätigen Journalisten wurden auch die Schriftstellerin Asli Erdoğan und die Sprachwissenschaftlerin Necmiye Alpay verhaftet. Sie gehörten einem Beratungsgremium der Zeitung an, das keinen Einfluss auf Entscheidungen der Redaktion und die politische Richtung der Zeitung hatte. Die Rechtsanwältin und Menschenrechtsverteidigerin Eren Keskin war bis März 2016 – ebenfalls aus Solidarität und ohne Einfluss auf die praktische Arbeit – symbolisch Herausgeberin der Zeitung gewesen. Sie wurde festgenommen und verhört, aber nicht inhaftiert. Stattdessen wurde sie unter Polizeikontrolle gestellt und ihr Pass eingezogen. Die Autorin ist Sprecherin der Türkei-Kogruppe der deutschen AmnestySektion.

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Die illegalen Fünf

Weltweit greifen Geheimdienste durch Überwachung in das Menschenrecht auf Privatsphäre ein – auch der Bundesnachrichtendienst, der Kommunikationsdaten speichert. Da werden schnell Millionen unbescholtene Bürger abgeschöpft. Die Datenbanken unterlaufen die gesetzlich vorgeschriebene Kontrolle durch Datenschutzbeauftragte. Der Bundestag will nun nachbessern, dabei aber nur deutsche sowie EU-Bürger besser schützen. Von Lena Rohrbach Susan ist genervt. Ihre Nachbarin hat schon wieder drei Anrufe auf dem Anrufbeantworter hinterlassen, weil die Kinder auf dem Nachbargelände gespielt haben. Die Nachbarin hat sich anwaltlich beraten lassen, ihr Anwalt sagt, sie müsse dies nicht dulden. Wirklich nachvollziehen kann der Anwalt die Aufregung allerdings nicht, denn er hat selbst drei spielfreudige Kinder. Der Kleinsten geht es derzeit nicht gut, er war gerade mit ihr bei der Kinderärztin. Susan ist 37, arbeitet als Sportlehrerin und lebt in Kanada. Wann sie mit wem telefoniert hat, wo und wie lange, wem sie eine E-Mail geschrieben hat – diese Informationen speichert der deutsche Bundesnachrichtendienst. Denn der Notfallpatient der Ärztin des Anwalts von Susans Nachbarin ist verdächtig. Susan hat ihn noch nie getroffen. Über fünf Ebenen ihrer Kommunikation ist sie jedoch mit ihm verknüpft. Susan ist fiktiv, doch wir können davon ausgehen, dass es viele Beispiele wie sie gibt. Denn der Bundesnachrichtendienst

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(BND) speichert Informationen über Kommunikation bis in die fünfte Verbindungsebene. Das heißt: Wer jemanden kennt, der jemanden kennt, der jemanden kennt, der jemanden kennt – der oder die ist verdächtig. »Kennen« heißt, miteinander telefoniert, eine E-Mail geschrieben oder eine SMS verschickt zu haben. Über fünf Ebenen »kennt« eine überwachte Person schnell mehrere Millionen Menschen, die auf diese Weise ebenso ins Netz der Überwachung geraten. Kanada, wo Susan lebt, hat rund 35 Millionen Einwohner und mehr als eine verdächtige Person. So könnte sich schnell die gesamte Bevölkerung eines Landes im Datenspeicher wiederfinden. Gegen die »fünf Hüpfer« – so nennt sich die Speicherung über Verbindungsebenen im Szenejargon der Geheimdienste – wirkt selbst die amerikanische NSA mustergültig. Sie speicherte bis in die dritte Verbindungsebene, seit einer Reform darf sie aber nur noch zweimal hüpfen. Denn wie die »American Civil Liberties Union« vorgerechnet hat, produziert ein Verdächtiger mit vierzig Kontakten im Telefonbuch in der dritten Ebene bereits bis zu 2,5 Millionen »Beifänge«. In Deutschland landen Susans Daten in der BND-Datenbank »VerAS«. Dort werden Metadaten gespeichert, also Daten über die Umstände einer Kommunikation. Wer telefoniert oder mailt mit wem? Wo befindet er oder sie sich dabei? Um welche Uhrzeit findet das Gespräch statt und wie lange dauert es? »Veras« heißt übersetzt »Wahrheit«, ist aber das Kürzel für »Verkehrsanalysesystem«. Welche Wahrheiten über wen dort gespeichert sind, durfte eine BND-Regierungsdirektorin, die als Zeugin im Unter-

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Illustrationen: Lennart Gäbel

suchungsausschuss des Bundestages zur Überwachungsaffäre geladen war, allerdings nicht sagen. Das hören die Abgeordneten im Ausschuss oft, die Geheimniskrämerei erschwert ihre Aufklärungsarbeit. Aufzuklären gibt es jedoch einiges. Erst im vergangenen September kam heraus, dass »VerAS« nur eine von insgesamt sieben Datenbanken ist, die der BND illegal betreibt. Der BND speichert dort private Informationen ohne die gesetzlich vorgeschriebene Kontrolle durch Datenschutzbeauftragte. Eine andere dieser illegalen Datenbanken heißt »XKeyscore«. Dieser Name war schon einmal in weltweiten Schlagzeilen, als der Whistleblower Edward Snowden 2013 den globalen Überwachungsskandal enthüllte. Es ist das Programm, mit dem die NSA das gesamte Internet nach Zielpersonen durchsucht. XKeyscore kann herausfinden, wonach eine Person in Suchmaschinen wie Google gesucht hat, was sie in Chats und in privaten E-Mails schreibt. Eine ungefilterte Sammlung aller Daten kann sogar in Echtzeit – also z. B. während eine Person chattet – abgegriffen werden. Snowden beschreibt es als ein System, das die nahezu unbegrenzte Live-Überwachung jeder Person auf der Welt ermöglicht. Die NSA hat das dementiert. Der BND, der eng mit der NSA zusammengearbeitet hat, setzt XKeyscore offenbar ebenfalls ein. Auch in dieser Datenbank könnte sich Susan wiederfinden, denn sie speichert die Daten vieler Personen, gegen die es keinen Verdacht gibt. Weil der BND die Datenbanken illegal betreibt, müssen die gespeicherten Informationen nach Ansicht der Datenschutzbeauftragten »unverzüglich gelöscht« werden. Ob das geschehen ist, ist nicht bekannt. Auch nicht, ob es vielleicht noch mehr ungenehmigte Datenbanken gibt. Die Beauftragte schreibt in ihrem Bericht: »Der BND hat meine Kontrolle rechtswidrig mehrfach massiv beschränkt. Eine umfassende, effiziente Kontrolle war mir daher nicht möglich.« Der BND ist damit nicht allein. Weltweit greifen Geheimdienste durch Überwachung in das Menschenrecht auf Privatsphäre, das durch die allgemeine Erklärung der Menschenrechte geschützt wird, ein. Das ist nicht immer illegal: Im Gegensatz zum absolut geltenden Recht, nicht gefoltert zu werden, kann in das Recht auf Privatsphäre durchaus eingegriffen werden. Dafür gibt es aber klare Regeln. Überwachung darf nur stattfinden, wenn ein Verdacht vorliegt und die Maßnahme gezielt, verhältnismäßig und notwendig ist, um ein legitimes Ziel zu erreichen – um zum Beispiel ein schweres Verbrechen abzuwehren. Es muss eine öffentlich zugängliche gesetzliche Grundlage für die Überwachung geben, so dass Menschen einschätzen können, ob sie von Überwachung betroffen sein könnten. Die Rechtmäßigkeit der Überwachung muss von einer unabhängigen Stelle kontrolliert werden. Alle Staaten müssen sich bei der Überwachung von Kommunikation an diese menschenrechtlichen Vorgaben zum Schutz der Privatsphäre halten. Praktischer Nebeneffekt: Die Kräfte der Behörden werden dort gebündelt, wo es tatsächlich Verdächtige gibt.

ÜBERWACHUNG

Diese Regeln schützen zugleich auch weitere Menschenrechte. Denn unsere Privatsphäre ist die Grundlage dafür, dass wir andere Rechte überhaupt auszuüben wagen. Wie würde Susan sich wohl verhalten, wenn sie von der möglichen Speicherung ihrer Daten wüsste? Wer weiß, dass Informationen über ihn gespeichert werden, überlegt sich vielleicht dreimal, ob er oder sie wirklich die HIV-Beratungsstelle anruft, jede Woche zum Gewerkschaftstreffen geht oder per Telefonkette eine Demonstration organisiert. Diese sogenannten »Chilling Effects«, eine Form von Selbstzensur, sind durch zahlreiche Studien gut belegt. So fand das Pew Research Center heraus, dass 13 Prozent der Befragten bestimmte Begriffe nicht mehr in ihrer Online-Kommunikation verwendeten, 17 Prozent gaben diese nicht mehr in Suchmaschinen ein. In einer Umfrage des Schriftstellerverbandes PEN gaben 28 Prozent der Befragten an, soziale Medien weniger oder nicht mehr zu nutzen, 24 Prozent mieden bestimmte Themen in Telefonaten oder E-Mails, weitere neun Prozent überlegten ernsthaft, dies zu tun. Besonders betroffen sind davon Menschen, die glauben, dass sie mit ihrer Meinung eher in der Minderheit sind. Überwachung führt also zu einer Schweigespirale: Wer sich in der Minderheit wähnt, äußert sich seltener und verhält sich konformer. Die Minderheit wird dadurch noch kleiner, andere schweigen noch öfter. Susan ist Kanadierin. Der BND ist ein Auslandsgeheimdienst. Doch in den Datenbanken, in denen er Informationen über Susan speichert, stehen auch Informationen über deutsche Staatsbürgerinnen und -bürger. Obwohl diese eigentlich besser vor Überwachung durch ihren eigenen Geheimdienst geschützt sind, geraten sie immer wieder ins Netz. Denn technisch ist es nicht möglich, Datenströme anhand der Staatsbürgerschaft ihrer Urheberinnen und Urheber zuverlässig zu filtern. Eine EMail-Adresse, die auf .de endet, oder eine deutsche Vorwahl lassen sich zwar noch ausfiltern. Eine .org- oder .com-Adresse oder ein Skype-Telefonat sind jedoch schon weniger eindeutig. Außerdem nutzt der BND verschiedene Theorien, um die Überwachung von Deutschen zu rechtfertigen. So sollen etwa die deutsche »Spiegel«-Journalistin Susanne Koelbl, der deutsche

»Überwachung führt zu einer Schweigespirale. Wer sich in der Minderheit wähnt, verhält sich konformer.« 39


Diplomat Hansjörg Haber während seiner dreijährigen Zeit als Leiter einer EU-Beobachtungsmission sowie deutsche und andere Angestellte der Welthungerhilfe in Afghanistan überwacht worden sein. Die Welthungerhilfe wurde damals von der Ehefrau des Bundesinnenministers, Ingeborg Schäuble, geleitet. Überwacht haben soll der BND auch die EU-Außenbeauftragte, den französischen Außenminister, den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, das Kinderhilfswerk UNICEF, Oxfam und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz. Oft geschah das in Zusammenarbeit mit der NSA, die dem BND sogenannte »Selektoren«, also Suchbegriffe, vorgab. Die lädt der BND mehrmals täglich von der NSA herunter, um sie in seine Überwachungssysteme einzuspeisen. Etwa 14 Millionen sollen es insgesamt bisher gewesen sein. Diese Fülle hatte der BND irgendwann nicht mehr im Griff. So überwachte er auch die europäischen Rüstungsfirmen EADS und Eurocopter für die USA. Auch deutsche Unternehmen waren, neben vielen unbescholtenen Privatpersonen, betroffen. Ihre Daten wurden an die USA weitergereicht – wie viele und welche, bleibt geheim. Nach diesen Skandalen soll der BND nun reformiert werden. Derzeit debattiert der Bundestag einen Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen. Dieser sieht vor, deutsche Staatsbürger besser zu schützen, auch für EU-Bürgerinnen und -Bürger sowie -Institutionen sind Verbesserungen vorgesehen. Susan und der größte Teil der Weltbevölkerung allerdings bleiben außen vor. Menschen wie sie darf der BND laut Gesetzentwurf künftig nahezu grenzenlos und massenhaft überwachen, auch dann, wenn es keinen Verdacht gegen sie gibt. Menschen wie Susan sind nach Auffassung der Bundesregierung und des BND nämlich nicht durch Artikel 10 des Grundgesetzes geschützt, der das Fernmeldegeheimnis, also das Recht auf private Telekommunikation schützt. Entgegen der gängigen Meinung von Verfassungsrechtlern, die betonen, Artikel 10 sei ein allgemeines Menschenrecht, interpretieren Regierung und BND es nur als »Deutschengrundrecht«. Denn andernfalls müssten Überwachungsmaßnahmen gegen Nicht-Deutsche im Ausland, also das tägliche Brot eines Auslandsgeheimdienstes, nach dem G10-Gesetz reguliert und von der G10-Kommission genehmigt werden. Die Kommission ist zuständig für die Kontrolle der BND-Überwachung, wenn das Fernmeldegeheimnis betroffen ist. Gesetzliche

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Beschränkungen und Kontrolle hat sich der BND mit dieser Interpretation also »wegdefiniert«. Für den Staatsrechtler Matthias Bäcker baut sich der BND so einen rechtsfreien Raum. Der BND-Mitarbeiter T.B. sagte im Untersuchungsausschuss, NichtDeutsche im Ausland seien »zum Abschuss freigegeben«. Weil das G10-Gesetz für nichtzuständig erklärt wird, gibt es allerdings keine gesetzliche Grundlage mehr für die reine Auslandsüberwachung. Das ist illegal. Im neuen BND-Gesetz sollen daher gesetzliche Gründe für eine Überwachung definiert werden. Das Problem: Sie sind so vage und breit, dass in Zukunft nahezu alles erlaubt scheint. Oder, wie es das Nachrichtenportal »Spiegel Online« ausdrückte: »Der BND darf künftig manchmal immer fast alles vielleicht.« Susan zu überwachen, soll künftig erlaubt sein, um etwa die »Handlungsfähigkeit« Deutschlands zu wahren oder »sonstige Erkenntnisse von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung« zu gewinnen. Was das heißt, ist unklar. Ist es eine »sonstige Erkenntnis von außenpolitischer Bedeutung«, wie Susan und andere Menschen weltweit über die Politiker ihrer oder der deutschen Regierung denken? Ist es wichtig für Deutschlands Handlungsfähigkeit, solche Einstellungen zu kennen? Was ist mit der Kommunikation einer »New York Times«Journalistin, die für den Politikteil schreibt, oder eines Menschenrechtsanwaltes aus Saudi-Arabien? Und: Diese vagen Regeln gelten nur dann, wenn der BND die Kommunikation innerhalb des deutschen Staatsgebietes abgreift, zum Beispiel an deutschen Internetkabeln. Wenn der BND Susans Daten direkt im Ausland überwacht, braucht er dazu überhaupt keine Begründung mehr. Auch sonst liest sich der Gesetzentwurf von CDU/CSU und SPD fast wie eine »Geheimdienst-Wunschliste«. Statt wie bisher nur einzelne Kabel- oder Funkverbindungen abhören zu dürfen, darf der BND künftig gleich ganze Telekommunikationsnetze überwachen. Dabei dürfen 100 Prozent des Datenstroms abgegriffen werden. »Full Take« nennt sich das in der Sprache der Geheimdienste. All das lädt zu Missbrauch und Massenüberwachung ein. Mit den menschenrechtlichen Regeln für Eingriffe in die Privatsphäre hat es nicht mehr viel zu tun. Weltweit gehen auch andere Geheimdienste so vor: Die eigenen Bürgerinnen und Bürger werden etwas besser geschützt, der größte Teil der Weltbevölkerung »zum Abschuss freigegeben«. Wenn Deutschland mit schlechtem Beispiel vorangeht, wird es schwer sein, sich noch über unsere Überwachung durch NSA & Co. zu beschweren. Regierungen müssen uns alle besser schützen und das Recht auf Privatsphäre als Menschenrecht anerkennen, das uns allen zusteht. Die Autorin ist Expertin der deutschen Amnesty-Sektion für Menschenrechte im digitalen Zeitalter.

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»Verschlüsselung ist der einzige Weg, sich zu wehren« TOR, PGP, OTR – Sicherheit im Internet klingt oft kompliziert. Auf sogenannten Crypto-Partys kann man lernen, die eigene Privatsphäre im Internet zu schützen. Ein Gespräch mit Anne Nühm*, Mitorganisatorin von Crypto-Partys in Berlin. Interview: Ralf Rebmann

Wir nutzen Facebook und Smartphones und wollen am digitalen Leben teilhaben, zugleich aber anonym bleiben – ein Widerspruch? Grundsätzlich halte ich es für wichtig, ein Gefühl und ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, wie man mit den eigenen Daten im Internet umgeht. Manchmal lässt sich schon durch wenig Aufwand das Risiko verringern und Missbrauch vorbeugen, damit zum Beispiel das eigene Konto nicht gehackt oder die Identität geklaut wird. Komplette Anonymität im Internet ist möglich, aber auch unbequem, da ein Großteil der Zeit für Computersicherheit aufgewendet werden muss. Man kann aber durchaus mit sensiblen Dokumenten, wie etwa den SnowdenVeröffentlichungen, arbeiten und trotzdem Social-Media-Kanäle nutzen, zum Beispiel indem man unterschiedliche Computer nutzt. Verschlüsselung spielt dabei eine zentrale Rolle. Solche Verschlüsselungstechnologien kann man auf CryptoPartys erlernen. Wer kann daran teilnehmen? Jede und jeder kann mitmachen. Der Hintergrund der Beteiligten ist ganz unterschiedlich, man muss kein Vorwissen mitbringen. Allen Teilnehmenden ist jedoch die Privatsphäre und die Sicherheit im Internet und im digitalen Raum ein großes Anliegen. Die Idee zu den Crypto-Partys entstand, als Gesetzesentwürfe diskutiert wurden, die es Behörden ermöglichen sollten, anlasslos und ohne richterlichen Beschluss die Kommunikation von Bürgerinnen und Bürgern mitzulesen. Verschlüsselung ist der einzige Weg, um sich dagegen zu wehren. Konkret geht es bei den Veranstaltungen um verschiedene Strategien, die digitale Kommunikation sicherer zu machen, aber auch um kritische Fragen: Wieso bieten viele Social-Media-Unternehmen ihre Dienste eigentlich kostenlos an? Gibt es Alternativen zu Diensten, die ausschließlich von einem einzigen Unternehmen oder einer Organisation betrieben werden? Wieso wollen Facebook und Google an meine Daten? Und aus welchen Gründen wollen das die Geheimdienste? Dass Geheimdienste unsere Kommunikation überwachen, wissen wir spätestens seit Edward Snowden. Hat sich seither ein Bewusstsein in der Bevölkerung für das Thema entwickelt? Edward Snowden hat weite Teile der Bevölkerung für dieses Thema sensibilisiert und gut erläutert, wieso die Privatsphäre ein Grundrecht ist und wieso wir es schützen müssen – es ist der Ort, wo sich Gedanken entwickeln und Ideen entstehen. Das erhöhte Interesse an diesem Thema bemerken wir auch bei unseren Crypto-Partys: In Berlin fanden seit 2014 im Schnitt zwei

ÜBERWACHUNG

Veranstaltungen pro Monat statt, mittlerweile sind es zwei pro Woche. Es ist auch nicht mehr wirklich notwendig zu erklären, dass es Massenüberwachung gibt. Auch im technischen Bereich lässt sich diese Entwicklung nachvollziehen. So sind mittlerweile die meisten Webseiten über einen verschlüsselten Übertragungsweg – erkennbar am »https« in der Adresszeile – erreichbar und der populäre Messenger-Dienst WhatsApp hat eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung eingeführt. Nun hat ausgerechnet WhatsApp angekündigt, zukünftig die persönliche Telefonnummer zu Werbezwecken an Facebook zu senden. Welche Alternativen gibt es zu WhatsApp? Der Messenger-Dienst Signal, der durch öffentliche Gelder als freie Software entwickelt wird, ist sehr bedienfreundlich und hat den momentanen De-facto-Standard für Ende-zu-Ende-Verschlüsselung eingeführt. Derselbe Standard wird übrigens auch von WhatsApp eingesetzt. Im Gegensatz zu WhatsApp kann man bei Signal jedoch sicher sein, dass die Nachrichten verschlüsselt werden und auch nach der Entschlüsselung nicht an einen zentralen Server zurückübermittelt werden, wie es bei vielen anderen Messenger-Diensten der Fall ist. Was empfehlen Sie, um die eigene Privatsphäre zu schützen? Es gibt zahlreiche Tools, die dabei helfen, Tracking im Internet, zum Beispiel durch Google Analytics oder Werbeanbieter, zu unterbinden. Dazu gehören zum Beispiel der Tor-Browser, aber auch Plugins wie uBlock Origin, Disconnect Me und Privacy Badger. Sie sind einfach zu installieren und helfen dabei, die eigenen Spuren im Internet zu verwischen. Für E-Mails existiert schon seit längerem das Verschlüsselungssystem PGP. Abhängig davon, gegen was man sich schützen möchte, sind diese Hilfsmittel schon ein guter Anfang. Für Menschenrechtsverteidiger oder Journalisten ist es unerlässlich, dass deren Arbeit und Quellen anonym bleiben … Auch hier kommt es auf den Kontext und das benötigte Sicherheitsniveau an. Bei Crypto-Partys können wir eine Einführung dazu bieten. Je gefährlicher Sicherheitslücken für die Beteiligten werden können, umso besser ist es, sich an Organisationen zu wenden, die sich auf die Sicherheit von Journalistinnen und Journalisten, Aktivistinnen und Aktivisten spezialisiert haben. Dazu gehören zum Beispiel das TacticalTech Collective, Access Now, The Centre for Investigative Journalism, Privacy International und andere. Generell kann man festhalten, dass Computersicherheit und Sicherheit im Allgemeinen viel mit Routine und Vertrauen zu tun haben – und beides benötigt Zeit. Deshalb ist es sinnvoll, sich schon im Voraus Programme und Verhaltensweisen anzueignen und Beziehungen aufzubauen, die man in Zukunft vielleicht einsetzen muss oder möchte. * Name geändert Weitere Informationen unter: www.cryptoparty.in

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Menschliches Faustpfand Ein aktueller Bericht von Amnesty International und Human Rights Watch belegt schwere Menschrechtsverletzungen in der Ostukraine – verübt von beiden Konfliktparteien. Von Barbara Oertel Die Ereignisse in der Ukraine taugen schon lange nicht mehr für Schlagzeilen. Dabei wäre Aufmerksamkeit, vor allem auch von Seiten der Medien, dringend geboten. Denn im Osten des Landes, wo bewaffnete Auseinandersetzungen seit 2014 mehr als 9.000 Menschenleben gekostet haben, ist derzeit kein Frieden in Sicht. Trotz des Minsk-II-Abkommens über einen Waffenstillstand vom 12. Februar 2015 sind fast täglich Opfer zu beklagen. Der Juli war der bisher verlustreichste Monat in diesem Jahr – mit mehr als 200 Toten und Verletzten allein auf Seiten der ukrainischen Regierungstruppen. Dabei werden OSZE-Beobachter nicht nur daran gehindert, ihre Arbeit zu tun, sondern sind häufig selbst Ziel gewaltsamer Übergriffe. Doch der Krieg führt auch zu anderen schweren Menschenrechtsverletzungen – sowohl auf dem von Kiew kontrollierten Territorium als auch in den von pro-russischen Kämpfern beherrschten selbst ernannten Volksrepubliken Donezk (DNR) und Lugansk (LNR). In einem Bericht mit dem Titel »Du existierst nicht – Willkürliche Festnahmen, Verschwindenlassen und Folter in der Ostukraine« haben Amnesty International und Human Rights Watch 18 derartige Fälle aus dem Jahr 2015 und den ersten sechs Monaten dieses Jahres dokumentiert. Die Recherche stützt sich dabei auf 40 Interviews – unter anderem mit Opfern und deren Angehörigen, aber auch mit Vertretern internationaler Organisationen, der Kiewer Regierung sowie Vertretern der beiden »Volksrepubliken«. Ein pro-separatistischer Aktivist mit dem Decknamen Artem wurde am 28. Januar 2015 in Mariupol festgenommen. Zunächst wurde er in die örtliche Sportschule verschleppt, die dem Freiwilligen-Bataillon »Azow« als Stützpunkt dient. Die Qualen, die er dort in den folgenden elf Tagen durchlitt, schilderte er wie folgt: »Am dritten Tag befestigten sie zwei Stromkabel auf meinem Bauch. Ich bekam so starke Krämpfe, dass sie mich an einer Holzleiter festbanden, die unter meinen Zuckungen zerbrach. (…) Nachdem ich mehrere Male das Bewusstsein verloren hatte, umwickelten sie meine Genitalien mit den Kabeln. (…) Sie drohten, mir den Daumen abzuschneiden, legten einen Putzlappen auf mein Gesicht und schütteten Wasser darauf. Ich hatte das Gefühl zu ertrinken.« Am 7. Februar 2015 wurde Artem dem ukrainischen Geheimdienst SBU übergeben. Ein Gericht verhängte Untersuchungshaft, der Vorwurf lautete »Unterstützung einer terroristischen Organisation«. Knapp fünf Wochen später ordnete ein Richter Artems Freilassung an. Stattdessen wurde er jedoch nach Charkiw gebracht, in ein Gebäude des SBU. Dort hielt man ihn weite-

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re elf Monate in Isolationshaft fest – ohne eine Erklärung oder richterliche Anordnung. Am 16. Februar 2016 kam er schließlich frei. Aus Angst um seine Familie hat Artem auf rechtliche Schritte gegen die ukrainischen Behörden verzichtet. Auf Anfrage von Amnesty und Human Rights Watch teilte der SBU am 17. Juni 2016 mit: Er habe gegen Artem ermittelt, dieser sei vom 7. Februar bis 12. März 2015 in Haft gewesen, danach aber freigelassen worden. Nach Informationen der beiden Menschenrechtsorganisationen waren im Juni 2016 immer noch 16 Personen in SBU-Gebäuden in Charkiw inhaftiert. Die ukrainischen Behörden bestreiten jedoch, dass es, außer in Kiew, noch in weiteren Städten SBU-Gefängnisse gebe. Eine Überprüfung dieser Angaben ist nicht möglich, da Vertretern von UNO und Menschenrechtsorganisationen der Zugang zu diesen Stätten (wie übrigens auch auf dem Gebiet der beiden ostukrainischen »Volksrepubliken«) verweigert wird. Maria Varfolomejewa war 31 Jahre alt und arbeitete als freie Journalistin als sie am 9. Januar 2015 von Sicherheitskräften der LNR in Lugansk festgenommen wurde. Der Vorwurf lautete: Militärspionage für die Ukraine. Über ihre erste Nacht im »Innenministerium« sagte sie: »Die Vernehmungsbeamten zeigten mir Schlagstöcke und Elektroschocker. Sie drohten damit, diese auch einzusetzen, wenn ich nicht sagen würde, was sie hören wollten. Sie fragten, wer mich geschickt habe und wie lange ich schon für die Ukraine arbeiten würde. Einer sagte, er würde mich gerne zusammenschlagen, aber dann würde ich wohl zermalmt werden.« Erst am 3. März 2016 kam Maria Varfolomejewa wieder auf freien Fuß. Mehr als ein Jahr saß sie unter dem Vorwurf, Mitglied einer illegalen bewaffneten Gruppe zu sein, im Lugansker Untersuchungsgefängnis in Isolationshaft. In dieser Zeit war ihr jeglicher Kontakt zur Außenwelt untersagt. Ihr Fall wurde nie vor Gericht verhandelt. Besonders tragisch ist das Schicksal eines Mannes, der in dem Bericht Vadim genannt wird. Der 39-jährige Immobilienmakler wurde am 9. April 2015 auf dem Weg von Slawjansk, das unter ukrainischer Kontrolle steht, in die DNR am Checkpoint »Georgiewski« von ukrainischen Kräften aus einem Bus geholt.

Die Inhaftierten dienen als Faustpfand, um die eigene Verhandlungsposition zu verbessern. AMNESTY JOURNAL | 10-11/2016


Foto: Oleksandr Ratushniak / AFP / Getty Images

Blutiger Konflikt. Ein ukrainischer Soldat nimmt einen pro-russischen Kämpfer fest, Region Lugansk, August 2014.

Anlass war eine Bekannte seiner Freundin namens »Pumpkin«, die angeblich Kontakte zum Geheimdienst der DNR unterhielt und versucht haben soll, Vadim über seine Freundin abzuschöpfen. In den kommenden Wochen wurde Vadim an mehreren unbekannten Orten festgehalten und während stundenlanger Verhöre schwer misshandelt und gefoltert. Am 22. Mai 2015 setzten ihn drei Soldaten an einer Straßenkreuzung aus. Doch damit war sein Martyrium noch nicht zu Ende. Kaum in Donezk eingetroffen, wurde Vadim am 24. Mai 2015 erneut in Gewahrsam genommen. Angeblich sei er vom SBU rekrutiert worden, um in der DNR zu spionieren. Mehr als zwei Monate befand er sich in der Gewalt pro-russischer Kämpfer, in deren Verhören Folter ebenfalls an der Tagesordnung war. Am 3. August 2015 kam er frei. Derzeit ist Vadims Fall beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anhängig. Wie sind diese gravierenden Verstöße gegen nationale und internationale Rechtsnormen zu erklären? Einer der Hauptgründe, so konstatiert der Bericht, sei der Austausch von Gefangenen zwischen beiden Seiten – ein zentraler Punkt des Minsk-II-Abkommens. Die Inhaftierten dienten dabei als Faustpfand, um die Verhandlungsposition der jeweiligen Konfliktpartei zu verbessern. Folgt man dieser Argumentation, dürfte sich an den willkürlichen Festnahmen in naher Zukunft kaum etwas ändern. Dies gilt auch für die menschenverachtende Behandlung der Inhaftierten, die dem abgrundtiefen Hass der verfeindeten Gruppen geschuldet ist sowie dem Kalkül, an vermeintlich wichtige Informationen zu gelangen.

UKRAINE

Gibt es dennoch Anlass zu Optimismus? Was die beiden »Volksrepubliken« anbetrifft, so lautet die eindeutige Antwort: Nein. Hier kann von einem funktionierenden Rechtssystem keine Rede sein. Vielmehr ist die Bevölkerung der Willkür und dem Terror der örtlichen Machthaber schutzlos ausgeliefert. Und dass ausgerechnet Russland in dieser Frage seinen Einfluss geltend macht, ist äußerst unwahrscheinlich. Im Fall der Kiewer Regierung liegen die Dinge anders. Immerhin waren Präsident Petro Poroschenko und seine Regierung 2014 mit dem Anspruch angetreten, das Land grundlegend zu reformieren und an die Standards der Europäischen Union heranzuführen. Daran muss sich die ukrainische Führung jetzt messen lassen, will sie nicht ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen. Das heißt: Sie muss mit aller Entschiedenheit gegen die massiven Menschenrechtsverletzungen vorgehen und die Täter juristisch zur Verantwortung ziehen. Auch Brüssel muss hier Klartext sprechen und mit allem Nachdruck auf die strikte Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien drängen. Ein Kiewer Journalist, der seinen Namen nicht nennen möchte, ist da skeptisch. Als er unlängst beim ukrainischen SBU wegen eines festgenommenen pro-russischen Bloggers nachfragte, musste er zunächst einmal erklären, warum ihn dieser Fall interessiere. »Sich mit Menschenrechtsverletzungen der ukrainische Seite zu beschäftigen«, sagt er, »ist immer eine extrem heikle Angelegenheit«. Die Autorin ist Ressortleiterin Ausland bei der taz.

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»Der gefährlichste Ort ist Zuhause« Vor 15 Jahren marschierten westliche Truppen in Afghanistan ein und stürzten die Taliban. Der NATO-geführte Kampfeinsatz der Internationalen Schutz- und Unterstützungstruppe (ISAF) endete im Dezember 2014. Seither verschlechtert sich die Sicherheitssituation jedoch erneut. Ein Problem vor allem für Frauen. Humaira Rasuli ist Direktorin von »Medica Afghanistan«, einer Partnerorganisation der deutschen NGO »Medica Mondiale«, die sich weltweit für Frauen und Mädchen in Kriegs- und Krisengebieten einsetzt.

Freizeit in Kabul. Die Situation der Afghaninnen hat sich verbessert, ist aber vor allem im familiären Bereich problematisch.

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2001 versprach die Internationale Gemeinschaft, die Situation von Mädchen und Frauen in Afghanistan zu verbessern. Hat sie ihr Versprechen eingelöst? Es gibt positive Veränderungen. Vor allem in den größeren Städten können Frauen ihre Rechte besser wahrnehmen. Sie haben mehr Freiheiten, zu arbeiten. Es gibt Ministerinnen, Richterinnen und Polizistinnen. Das wäre unter dem Taliban-Regime undenkbar gewesen. Mehr als drei Millionen Mädchen gehen zur Schule – unter den Taliban waren es 2.000. Frauen haben heute eigene Geschäfte, sie leiten große Nichtregierungsorganisationen. Das sind wichtige Errungenschaften. Dennoch leiden Frauen in Afghanistan noch immer. Frauenrechte existieren auf dem Papier, aber nicht in der Praxis. Frauen sind weiterhin bei allen Entscheidungsprozessen unterrepräsentiert – das gilt von der Familie bis zum Parlament. So sind zwar 22 Prozent der Regierungsstellen inzwischen mit Frauen besetzt, aber nur neun Prozent von ihnen haben Positionen inne, in denen sie auch wichtige Entscheidungen treffen. Ein anderes Beispiel sind die Provinzen: Unter den 34 Gouverneuren ist keine Frau. Auch gibt es kaum Unterstützung für Frauenrechtsverteidigerinnen.

Foto: Adam Ferguson / The New York Times / Redux / laif

Sie arbeiten seit 2002 für »Medica Afghanistan«. Seit 2010 sind Sie die Direktorin. Was genau macht Ihre Organisation? Wir verfolgen einen ganzheitlichen, multidisziplinären Ansatz. Wir bieten psychosoziale Unterstützung in Form von Gruppen- und Einzelberatungen. Wir bieten Hilfe zur Selbsthilfe, indem wir Frauen stärken, sowie Rechtshilfe. Neben diesen Angeboten, die sich direkt an Frauen richten, betreiben wir auch Lobbyarbeit für Frauenrechte. Wir sind also auch politisch aktiv. 2015 wurde eine 28-Jährige in Kabul gelyncht. Sie soll einen Koran verbrannt haben, was sich als falsch herausstellte. In einem Dorf im Landesinneren wurde eine 19-Jährige wegen angeblichen Ehebruchs gesteinigt. Was muss passieren, damit so etwas nicht mehr vorkommt? Hierfür braucht es eine gesellschaftliche Veränderung. Es ist jedoch nicht einfach, die vorherrschenden sozialen Normen zu hinterfragen. Solch ein Wandel muss auf verschiedenen Ebenen erfolgen. Gesetze müssen umgesetzt werden. Die Justiz muss reformiert werden: Anwälte, Verteidiger und auch Richter brauchen eine bessere Ausbildung. Die Polizei muss sensibilisiert werden im Umgang mit Traumata sowie in Genderfragen. Ebenso sollte das Ministerium für Religionsfragen in den Lehrplan für religiöse Erziehung auch Koranverse aufnehmen, die die Gleichberechtigung unterstützen. Es gibt viele solcher Verse, doch leider sind sie kein Thema in der Gesellschaft. Vor allem aber brauchen wir eine Einbindung der jungen Generation. Die jungen Anwältinnen und Psychologinnen, die mit uns arbeiten, sind flexibel und aufgeschlossen für Veränderungen. Sie sind diejenigen, die den Wandel vorantreiben. Die ältere Generation ist dagegen kaum bereit für Veränderungen. Afghanistan hat einige fortschrittliche Gesetze, wie das Gesetz zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. Will die Regierung die Gesetze nicht umsetzen oder kann sie es nicht? Beides. Es gibt viele sozio-kulturelle Barrieren – auch unter Staatsanwälten, Rechtsanwälten und Polizisten. Ich könnte Ihnen unzählige Beispiele dafür nennen. Wenn zum Beispiel eine Frau ihren Mann wegen Gewalt anklagen will, sagt man ihr, dass

INTERVIEW

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HUMAIRA RASULI

sie dann ihre Kinder verliere, dass sie doch keine schlechte Frau sein solle usw. Und um nicht alles zu verlieren, geht die Frau dann zurück zu ihrem Mann. Was das Gesetz zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen betrifft, wird dessen Umsetzung von der Regierung kaum kontrolliert. Dies wäre aber dringend notwendig. Das Gesetz sieht zum Beispiel in einzelnen Fällen Mediation vor, allerdings nicht bei schweren Straftaten. Doch genau in diesen Fällen wird Frauen zugeredet, den Frieden in der Familie zu erhalten und Unrecht hinzunehmen. Wir als »Medica Afghanistan« erarbeiten gerade Standards und Kriterien für die Mediation. Um der Regierung mehr Druck zu machen, fordern manche Frauenrechtsaktivistinnen, die Auslandshilfen sollten an Verbesserungen im Bereich Frauenrechte geknüpft werden. Unterstützen Sie diese Forderung? Es ist wichtig, hier die Balance zu halten. Es macht keinen Sinn, der Regierung zu viele Bedingungen zu stellen, denn sie ist schwach. Wenn sie die Anforderungen nicht erfüllen kann, verlieren wir letztlich die finanzielle Unterstützung, und das wollen wir nicht. Denn der afghanische Staatshaushalt wird zu rund 70 Prozent vom Ausland finanziert. Aber dennoch sollte es Druck geben. So sollte zum Beispiel gefordert werden, regelmäßig über die Umsetzung von Gesetzen zu berichten. Ende 2014 wurde der ISAF-Einsatz beendet. In Teilen des Landes gewinnen die Taliban und andere radikale Gruppen seither wieder an Macht. Was bedeutet das für die Frauen? Wir sind sehr enttäuscht, dass sich die Sicherheitslage verschlechtert. 2015 wurden rund 11.000 Zivilisten verletzt oder getötet [Anm. d. Red.: etwa 7.500 verletzt und 3.500 getötet]. So viele wie seit 15 Jahren nicht mehr. Als die Taliban im September 2015 vorübergehend Kundus einnahmen, hat sich gezeigt, welche Konsequenzen die Sicherheitslage für die Rechte von Frauen hat. Viele Frauen haben die Stadt verlassen, sie haben ihre Arbeit als Journalistinnen, als Lehrerinnen oder auch bei der Polizei aufgegeben. Kundus zeigt, wie fragil die Errungenschaften der Frauen sind. Überschatten nur Sicherheitsfragen die Frauenrechte? Für die Frauen ist nicht nur ein Frieden im Land entscheidend. Der gefährlichste Ort für sie ist ihr Zuhause. Sie leiden unter massiver, auch sexualisierter Gewalt in ihren Familien. Es geht also nicht nur um militärische Sicherheit, sondern um die Achtung der Frauenrechte insgesamt. Für den militärischen Frieden werden wir keine Frauenrechte aufgeben. Die Rechte der afghanischen Frauen wurden genutzt, um die Invasion 2001 zu legitimieren. Wenn das jetzt geopfert wird, ist das eine Enttäuschung. Wir alle hoffen auf eine bessere Zukunft.

Foto: medica mondiale

Interview: Sonja Ernst

INTERVIEW HUMAIRA RASULI Humaira Rasuli ist in Kabul geboren und in Pakistan zur Schule gegangen. 2002 kehrte sie nach Afghanistan zurück. Die studierte Betriebswirtin arbeitete zunächst bei »Medica Mondiale«. Heute leitet die 35-Jährige deren Ableger »Medica Afghanistan«.

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Der Weg des Padre

Hoffnungsgestalt. Padre Alejandro Solalinde Guerra engagiert sich für Hunderttausende Flüchtlinge aus Mittelamerika, die in Mexiko stranden.

Auch in Mexiko spielt sich ein Flüchtlingsdrama ab – und das seit Jahrzehnten. Gemeinsam machen Regierung, lokale Behörden und kriminelle Banden den Schutzsuchenden das Leben zur Hölle. Sie kommen dennoch – 400.000 jedes Jahr. Mittendrin kämpft ein Pfarrer für einen Wandel und mit ihm Tausende Aktivisten. Von Samanta Siegfried (Text) und Antonia Zennaro (Fotos) Der Mann, auf dem alle Hoffnung ruht, erscheint in Weiß, an einem warmen Vormittag im Juni. Er trägt eine große Brille im zarten Gesicht, ein dickes Holzkreuz baumelt um seinen Hals. Er geht die Treppe von seinem Zimmer hinunter in den Hof und grüßt alle, die seit Tagen auf seine Rückkehr warten. Sie schauen ihm nach, ehrfürchtig, hoffnungsvoll. Einige sehen ihn zum ersten Mal: Padre Alejandro Solalinde Guerra – der berühmteste Pfarrer und Menschenrechtsaktivist Mexikos. Gerade noch besuchte er in Los Angeles den US-Politiker Bernie Sanders, um dessen Migrationspolitik zu unterstützen. Jetzt steht er vor der Kapelle, die er mit aufgebaut hat, unter dem Baum, den er ge-

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pflanzt hat. »Es ist nicht wichtig, schnell weiter zu kommen. Wichtiger ist es, zu überleben«, beginnt Solalinde, der von allen hier nur Padre genannt wird, seine Rede. Seine Stimme ist leise, aber klar. Er tupft sich mit einem Tuch die Stirn ab. Etwa 200 Schutzsuchende wohnen in seiner Herberge »Hermanos en el camino« – Geschwister auf dem Weg –, die weniger als 100 Schlafplätze hat. Wer kein Bett hat, übernachtet draußen. Die Flüchtlingsunterkunft liegt am Ende einer erdigen Straße in Ixtepec, einer heruntergekommenen Stadt im südmexikanischen Bundesstaat Oaxaca. Die Bewohner sitzen auf Bänken im Hof, liegen unter Bäumen. Halbwüchsige spielen Dame mit Flaschendeckeln, ein Mann macht Klimmzüge an einer Kletterstange, daneben langweilen sich Kinder auf einer Plastikrutsche. Die Unterkunft ist eine von mittlerweile 72 in ganz Mexiko, in denen Geistliche und andere Freiwillige Tausenden von Flüchtlingen aus Mittelamerika Zuflucht bieten. Hier hat Solalinde den Grundstein für eine neue mexikanische Flüchtlingshilfe gelegt. Immer mehr Menschen versammeln sich im Hof um den Padre. »Mit einem Visum habt ihr 70 Prozent Überlebenschan-

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ce«, sagt er und meint damit das humanitäre Visum, das seit 2011 jeder beantragen kann, der auf seiner Flucht Opfer eines Verbrechens wurde – das betrifft mindestens 80 Prozent. Das Papier erlaubt es ihnen, sich ein Jahr in Mexiko aufzuhalten, und ist die einfachste Art, legal weiterzureisen. Doch es zu bekommen, dauert oft Monate, zu lange für jene, die so schnell wie möglich in den Norden wollen. Viele warten nicht. »Denkt darüber nach, in Mexiko zu bleiben«, fährt Solalinde fort. »In den USA sind wir nicht willkommen.« Doch er weiß, dass er sie nicht abhalten kann. »Nur Gott kennt eure Mission.« Julio hört aufmerksam zu. Der 16-Jährige aus Honduras ist erst vor wenigen Tagen hier gestrandet: Er will in die USA, nach Louisiana zu seiner Mutter. Zehn Jahre hat er sie nicht mehr gesehen. »Sie erzählte, ich habe zwei kleine Brüder«. Julio lächelt. Aus seinem linken Auge läuft Eiter, seinen Oberkörper zeichnen vier Stichverletzungen. »Die Maras«, sagt er und meint damit die Jugendbanden, die Honduras fest im Griff haben. »Sie wollten, dass ich Menschen umbringe.« Als er sich weigerte, wurde er beinahe selbst getötet. Nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, verließ er sofort seine Heimat. In Honduras stirbt man schnell. Im vergangenen Jahr zählte das Land 5.100 Ermordete, 96 Prozent der Verbrechen bleiben unbestraft. Wer nicht mit den Banden kooperiert, stirbt, wird verstümmelt oder verbrannt, egal ob Mann, Frau oder Kind. Früher verließen viele ihre Heimat in Richtung USA auf der Suche nach einer besseren Zukunft, heute geht es den Flüchtlingen meist nur noch ums Überleben. Sie kommen aus San Salvador, Honduras oder Guatemala – gemessen an der Mordrate die gefährlichsten Länder der Erde. NGOs und der UNHCR schätzen, dass Jahr für Jahr 400.000 Menschen Mexiko durchqueren. Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit bewegen sie sich auf einer der gefährlichsten Route weltweit. »Im Norden wird es noch riskanter, dort warten die Drogenkartelle auf euch«, warnt Solalinde. »Aber die Migrationspolizei ist und bleibt das schlimmste Kartell.« Einige lachen, obwohl es nichts zu lachen gibt. Seine schonungslosen Urteile haben den Padre bekannt gemacht. Früher war er ein einfacher Dorfpfarrer, mit sechzig Jahren fing er an zu zweifeln: »Ich wollte nicht mehr in halb leeren Kirchen predigen.« Er legte ein Sabbatjahr ein und noch eines, studierte Psychologie und Familientherapie, ging nach Afrika. Bis ihm klar wurde, dass es Hilfsbedürftige ganz in seiner Nähe gibt.

»Es ist nicht wichtig, schnell weiter zu kommen. Wichtiger ist es, zu überleben.« ten, die Herberge in Brand zu stecken, Mitglieder der Zetas, des größten mexikanischen Drogenkartells, drohten, ihn umzubringen, und schließlich wollte ihm sein Bischof die Flüchtlingshilfe verbieten. Daraufhin verließ Solalinde 2012 das Land und tourte durch Europa, um über das Elend zu berichten. Als er nach wenigen Monaten zurückkehrte, erhielt er den mexikanischen Menschenrechtspreis – und zwei Leibwächter, die er später durch eigene Beschützer ersetzte: Raúl und Salomé. Heute ist Solalinde 71 Jahre alt und seine Arbeit ist noch lange nicht getan. »Wenn euch die Migrationsbehörde Probleme macht, dann ruft mich an«, schließt er die Versammlung unter dem Baum. Wie fast alle Flüchtlinge ging auch Julio zu Fuß durch Mexiko bis nach Ixtepec. Zwar liegen nur einen Steinwurf von den Schlafsälen der Herberge entfernt Gleise, doch kaum jemand fährt noch mit den Zügen. Der Grund dafür ist das Programm

Zu Beginn seiner Initiative war Flüchtlingshilfe illegal Als er die Herberge 2007 eröffnete, galt die Einreise nach Mexiko ohne Papiere als Straftat, Flüchtlingen zu helfen, war illegal. Dass das heute nicht mehr so ist, hat viel mit seinem Engagement zu tun. Er war der erste, der die Zustände erfolgreich öffentlich machte: die Entführungen, Erpressungen, Morde und Vergewaltigungen der Flüchtlinge durch die Drogenkartelle; die Tatenlosigkeit der Politiker, die oft mit den Verbrechern unter einer Decke stecken; die unmenschliche Abschiebepraxis der Einwanderungsbehörde. Nicht zuletzt die Scheinheiligkeit der katholischen Kirche, die sich nicht kümmerte. Der Druck auf die Regierung wuchs, schließlich schaltete sich die UNO ein. Solalinde selbst saß im Senat, als 2011 das sogenannte Migrationsgesetz verabschiedet wurde, das seine Arbeit legalisierte. »Eigene Wege zu gehen«, sagt der Padre, »das habe ich von den Flüchtlingen gelernt.« Er hat sich damit viele Feinde gemacht. Die Migrationsbehörde beschuldigte ihn, Schlepper zu sein, Unbekannte versuch-

MEXIKO

Unbegleitet. Julio, 16 Jahre, verdurstete fast auf der Flucht nach Mexiko.

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»Wir haben bereits Tausende Jugendliche an die Drogenkartelle verloren.« »Frontera Sur«, das die Regierung 2014 mit US-Unterstützung auflegte und das zu einer massiven Aufstockung von Polizei und Militär an der gesamten Südgrenze Mexikos führte. Wer mit dem Zug reist, wird leicht erwischt und zurückgeschickt. 166.000 Menschen waren es nach einem aktuellen Bericht der NGO »International Crisis Group« im vergangenen Jahr, darunter 30.000 unbegleitete Kinder wie Julio. Das sind neun Mal so viele wie noch vor fünf Jahren. Das Programm war ein harter Schlag für die Arbeit von Solalinde. Er spricht von »ethnischer Säuberung«. Doch er ist ein Mann der Tat: »Es gibt für alles eine Lösung, man muss sie nur finden«, sagte er sich und eröffnete zwei neue Herbergen weiter im Süden. Nach ihren tagelangen Fußmärschen benötigten die Flüchtlinge nun bereits viel früher Hilfe. Denn, wie so oft, verringerten die neuen Hürden nicht die Zahl der Flüchtlinge, sondern lediglich ihre Routen.

Vor allem unbegleitete Kinder brauchen Hilfe »Wir waren fünfzehn«, erzählt Julio beim Mittagessen in der Küche, einer Baracke mit Wellblechdach. Das Trommeln eines Platzregens vermischt sich mit dem Stimmengewirr, es gibt Reis und Gemüse aus bunten Plastikschalen. »Wir gingen nachts an den Gleisen entlang, um nicht von der Migrationspolizei erwischt zu werden.« Zuerst wurden sie von Banden bis auf die Kleidung ausgeraubt, danach von der Polizei verfolgt. Sie rannten weg, verstreuten sich, versteckten sich in den Bergen. Zwei weitere Male mussten sie vor der Polizei fliehen. Ausgehungert und dem Verdursten nah erreichte Julio nach zwei Wochen die

Die Bestie. So nennen die Flüchtlinge den Güterzug Richtung USA.

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Herberge. »Ich habe es als Einziger geschafft«, sagt er, als könne er es selbst noch nicht richtig glauben. Pfarrer Solalinde will das Leben von unbegleiteten Kindern wie Julio verbessern. »Wir müssen dafür sorgen, dass ihre Rechte respektiert werden«, sagt er in seiner sanften, aber bestimmten Art und benennt damit den Kern der Flüchtlingshilfe. Ehrenamtliche Mitarbeiter sorgen dafür, dass gesetzlich verankerte Rechte umgesetzt werden. In der Herberge sind Anhörungsräume eingerichtet, die Mitarbeiter nehmen Anzeigen entgegen, helfen beim Ausfüllen der Visa-Anträge und begleiten die Flüchtlinge auf die Behörden. Doch unbegleitete Minderjährige benötigen dafür einen Vormund und für diese Aufgabe lässt sich nur selten jemand finden. Die verantwortlichen Konsulate kümmern sich nicht. Die Jugendlichen müssen warten, bis sie 18 sind, die meisten reisen illegal weiter. »Wir haben bereits Tausende an die Drogenkartelle verloren«, sagt Solalinde. Das will er ändern und er hat bereits einen Plan, für den er das gesamte vergangene Jahr gearbeitet und mittlerweile auch wichtige Verbündete gewonnen hat: etwa das UNHCR, die Internationale Organisation für Migration und die Nationale Institution zur Familienentwicklung. »Bald schon ist es soweit«, sagt er. Aber erst einmal führt der Pfarrer mit den Bewohnern Einzelgespräche in der Küche. Geduldig hört er zu, händigt Telefonnummern aus, hantiert mit seinen zwei Handys, organisiert Transporte, wird umarmt und geküsst. Dann steht plötzlich Alba vor ihm. Seit Tagen kann sie nur noch weinen. Sie presst ihre Finger in einen gestrickten Stoffball, rote Lackreste auf den Nägeln. Die 27-jährige Honduranerin nahm nachts allein die Route entlang der Gleise. Auf ihrer Flucht wurde sie zweimal vergewaltigt, jetzt ist sie schwanger und schwer traumatisiert. Sie hält den Kopf schief und zieht die Schultern verkrampft nach oben, während Solalinde versucht, mit ihr zu reden. »Ich werde diesen Fall vor Gericht bringen«, empört er sich. Am Nachmittag vereinbart er einen Termin mit der Untersuchungskommission, kontaktiert seinen Anwalt des Vertrauens und organisiert psychologischen Beistand. »Ich werde mich nie an diese furchtbaren Dinge gewöhnen.« Als sich seine Wut etwas gelegt hat, sagt er: »Ich möchte diese Vergewaltiger treffen und fragen: Was hat dich dazu gebracht, so etwas zu tun?« Seiner Überzeugung nach produziert das System solche Menschen. »Wir müssen un-

Zuhören. Alba erzählt vom Martyrium ihrer Flucht.

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Trasse der Flucht. Die meisten Flüchtlinge aus Mittelamerika wandern Tausende Kilometer entlang der Bahngleise durch Mexiko Richtung Norden.

sere Herzen ändern.« Deshalb hat er ein Büchlein geschrieben von 58 Seiten: »Das Reich Gottes – radikales Überdenken des Lebens«. Erst gestern Nacht ist er damit fertig geworden. Abends zieht er sich zurück in sein Zimmer, einen kleinen Raum mit kahlen Betonwänden, einem langen Bücherregal und einer Hängematte als Bett. Vor der Tür stapeln sich Säcke mit Kleiderspenden, daneben steht ein gedeckter Plastiktisch. Zusammen mit seinen zwei Beschützern isst er Bohnen mit Brot zu Abend. Was er früher so schätzte, Einsamkeit, Stille, ist ihm heute fast fremd geworden. Aber er bereut nichts: »Hier in der Herberge habe ich die Präsenz Gottes getroffen, nicht in der Kirche.«

Bekannt sein ist anstrengend, aber öffnet Türen Wenige Tage später macht Solalinde einen Abstecher in die Hauptstadt von Oaxaca. Kleine farbige Häuser ducken sich neben gepflasterten Wegen. Vor der Kirche zur Heiligen Jungfrau wird er für ein Interview mit einem honduranischen Fernsehsender vorbereitet. Danach hat er noch mindestens fünf Termine, so genau weiß er es nicht. »Meine Beschützer haben den Überblick«, sagt er und deutet auf Raúl und Salomé, die keine zehn Meter von ihm entfernt stehen: ein Treffen mit der Wahrheitskommission zu Menschenrechtsverletzungen in Oaxaca, die er leitet, danach mit dem Rat der indigenen Gemeinschaften und später mit einer Organisation für Frauenrechte. Schließlich ein Gespräch mit der Migrationsbehörde zur Situation der unbegleiteten Kinder. »Bekannt sein ist anstrengend, aber es öffnet viele Türen«, sagt Solalinde. Das will er nutzen, um Dinge zu verändern. Einige kritisieren ihn dafür: Muss er sich so inszenieren und zu allem etwas sagen? Er meint, er muss.

MEXIKO

Zurück in der Herberge ist das Vorhaben, für das er nun schon so lange gearbeitet hat, spruchreif. Er trommelt alle Jugendlichen unter 18 Jahren unter dem Dach der Kapelle zusammen. Sie kommen auf ihn zu, schmale Gestalten in Tanktops, Zigarette hinter dem Ohr, abgekämpfter Blick. »Wir haben ein Haus in Mexiko-Stadt«, verkündet der Padre stolz. »Wir werden dafür sorgen, dass jeder einen Vormund bekommt. So etwas wie einen Freund.« Julio hat das noch nicht genau verstanden, ist sich aber sicher: »Er wird uns helfen.« Das Gottvertrauen der Bewohner hier, es ruht vor allem auch auf Solalinde. Bereits wenige Wochen später wird das Haus eingeweiht. Es heißt »Adolescentes en el camino« – Jugendliche auf dem Weg. Julio ist umgezogen und mit ihm zwanzig weitere Minderjährige, immer mehr kommen dazu. Julio wartet auf sein Visum, das erfordert Geduld. Auch Solalinde hat die Herberge in Ixtepec nach all den Jahren verlassen und wohnt nun in der Hauptstadt. Ehrenamtliche helfen den Jugendlichen dabei, eine Arbeit oder einen Schulplatz zu finden, bieten Workshops und psychologische Betreuung an. Es ist die erste Einrichtung dieser Art im Land. Derweil plant der Pfarrer bereits zwei weitere Unterkünfte in MexikoStadt, auch für Erwachsene. Außerdem schwebt ihm eine Dritte speziell für Rückkehrer vor, die von den USA abgeschoben wurden. Vor allem wegen der Nähe zu wichtigen zivilen Organisationen will er die Flüchtlingshilfe in die großen Städte verlagern. »Die Gewalt in Mittelamerika nimmt von Jahr zu Jahr zu«, warnt Solalinde, der die Nachbarländer bereits mehrmals bereist hat. »Mexiko muss endlich dafür sorgen, dass die Flüchtlinge hier gut leben können.« Bis es soweit ist, will er sich darum kümmern. Die Autorin ist Reporterin der Agentur »Zeitenspiegel«.

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KULTUR

Oliver Stone über »Snowden«

»Wir stecken jetzt die Zukunft ab«

Einsame Existenz. Oliver Stones Edward Snowden (Joseph  Gordon-Levitt) in einem Hotelzimmer, Szene aus »Snowden«.

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Foto: Universum Film

INTERVIEW

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OLIVER STONE

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Foto: Universum Film

Brisante Tätigkeit. Snowden und Kollege entdecken kritisches Material, Szene aus »Snowden«.

Regisseur Oliver Stone sieht in Edward Snowden eine zentrale Figur unserer Zeit. Ein Interview über Politik im Kino. Interview: Jürgen Kiontke

Wann sind Sie auf die Idee gekommen, einen Film über Edward Snowden zu drehen? Ich hatte ihn bereits Ende Januar 2014 getroffen, sechs Monate nach dem »Event«, als er die Daten an die Medien gegeben hatte. Ich war mir gar nicht so sicher, ob ich einen Film über ihn machen wollte – was glauben Sie, wie viel Ärger und Gerichtsverfahren ich schon mit Filmen hatte! Ich habe ihn dann aber über mehrere Monate insgesamt drei Mal in Moskau besucht und irgendwann stand der Entschluss. Diskussionen um Details haben den Prozess dann noch um Einiges verzögert. Vieler Ihrer Filme handeln von großen historischen Figuren, etwa John F. Kennedy oder Alexander der Große. Ist die Figur Edward Snowdens eine Fortschreibung dieser Art des Kinos? Nun, Kennedy und Alexander sind ja historische Figuren mit einem ganz entscheidenden Unterschied: Sie sind tot! Mit Snowden haben wir eine lebende Persönlichkeit zum Thema, da ist die Intention doch eine ganz andere. Alexanders Zeit war komplett anders, es gab keine Medien, nur Klatsch und Gerüchte. Er eroberte eine Welt, von der er nicht viel wusste. Die Welt Snowdens ist hingegen sehr gut erforscht, er selbst ist mit den neuesten elektronischen Mitteln unterwegs. Er hat das unbändige Ver-

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langen, sich in dieser digitalen Welt zu bewegen, der Mann liebt das Internet, es verheißt ihm Freiheit. Dass es in ein Überwachungsinstrument verwandelt wird, ist für ihn komplett gegen seine eigentliche Bestimmung. Wie bringt man Politik und Kunst zusammen? Das ist eine schwierige Frage. Politik ist vielschichtig, mit vielen Perspektiven, sie ist ein schwieriger Job. Ich frage mich manchmal, wie Menschen überhaupt in der Lage sind, sinnvolle Politik zu machen. Aber irgendwie versucht man das ja überall auf der Welt. Politiker wollen populär sein, kein Wunder, sie wollen ja auch die nächste Wahl gewinnen. Einen Film zu machen, ist erstmal etwas ganz anderes, aber auch die Kunst sucht nach Popularität, nach größtmöglicher Öffentlichkeit. Indem man eine gute Geschichte hat, die man spannend erzählen kann. Eine, die die Leute dazu bringt, unbedingt wissen zu wollen, was als Nächstes passiert. Was erhoffen Sie sich für Ihren Film? Am besten führt er das Publikum als unterhaltende, spannende Dramatisierung zur Person Snowdens und den Umständen, für die er steht. Ich hoffe, dass sich mehr Leute mit dem Fall beschäftigen, sich genauer informieren. Und so künftig eine kritische Haltung gegenüber der Massenüberwachung entwickeln. Trauen Sie sich nach dem Film noch, digitale Medien zu nutzen? (Lacht.) Persönlich bin ich gar nicht so heiß drauf, Facebook und Co. zu nutzen. Ich verlasse mich da so weit wie möglich auf meine Assistenten, die deutlich jünger sind als ich. Aber ja, ich nutze sie weiter; nicht, weil ich soziale Medien so toll finde, sondern weil ich sie brauche.

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»Ich hoffe, dass mehr Leute eine kritische Haltung gegenüber der Massenüberwachung entwickeln.« Ist Snowden einer der vielen Flüchtlinge, die derzeit rund um die Welt Zuflucht suchen? Nein, das ist er nicht. Er ist im politischen Exil. Er ist in Russland gestrandet, ohne gültigen Pass. Ein hochgebildeter Mann, ein Technik-Profi. Was sollten die Zuschauer in Deutschland, die deutschen Amnesty-Mitglieder aus Ihrem Film mitnehmen? »Sollte« ist kein Wort für mich! Als Regisseur kann ich schlecht die Reaktionen auf einen Film diktieren. Regisseure können nur das Beste innerhalb ihrer Grenzen tun: einen Film so gut machen, wie sie können – ihn so aufregend machen, wie es geht. Ich hoffe, dass das Publikum über »Snowden« redet, über seine Kernthemen: Geheimdienste, Exil, Amnestie. Die ganze Geschichte zieht sich nun schon über mehr als zwei Jahre hin. Die amerikanischen Präsidentschaftskandidaten haben Snowden nicht einmal erwähnt! Vielversprechend sieht es gerade nicht für ihn aus.

Foto: N. Genin (CC BY-SA 2.0)

»Snowden« ist auch ein Film über den Einsatz neuester Technologien. Hätten Sie nicht Lust, einen Science-Fiction-Film zu drehen? Da gibt es derzeit ja eine Menge ganz guter Beispiele im Kino. Ich schaue mir die Filme gern an und amüsiere mich dabei. Aber für meine eigene Arbeit ist das weniger interessant. Man könnte sagen, ich betreibe eine Art Science Fiction in der Realität, eine »Science Real«: eine in unserem jetzigen Universum. Die Zukunft geschieht gerade jetzt, zu diesem Zeitpunkt. Weil wir derzeit abstecken, wie man sie kontrolliert.

INTERVIEW

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INTERVIEW OLIVER STONE Ein Geschehen dramatisieren, um die Ereignisse bekannt zu machen: Seit 40 Jahren schreibt und filmt Oliver Stone, 70 Jahre alt und Mitglied von Amnesty USA. Das Spektrum reicht von ComicStoffen (»Conan, der Barbar«), über medienkritische Spielfilme (»Natural Born Killers«) bis hin zu kontroversen Filmbiografien (»The Doors«, »JFK«, »Nixon«) und historischen Stoffen (»Alexander«).  Der dreimalige Oscar-Gewinner mischt sich selbst oder mit seinen Filmen immer wieder in Debatten ein, zudem gelten seine Filme – allesamt kontrovers diskutiert – als cineastische Meilensteine, weil er die ganze Bandbreite optischer Möglichkeiten einsetzt.

OLIVER STONE

Edward Snowden als Film Welcher Mensch steckt hinter einer der größten politischen Enthüllungen der jüngsten Zeit? Das möchte Oliver Stone in seinem neuen Spielfilm »Snowden« herausfinden. Der junge IT-Experte Edward Snowden in Diensten amerikanischer Sicherheitsunternehmen erlangte weltweite Berühmtheit, als er 2013 geheime Dokumente an die Presse weitergab. Inhalt: Die Überwachungsaktivitäten amerikanischer Geheimdienste, vor allem der Heimatschutzbehörde NSA. Aus Daten, die Snowden kopiert hatte und die der »Guardian« und die »Washington Post« veröffentlichten, erfuhr man, dass das Internet im Prinzip zu einem Raum der minutiösen Massenüberwachung mutiert war. Joseph Gordon-Levitt, einer der gefragtesten jungen Darsteller der USA, spielt im Film die Hauptrolle. Gordon-Levitts sportliche Erscheinung lässt auf den ersten Blick nicht auf den blassen jungen Mann schließen, den wir von charakteristischen Anti-Spy-Aufklebern kennen. Doch findet er perfekt in die Rolle des Computer-Nerds. Edward Snowden selbst sagt, Gordon-Levitt hätte in der Rolle den »family test« bestanden, als seine Angehörigen den Film sahen. Stone stellt das Leben Snowdens detailliert nach, fragt aber nicht nur nach dem Datenskandal und stellt die politischen Implikationen der Überwachung heraus, sondern will auch die persönliche Verantwortung des Einzelnen diskutieren. Mehr als einmal werden Gesprächsrunden der Geheimdienstmitarbeiter zwischen ihren Arbeitseinsätzen inszeniert. Was wir tun, dient dem amerikanischen Volk, da sind sich vor allem die älteren Kollegen recht sicher. Edward Snowden hat zunächst ein recht angenehmes Leben, mit Haus, Familie und Grillfreunden. Dass auf der Arbeit im Nebenzimmer Drohnenangriffe geflogen, dass womöglich Witze darüber gerissen werden, entgeht im dennoch nicht. Spätestens als ein völlig unbescholtener Mann, zufällig ausgesucht, kriminalisiert wird, nur damit ein Kollege Karriere machen kann, wächst in Snowden das Bewusstsein darüber, in welchem Umfeld er arbeitet. »Snowden« ist ein macht- und gesellschaftskritischer Film. Er stellt die Frage, in welcher Welt wir leben wollen. Ob dies eine Welt sein kann, in der pauschale Verdächtigungen und unkontrollierbare Behörden dominieren. »Snowden«. D/US 2016.  Regie: Oliver  Stone, Darsteller: Joseph  Gordon-Levitt, Shailene Woodley.  Kinostart: 22. September 2016

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Das hier ist nicht Moskau Wie junge Künstler in Nowosibirsk sich die Willkür der russischen Behörden vom Leib halten. Von Elisabeth Wellershaus

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ie Galerie der Künstlergruppe SOMA2 wirkt wie einer der Orte, die Berlin in den neunziger Jahren zum Party-Mekka gemacht haben. Junge Leute scharen sich hier an diesem Sommerabend tanzend um kleine Lenin-Skulpturen aus Bernstein, wiegen sich zu Elektromusik im Hinterhof und bestaunen Schneekugeln mit erschossenen Diktatoren darin. Orte wie diese sind in Nowosibirsk die absolute Ausnahme. Zwar gilt die sibirische Hauptstadt mit ihrer Universität und der Akademie der Wissenschaft als intellektuelle Metropole. Doch anders als im weniger isolierten Moskau gibt es hier noch immer nicht viele, die es wagen, den stetig wachsenden Repressionen im Land zu trotzen. Das Domizil der Künstlergruppe um den 21-jährigen Künstler Filipp Krikunow liegt direkt neben der örtlichen Polizei; ein paar Häuser weiter sitzt der Inlandsgeheimdienst. »Theoretisch könnte jederzeit jemand herüberkommen, unsere Veranstaltungen sprengen oder uns den Laden dicht machen«, sagt Krikunow, während er unter der Videoprojektion aus einem Moskauer Club tanzt. Doch bislang ist nie etwas passiert. Vielleicht, weil die jungen Kuratoren ihre Haltung gegenüber dem Regime nicht gerade herausschreien, weil viele ihrer Aktionen so verspielt daherkommen, dass die Behörden sie noch gar nicht auf dem Schirm haben. »Kritische Kunst muss ja auch nicht radikal sein«, sagt Krikunow. Schon gar nicht in einer Stadt, in der das Publikum erst noch überzeugt werden muss, dass Widerstand überhaupt möglich ist. In Nowosibirsk blickt man bislang mit vorsichtiger Skepsis auf Menschen, die es wagen, die antrainierte Stille gegenüber dem Regime zu durchbrechen. Gebannt lauschen die Zuschauer deshalb ein paar Tage nach dem Tanzabend im SOMA2 wieder den jungen Künstlern. An diesem Abend sind sie Teil eines größeren Projekts. Zusammen mit dem Goethe-Institut hat die deutsche Künstlerin Hannah Hurtzig zum performativen Widerstand geladen und für ihre »Gespräche aus der Dunkelkammer« Akademiker und Künstler aus Moskau, St. Petersburg und Nowosibirsk zusammengetrommelt. Filipp Krikunow ist einer der sogenannten Experten, die im leer stehenden Stockwerk eines Kaufhauses über Dinge sprechen, die hier im Alltag oft tabu sind. Per Kopfhörer lauscht das Publikum den Unterhaltungen über Zensur und Repression, den vielen Plädoyers für eine offenere Gesellschaft und der Frage, wie viel man selbst bereit ist, für Veränderungen im Land zu investieren. Immer wieder kommt das Gespräch dabei auf Pjotr Pawlenski. Fast jeder hier hat eine Meinung zu dem Protestkünstler, der seine Hoden auf

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dem Roten Platz in Moskau festgenagelt hat und an diesem Abend nicht dabei sein kann, weil er in Untersuchungshaft sitzt. Vor ein paar Monaten hat er die Tür des Moskauer Geheimdienstes in Brand gesteckt. Viele hier bewundern ihn dafür. Doch nicht jeder kann oder will sein wie er. »Die Älteren gehen immer davon aus, dass meine Generation keine Angst mehr vor dem Regime hat«, sagt Krikunow und knallt einen Benzinkanister auf den Tisch der Dunkelkammer. »Ganz so ist es aber nicht.« Mit dem Schnaps aus dem Kanister prostet er der Philosophenrunde am Tisch gegenüber zu. Erst auf den zweiten Blick erkennt man den aufgemalten Drachen auf dem rosafarbenen Gefäß. Genau so sahen die Feuerzeuge aus, die Krikunow ein paar Tage vorher mit Unschuldslächeln unter den Projektteilnehmern verteilt hatte. Als er wieder im Publikum sitzt, geht einigen ein Licht und die Verbindung zu Pawlenski auf. Verschmitzt blickt Krikunow in die erstaunten Gesichter, die seine hintersinnig verspielte Aktion durchschaut haben. Feuerzeug. Benzinkanister. Mit einfachsten Mitteln hat der Künstler gerade jeden im Publikum zum potenziellen Brandstifter gemacht. Majana Nasybullowa, eine andere SOMA-Künstlerin, sitzt neben ihm. Auch sie hat sich in den vergangenen Jahren an den Zwängen abgearbeitet, die Künstlern in Russland mittlerweile immer selbstverständlicher auferlegt werden. Vor nicht allzu langer Zeit hatte eine Ausstellung der jungen Produktdesignerin für Wirbel gesorgt. »Schon im Vorfeld haben sich alle aufgeregt«, erzählt die 27-Jährige und beschreibt, wie dieser Tage selbst ein Ausstellungstitel die Gemüter erhitzt. Die Behörden hatten gedroht, ihre Ausstellung »Artistic Porn« platzen zu lassen, in der sie anstößiges Material witterten. Am Eröffnungsabend hatte sie dann schlicht Kopien von Boticelli- und PicassoAkten aufgehängt, die am nächsten Tag von der ratlosen Presse besprochen wurden. Die eigentliche Ausstellung war erst später am Abend aufgebaut worden, als Medienvertreter und Beamte längst weg waren. Während die offizielle Presse am nächsten Morgen über kopierte Picassos schrieb, posteten Nasybullowas

»Theoretisch könnte jederzeit jemand kommen, unsere Veranstaltungen sprengen oder uns den Laden dichtmachen.« AMNESTY JOURNAL | 10-11/2016


Foto: Rostislav Netisov / Anadolu Agency / Getty Images

Kunst trifft Politik. Die »Monstration« 2016 in Nowosibirsk, Persiflage auf die offizielle jährliche Maikundgebung.

Freunde auf digitalen Plattformen die Bilder der eigentlichen Ausstellung: Fotos von surrealen Vaginamotiven und verspielten Dildoinstallationen – insgesamt wenig wirklich Kontroversem. Die Ausstellung lief danach einfach weiter. Das unausgesprochene Verbot gegenüber vermeintlichen Provokationen trifft in Russland derzeit viele. 2014 hatte der orthodoxe Metropolit von Nowosibirsk, Berdsk Tichon, bereits Stimmung gegen eine tatsächliche Picasso-Ausstellung mit erotischen Lithografien gemacht. Zwei Jahre zuvor hatte er den Regisseur einer sehr modernen Tannhäuser-Inszenierung angezeigt, angeblich wegen Schändung religiöser Symbole. Der Titelheld war als Jesus verkleidet zum Treffen mit der Liebesgöttin Venus erschienen, ein Kreuz wurde auf die Bühne getragen. Das Stück wurde schließlich abgesetzt, denn in solchen Fällen greifen derzeit fast immer Gesetze zum Schutz der Gläubigen oder der Jugend. »Offizielle Zensur braucht es da gar nicht mehr«, sagt Nasybullowa. Zumal man Künstler natürlich auch auf anderen Wegen an der kurzen Leine halten kann: mit horrenden Ateliermieten und absurden bürokratischen Auflagen, denen nur die ganz zähen Künstler trotzen. Artjom Loskutow ist einer von ihnen. An der Tür zur SOMAGalerie hängt eines seiner Plakate. Eine Kondensmilchdose im Warhol-Stil – süßes Verbot steht in Kyrillisch darauf und beschreibt das Verhältnis zwischen Loskutow und den Behörden. Seitdem der Nowosibirsker mit seinen »Monstrationen« – einer Mischung aus Kunstspektakel und Demonstration gegen die of-

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fizielle Maikundgebung – auch im Ausland bekannt ist, versuchen die Behörden immer wieder, seinen Straßenumzug zu verhindern. Dabei sind die Botschaften auf den Transparenten der »Monstranten« selten provokant, meist eher absurd. »Katzen züchten hält gesund«, steht darauf oder »Waschbären sind auch Leute«. Mit gut gelaunter Absurdität werden dadurch die üblichen politischen Parolen der Lächerlichkeit preisgegeben. Dieses Jahr war ein Slogan vieldeutiger und schaffte es deshalb von Plakaten bis auf T-Shirts und in die einschlägigen Foren im Netz. »Das hier ist nicht Moskau«, hatten Behördenvertreter Loskutow flapsig mitgeteilt, als sie den von ihm angemeldeten Umzug zunächst verboten. Ein paar Tage hatte man Loskutow im Gefängnis behalten und ihn dann, wie dieser Tage immer häufiger, zur temporären Flucht nach Moskau getrieben. Am Ende fand sein Umzug dennoch statt, und der Satz der Behörden blieb haften. »Das hier ist nicht Moskau« wurde zur widerständigen Selbstbehauptung. Denn vor kaum etwas hat Moskau derzeit mehr Angst, als vor selbstbewussten Regionen im Land. Und vor Menschen, die mutig genug sind, sich über die Autoritäten lustig zu machen. Ein Grund mehr für die jungen Macher von SOMA2, die subversive Kunstszene in Sibirien gegen alle Widerstände auszubauen, anstatt wie so viele in die Hauptstadt oder ins Ausland abzuwandern. Die Autorin arbeitet als Journalistin in Berlin und ist Mitglied der  Redaktion von »10 nach 8« bei »Zeit Online«.

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Gift und Gegengift Menschenrechte und Terror, Flucht und Migration sind in diesem Herbst auf der Frankfurter Buchmesse ein wichtiges Thema. Gesetzt haben es jedoch nicht die Veranstalter, sondern die Verlage mit der Auswahl ihrer Neuerscheinungen. Ein Überblick von Maik Söhler

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it dem Fokus »Grenzverläufe« zeigte die Frankfurter Buchmesse im vergangenen Jahr, dass sie auf aktuelle politische Themen durchaus reagieren kann. Und auch diesmal wird es vom 19. bis zum 23. Oktober zu zahlreichen Annährungen zwischen Politik und Literatur kommen. Nach dem Gastland des Jahres 2015, Indonesien, kommt in diesem Jahr der Ehrengast Flandern und die Niederlande eher unpolitisch daher. Umso wichtiger also, dass viele Verlage Neuerscheinungen im Programm haben, die sich dem Thema Menschenrechte in aller Welt widmen. Im Piper-Verlag erscheint Shirin Ebadis »Bis wir frei sind. Mein Kampf für Menschenrechte im Iran«. Die Friedensnobelpreisträgerin und ehemalige iranische Richterin legt nach ihrem vor zehn Jahren erschienenen Buch »Mein Iran« noch einmal den Fokus auf die Repression und die Menschenrechtsverletzungen in ihrem Heimatland. Ihr Werk ist ein im Exil geschriebenes Plädoyer für Freiheit und Gerechtigkeit. Die Edition Lammerhuber veröffentlicht den Bildband »Shaded Memories« von Ann-Christine Woehrl. Die Fotografin war in Kambodscha unterwegs und hat Orte fotografiert, die an den Massenmord unter der Diktatur Pol Pots und der Roten Khmer erinnern. Zwischen 1975 und 1978 starben knapp zwei Millionen Kambodschaner – das Regime ließ sie ermorden, verhungern oder an unbehandelten Krankheiten sterben. Erst der Einmarsch vietnamesischer Truppen beendete 1979 den staatlichen Terror. Tom Burgis, Auslandsreporter der »Financial Times«, schaut sich in »Der Fluch des Reichtums« (Westend-Verlag) die teilweise

boomenden Ökonomien in Afrika an und legt dabei auch die systematische Ausbeutung von Menschen und Rohstoffen offen, die stets zu Lasten der afrikanischen Staaten und ihrer Bevölkerungen gehen. Er recherchiert und analysiert Netzwerke der Korruption und zeigt, inwiefern insbesondere China und diverse afrikanische Despoten von der Ausweidung des Kontinents profitieren. Die Edition Nautilus veröffentlicht einen Band mit Reden des US-Bürgerrechtlers Martin Luther King unter dem Titel: »Ich bin auf dem Gipfel des Berges gewesen«. Er enthält unter anderem Analysen der Zeitgeschichte, etwa zu sozialen Brennpunkten in US-Großstädten oder zur Jugendbewegung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zu lesen sind aber auch zeitlose Plädoyers für soziales Engagement und gewaltlosen Widerstand gegen Rassismus. 1964 wurde Martin Luther King mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, 1968 fiel er einem Attentat zum Opfer.

Rassismus und Migration »Der Storch macht keinen Unterschied. Schülerbilder gegen Gewalt und Rassismus«, lautet ein interessanter Titel des Verlags Das Wunderhorn. Die Grafikerin Silvia Izi sammelt seit 1992 Bilder von Schülerinnen und Schülern aller Altersgruppen zum Thema »Gewalt und Rassismus« und hat daraus eine Wanderausstellung konzipiert, die von der Unesco-Kommission ausgezeichnet wurde. Eine Auswahl dieser Bilder liegt nun als Buch vor. Ebenfalls mit dem Thema Rassismus und Migration beschäftigt sich »Neue Heimat Deutschland«. Das Sachbuch des Autors und Regisseurs Michael Richter, das in der Edition Körber-Stiftung erscheint, ist ein Plädoyer für Migration. Zuwanderung werde dort zur Erfolgsgeschichte, wo die Integration von Flüchtlingen in Groß- und Kleinstädten tagtäglich gelinge. Der Autor präsentiert Konzepte und Projekte, führt Interviews mit Betroffenen und Akteuren der Zivilgesellschaft und wendet sich auch dem Arbeitsmarkt zu.

Enttäuschte Freundschaft. Szenen aus Birgit Weyhes Graphic Novel »Madgermanes«.

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Bereits im Sommer sind drei Bücher erschienen, die sich stärker mit den Fluchtursachen beschäftigen. Die beiden jordanischen Wissenschaftler Hassan Abu Hanieh und Mohammad Abu Rumman analysieren in ihrem Buch »IS und Al-Qaida« (Dietz-Verlag) Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen AlQaida, dem »Islamischen Staat« und anderen dschihadistischen Terrorgruppen sowie ihre Auswirkungen auf den Nahen Osten und damit auch auf Flucht und Migration. Gleich zwei Autorinnen – Maria Toorpakai mit »Das verborgene Mädchen« (Heyne) und Latifa Nabizada (»Greif nach den Sternen, Schwester«, Knaur) – beschreiben die Situation in Pakistan und Afghanistan. Noch immer üben die Taliban systematischen Terror in Afghanistan aus. Teile Pakistans dienen ihnen nicht nur als Rückzugsgebiet, sondern dort terrorisieren sie all jene, die ihnen als »Ungläubige« gelten. Toorpakai gab sich jahrelang als Junge aus, um der Diskriminierung und Entrechtung von Mädchen zu entgehen. Nabizada, einstige Kampfpilotin, später Abteilungsleiterin im afghanischen Verteidigungsministerium, erzählt vom Kampf der Frauen in Afghanistan, der Aggression der Taliban gegen Frauen und von ihrer Flucht nach Österreich, wo sie heute lebt.

Gegen die Angst

die Eltern Eribons, die einst Kommunisten waren und heute von Marine Le Pen begeistert sind. Eribon, Foucault-Biograf und selbst homosexuell, untersucht diesen Prozess und nimmt dabei insbesondere die Frage in den Blick, ob der Front National Rassismus und Homophobie schürt oder ob er nur jene Ressentiments und Klischees bedient, die bei den neuen FN-Wählern bereits vorhanden waren, als sie noch sozialistisch oder kommunistisch gewählt haben. Zuletzt noch ein Blick in die Geschichte der Migration. Der avant-verlag hat Birgit Weyhes Graphic Novel »Madgermanes« veröffentlicht, in der es um mosambikanische Vertragsarbeiter in der DDR geht. Die Zeichnerin, die ihre Kindheit in Ostafrika verbrachte, schaut auf den Arbeitskräftemangel in den letzten Jahren der DDR. Ende der siebziger Jahre kamen Tausende Arbeitssuchende aus Mosambik, das nach dem Ende des portugiesischen Kolonialismus ein sozialistischer Staat geworden war. Sie kamen in der Hoffnung auf Bildung und einen besseren Lebensstandard. Weyhe porträtiert drei dieser Migranten und ihr Leben in der DDR, das von Rassismus, Isolation und harter Arbeit, anstatt der erhofften Bildung geprägt war. Nach der Wende erfolgte in den meisten Fällen die erzwungene Rückkehr nach Mosambik und die Erkenntnis, jahrelang um 60 Prozent des Arbeitslohns betrogen worden zu sein. Internationale Autoren und Themen auf der Buchmesse, Stichwort  »Weltempfang«: http://buchmesse.de/de/im_Fokus/weitere_themen/ internationaler_dialog/#!prettyPhoto

Zeichnung: Birgit Weyhe / avant-verlag

Paul M. Zulehner, emeritierter Professor für Pastoraltheologie in Wien, stellt Menschenliebe und Solidarität der um sich greifenden Angst vor Migranten und Flüchtlingen in Europa entgegen. Sein Buch »Entängstigt euch!«, erschienen bei Patmos, appelliert an Christen wie Nichtchristen, Flüchtlingen human zu begegnen, Ängste zu überwinden und produktiv an einer »zukunftsfähigen Politik« mitzuarbeiten. Ein bemerkenswertes Buch ist auch Didier Eribons »Rückkehr nach Reims«, erschienen bei Suhrkamp. Mit einem außergewöhnlichen Ansatz wendet sich der französische Autor dem Phänomen zu, dass viele Stammwähler linker Parteien (der sozialistischen wie der kommunistischen Partei Frankreichs) zum rassistischen Front National abgewandert sind – darunter auch

»Nach dem Gastland 2015, Indonesien, kommt in diesem Jahr der Ehrengast der Buchmesse Flandern und die Niederlande eher unpolitisch daher.«

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Von Künstlern angestoßen. Zehntausende Kroaten gingen in diesem Sommer gegen den Rechtsruck in der Bildungspolitik auf die Straße.

Gehen oder ausharren Der rechtsradikale Kulturminister Kroatiens, Zlatko Hasanbegovic´, hat in seiner kurzen Amtszeit die Kulturlandschaft des Landes »gesäubert«. Nach seinem Rücktritt im Sommer hoffen oppositionelle Künstler um die Autorin und Dramatikerin Ivana Sajko nun auf Besserung. Von Doris Akrap

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Foto: Antonio Bronic / Reuters

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ls im März bekannt wurde, dass die kroatische Hafenstadt Rijeka im Jahr 2020 europäische Kulturhauptstadt wird, versammelten sich in der Hauptstadt Zagreb Bewohner und Kulturschaffende vor dem Mimara-Museum, um die Entscheidung der EU zu feiern. Nur einer nicht: Der kroatische Kulturminister. Er saß ein paar Ecken weiter in einer Kneipe und bestellte sein drittes Bier. Die Autorin und Dramatikerin Ivana Sajko erzählt diese Episode. Es ist eine der lustigeren, die den Horizont des rechtsradikalen Ministers Zlatko Hasanbegović illustrieren. In einem halben Jahr Amtszeit hatte der Kulturminister vollzogen, was ein Kommentator als »Blitzkrieg« gegen die kroatische Kultur bezeichnete. Hasanbegović selbst sprach von der Schaffung einer »einheitlichen Kultur«, einer »homogenen Gesellschaft« und das mittels einer Politik der »Lustration«. »Darüber haben wir damals alle gelacht. Wir wussten nicht mal, was das Wort genau bedeutete. Und dann plötzlich war sie da, die Lustration, die Säuberung«, erzählt Sajko. Zwischen dem Amtsantritt der »Patriotischen Koalition« im Januar und ihrem Rücktritt im Juni 2016 entließ Hasanbegović 70 Fernsehjournalisten und setzte den Direktor des staatlichen Fernsehens HRT ab. Er wandelte das dritte Programm, das dem Arte-Kanal ähnelt, zu einem Sender für katholische Inhalte um und versuchte dasselbe mit dem dritten Radio-Programm. Er strich die staatlichen Förderungen für alle Nichtregierungsorganisationen, die sich wie »Kultura Nova« für die Entwicklung der Zivilgesellschaft durch Kultur und Kunst einsetzen, und stellte die Finanzierung unabhängiger Publikationen, Festivals, Kulturveranstaltungen und Einrichtungen mit unliebsamen Mitarbeitern, wie das Nationaltheater in Rijeka, ein. Dies führte dazu, dass der künstlerische Leiter des Theaters, Oliver Frljic, der auch in Deutschland bekannt ist, seinen Job hinwarf. Das Geld ging stattdessen an Einrichtungen und Projekte, die von der sozialdemokratischen Vorgängerregierung kurzgehalten oder abgeschafft worden waren, wie das Museum für den Vaterländischen Krieg oder die von rechten Kreisen organisierte Gedenkfeier für die Opfer des Massakers von Bleiburg 1945. Revisionistische Filme, wie »Jasenovac – Die Wahrheit« über das gleichnamige kroatische KZ, in dem die Zahl der von der faschistischen UstaschaDiktatur Ermordeten relativiert wird, feierte Hasanbegović für ihren beispielhaften Umgang mit der kroatischen Geschichte. »Dieser Mann wurde installiert, um uns zu bekämpfen«, sagt die Zagreberin Ivana Sajko. Sie gründete gemeinsam mit Schriftstellern, Theatermachern, Designern, Künstlern und Intellektuellen im Frühjahr die Initiative »Kulturnjaci«, die die Absetzung des Kulturministers forderte. Der Aufruf wurde von Tausenden Menschen unterzeichnet, darunter waren auch internationale Intellektuelle wie Judith Butler, Etienne Balibar oder der ehemalige französische Kulturminister Jack Lang. Im ganzen Land wurden Veranstaltungen und öffentliche Lesungen organisiert, bei denen Umberto Ecos Essay über den »Ur-Faschismus« vorgestellt wurde sowie Werke von Autoren, die aus dem Lehrplan genommen werden sollten. Mit »uns« meint Sajko alle, die in Kroatien rassistische, chauvinistische und nationalistische Tendenzen offen thematisieren. Mit »uns« meint sie alle, die vom Kulturminister als »Parasiten« und »Vaterlandsverräter« eingestuft wurden. »Dem Minister ging es nicht darum, jegliche politische Kunst und Kultur zu zerstören, sondern die unabhängige«, sagt sie. Sajko ist für Theaterstücke wie »Monolog für Mutter Europa und ihre Kinder« oder »Žena bomba« bekannt, in denen sie Feminismus,

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Krieg und Patriotismus thematisiert, sowie für ihren Roman »Rio Bar« und ihre Essays. Viele der kroatischen Künstler, die sich den »Kulturnjaci« angeschlossen haben, sind weltweit erfolgreich – vom Theaterregisseur Ivica Buljan, der gerade in New York Pasolinis »Pylades« inszeniert, bis zur feministischen Künstlerin Sanja Ivekovic, der das MoMA eine Einzelausstellung widmete. Es ist wie überall: Unabhängige, politische Künstler sind einerseits die kulturellen Aushängeschilder des Landes, andererseits sind sie die ersten, die in politisch und ökonomisch fragilen Zeiten als Feindbild und Schuldige ausgemacht werden. »Leute wie mich, die die meiste Zeit im Ausland arbeiten, trifft es wenigstens ökonomisch nicht so hart. Aber für alle in Kroatien ist es die Hölle. Sie können nicht mehr arbeiten, müssen auswandern«, sagt Sajko. Den Rücktritt des Kulturministers konnten die »Kulturnjaci« zwar nicht erreichen. Ihre Aktionen wurden jedoch zum Auslöser für die größte Demonstration, die das Land seit der Unabhängigkeit gesehen hat. Mehr als 50.000 Menschen protestierten im Juni gegen die geplante Bildungsreform, was schließlich zum Rücktritt der gesamten Regierung führte. Ob die neugewählte Regierung unter der konservativen HDZ rückgängig macht, was Hasanbegović zerstört hat, ist fraglich. Auf die konservativ-populistische Staatspräsidentin Kolinda Grabar Kitarovic können die unabhängigen Kulturschaffenden jedenfalls nicht zählen. Nach einer Attacke auf den regierungskritischen Kolumnisten Ante Tomic hatte sie gesagt, er sei selbst schuld, schließlich habe er eine solche Reaktion mit seinen Texten »provoziert«. »Das ist dieselbe Haltung, mit der die Mörder von Charlie Hebdo entschuldigt wurden«, empört sich Sajko. Als die Botschafter der EU und der USA im April um ein Treffen mit Kitarovic baten, um die Sorgen wegen des Kulturministers zu besprechen, hielt die Präsidentin das für eine unerwünschte Einmischung in kroatische Angelegenheiten. Hasanbegović habe eine Atmosphäre des Misstrauens geschaffen, die von allein nicht wieder verschwinden werde, meint Sajko. »Der Graben zwischen dem patriotischen, katholischen und konservativen Teil der kroatischen Gesellschaft und dem säkularen, unabhängigen, sozialdemokratischen ist tiefer denn je«, sagt sie. Trotzdem warnt sie davor, Kroatien mit Ungarn zu vergleichen. Rechte Populisten wie Hasanbegović seien nicht nur auf dem Balkan, sondern in ganz Europa eine politische Option. Zugleich hält sie nichts davon, die kroatische Gesellschaft als faschistisch zu bezeichnen. Nach der Ära Tudjman habe es in Kroatien mit Ausnahme der kurzen Amtszeit von Hasanbegović keine staatliche Zensur gegeben. Selbst radikale Veranstaltungen wie das »Subversiv-Festival« in Zagreb seien staatlich gefördert worden. »Wäre Kroatien heute eine faschistische Gesellschaft, hätte es diese riesigen Demonstrationen gegen die Regierung nicht gegeben«. Natürlich, sie sei als »serbische Hure« beschimpft worden, ihre Kollegen habe man bespuckt und angefeindet. Aber insgesamt sei es, abgesehen von der Attacke auf Tomic, nicht zu Übergriffen gekommen. Ob und wie die unabhängige Kulturszene Kroatiens überleben wird, ist unklar. »Ob Leute wie ich noch eine Zukunft in diesem Land haben, wird von der neuen Regierung abhängen«, sagt Sajko. Sie lebt derzeit mit einem DAAD-Stipendium in Berlin. Und weil sie skeptisch ist, bleibt sie bei ihrer Zeitungslektüre nun öfter bei den Wohnungsanzeigen hängen. Die Autorin, gebürtige Kroatin, ist taz-Redakteurin, Schwerpunkt Kultur und Gesellschaft.

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Vorgaben, Widersprüche, Selbstzensur Drei Jahrhunderte, drei Modelle: Der USHistoriker Robert Darnton untersucht unterschiedliche Modelle der Zensur von Literatur. Im Mittelpunkt seiner Analyse stehen die Zensoren. Von Maik Söhler

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as hat der Königshof der Bourbonen in Versailles mit Erich Honecker zu tun? Beide leisteten sich Institutionen, die auf die Sichtung, Überprüfung und Zensur literarischer Werke spezialisiert waren. Robert Darnton, Professor für Geschichte an der Harvard University, hat mit »Die Zensoren« ein Sachbuch vorgelegt, das dem Wirken von Zensoren nachgeht. Vom vorrevolutionären Frankreich des 18. Jahrhunderts über das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert im britisch beherrschten Indien bis zu den letzten Tagen der DDR reicht seine Untersuchung. »Zensur kennt kein allgemeingültiges Modell«, schreibt Darnton. In seinen Schlussfolgerungen heißt es, das Buch wolle »erklären, wie Zensoren ihre Aufgabe erfüllten, wie Zensur konkret vonstattenging und wie sie innerhalb des jeweiligen autoritären Systems funktionierte«. Das gelingt ihm gut. Unter dem Ancien Régime wachte eine von Jahr zu Jahr größer werdende Schar an Beauftragten des Königshauses über das »Druckprivileg«, meist schrieben sie eine »königliche Empfehlung« für ein Buch und gaben damit ihre Genehmigung zum Druck. Die meisten Autoren erhielten die Approbation. Verbote gab es zumeist wegen zotiger oder pornografischer Inhalte, selten wegen Kritik am Hof oder Seitenhieben auf den Klerus. Denn die Zensoren standen als Angehörige der Universitäten philosophisch-aufklärerischen Gedanken oft wohlwollend gegenüber. Wurde ein Werk einmal nicht freigegeben, so gelangte es in der Schweiz oder in

den Niederlanden in den Druck und kam von dort nach Frankreich. Staatliche Repression im Frankreich des 18. Jahrhunderts setzte genau an dieser Stelle an: Drucker und Händler mussten teils lange Kerkerstrafen in der Bastille verbüßen. In Britisch-Indien dauerte es jahrelang, bis bengalische Werke der Literatur überhaupt erfasst wurden. Zum britischen Imperialismus des 19. Jahrhunderts gehörte ein liberaler Geist, der von Zensur nur wenig wissen wollte. Allein nach Aufständen oder Terrorakten versuchten die britischen Statthalter, indische Druckerzeugnisse zu kontrollieren. Statt Verbote auszusprechen, wurden Gerichtsverfahren angestrengt, denen beim Verdacht der »Aufwiegelung« auch Repression folgen konnte. Als Zensoren fungierten anfangs nur Briten, später Briten und Inder, die mehr daran interessiert waren, die indische Literatur zu fördern, anstatt sie zu hemmen. In der DDR wiederum etablierte sich schnell ein Zensursystem, das dem Kulturministerium unterstand, aber auch kulturpolitischen Abteilungen der SED Rechenschaft ablegen musste. Da die DDR-Verfassung Zensur verbot, sprachen die Zensoren, die Darnton nach dem Fall der Mauer befragte, davon, es sei ihnen darum gegangen, »den Prozess zu überwachen, durch den aus Ideen Bücher würden«. Es herrschte ein komplexes System der Zensur zwischen Staat, Partei, Verlagsleitern, Lektoren und Autoren, das überwiegend von der Selbstzensur der Autoren gekennzeichnet war. Darntons Buch hat den Mangel, dass es unter Zensur allein staatliche Akte fasst, der Zensurbegriff zu eng gesteckt ist. Dennoch: Der vergleichende Ansatz, das gründliche Quellenstudium und der soziologische Blick auf Funktionen und Beschränkungen der Kontrolle von Literatur machen aus »Die Zensoren« ein mehr als nur lesenswertes Werk. Robert Darnton: Die Zensoren. Wie staat liche Kontrolle die Literatur beeinflusst  hat. Aus dem Englischen von Enrico  Heinemann. Siedler, München 2016. 368 Seiten, 24,99 Euro.

Banalität der Zensur. Ehemalige Stasi-Zentrale der DDR, Normannenstraße, Berlin.

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Frömmler mit Macht

Knappes Wasser, große Kämpfe

Nun hat er also auch noch einen Militärputsch überstanden: Nichts scheint den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan aufhalten zu können. Im Gegenteil: Mit jedem Problem, das er bewältigt, wächst seine Macht – egal, ob als Präsident, Ministerpräsident oder Bürgermeister. Das betont auch die Journalistin Çiğdem Akyol in ihrer Biografie »Erdoğan«, die deutlich vor dem Putschversuch erschienen und dennoch aktuell ist. Sie charakterisiert Erdoğan als einen größenwahnsinnigen islamischen »Frömmler« mit einer gewaltigen Wählerbasis unter ebenso frommen und konservativen Wählerinnen und Wählern. Ein Politiker, der eine »Gehorsamsgesellschaft« will: »Sie soll kaufen, konsumieren, hinnehmen und nicht gegen seine Vorstellungen aufbegehren. Vor allem will er aber die uneingeschränkte Macht.« Dabei seien ihm undemokratische Mittel, antiliberales Handeln, nationalistische Kampagnen und Repression gegen Andersdenkende recht, und die EU könne nicht viel machen, weil die Türkei ihr Flüchtlinge abnehme. Akyols gut recherchiertes und zu lesendes Buch hat eine Schwäche: Nur wenig kommt Erdoğans ökonomischer Erfolg zur Sprache, der aus der verarmten Türkei am Rande der Weltwirtschaft einen prosperierenden Akteur der globalen Ökonomie gemacht hat. Erdoğans Machtfülle mag derzeit in der Türkei so gut wie unbeschränkt sein, seine internationalen Handlungsmöglichkeiten sind es nicht.

2015 musste der US-Bundesstaat Kalifornien seine Bürger und die Landwirtschaft zum Wassersparen auffordern und dies regulieren – so knapp waren die Ressourcen damals. Seither ist die Situation nicht viel besser geworden. Ähnlich ist die Situation in den angrenzenden Bundesstaaten Arizona und Nevada, auch Texas und New Mexiko sind betroffen. Kein Wunder also, dass der US-Schriftsteller Paolo Bacigalupi seinen Roman »Water«, der vom Krieg um Wasser handelt, in genau diesen Staaten spielen lässt. Texas ist in dem Thriller bereits ausgetrocknet. Millionen Menschen sind auf der Flucht in Regionen, in denen man noch leben kann. Wer genug Geld hat, zieht in den Norden oder in sogenannte Arkologien, luxuriöse »Gated Communities« mit funktionierender Wasserversorgung. Doch die meisten Bewohner des Südwestens der USA können sich das nicht leisten. Die Verteilungskämpfe um Wasser und um die Rechte am Colorado River werden von Bundesstaaten, Städten, Unternehmen, Milizen und kriminellen Gangs mit allen Mitteln geführt – ökonomisch, politisch, paramilitärisch, geheimdienstlich und terroristisch. Bacigalupi entwickelt eine spannende Handlung, in deren Mittelpunkt ein Agent aus Nevada und eine Journalistin aus Arizona stehen. Eine gelungener Roman über das Menschenrecht auf Wasser.

Çiğdem Akyol: Erdoğan. Die Biografie. Herder, Freiburg/Basel/Wien 2016. 384 Seiten, 24,99 Euro.

Menschenrechte im Mikrokosmos

Paolo Bacigalupi: Water. Der Kampf beginnt. Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Müller. Blessing, München 2016. 464 Seiten, 19,99 Euro.

Jagdwaffe Computer Christian kontaktiert Lara auf Facebook, die beiden beginnen zu chatten. Lara verliebt sich in den charmanten, gutaussehenden Jungen und hofft, dass er sie zum Highschool-Ball einlädt. So weit, so normal. Doch der Schein trügt: Christian existiert nicht; er ist Teil eines Rachefeldzuges. Lara ahnt nichts. Als ‚Christian’ aus scheinbar heiterem Himmel beginnt, sie anzufeinden und öffentlich fertigzumachen, ziehen seine fiesen Kommentare unzählige Likes und weitere verletzende Kommentare an. Nach dem Grund gefragt, sendet er nur eine kurze, verstörende Antwort: »Du bist so eine Loserin. Die Welt wäre besser ohne dich.« Laras ohnehin instabiles Leben bricht zusammen – das Mädchen unternimmt noch am selben Tag einen Selbstmordversuch. Sarah Darer Littmans Jugendroman kreist um die Themen Cybermobbing und Mobbing in der Schule. Dabei nimmt der Text nicht nur Lara in den Blick. Auch ihre kleine Schwester sowie die Mobberin und deren Bruder erzählen ihre Sicht der Dinge. Die vier unterschiedlichen Perspektiven zeichnen ein vielschichtiges Bild, beleuchten Gefühle und Hintergründe, entlarven die Ichbezogenheit der Teenager, führen Gedankenlosigkeit und Geltungsbedürfnis unkommentiert vor. Und sie machen klar, wie sehr Wahrnehmungen mitunter auseinanderklaffen und welch verheerende Auswirkungen Mobbing haben kann – für Opfer, Täter und deren Familien.

Misha Glenny: Der König der Favelas. Brasilien zwischen Koks, Killern und Korruption. Aus dem Englischen von Dieter Fuchs. KlettCotta/Tropen, Stuttgart 2016. 409 Seiten, 22,95 Euro.

Sarah Darer Littman: Die Welt wär besser ohne dich.  Aus dem Amerikanischen von Franziska Jaekel. Ravensburger, Ravensburg 2016. 384 Seiten, 14,99 Euro.  Ab 12 Jahren.

Foto: Marcus Hoehn / laif

Was hat die Biografie eines Verbrechers mit Menschenrechten zu tun? Auf den ersten Blick nichts, auf den zweiten Blick und nach der Lektüre von Misha Glennys »Der König der Favelas« viel. Der britische Journalist widmet sich seit Jahren dem Thema organisiertes Verbrechen und hat sich in seinem neuen Buch den Aufstieg und Fall von Antonio Lopes, genannt Nem, vorgenommen. Nem war bis zu seiner Verhaftung im Jahr 2011 einer der einflussreichsten Drogenhändler und Herrscher über die Favela Rocinha in Rio de Janeiro. Genau dort spielt der überwiegende Teil des Buches, das weit mehr ist als eine Gangsterbiografie. »Brasilien zwischen Koks, Killern und Korruption« lautet der Untertitel und wo diese drei Faktoren zusammentreffen, haben es Menschenrechte schwer. Glenny schreibt über Armut und Elend in den Favelas, mordende Banden, korrupte Polizisten, fehlende Chancen, zu viele Waffen, eine sich von den Bedürfnissen vieler Bürger immer weiter entfernende Politik und Hunderte Tote. Dabei wird der soziale Mikrokosmos der Favelas sichtbar und das jahrzehntelange Scheitern von Staat und Gesellschaft, die erst spät begreifen, dass Repression Sozialpolitik nicht ersetzen kann und dass die Polizei nicht die Lösung, sondern Teil des Problems ist. Das Buch zeigt die Verfehlungen des »war on drugs« präzise auf.

Bücher: Maik Söhler, Marlene Zöhrer BÜCHER

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Ravende Iraner

Legerer Tuareg-Rock

Tanzen ist für sie ein Menschenrecht: Arash und Anoosh sind Techno-DJs in Teheran. Aber wenn sie auflegen wollen, ist das eine organisatorische Tortur: Weil Tanzen zu DJ Hell und Sven Väth verboten ist, ziehen die Raver auf komplizierten Routen in die Wüste, um dort drei Tage abzufeiern. Und um ihre Musik veröffentlichen zu können, müssen sie erst mal zwei Tage mit Terminen im Kulturministerium verbringen … Regisseurin Susanne Regina Meures ist ein verrücktes Generationenporträt gelungen. Im Iran wird Jugendkultur äußerst restriktiv ausgelegt. Dabei zeigen sich die Kulturbeamten vor der Kamera recht offenherzig und erläutern die Regeln. Das mutet mitunter komödiantisch an, etwa wenn es um das Design einer CD-Hülle geht. Amüsieren wollen sich die Raver trotzdem. Als Anoosh dann aber festgenommen wird, scheinen die beiden am Ende. Ein Anruf vom »Lethargy-Festival« in Zürich, einer der weltweit größten Techno-Partys, hilft: Die iranischen DJ-Profis erhalten ein Ausreisevisum und dürfen die Schweizer Berge rocken … Vor fünf Jahren sei sie an einem Artikel über Technopartys in Persiens Wüste hängengeblieben, sagt Meures. Die Vorstellung von Festivals in einem Land mit einem der repressivsten Regime der Welt hat sie fasziniert. Über Facebook nahm sie Kontakt auf und flog in den Iran. Herausgekommen ist eine Dokumentation über eine junge Generation, die wegen jeder Kleinigkeit um Erlaubnis fragen muss.

Imarhan, so heißt das Debütalbum der gleichnamigen Band. Das Wort bedeutet in Tamashek, der Sprache der Tuareg, so viel wie: Die, die mir etwas bedeuten. Damit können Freunde oder die Familie gemeint sein oder allgemein: die Menschen, um die man sich kümmert. Der Titel des Albums ist ein Statement der Solidarität mit allen, die wie die Mitglieder der Band als Flüchtlinge auf die Welt gekommen sind. Sechs Musiker gehören zu der Band um den Sänger und Gitarristen Iyad Moussa Ben Abderahmane alias Sadam, die für eine neue Generation des Tuareg-Rock stehen. Sie stammen aus dem südalgerischen Ort Tamanrasset, einer Oasenstadt in der Sahara. Hier leben Tuareg, die in den vergangenen 20 Jahren vor dem Bürgerkrieg in Mali geflüchtet sind. Seit Jahrzehnten leben die Tuareg über mehrere Länder verstreut – Mali, Niger, Algerien und Libyen –, viele träumen von einem eigenen Staat. Musikalisch knüpfen Imarhan an Pioniere wie Tinariwen an, die den Wüstenrock der Tuareg weltweit bekannt gemacht haben. Sie führen quasi eine Familientradition fort – Sadam ist ein Cousin des Tinariwen-Bassisten Eyadou Ag Leche, der die Band bei der Aufnahme unterstützt hat. Imarhan verschmelzen schnelle und trockene Gitarrenriffs mit traditionellen Tuareg-Weisen und funkigen Bässen, Reggae und Soul klingen an. Anders als Tinariwen, die gerne in den traditionell indigoblauen Gewändern der Tuareg auf die Bühne steigen, treten Imarhan lieber in Jeans, Shirts und Turnschuhen auf. Genauso leger packen sie auch den Tuareg-Rock in ein modernes, zeitgemäßes Gewand.

»Raving Iran«. CH 2016. Regie: Susanne Regina  Meures. Kinostart: 29. September 2016

Imarhan: Imarhan (City Slang)

Greencard-Soldaten Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen brachte den Gedanken neulich ins Gespräch: die Öffnung der Armee für Legionäre, für Ausländer. Die Inspiration dazu kommt aus den USA: Dort können Zugewanderte schneller die US-Staatsbürgerschaft erlangen, wenn sie in die Armee eintreten. Denn wer überall Militäreinsätze führt, der braucht auch Personal. Und andersherum: Wer Kopf und Kragen riskiert, wird bevorzugt – wenn auch vielleicht zu einem hohen Preis. Denn den beliebten Pass erhält man womöglich nur als Toter. Wie es ist, ein »Greencard-Soldier« zu sein, spielt Regisseur Rafi Pitts in seinem Film »Soy Nero« durch: Der junge Nero ist ein Mexikaner aus Los Angeles. Irgendwann haben ihn die Behörden abgeschoben; nun ist er aber wieder da und hört sich die Erfolgsstory seines Bruders in dessen Protzvilla an. Ganz so stimmt dessen Geschichte aber nicht, denn der Reichtum gehört anderen. Und so muss sich Nero alsbald als Wachposten im irakischen Kriegsgebiet verdingen. Der Film mit vielen überraschenden Wendungen und eindrucksvoller Bildarbeit war dieses Jahr für den Amnesty-Filmpreis auf der Berlinale nominiert. Kein Wunder: Die Filmgroteske spiegelt die absurde Wirklichkeit. Eindrucksvoll sind etwa die sportlichen Szenen am Grenzzaun zwischen Mexiko und den USA: Der dient mitunter als – wenn auch sehr hohes – Volleyballnetz. »Soy Nero«. D/F/MEX 2016. Regie: Rafi Pitts,  Darsteller: Johnny Ortiz, Rory Cochrane.  Kinostart: 10. November 2016

Munterer Calypso Der Calypso war in seiner Anfangszeit genau das alternative Medium, als das HipHop in den USA erst viele Jahre später mit der Metapher vom »schwarzen CNN« bezeichnet werden sollte. Die Calypso-Sänger packten in ihren launigen Liedern auch heiße Eisen wie Korruption, Ausbeutung und Prostitution an. Als Trinidad im Zweiten Weltkrieg eine zentrale Rolle im U-Boot-Krieg der Alliierten spielte, erlebte das Genre seine Blütezeit. Die heute 76-jährige Calypso Rose drückte dem Genre seit den 1950er Jahren ihren Stempel auf. Dem unverblümten Sexismus manch ihrer Kollegen setzte sie eine weibliche Perspektive entgegen, 1977 gewann sie als erste Frau den Wettbewerb »Trinidad Road March«. In den siebziger Jahren bewirkte sie sogar eine Gesetzesänderung: Weil sie in ihrem Song »No Madame« den Hungerlohn für Hausangestellte anprangerte, wurde auf Trinidad und Tobago ein Mindestlohn eingeführt. Auf »Far from Home« singt sie über ihre ureigenen Themen: Im Song »Abatina« wendet sie sich gegen häusliche Gewalt, in »I Am African« feiert sie ihre Abstammung vom afrikanischen Kontinent und auf »Human Race« erteilt sie jeder Form von Rassismus eine Absage. Als Produzent stand ihr Manu Chao zur Seite, der einige Lieder mit seinem typischen Reggae-Flow unterlegt hat; auf drei Songs begleitet er sie im Duett. Ein gut gelauntes Alterswerk. Calypso Rose: Far from Home (Because/Warner)

Film: Jürgen Kiontke | Musik: Daniel Bax 62

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Coole Absurditäten. Szene aus »Welcome to Norway«.

Willkommen im Frost Rune Denstad Langlo gelingt mit »Welcome to Norway« eine eiskalte Komödie zum Thema Flucht. Von Jürgen Kiontke

B

rauchen die was zu essen?« Der rassistische Hotelbesitzer Primus (Anders Baasmo Christiansen) wittert zwar das ganz große Geschäft, aber das löst natürlich nicht die vielen Detailfragen. »Die«, das sind Flüchtlinge. Und Primus will mit ihnen sein marodes Hotel irgendwo in der norwegischen Ödnis nahe des Polarkreises wiederbeleben – erst Fremde einquartieren, dann Subventionen kassieren. Dann kommen sie: Busladungen voller Menschen aus verschiedenen Ländern, wenn nicht Kontinenten. Es dauert keine fünf Minuten, dann werden die kleinen Schwachstellen in der Bruchbude des erfolglosen Hoteliers gnadenlos offenbar. Es gibt nicht nur nichts zu essen, zubereiten könnte man es auch nicht. Die Anlage ist ohne Strom. Die Beauftragten der Kommune wollen das Ausbeutungsprojekt nicht genehmigen, aber entsorgen schon einmal alte Bücher, indem sie dort eine Bibliothek einrichten. Dabei wollen die Geflüchteten nur an die Playstation. Keine Unterstützung, kein Geld – die Menschen sind trotzdem da. Die Ehekrise des Hoteliers und der Krach mit Tochter Oda (Nini Kristiansen) auch. Die Ausgangslage scheint günstig für Rune Denstad Langlos Komödie »Welcome to Norway«. Als Slapstick-Stoff ist die Asylthematik ein gefährliches Pflaster, zu schnell können fade Gags nach hinten losgehen, kann das Geschehen in jovialen Paternalismus abkippen. Langlo kontert die dramaturgischen Problemstellungen mit einem speziellen Blick auf das Zwischenmenschliche: Die Spannungen dieser Welt konzentrieren sich in den Auseinanderset-

FILM & MUSIK

zungen der Gäste. Schon die Frage, wer mit wem die Zimmer bezieht, endet in existenziellen Sackgassen: Christen und Muslime? Geht nicht. Schiiten und Sunniten? Undenkbar. Frauen und Männer sowieso nicht. Bald hängen die ersten Transparente an den Fenstern: »Guantanamo« steht darauf. Es ist Winter und das Norwegen in diesem Film ist eine kalte, leere Welt. Flüchtling Zoran (Slimane Dazi) sagt: »Ich bin seit zehn Jahren auf der Flucht. So etwas habe ich noch nicht erlebt.« Der gelernte Elektroingenieur setzt schließlich, mürrisch wie er ist, die Stromversorgung in Gang. Auf der Basis des Absurden entstehen jede Menge neuer Koalitionen: Oda heiratet Mona (Elisar Sayegh) aus dem Libanon, Primus beginnt eine Affäre mit der Kommunalsachbearbeiterin, um an das Geld zu kommen. Doch wie alles andere geraten auch die Liebesdinge außer Kontrolle, während sich stattdessen die Selbstorganisation der Flüchtlinge als hilfreich erweist. Langlos Film zeichnet sich dadurch aus, immer noch eine Wendung, einen Ausweg bereit zu haben, immer noch etwas draufzusetzen. Einen ersten Test konnte der Film beim Filmfest in Emden bestehen, wo er den mit 7.000 Euro dotierten DGBPublikumspreis »Die Sinne« gewann. Der Preis würdigt in besonderer Weise gesellschaftlich engagierte Filme. »Welcome to Norway« handelt vom gegenwärtigen Zustand Europas. Er versucht, zu zeigen, wer hier wie unterwegs ist. Dabei werden weder Härten noch Schwierigkeiten verschwiegen. Der Film ist ein Plädoyer, im Menschen den Menschen zu sehen. Er stellt sich nicht über die Gegenwart, er lässt ihr Platz. »Welcome to Norway«. NOR 2016. Regie: Rune Denstad Langlo, Darsteller: Anders Baasmo Christiansen, Olivier  Mukuta. Kinostart: 13. Oktober 2016

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Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt oder man lässt sie »verschwinden«. AMNESTY INTERNATIONAL veröffentlicht regelmäßig an dieser Stelle drei Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden. Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie bitte eine digitale Kopie an: info@amnesty.de

AMNESTY INTERNATIONAL Zinnowitzer Straße 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 Fax: 030 - 42 02 48 - 488 E-Mail: info@amnesty.de www.amnesty.de Spendenkonto Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE 233 702050 0000 8090100 BIC: BFSWDE33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00)

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BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN

PHILIPPINEN DARIUS EVANGELISTA Am 5. März 2010 wurde Darius Evangelista unter Raubverdacht festgenommen. Zeugen gaben an, Zivilkräfte hätten ihn zu einer Polizeiwache in Tondo in Manila gebracht. Mithäftlinge hörten aus dem Raum, in den er geführt wurde, Schmerzensschreie. Später sei Evangelista in das Büro eines hochrangigen Polizisten gebracht worden. Als man ihn abführte, soll ein Polizist gesagt haben: »Seht zu, dass ihr ihn loswerdet«. Dies war das letzte Mal, dass Evangelista lebend gesehen wurde. Im August 2010 wurde im Fernsehen ein Video ausgestrahlt, das Darius Evangelista nackt auf dem Boden liegend und sich vor Schmerzen krümmend zeigte, während ein Polizeibeamter immer wieder an einer Schnur zog, die an seinen Genitalien befestigt war. Andere Personen, darunter auch uniformierte Polizeibeamte, sahen zu. Wegen der großen medialen Aufmerksamkeit leitete die Behörde für interne Polizeiangelegenheiten eine Ermittlung ein. Lediglich ein hochrangiger Polizist wurde wegen Befehlsverantwortung aus dem Dienst entlassen, zwei weitere Polizisten wurden für 60 Tage suspendiert. Im August 2011 strengte das Justizministerium ein Verfahren gegen sieben Tatverdächtige an, nachdem die Familie von Evangelista Anzeige erstattet hatte. Bis heute haben sich drei der Verdächtigen gestellt, befinden sich jedoch auf freiem Fuß. Eine weitere verdächtige Person wurde festgenommen. Alle Angeklagten plädieren auf nicht schuldig, das Verfahren dauert an. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den philippinischen Justizminister, in denen Sie ihn bitten, sicherzustellen, dass das Verfahren gegen die Personen, die verdächtigt werden, Darius Evangelista gefoltert zu haben, abgeschlossen wird und innerhalb angemessener Zeit ein Urteil ergeht. Bitten Sie ihn zudem, das Ausmaß und das Fortbestehen von Folter und anderweitigen Misshandlungen durch die philippinische Polizei öffentlich anzuerkennen und derartige Taten uneingeschränkt zu verurteilen. Fordern Sie ihn auf, der Polizei deutlich zu signalisieren, dass Folter und anderweitige Misshandlungen von Gefangenen ausnahmslos verboten sind und nach philippinischem Recht und dem Völkerrecht Verbrechen darstellen. Schreiben Sie in gutem Filipino, Englisch oder auf Deutsch an: Vitaliano Aguirre II Department of Justice, Padre Faura Street Ermita, Manila 1000, PHILIPPINEN (Anrede: Dear Secretary Aguirre / Sehr geehrter Herr Minister) E-Mail: communications@doj.gov.ph Fax: 00 63 - 523 95 48 Twitter: @DOJPH (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,90 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Philippinen I. E. Frau Melita S. Sta.Maria-Thomeczek Haus Cumberland, 2. Etage, Kurfürstendamm 194, 10707 Berlin Fax: 030 - 873 25 51 E-Mail: info@philippine-embassy.de

AMNESTY JOURNAL | 10-11/2016


Der Journalist Eskinder Nega wurde im September 2011 festgenommen, nachdem er regierungskritische Artikel geschrieben hatte, in denen er den Schutz der Meinungs- und Vereinigungsfreiheit forderte. Im Juni 2012 wurde er wegen terroristischer Straftaten schuldig gesprochen und einen Monat später zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt. Eskinder Nega ist den äthiopischen Behörden schon lange ein Dorn im Auge. Er wurde bereits acht Mal aufgrund seiner Arbeit als Journalist festgenommen und strafrechtlich verfolgt. Sowohl Eskinder Nega als auch seine Ehefrau Serkalem Fasil, die ebenfalls Journalistin ist, waren zwischen 2005 und 2007 inhaftiert. Serkalem Fasil brachte im Gefängnis ihren Sohn Nafkot zur Welt. Vor seiner Festnahme 2011 hatte Eskinder Nega eine Rede bei einer öffentlichen Veranstaltung gehalten. Er sprach dabei über die Notwendigkeit, friedlich für Reformen zu demonstrieren, und brachte seine Hoffnung zum Ausdruck, dass »dieses Jahr das Jahr sein könnte, in dem Äthiopier nicht mehr aufgrund ihrer politischen Überzeugungen inhaftiert werden«. Amnesty International betrachtet Eskinder Nega als gewaltlosen politischen Gefangenen und geht davon aus, dass er nur aufgrund seiner friedlichen und rechtmäßigen Tätigkeit als Journalist inhaftiert wurde. Das Gerichtsverfahren gegen ihn wies grobe Unregelmäßigkeiten auf. So wurde ihm der Zugang zu seinem Rechtsbeistand und seinen Familienangehörigen zu Beginn seiner Inhaftierung verweigert. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Ministerpräsidenten von Äthiopien, in denen Sie ihn bitten, dafür zu sorgen, dass alle Anklagen gegen Eskinder Nega fallen gelassen werden und er unverzüglich und bedingungslos freigelassen wird, da er nur inhaftiert ist, weil er auf friedliche Weise sein Recht auf freie Meinungsäußerung ausgeübt hat. Fordern Sie ihn zudem auf, sicherzustellen, dass die Behörden nicht länger strafrechtliche Maßnahmen einsetzen oder mit diesen drohen, um Kritiker zum Schweigen zu bringen. Bitten Sie ihn außerdem, dafür zu sorgen, dass Gesetze, welche die Rechte auf Meinungs- und Vereinigungsfreiheit rechtswidrig einschränken, überarbeitet werden. Schreiben Sie in gutem Amharisch, Englisch oder auf Deutsch an: Hailemariam Desalegn, Prime Minister P.O. Box 1031 Addis Ababa, ÄTHIOPIEN (Anrede: Dear Prime Minister / Sehr geehrter Herr Ministerpräsident) Fax: 00 251 - 11 122 62 92 (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,90 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Demokratischen Bundesrepublik Äthiopien S. E. Herr Kuma Demeksa Tokon Boothstraße 20 a, 12207 Berlin Fax: 030 - 772 06 24 oder 030 - 772 06 26 E-Mail: Emb.ethiopia@t-online.de

BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN

Foto: privat

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ÄTHIOPIEN ESKINDER NEGA

IRAN ABDOLFATTAH SOLTANI Der Menschenrechtsanwalt Abdolfattah Soltani musste am 7. Juni 2016 in das Teheraner Evin-Gefängnis zurückkehren, nachdem er wegen des Todes seiner Mutter vorübergehend entlassen worden war. Er verbüßt derzeit eine 13-jährige Haftstrafe, zu der er wegen seiner Menschenrechtsarbeit verurteilt wurde. Der gewaltlose politische Gefangene wird im Gefängnis nicht angemessen medizinisch versorgt. Am 17. Mai war Abdolfattah Soltani vorübergehend Freigang gewährt worden, nachdem seine Mutter am selben Tag gestorben war. Zuvor hatte er mehrmals vorübergehende Haftentlassung beantragt, um Zeit mit seiner sterbenden Mutter verbringen zu können, doch die Gefängnisbehörden hatten die Entscheidung stets hinausgezögert. Da er im Gefängnis nicht angemessen medizinisch versorgt wird, befürchten seine Ärzte, dass Soltani einem erhöhten Herzinfarktrisiko ausgesetzt ist. Die Gefängnisbehörden haben sich in der Vergangenheit wiederholt geweigert, Soltani aus gesundheitlichen Gründen zu entlassen oder ihn in ein Krankenhaus zu verlegen – trotz ärztlichen Anratens. Abdolfattah Soltani leidet zudem an einem Bandscheibenvorfall und an Verdauungsstörungen, weshalb er 2013 in die Notaufnahme eingeliefert werden musste. Seine Frau beantragt fast wöchentlich eine vorübergehende Haftentlassung aus gesundheitlichen Gründen. Diese Anträge sind von den Behörden bisher jedoch routinemäßig ignoriert worden. Soltani wurde 2012 unter anderem wegen »Verbreitung von Propaganda gegen das System« und »Gründung einer illegalen Gruppe« zu 13 Jahren Haft verurteilt. Die Vorwürfe beziehen sich auf seine Menschenrechtsarbeit und seine Rolle als Gründungsmitglied des seit 2008 verbotenen Zentrums für Menschenrechtsverteidiger (CHRD). Seit seiner Festnahme im September 2011 befindet er sich im Teheraner Evin-Gefängnis. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an die Oberste Justizautorität des Iran und bitten Sie darum, Abdolfattah Soltani umgehend und bedingungslos freizulassen, da er ein gewaltloser politischer Gefangener ist, der nur aufgrund der friedlichen Wahrnehmung seiner Rechte auf Meinungs- und Vereinigungsfreiheit und seiner Arbeit als Anwalt inhaftiert ist. Bitten Sie außerdem darum, dass Abdolfattah Soltani umgehend Zugang zu angemessener medizinischer Versorgung außerhalb des Gefängnisses erhält. Schreiben Sie in gutem Persisch, Englisch oder auf Deutsch an: Oberste Justizautorität Ayatollah Sadegh Larijani (Anrede: Your Excellency / Exzellenz) (Bitte senden Sie Ihre Appelle über die Botschaft, da wir derzeit davon ausgehen, dass die Briefe auf diesem Weg sicher beim Empfänger ankommen.) Botschaft der Islamischen Republik Iran S. E. Herrn Ali Majedi Podbielskiallee 65–67, 14195 Berlin Fax: 030 - 84 35 35 35 E-Mail: info@iranbotschaft.de (Standardbrief: 0,70 €)

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Foto: Marla König / Amnesty

»In Summe schaffen wir gerade Menschenrechte ab.« Amnesty-Aktion in Wien am 2. September 2016.

»BLEIBT WACHSAM, WERDET LAUT« Amnesty-Mitglieder protestierten in Wien gegen geplante Verschärfungen im Asylrecht. Von Louis Leible-Hammerer 14 Meter gegen den Populismus. 14 Meter für das Recht auf Asyl. 14 Meter Menschlichkeit. Auf dem Wiener Karlsplatz reckten Amnesty-Aktivisten am 2. September eine Rolle mit Namen und Unterschriften Tausender Unterstützer in die Höhe. Der Grund für ihren Protest: Das österreichische Kabinett plant weitreichende Verschärfungen im Asylrecht. Am 6. September wurde im Ministerrat ein Bündel von Maßnahmen vorgeschlagen. Werden sie umgesetzt, würden die Rechte von Menschen auf der Suche nach Schutz erheblich einschränkt. Unter anderem könnten illegal Eingereiste strafrechtlich belangt oder in Internierungslager verlegt werden. Um ein Zeichen gegen die Asyl-Sonderverordnung zu setzen,

die nun zur Begutachtung vorliegt, versammelten sich Hunderte Menschen auf dem Karlsplatz und forderten die österreichische Regierung dazu auf, das Recht auf Asyl nicht anzutasten. »In Summe schaffen wir gerade Menschenrechte in Österreich ab, oder noch viel ärger, wir machen Menschenrechte zu einem Luxusprodukt für die Reichen«, so Heinz Patzelt, Generalsekretär von Amnesty International in Österreich. Im Zuge der Übergabe der Appelle betraten Schutzbedürftige selbst die Bühne; »Die Schweigende Mehrheit«, ein Kollektiv von Künstlern, führte das Stück »Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene« auf, am Ende gab es lang anhaltenden Applaus. Für die Leiterin der Kampagne »#menschenrechtasyl«, Sandra Iyke, ist die Botschaft klar: »Bleibt wachsam, werdet laut. Wir wissen, ganz viele da draußen unterstützen es nicht, dass die Menschenrechte eingeschränkt werden.«

PFAD DER MENSCHENRECHTE

FRIEDENSPREIS FÜR ULMER BEHANDLUNGSZENTRUM

16 Tafeln zieren nun den Wegesrand der Elbhalbinsel Geesthacht. Darauf zu sehen sind die Artikel der 1948 von den Vereinten Nationen verabschiedeten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, illustriert mit Bildern. Ins Leben gerufen hat das Projekt die Geesthachter Amnesty-Gruppe. Nach zweijähriger Planung wurde der »Pfad der Menschenrechte« am 18. August eröffnet. »Das, was wir hier jetzt aufgebaut haben, ist vergleichbar mit einem Waldlehrpfad. Wir wollen aber nicht belehren, sondern anregen, dass sich die Menschen hier ihrer unverrückbaren Rechte bewusst werden«, sagte Peter König von der Amnesty-Gruppe dem »Geesthachter Anzeiger«. Gestiftet wurden die Tafeln sowohl von Firmen als auch von Privatleuten, 450 Euro kostete ein Exemplar – gut investiertes Geld.

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Das Behandlungszentrum für Folteropfer (BFU) hat den Ulmer Friedenspreis 2016 erhalten. Das Zentrum wurde 1995 auf Initiative von Amnesty International und Ulmer Bürgern gegründet und hat seither mehr als 2.000 Klienten medizinisch, therapeutisch und psychosozial betreut. Pro Jahr sind es zurzeit rund 125 Überlebende der Folter, des Krieges oder anderer Gewalttaten. Teilweise werden auch ihre Angehörigen in die Arbeit mit einbezogen. Das interdisziplinäre Behandlungsteam besteht vorwiegend aus Psycho- und Kunsttherapeuten. Der Preis soll die lokale Öffentlichkeit auf Vereine aufmerksam machen, die sich für eine friedlichere, gerechtere und bessere Welt einsetzen. Die Auszeichnung wird vom Verein für Friedensarbeit vergeben und ist mit 1.000 Euro dotiert.

AMNESTY JOURNAL | 10-11/2016


Mehr als 200 Personen waren dabei, als am 23. August die Mohrenstraße in Berlin symbolisch umbenannt wurde, um gegen die rassistische Konnotation des Namens zu protestieren. Einer der neuen Namen soll an Anton W. Amo erinnern, der als Kind versklavt wurde und später der erste Akademiker afrikanischer Herkunft in Preußen sowie ein Verfechter der Menschenrechte schwarzer Menschen in Europa war. Die Aktion fand anlässlich des »Internationalen Tages zur Erinnerung an den Versklavungshandel und an seine Abschaffung« statt.

WOLFGANG GRENZ ERHÄLT BUNDESVERDIENSTKREUZ

Wolfgang Grenz, ehemaliger Generalsekretär und langjähriges Mitglied der deutschen AmnestySektion, wird mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Sie ist eine gebührende Wolfgang Grenz. Anerkennung für seine Tätigkeit und zugleich eine Ermutigung für andere Menschen, sich für die Menschenrechte einzusetzen. Über Jahrzehnte baute Wolfgang Grenz die Flüchtlingsarbeit für Asylsuchende und Flüchtlinge bei Amnesty auf. Solidarität ist für ihn keine Floskel, sondern Konzept. Wolfgang Grenz versteht sie als Eintreten für Schutzsuchende, als praktizierten Beistand für Verfolgte. »Wir brauchen ein System, dass die Interessen der Flüchtlinge endlich berücksichtigt«, wie er selbst erklärt. Die deutsche Amnesty-Sektion freut sich sehr über diese besondere Ehrung für Wolfgang Grenz und gratuliert ihm dazu herzlich.

AKTIV FÜR AMNESTY

Fotos:Tahir Della / Amnesty

Durch ganz unterschiedliche Veranstaltungen geben AmnestyMitglieder den Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme. Diese Aktionen vor Ort sind ein unentbehrlicher Teil der Arbeit von Amnesty International. Mehr Informationen darüber finden Sie auf http://blog.amnesty.de und www.amnesty.de/kalender Rassistischer Straßenname. Aktion in Berlin-Mitte.

IMPRESSUM Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V.,  Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin,  Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 E-Mail: info@amnesty.de Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redak tion Amnesty Journal,  Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin,  E-Mail: journal@amnesty.de  Adressänderungen bitte an:  info@amnesty.de Redaktion: Markus N. Beeko, Jessica Böhner, Andreas Koob, Anton Landgraf (V.i.S.d.P.), Ramin M. Nowzad,  Katrin Schwarz

AKTIV FÜR AMNESTY

Mitarbeit an dieser Ausgabe: Doris Akrap, Birgit  Albrecht, Daniel Bax, Sumit Bhatta charyya, Alexander Bosch, Amke Dietert, Can Dündar, Sonja Ernst, Michael Gottlob, Felix Hansen, Jürgen Kiontke, Heike Kleffner, Louis Leible-Hammerer, Barbara Oertel, Tobias  Peter, Ralf Rebmann, Wera Reusch, Lena Rohrbach, Uta von Schrenk, Samanta Siegfried, Maik Söhler, Elisabeth Wellershaus,  Stefan Wirner, Marlene Zöhrer Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck: hofmann infocom,  Nürnberg Vertrieb: Carnivora Verlagsservice,  Berlin

Bankverbindung: Amnesty International, Bank für Sozialwirtschaft  IBAN: DE 233 702050 0000 8090100, BIC: BFS WDE 33XXX  (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00) Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und  erscheint sechs Mal im Jahr.  Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.

und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, für die  Verbreitung im Internet oder für Vervielfältigungen auf CD-Rom.

ISSN: 2199-4587

Für  unverlangt eingesandte Artikel oder Fotos übernimmt die Redaktion keine Verantwortung. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder. Die  Urheberrechte für Artikel

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Foto: Ralf Rebmann / Amnesty

SYMBOLISCHE STRASSENUMBENENNUNG



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