Neies Lautre 7 - Juni 2016

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Juni 2016 // Ausgabe Nummer 7, kostenlos aber nicht umsonst

Editorial Liebe Leser*innenschaft! Das warten hat ein Ende, ihr haltet nun die druckfrische, siebte Ausgabe unserer feinen Zeitung in den Händen. In dieser Ausgabe erwartet euch eine kurze Vorstellung des Bündnisses „Kaiserslautern gegen Rechts“, der in der nächsten Ausgabe ein ausführlicher Bericht über rechte Strukturen und Umtriebe in Kaiserslautern und Umgebung folgen soll. Die Rechten in Kaiserslautern behandelt auch der Artikel „Gedankenzum 8. Mai“. Für die libertären Zeilen hat Toni zwei Genossen vom AnArchiv in Neustadt interviewt. Aufgrund von personeller Abwanderung in südlichere Gefilde hat diese Ausgabe etwas länger auf sich warten lassen. Als Entschädigung hat Ben uns eine Rezension von der Zeitschrift KOSMOPROLET zukommen lassen. Eine weitere Rezension behandelt das Buch „Die schützende Hand“ von Wolfgang Schorlau. Mit Stolz können wir berichten, dass dieses mal fast alle Beiträge von uns selbst verfasst sind. Leider kommt die Kulturelle Sparte in dieser Ausgabe etwas zu kurz aber seht selbst!

Neies Lautre Zeitung für eine solidarische gesellschaft

Selbstverständnis „Neies Lautre“ ist eine Zeitung, die von Menschen aus dem Umfeld der Anarchistischen Initiative Kaiserslautern herausgegeben wird. Trotzdem ist sie unabhängig von ihr, d.h. die Inhalte der Zeitung basieren nicht auf einem Konsens in der AI KL und würden diesen nicht zwangsläufig finden. Die Zeitung ist offen für alle Menschen und Personengruppen, die Lust haben sich einzubringen, daran mitzuarbeiten, egal ob langfristig oder “nur” mit einem Gastbeitrag. Allerdings soll die Zeitung ein Medium sein, um basisdemokratischen, libertären, solidarischen, emanzipatorischen, antifaschistischen und feministischen Ideen Gehör zu verschaffen. Daher sollen ihre Inhalte, aber auch die Arbeit an ihr, die in der Zeitung erscheinen diesen Prinzipien nicht zuwiderlaufen. Außerdem wollen wir explizit versuchen lokale Themen aus Kaiserslautern und Region zu behandeln.

Für die Redaktion

Louise Inhalt Seite 2 - Vorstellung des Bündnis „Kaiserslautern gegen Rechts Seite 2 - – Gedanken zum 8.Mai Seite 3 – Interview mit dem AnArchiv /Neustadt Weinstraße – Seite 8 -Rezension „Kosmoprolet“ Seite 9 - Rezension „Die schützende Hand“ Krimi über NSU-Komplex

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Vorstellungsrunde: Das Bündnis „Kaiserslautern gegen Rechts“

Gedanken zum 8.Mai

Das Bündnis 'Kaiserslautern gegen Rechts' hat sich 2013 als Zusammenschluss verschiedener Organisationen, antifaschistischer Gruppen, und Einzelpersonen gegründet, welche aktiv gegen rechtsradikales Gedankengut vorgehen wollen. Dafür leisten sie Präventionsarbeit für Menschenwürde und Toleranz, stellen sich quer gegen Naziaktivitäten und machen gemeinsam auf rassistische, fremdenfeindliche und antisemitische Tendenzen in Kaiserslautern und Umgebung aufmerksam.

Der 8. Mai wurde in diesem Jahr in Kaiserslautern von antifaschistischer/ gewerkschaftlicher Seite, mit zwei Veranstaltungen zum Thema Erwerbslosigkeit begangen. Leider konnte die rechte Partei „der 3. Weg“, bisher völlig unkommentiert, ohne Gegenaktion und ohne Wissen der Antifaschist*innen, eine Gedenkfeier unter dem Motto: „8.Mai- Wir Feiern nicht!“ durchführen, bei der Grablichter und Blumen am 23er Denkmal in Kaiserslautern niedergelegt wurden.

von Louise

Zunächst sollte dieser Tag nicht den Faschisten überlassen werden, um geschickte Propaganda unter dem Deckmantel des Totengedenkens zu verbreiten. Jedes Totengedenken von Kriegsgefallenen, sollte mit der Forderung verbunden sein, Kriege zu beenden und abzurüsten. Es ist schizophren um die Toten zu trauern und dabei ihr Töten zu glorifizieren. Krieg bedeutet immer den Tod von vielen Zivilisten*innen und Soldat*innen. Auch die traumatischen Erlebnisse, haben lange nach dem Krieg noch Nachwirkungen auf die ganze Gesellschaft1 Wie jetzt konkret antifaschistische Aktionen zum 8.Mai aussehen sollten, soll hier nicht festgelegt sein, allerdings muss angemerkt werden, dass das Traditionelle „Danke“, am 8. Mai als „Tag der Befreiung“, kritisch zu betrachten ist. Zunächst sollte Mensch sich fragen, ob ein „Danke“ an die Alliierten, welche erst in den Krieg eingriffen, als sie selbst angegriffen wurden und Soldaten, die selbst für ihre nationalen Interessen kämpften, angebracht ist. Selbstverständlich ist der Hauptgrund den Tag zu feiern, die Befreiung der KZInsassen, das Ende der Verfolgung, sowie das Ende der faschistischen Diktatur. Zusätzlich sollte darauf eingegangen

Am häufigsten geschieht das in Form von Gegendemonstrationen, bei denen Gegengewicht und Gegenstimme zu rechter Hetze gebildet und dafür gesorgt wird, dass deren menschenfeindliche Parolen nicht kritiklos in einem luftleeren Raum bestehen können. Im kommenden Jahr soll die Organisation von Informationsveranstaltungen verstärkt und die Präventionsarbeit vorangetrieben werden. Das Bündnis Kaiserslautern gegen Rechts möchte in den nächsten Ausgaben der „Neies Lautre“ über rechtsradikale Strukturen in und um Kaiserslautern aufklären, da nur ein Aufdecken dieser Strukturen Basis für eine wirkungsvolle antifaschistische Arbeit sein kann. Das Bündnis steht mit weiteren Gruppen in Kontakt und ist für alle Interessenten offen.

1 Vgl. z.B. Sabine Bode, Kriegsenkel Klett-cotta 2009.

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werden, dass das Ende des Krieges für alle Soldat*innen und Zivilist*innen ein Ende des Sterbens bedeutete. Von rechter Seite wird häufig argumentiert, dass für Soldaten der Wehrmacht und der Waffen SS mit dem Ende des Krieges die Kriegsgefangenschaft begann, in der ca. 11% der insgesamt 11.094.000 Gefangenen umkamen2. Dennoch sollten die Kriegsgefangenen nicht als Opfer deklariert werden, wie es der Dritte Weg tut. Die Wehrmacht und die Waffen SS,sowie viele zivile Unterstützer*innen des Nationalsozialismus machten den Holocaust möglich und/oder waren direkt daran beteiligt. Für die Kriegsverbrechen sowie die innerstaatliche Verfolgung von Menschen anderer Ethnie, Hautfarbe, politischer Gesinnung etc. wurde bis heute nur ein sehr kleiner Prozentsatz der Täter*innen zu Rechenschaft gezogen3. Auch heute noch spürt man einige Nachwirkungen der NS-Zeit in der Gesellschaft. Der 3. Weg steht beispielsweise in direkter Tradition mit der HJ/NSDAP. Altnazis haben seit dem Ende des Krieges immer wieder Wege gefunden,ihre Kinder völkisch national aufwachsen zu lassen und in der Gruppe zu indoktrinieren. Zuletzt verboten, wurde die Heimattreue deutsche Jugend, die sich heute Personell im 3. Weg wiederfinden lässt4. Aber nicht nur die „Extremisten“ Tragen das rassistische und faschistische Gedankengut weiter. Gerade heute kann man in allen gesellschaftlichen Schichten rassistische Positionen finden und, im Zusammenhang mit dem Anstieg der Flüchtlingszahlen, eine enorm gestiegene Zahl an rassistisch motivierten Straftaten feststellen 5. Die hohe

Anzahl der Geflohenen hängt nun auch wieder mit Kriegshandlungen zusammen und hier schließt sich der Kreis. Menschen sterben,Menschen müssen fliehen und werden verfolgt. Kriege bringen Leid und Elend und in den seltensten Fällen Frieden. Wir sollten rassistischer Propaganda entschlossen entgegentreten und den Faschisten einen Tag wie den 8.Mai nicht überlassen, um ihre menschenfeindliche Ideologie zu verbreiten, sondern nutzen, um antifaschistische und antimilitaristische Forderungen laut werden zu lassen. Gleichzeitig ist der Sieg über die Wehrmacht und die faschistischen Regierungen der Achsenmächte, vor allem aber die Befreiung der Verfolgten des NSRegimes definitiv ein Grund zum Feiern.

Nazigedenken

2 Quelle :https://de.wikipedia.org/wiki/Kriegsgefangene_de s_Zweiten_Weltkrieges 3 Vgl. http://www.politische-bildungbrandenburg.de/node/6315 „Seit 1945 ermittelten bundesdeutsche Staatsanwaltschaften gegen über 100 000 Personen wegen der Beteiligung an NSVerbrechen. Rechtskräftig verurteilt wurden aber nur etwa 6500 Angeklagte. „

4 https://www.lottamagazin.de/ausgabe/60/brandgef-hrlich 5 http://www.spiegel.de/politik/deutschland/statistik-

zahl-rechter-straftaten-in-deutschland-gestiegena-1057650.html

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anarchosyndikalistische Organisation von 1945 bis 1960 aus ehemaligen Mitgliedern der FAUD, anm. d. In.) einzusehen, in welchem sie sich über die damalige politische Lage, Perspektiven der anarchistischen Bewegung, aber auch private Dinge, wie zum Beispiel den Hinweis, dass Rudolf Rocker demnächst Geburtstag habe, man dürfe nicht vergessen, ihm zu gratulieren. Um ein paar Zahlen zu nennen: Es gibt ca. 2000 Bücher und Broschüren mit direktem libertären Bezug, ca.100 katalogisierte spanische Presseerzeugnisse mit anarchistischem Bezug, unzählige anderssprachige anarchistische Presseerzeugnisse, Schriftverkehr, persönliche Unterlagen, dokumentarische Dossiers von deutschsprachigen Anarchist*innen in ca. 100 Ordnern, Sammlungen von verstorbenen Anarchist*innen (z.B. Augustin Souchy) , wissenschaftliche Arbeiten, unveröffentlichte Dissertationen und anderes. Das AnArchiv soll mithelfen die Geschichte des Anarchismus festzuhalten, denn diese Geschichte müssen wir selbst schreiben, das macht niemand anderes.

Libertäre Zeilen

Der anarchistischen Bewegung ein Gedächtnis geben. Ein Interview mit zwei Genossen vom AnArchiv in Neustadt an der Weinstraße. Von Toni In der Selbstbeschreibung des AnArchivs heißt es: „Es ist ein Gedächtnis der Bewegung, denn Anarchismus findet normalerweise in der offiziellen Geschichtsschreibung keinen Platz, und dieser Erfahrungsschatz wäre wahrscheinlich für alle Zeiten verloren, wenn es solche Archive nicht gäbe. „Ziel des AnArchivs ist es, Publikationen zur anarchistischen Praxis und Theorie für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen.“ Beschreibt doch mal im Allgemeinen, was das AnArchiv ist und was es dort so gibt. Das AnArchiv wurde von Horst Stowasser im Jahre 1971 in Wetzlar gegründet, wo es in seinen Anfängen Anarchistisches Dokumentationszentrum (ADZ) hieß. Es gibt Bücher, Zeitungen, Schriftwechsel, Tonaufnahmen, Bilddokumente, sowie Filmaufnahmen. Neben einer großen Anzahl deutschsprachiger anarchistischer Publikationen, welche den Schwerpunkt bilden, gibt es auch viele internationale Dokumente, zum Beispiel auch japanische oder arabische anarchistische Zeitungen und Bücher. Das AnArchiv beinhaltet vornehmlich Historisches, teilweise reichen die Dokumente bis in die heutige Zeit. Ein wichtiger Bestandteil sind außerdem Unterlagen, Dokumente und Protokolle der neuen anarchistischen Bewegung ab 1968. Weiterhin gibt es eine fast komplette Dokumentation der FAUD und der FAU, außerdem ist es zum Beispiel möglich, den Schriftwechsel der Föderation freiheitlicher Sozialisten FFS (deutschsprachige

Neuerdings seid ihr umgezogen. Wie ist es dazu gekommen und wo befindet sich das AnArchiv jetzt?

Der Beginn des AnArchiv geht, wie oben schon erwähnt, zurück ins Jahr 1971, nach Wetzlar, wo Horst Stowasser und sein Bruder Klaus begonnen haben, 4


anarchistische Publikationen aller Art zu sammeln.1987 zog Horst Stowasser im Rahmen des Projekt A nach Neustadt an der Weinstraße, wo er seine Sammlung in seiner WG und später in seiner Wohnung unterbrachte. [Kleine Anekdote: In ausgerechnet diesem Haus ist die schwarzrot-goldene Fahne für das Hambacher Fest genäht worden]. Mit dem Scheitern des Projektes A in Neustadt zog sich Horst aus der aktiven Arbeit zurück, er schrieb auch nicht mehr, sammelte und archivierte aber fleißig weiter. Es dauerte bis Oktober 2004, bis sich Horst dazu entschloss, zusammen mit einer Gruppe von Menschen, das AnArchiv wieder öffentlich zugänglich zu machen. Geschehen sollte dies unter dem Namen Max-Nettlau-Institut. Wegen massiver gesundheitlicher Probleme (seine Kinderlähmung machte ihm wieder schwer zu schaffen) musste er Ende 2014 zuerst seinen Beruf und dann seine Wohnung aufgeben. Der Plan war nun, das Archiv in dem damals gerade entstehenden Wohnprojekt Eilhardshof in Neustadt unterzubringen. Da es jedoch akut aus der Wohnung in der Neustadter Hauptstraße raus musste, wurde es in einer Lagerhalle ca. 10 Kilometer von Neustadt gebracht, wo es die nächste drei Jahre für niemanden einsehbar gelagert wurde. Als Horst im August 2009 plötzlich verstarb, fanden sich einige Freund*innen und Genoss*innen zusammen und belebten das Max-NettlauInstitut neu, benannten es aber, Horst zu Ehren, in „Horst-Stowasser-Institut“ um. Ein Genosse aus Speyer bot an, das AnArchiv ein paar Jahre bei sich im Haus unterzubringen. Dort konnten die Sachen ausgepackt werden und es gab auch wieder für Besucher*innen die Möglichkeit das AnArchiv zu besichtigen und dort zu forschen und zu arbeiten. Nachdem das AnArchiv nun für ein paar Jahre in Speyer war, bekamen wir Ende letzten Jahres vom Ökohof in Neustadt, der dem Verein WESPE e.V. („Werk selbstverwalteter Projekte und Einrichtungen“, quasi dem Restbestand des Projekts A, gehört, das Angebot, das Anarchiv dort unterzubringen.

Also „back to the roots“ sozusagen. Seit März 2016 ist das AnArchiv nun wieder in Neustadt an der Weinstraße. Habt ihr Sachen, von denen ihr sagt, die sind eine besondere Erwähnung wert und was sind so die ältesten Sachen die ihr habt?

Im AnArchiv gibt es zum Beispiel den Nachlass von Augustin Souchy und eine Fotosammlung von seinem Aufenthalt in Kuba, die er selbst gemacht hat. Außerdem eine Sammlung von Bänden über Geografie, die Elisée Reclus verfasst hat. Horst Stowasser hat die von einem Genossen aus Spanien zugeschickt bekommen. Dieser hatte die Umschläge abgerissen, damit der Versand nicht so teuer ist. Die Bücher wurden dann neu gebunden, nachdem sie hier waren. Außerdem interessant, wie oben schon erwähnt, die Korrespondenz der Föderation freiheitlicher Sozialisten von 1947 bis 1953. Es gibt Schriften von Richard Wagner, der in seiner Jugend Anarchist und mit Michael Bakunin befreundet war. Richard Wagner hatte solche Sachen geschrieben, als er in Dresden mit Bakunin auf den Barrikaden stand. Außerdem gibt es viele alte Zeitungen aus den 1890er Jahren oder zum Beispiel Exemplare, teilweise sogar ganze Jahrgänge, der Zeitung „Morgenröte“ von Gustav Landauer oder „Fanal“ von Erich Mühsam. Aus den 1920er Jahren sind viele Ausgaben der Zeitung „Der Syndikalist“ vorhanden, sowie unter anderem Flugblätter der FAUD und einzelnen 5


Syndikaten wie dem Syndikat der Binnenschiffer, damals eine wichtige Gewerkschaft.

anarchistischen Projekte sollten den Anarchismus raus aus einem Ghetto holen. Beim Projektanarchismus ist der Gedanke auch, diese Projekte in einem „bürgerlichen Milieu“ , z.B. in einer mittelgroßen Stadt zu gründen. Ein weiterer Gedanke des Projektanarchismus ist, dass Projekte miteinander zu sogenannten „Doppelprojekten“ verbunden sind. Also Projekte, die finanziell gut laufen, z.B. eine Schreinerei, mit Projekten, die finanziell nicht gut laufen, z.B. einem Verlag für anarchistische Literatur. Horst Stowasser war der Hauptinitiatior des Projekt A, und ist deswegen nach Neustadt an der Weinstraße gezogen. 1987 ging es los, es wurden in Neustadt Läden und Kollektivbetriebe gegründet. Sie hatten außerdem ein Netzwerk gegründet, WESPE (s. oben), welches noch heute – in kleinerem Umfang – existiert. Projekt A funktioniert zunächst recht erfolgreich, nach einiger Zeit gab es mehr und mehr Probleme, 1994 kam es dann zum Eklat und das Projekt brach auseinander. Horst zog sich daraufhin ins Privatleben zurück, schrieb nicht mehr, sammelte jedoch weiter Materialien für das AnArchiv. Ab Ende 2004 wurde er wieder aktiv, fing wieder an zu schreiben und Vorträge zu halten. Er schrieb mehrere neue Bücher („Anti-Aging für die Anarchie“, „Auf den Spuren des Glücks“) und er überarbeitete sein Hauptwerk „Freiheit pur,“ das dann im März 2007 unter dem neuen Titel „Anarchie!“ wieder aufgelegt wurde. Geplant hatte er auch eine dreibändige Aufarbeitung des Projektes A mit Dokumenten, aktuellen Interviews mit ehemaligen Beteiligten und einem Ausblick. Durch seinen plötzlichen Tod, der uns alle erschütterte, kam dieses Projekt aber leider nicht mehr zu Stande.

Bekommt ihr heute noch Sachen geschickt, bzw. archiviert ihr auch heute erscheinende Publikationen? Nein, heute bekommen wir im Gegensatz zu früher keine Sachen mehr zugeschickt. Wenn wir außerdem anfangen würden, alles zu archivieren, hätten wir ganz schnell ein Raumproblem. Ist das überhaupt sinnvoll? Bei der Gai Dao zum Beispiel ist es ja so, dass es sie auch im Internet zu lesen gibt. Im Moment liegt unser Hauptaugenmerk darauf, alte Sachen zu vervollständigen und schon vorhandene Sachen zu digitalisieren. Erstens sind die Materialien dann ja auch geschützter und zweitens ist es einfacher übers Internet darauf zu zugreifen und Interessierte müssen nicht extra nach Neustadt kommen, wobei das Flair, von solchen historischen Dokumenten umgeben zu sein und diese zu sichten natürlich auch was besonderes ist. Wie gesagt, wollen wir im Moment alles digitalisieren, verschlagworten und auf eine angemessene Archivierung achten. Es wäre super, besseres Archivierungsmaterial zu haben, um beispielsweise Dinge wie alte Zeitungen betrachten zu können ohne sie anfassen zu müssen. Faktoren wie beispielsweise die richtige Helligkeit, Feuchtigkeit müssen beachtet werden, um die Sachen noch lange erhalten zu können. Was hat es mit Horst Stowasser, Projektanarchismus und Neustadt an der Weinstraße auf sich? Der Gedanke beim Projektanarchismus ist, ähnlich wie bei Gustav Landauers Landkommunen, im Hier und Jetzt Projekte zu gründen, anhand derer Anarchismus „vorgelebt“ werden soll, um Menschen zu zeigen, wie das praktisch funktioniert und um so die Ideen besser in die Gesellschaft hinein wirken zu lassen. Solche

Gibt es heute noch Kollektive aus der Projekt A Zeit? Gibt es anarchistische Aktivitäten? Es gibt in Neustadt noch immer Betriebe, die aus der Projekt A Zeit stammen. Zum Beispiel den Verein „Wespe“, dem der Ökohof gehört, einen Naturkostladen, eine 6


Buchhandlung, ein Wirtshaus, den Kulturverein Wespennest, eine Schreinerei, ein Chemielabor, sowie eine ÖkologistikSpedition. Diese Betriebe sind teilweise noch Kollektivbetriebe, die ohne Chef*in arbeiten. Teilweise haben die Kollektive Angestellte. Es gibt auch noch Anarchist*innen in den Betrieben. Gerade auf deren Wirken ist das AnArchiv wieder nach Neustadt gekommen. Die eben genannten Betriebe unterstützen das AnArchiv zum Beispiel finanziell oder auch, indem Räume zur Verfügung gestellt werden. Außerdem gibt es in Neustadt noch eine FAU – Lokalföderation mit einem Allgemeinen und einem Kultursyndikat. Von 2007 bis 2010 gab es noch den „Tante Emma Laden – Libertäres Zentrum“, einen Infoladen und Treffpunkt, der von verschiedenen Gruppen und Einzelpersonen getragen wurde.

lange erhalten. Hierfür sind wir auf Spenden angewiesen. Ca. 2000 Euro bräuchten wir um die nötigsten Anschaffungen vorzunehmen. Außerdem soll das AnArchiv auch Raum bieten für Menschen, die sich libertär vernetzen wollen, Recherche für wissenschaftliche Arbeiten ermöglichen oder Interessierten die Gelegenheit geben, anarchistische Geschichte zu erfahren, denn diese wird nirgendwo sonst festgehalten. Vielen Dank für das Interview!

Wer das Anarchiv in Neustadt an der Weinstraße besuchen möchte erreicht uns über unsere Email Adresse: info@anarchiv.de Homepage: www.anarchiv.de

Welche anderen deutschsprachigen Archive mit libertären Inhalten gibt es noch? Seid ihr vernetzt?

Zu Horst Stowasser: http://www.dadaweb.de/wiki/Horst_Sto wasser_-_Gedenkseite http://deu.anarchopedia.org/Horst_Sto wasser

In Bremen gibt es noch das Institut für Syndikalismusforschung, außerdem das FAU-Archiv in Düsseldorf. Die Anarchistische Bibliothek Wien hat uns sehr geholfen, die nötige Struktur für eine Archivierung der Materialien aufzubauen. Außerdem haben wir gemeinsam mit den wiener Genoss*innen angefangen, eine gemeinsame Datenbank zu erstellen, welche aber noch nicht fertiggestellt ist. Die Bibliothek in Wien hat uns auch teilweise Materialien überlassen.

Wer etwas spenden möchte: Bankverbindung: Horst-Stowasser-Institut Sparkasse Rhein-Haardt IBAN: DE 5554 6512 4000 0537 9722 BIC: MALADE51DKH

Was habt ihr für die Zukunft geplant? Wir wollen die deutschsprachigen Zeitungen sichten, digitalisieren und jahrgangsweise erfassen. Außerdem wollen wir Materialien anschaffen, um die Dokumente gut und sachgerecht archivieren zu können. Hierfür braucht es nämlich spezielle Materialen, wie z.B. säurebindendes Zwischenlagenpapier, welche die Papiere noch gut und möglichst 7


unter in Leiharbeit Beschäftigten. Und zu guter Letzt wird in dem Artikel „Zwischen Eigentor und Aufstand. Ultras in den gegenwärtigen Revolten“ die Geschichte der Ultra-Bewegung im Fußball erzählt und dann ergründet, warum sich so viele Ultras an den politischen Revolten während des arabischen Frühlings beteiligten. Jeder dieser Artikel wäre es wert nicht nur gelesen, sondern auch ausführlicher behandelt zu werden. Immer wieder beweisen die Autor*innen (soweit ich das einschätzen kann) nicht nur ihre tiefgehende Kenntnis marxistischer Kapitalismusanalyse, sondern auch ein gutes Gespür für aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen und Zustände. Ich möchte hier nur einen Punkt vertiefen, und zwar den des „Surplus-Proletariats“. Dass der Kapitalismus immer größere Teile der Arbeiter*innen als unnütz auf die Straße setzt, wusste schon Marx. Prägend wurde diese Tendenz allerdings erst in den letzten Jahrzehnten. Die strukturelle Massenarbeitslosigkeit, die (temporäre Ausnahmen auch in Deutschland inbegriffen) die Länder Europas und Nordamerikas erfasst hat, ist genauso Ausdruck dieser Entwicklung, wie die rasant wachsenden Slums in der ‚3. Welt‘ oder wie die Millionen in die Kriminalität Gedrängten und in Gefängnisse Gesteckten. Aber auch „in den wachsenden Migrationsströmen von Menschen, die anders als die europäischen Auswanderer des 19. und frühen 20. Jahrhunderts an ihren Zielorten größtenteils unwillkommen sind; in Kriegen, die sich nicht mehr zwischen Nationalstaaten oder politischen Blöcken, sondern zwischen marodierenden Milizen und Gangs abspielen und im Extremfall in failed states münden; in neofundamentalistischen Bewegungen, die aus den Fugen geratenen Gesellschaften einen autoritär-moralischen Kitt verpassen und die Habenichtse auf das Jenseits vertrösten“ zeigt sich dieses Dilemma des Kapitalismus. Diese Entwicklung ist offensichtlich nicht nur ein Ergebnis schlechter Politik, denn sie zeigt sich unter

Theorie Rezension: KOSMOPROLET von Ben Im Herbst letzten Jahres erschien die vierte Ausgabe der Zeitschrift Kosmoprolet, die von drei libertär-kommunistischen Gruppen aus Berlin, Freiburg und Zürich gemacht wird. Das Wort Zeitschrift ist dabei etwas irreführend: sie erscheint sehr selten (die Ausgabe davor 2011) und umfasst 200 Seiten mit ausführlichen Artikeln zu verschiedenen Themen, die alle so gut wie zeitlos sind. Nach einem lesenswerten Editorial, in dem aktuelle Themen (Griechenlandkrise, Islamismus) kurz thematisiert werden, folgt der Artikel „Abseits des Spülbeckens: Fragmentarisches über Geschlechter und Kapital“. Darin werden die aktuellen Entwicklungen der Geschlechterverhältnisse im Kapitalismus sowie linke Debatten darüber beschrieben und beurteilt. Die beiden Artikel „Reflexionen über das Surplus-Proletariat: Phänomene, Theorie, Folgen“ und „Elend und Schulden: Zur Logik und Geschichte von Überschussbevölkerungen und überschüssigem Kapital“ beschäftigen sich mit der globalen Entstehung einer großen Masse von Menschen, die von der kapitalistischen Wirtschaft nicht gebraucht und deshalb in Arbeitslosigkeit, Elend oder Kriminalität getrieben werden. In „Moloch und Heilsbringer. Zur Geschichte und Kritik des Sozialstaats“ wird die Rolle desselben beschrieben und kritisiert, ohne die wichtige Bedeutung, die soziale Kämpfe für seinen Erhalt in der heutigen Zeit spielen, zu ignorieren. Der Artikel „Israel, Palästina und der Universalismus“ beschreibt die Geschichte des Israel/Palästinakonflikts aus Perspektive der dortigen Arbeiter*innenklassen und die immer noch vollkommen falschen Positionen, die viele der deutschen Linken dazu beziehen. Die Freiburger Gruppe beschreibt in „Leiharbeit. Ende der Identifikation mit der Ausbeutung oder doch nur Waffe des Kapitals?“ ihre Ergebnisse einer militanten Untersuchung 8


vollkommen unterschiedlichen Umständen; sondern Ergebnis einer Technisierung der Produktion, die eben nicht durch neue Investitionen in Arbeitsplätze und größeres Wachstum ausgeglichen wird. Dies ist fatal für die davon betroffenen Arbeiter*innen, aber auch der Kapitalismus hat davon keinen Vorteil, ist er doch auf ihre Arbeit und auf ihren Konsum angewiesen. Unter anderem deswegen verminderte sich das Wirtschaftswachstum weltweit in den letzten Jahren und Jahrzehnten. Den von der Wirtschaft Ausgeschlossenen fehlen die Möglichkeiten, wie z.B. den Streik, ihre Interessen durchzusetzen. Es bleiben ihnen dafür oft nur Revolten, wie jene des arabischen Frühlings, oder nackte Gewalt.

Die Zeitschrift Kosmoprolet kann bei der Anarchistischen Initiative Kaiserslautern gegen 5€ erworben werden. Unter http://www.kosmoprolet.org finden sich ein Teil der Texte der Ausgabe sowie weitere Texte der herausgebenden Gruppen.

Rezension Buch: Wolfgang Schorlau: Die schützende Hand. Denglers achter Fall. Kiepenheuer und Witsch Fakten, Fakten, Fakten... - Ein Krimi zum NSU-VS-Komplex von C. "Ich ermittle nur. Ich trage Fakten zusammen. Und wenn eine Theorie alle Fakten zusammenhängend erklären kann, ist sie valide, also gültig - bis sie widerlegt wird und es eine bessere Theorie gibt. Im Grunde genommen gibt es keine Verschwörungstheorien, es gibt nur valide und nicht valide Theorien" [Georg Dengler, der Privatdetektiv aus der Feder von Wolfgang Schorlau] Hier soll nicht die neueste Ausgabe des politisch-debilen Wochenmagagazins Focus besprochen werden, sondern ein Krimi. Wolfgang Schorlaus neuester Kriminalroman über den NSU „Die schützende Hand – Denglers achter Fall“ bietet nämlich mehr Fakten, als viele andere Bücher, Zeitungs- und Zeitschriftenartikel zusammen.

Wir sollten uns bewusst sein: Die Probleme, die Menschen in Deutschland mit Arbeitslosigkeit und Hartz4 haben, sind nichts seltenes, sondern betreffen viele Menschen in anderen Ländern des Westens ebenso. Und auch die Flüchtenden, die in den letzten Monaten nach Deutschland kamen, sind, was ihre Lebensverhältnisse angeht, weltweit leider keine Ausnahme. Dass es in der gegenseitigen Konkurrenz zumindest die Fleißigen und Klugen zu einem angenehmen Leben bringen, ist heute für die meisten Menschen nichts als eine sehr naive Illusion.

Aber langsam: Worum geht es? Dengler, Privatdetektiv und ehemaliger BKAMitarbeiter ist wieder einmal klamm. Die rote Null steht. Er kann seine Miete nicht mehr zahlen. Mitten in dieser Misere bekommt er auf einmal Post. Inhalt: Viel 9


Geld und ein Mobiltelefon. Er bekommt von einem geheimnisvollen Auftraggeber den Auftrag zu ermitteln wie die beiden mutmaßlichen NSU-Mörder Böhnhardt und Mundlos gestorben sind. Die öffentliche Version ist klar. Beide haben sich, aus Angst vor dem bevorstehenden polizeilichen Zugriff selbst getötet. Dengler und auch sein Freundeskreis, der schon in den vorher erschienen Schorlau-Krimis eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielt, hegen erstmal keine Zweifel an der offiziellen Version. Der Privatdetektiv glaubt an einfach zu verdienendes Geld und geht die Ermittlungen halbherzig an, bis er bei der Arbeit auf immer mehr Widersprüche stösst.

haben ihm dabei nicht nur Akten und Berichte, sondern auch Menschen aus der Kölner Keupstraße, die auch Anschlagsziel des NSU war, sowie Gespräche mit Polizeibeamten, VS-Mitarbeitern (die namentlich nicht genannt werden dürfen), Politikern und Journalist_innen die zum Thema arbeiten. Schorlau versuchte der Wahrheit so nahe wie möglich zu kommen und gesteht im Nachwort auch ein, dass es durchaus Lücken gibt, die er mit Fiktion füllte. Diese Fiktion und Teile der, um den Erzählkern gebauten Geschichten, brachten ihm in den Besprechungen mancher Medien den Vorwurf des Verbreitens von Verschwörungstheorien ein. Es gibt durchaus Stellen im Beiwerk dieses Buches, die so nebulös sind, dass Mensch den Eindruck bekommen kann, dass hier auch gesponnen wird. Dazu gehört auch die von ihm dargestellte Einmischung der USA in die Politik der Bundesrepublik, aber auch der Aufbau neofaschistischer Organisationen an der Leine US-gesteuerter deutscher Geheimdienste – Sie gehört zu den schwächeren Teilen des Buches. Aber ein Krimiautor hat die Lizenz für Hypothesengirlanden.

Was sich daraus entwickelt, wird, dank der Erzählweise Wolfgang Schorlaus zu einem spannungsgeladenen Politthriller. In Steigerung zu seinen bisher erschienenen Krimis hantiert der Autor mit einer Menge an Original-Material aus Ermittlungsakten und Berichten aus den Untersuchungsausschüssen zum NSUKomplex, ohne dass die Spannung und die Erzählstruktur der Geschichte darunter leidet. Er weißt Verschleierungen und Widersprüche in dem öffentlich zugänglichen Material nach, die es den Lesern und Leserinnen unmöglich machen, weiter an die öffentliche Version von dem Mörder-Trio, das allein und ohne Unterstützung des Neonazi-Umfelds und verschiedener Geheimdienste mit ihren VLeuten mindestens 10 Nichtdeutsche ermordet haben zu glauben. Er weißt auch nach, dass der Hergang der „Selbstmorde“ in sich nicht schlüssig ist. Schorlau legt Beweise dafür vor, dass Mundlos bereits tot war, als er laut Ermittlungsakten erst Böhnhardt und dann sich selbst erschoss.

Aber abgesehen davon, dass "Die Schützende Hand" nur ein Krimi ist, fasst er sehr nachvollziehbar das zusammen, was es zum NSU an, durchaus erschütternden, Fakten gibt. Daher ist in diesem Kontext die darum gebaute Geschichte aus einer validen Theorie abgeleitet. Einiges andere im Buch sind Zutaten eines gut geschriebenen Krimis und kein Grund ihn in eine rechte Ecke zu stellen, wie es zum Beispiel von dem mittlerweile antideutschen Monatsheft „Konkret“ getan wird. Es sollte halt auch als Krimi gelesen werden und nicht als Sachbuch.

Obwohl es bei Denglers Auftrag erstmal nur um die Ermittlungen um die, in der Öffentlichkeit als Selbstmorde dargestellten, Todesfälle Böhnhardt und Mundlos geht, schafft es Schorlau die ganze Geschichte zu erzählen. Geholfen

Wolfgang Schorlau: Die schützende Hand. Denglers achter Fall. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2015, 384 Seiten, 14,99 Euro 10


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