Neies Lautre November 2015

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Liebe Leute, es ist soweit: eine neue, die nunmehr schon sechste, Ausgabe „Neies Lautre“ konnte erscheinen. Der Themenschwerpunkt der vorliegenden Ausgabe ist Rassismus, Fluchtursachen und Nationalismus. Denn eine Debatte jenseits der Mainstream-Medien, welche Gründe für Flucht und Ausgrenzung benennt und nicht bei Vorurteilen und nationalen Ideologien stehen bleibt, ist zweifelsohne notwendig. Außerdem versuchen wir, unsere Alternativen zu den herrschenden Verhältnissen aufzuzeigen. Wir wünschen euch viel Spaß beim Lesen. Solltet ihr Fragen, Anregungen oder Kritik haben schreibt uns an folgende Mail-Adresse: aikl@riseup.net


Rudolf Rocker: Textausschnitt aus seinem Werk Nationalismus und Kultur (1937).

Es gab eine Zeit, wo man sich damit begnügte, den Begriff der Nation auf eine menschliche Gemeinschaft anzuwenden, deren Glieder am selben Orte geboren wurden, infolgedessen durch gewisse solidarische Beziehungen miteinander verbunden waren. Dieser Auffassung entspricht auch der Sinn des lateinischen Wortes natio am besten, dem der Ausdruck Nation entsprungen ist. Sie ist um so verständlicher, als ihr die Vorstellung der engeren Heimat zugrunde liegt. Allein dieser Begriff entspricht weder unserer heutigen Vorstellung von der Nation, noch steht er im Einklang mit den nationalen Bestrebungen der Zeit, welche der Nation möglichst weite Grenzen stecken. Würde die Nation sich in der Tat bloß auf den engeren Umkreis des Ortes erstrecken, wo ein Mensch zum erstenmal das Licht der Welt erblickt, und das nationale Empfinden lediglich als natürliches Zusammengehörigkeitsgefühl von Menschen zu bewerten sein, welche durch die Stätte ihrer Geburt zu einer Gemeinschaft verschweigt sind, so könnte nach dieser Auffassung auch nicht von Deutschen, Türken oder Japanern die Rede sein; man könnte höchstens von Hamburgern, Parisern, Amsterdamern oder Venezianern sprechen, ein Zustand, der in den Stadtrepubliken des alten Griechenland und in den föderalistischen Gemeinwesen des Mittelalters tatsächlich existierte.

D IE R OLLE DES N ATIONALISMUS IN DER D EBATTE UM F LÜCHTLINGE Wer denkt Nationalismus sei ein Gedanke, der nur noch Nazis und andere rechte Spinner beeinflußt, täuscht sich. Nationalismus ist fest im Denken der meisten in Deutschland lebenden Menschen verankert. Jedoch gibt es verschiedene „Nationalismen“, die zu unterscheiden sind, die Grenzen zwischen den einzelnen sind jedoch fließend. Nazis vertreten den Gedanken eines völkischen Nationalismus, der die Behauptung aufstellt, dass es eine „Gemeinschaft des Blutes“ gibt, welche es gegen aus ihrer Sicht minderwertige Blutsgemeinschaften, also Rassen, zu verteidigen gilt. Dass dies völliger Humbug und wissenschaftlich leicht zu widerlegen ist, ist (beinahe) überall angekommen. Es gibt keine gemeinsame Blutlinie einer Rasse! Nazis und deren Gedanken werden wegen den offenkundig an den Haaren herbeigezogenen Märchen, welche sie vertreten, sowie wegen der Verbrechen der Nationalsozialisten von den meisten Menschen offen abgelehnt. Der Bezug der meisten Menschen auf die deutsche Nation ist oftmals ein positiver. Deutschland sei eine vorbildliche Nation, in der Freiheit, Gleichheit und Menschenrechte hochgehalten werden. Dieser Feststellung liegt oftmals ein Vergleich mit „bösen“ Nationen zugrunde, das können zum Beispiel Diktaturen oder andere als sogenannte Unrechtsstaaten deklarierte Länder sein. Tatsächlich geht es vielen Menschen hier im Vergleich mit anderen Ländern besser, werden doch beispielsweise sexuelle Richtungen nicht verfolgt und es gibt das Recht, seine Meinung zu äußern. IST

EI N E N AT I O N W I E DI E D E UT S C H E A L SO ER ST R EB EN SW E RT ?

Rudolf Rocker (1873-1958) war Anarchosyndikalist und eine der bedeutendsten Figuren der deutschen, jüdischen aber auch internationalen Arbeiter*innenbewegung.


Nation meint heutzutage eine menschliche Gruppierung, die sich angeblich aus der Gemeinschaft der materiellen und geistigen Belange, der Sitten, Bräuche und Überlieferungen entwickelt hätte. Daher leitet sich auch der Gedanke, dass es nationale Belange gäbe, die verteidigt werden müssen, ab; welcher sehr verbreitet ist. Eine Nation wird auch oft versucht durch die gemeinsame Sprache zu rechtfertigen. Bei genauerem Hinschauen fällt jedoch schnell ins Auge, dass dies ein vorgeschobenes Argument ist, denn wenn man die Dialekte von Regionen betrachtet, haben der Hamburger Dialekt und der eines aus Amsterdam stammenden Menschen mehr gemeinsam, als der Hamburgische und der bayerische Dialekt, obwohl sie einer vermeintlich gemeinsamen Nation angehören. Die Konstruktion vermeintlicher nationaler Belange hat zudem ein Verwischen sozialer Unterschiede, welche es innerhalb der Nation, gibt zur Folge und dient oftmals sogar nur diesem Zweck. Ein Mensch der arbeiten geht, hat andere Interessen als eine Unternehmerin. Dem Arbeitenden geht es darum, einen Gehalt zu verdienen, er ist auf dieses Gehalt auch angewiesen, um sich und ihm nahe stehende Menschen eine Unterkunft zu ermöglichen, sich zu ernähren, sowie andere darüber hinaus gehende Bedürfnisse zu stillen. Einer Unternehmerin geht es darum, Profit aus einer Firma zu schlagen, um Geld zu erwirtschaften und neu investieren zu können und natürlich darum, sich selbst zu bereichern. Daher ist ein Arbeiter, der mehr Gehalt will, negativ für eine Unternehmerin. In der Vergangenheit haben sich Arbeitende diverse Forderungen (Gewerkschaftsfreiheit, 8Stunden-Tag, …), erkämpfen können, beispielsweise durch Streiks. Ein Vorwurf, der ihnen immer gemacht wurde und auch heute noch wird ist, sie würden durch ihre Forderungen nach mehr Lohn die nationalen Interessen gefährden.

Der einfache Grund hierfür ist, dass jede Nation auf eine gut laufende kapitalistische Wirtschaft angewiesen ist. Arbeiter*Innen, welche für mehr Gehalt streiken, sind da kontraproduktiv, da sie den reibungslosen Ablauf der Produktion durch Streiks stören und somit Profite schmälern. An diesem Beispiel ist einwandfrei zu sehen, dass heute die hauptsächlichen Interessen der Nation auf eine gut funktionierende kapitalistische Wirtschaft abzielen, auch um im Wettkampf mit anderen Nationen zu bestehen. Gleichzeitig dienen Rechte, welche sich Menschen im Verlauf des letzten Jahrhunderts erkämpft haben, heute zur Befriedung der sozial benachteiligten innerhalb einer Nation, so zum Beispiel die Sozialgesetzgebung. Ironischerweise werden diese Errungenschaften heute als Argument für die Nation verwendet, früher wurden die Menschen, welche diese Rechte erkämpften als „Vaterlandslose Gesellen“ beschimpft. Weiterhin wird die formale Gleichheit vor dem Gesetz dazu benutzt, Menschen das Gefühl einer vorhandenen Gerechtigkeit zu geben, während die vorherrschenden wirtschaftlichen Bedingungen Ungleichheit produzieren. Der Erhalt dieses Status liegt im Interesse der privilegierten Schichten, während das Konstruieren einer angeblichen nationalen Gemeinschaft gleicher Interessen dazu dient, soziale Unterschiede im Interesse der nationalen Belange und in Anbetracht der benötigten Wettbewerbsfähigkeit mit anderen Nationen


im globalen Kapitalismus als weniger wichtig zu beurteilen, als die angeblich „uns alle“ angehenden nationalen Belange. In diesem Sinne ist auch die Textzeile von K.I.Z in dem Lied „Boom Boom Boom“ zu verstehen, wenn sie singen: „... du und dein Boss ham nix gemeinsam bis auf das Deutschland-Trikot.“ Daher ist die anfangs gestellte Frage eindeutig mit Nein zu beantworten, da solche Konstrukte der Idee einer solidarischen, klassenlosen Gesellschaft entgegenstehen und Ausbeutung rechtfertigen. WAS

H AT DA S G AN Z E M I T D ER T LI N G SD E B AT T E ZU T U N ?

W H AT

T O FI G HT FO R ?

Die oben genannten Aspekte finden meist keinen Eingang in die Mainstream Medien. Dort finden nur Argumentationen innerhalb einer nationalen Ideologie statt. Dass diese Ideologie ein soziale Ungleichheit produzierendes Wirtschaftssystem deckt und gleichzeitig, des eigenen Überlebens willens, Rassismus und Ausgrenzung produziert, wird nicht beachtet. Das Ziel einer herrschafts- und ausbeutungsfreien Gesellschaft wird auf diesem Wege nicht zu erreichen sein. Daher ist es notwendig, zu benennen, welche Missstände das Denken in nationalen Mustern deckt und fördert.

F LÜ C H -

Das Konstrukt der Nation sorgt für das Denken, wir in Deutschland säßen alle im selben Boot. Von außerhalb kommende, flüchtende Menschen werden deswegen oftmals als Bedrohung für den nationalen Wohlstand angesehen. Die Angst vor einem sozialen Abstieg bestärkt das Denken in nationalen Mustern und sorgt damit einhergehend für Rassismus. Augenscheinlich schafft solch ein nationales Zusammengehörigkeitsgefühl einen Graben zu Menschen, die nicht dazu gehören, beispielsweise aufgrund ihrer Abstammung oder ihrer „anderen“ Kultur. Tatsache ist jedoch, dass unter unserem Blickwinkel die „einfachen Leute“, sowie flüchtende Menschen eine große Gemeinsamkeit haben; sie sind beide Betroffene verschiedener Symptome der selben Ursache: das Ungleichheit produzierende Wirtschaftssystem und die damit verbundene politischen Herrschaft. Während innerhalb einer Nation soziale Unterschiede wuchern, gibt es auch Unterschiede zwischen den einzelnen Nationen. Dadurch werden Grenzen zwischen den Angehörigen der einen und der anderen Nation gezogen, welche oftmals in offenkundige Ablehnung mündet; denn gerade dann wenn es hart auf hart kommt steht jeder nationale Staat zuerst für sich ein, siehe die sogenannte Flüchtlingskrise.

Gleichzeitig ist es wichtig, solidarisch mit allen Geflüchteten zu sein und keine Unterscheidungen in „gute“ und „böse“ Flüchtlinge zu unternehmen, sowie Gemeinsamkeiten aufzuzeigen, um so die in der Gesellschaft verankerten nationale Ideologie zu durchbrechen, denn eine befreite Gesellschaft wird nur durch ein solidarisches Bewusstsein der Menschen untereinander zu erreichen sein, welches die Herrschaft von Staat und Kapital und deren ideologische Tarnung einer angeblich nationalen Schicksalsgemeinschaft überwindet. Für den Kommunismus! Für die Anarchie!

Toni ist Mitglied der Anarchistischen Initiative Kaiserslautern.


Weltweit sind heute mehr als 50 Millionen Menschen auf der Flucht. Sie fliehen vor Krieg, Armut, Hunger, Unterdrückung und Verfolgung. D E UT S CH L AN D UN D E U R O P A SI N D F Ü R E I N EN GRO ß E N T EI L DI E S ER F L UC HT U R S AC HE N MI T V ER AN T W O R T LI CH . So führt der Versuch kapitalistischer Staaten, wie z.B. der BRD, den Zugang zu Ressourcen für die heimische Wirtschaft zu ermöglichen, zu Krieg und Gewalt.

Deutschland ist noch immer drittgrößter Rüstungsexporteur weltweit. Mit deutschen fen werden weltweit Kriege geführt, so exportiert z.B. die BRD auch Waffen nach SaudiArabien, die diese dafür einsetzen, den Jemen zu bombardieren. Deutsche Kleinwaffen tauchen immer wieder in den Händen von Kriminellen und Terroristen, wie z.B. dem Islamischen Staat in Syrien auf. Die deutsche Rüstungsindustrie verdient ihr Geld mit dem Leid von Menschen in Krisengebieten und Drogenkriegen. Nach einer parlamentarischen Anfrage der Linken war der Gewinn aus deutschen Rüstungsexporten im ersten Halbjahr 2015 bereits so hoch wie im gesamten Jahr 2014.

Die Ausbeutung der Menschen in Entwicklungsländern durch multinationale Konzerne und “land-grabbing”, bei dem landwirtschaftliche Nutzflächen in Entwicklungsländern an ausländische Investoren fallen führen zu Armut und Versorgungsunsicherheit. Hunger in den unteren Schichten der Bevölkerung der betroffenen Länder ist oftmals die Folge davon. […] Das weltweit vorherrschende kapitalistische Wirtschaftssystem und der Wunsch von Industrieländern wie Deutschland, die eigene Machtposition und Monopolstellung sowie die der heimischen Wirtschaft zu stärken, führt zu Fluchtursachen wie Hunger, Krieg, Gewalt und Armut in weniger privilegierten Ländern. Eine Abschottung gegenüber Flüchtlingen verschärft und gefährdet die ohnehin schlechte Lebenssituation vieler Menschen, sowohl die der Flüchtlinge als auch derer, die an der Flucht gehindert werden. Eine friedliche und solidarische Welt ist nur möglich, wenn wirtschaftliche Ausbeutung und Unterdrückung ein Ende finden!

Gekürzte Version der Rede der Anarchistischen Initiative Kaiserslautern zum 1. September 2015 (Antikriegstag).


R A SSI S MU S

GE G EN

ROMA

In der Hetze gegen Geflüchtete aus den Balkanländern werden alte Ressentiments bedient. Es wird von „Scheinasylanten“ gesprochen, welche nach Deutschland kommen würden, um hier Sozialleistungen zu erhalten und nach ihrer „freiwilligen“ Ausreise ein gutes Leben in ihren Herkunftsländern führen könnten. Auch wenn die Entscheidungsträger*innen hier vorrangig nach ökonomischer Nützlichkeit sortieren (ungelernte Arbeiter*innen werden momentan in Deutschland nicht gebraucht), in solchen Aussagen wirken alte antiziganistische Ressentiments in aktualisierter Form: Die Geflüchteten aus den Balkanländern werden als nomadisch (pendelnd zwischen Herkunftsland und Deutschland), faul (nicht gewillt zur Lohnarbeit), kriminell (erschleichen sich die Asylleistungen) und asozial (nehmen den „wirklichen“ Flüchtlingen die Plätze weg) dargestellt. Das sind Vorwürfe, die historisch immer wieder Sinti und Roma gemacht wurden und – welch Wunder – die meisten Geflüchteten aus den Balkanländern sind Roma. Als Reaktion auf den Anstieg der Flüchtlingszahlen werden Arbeitsund Ausbildungsverbote, Sach- anstatt Geldleistungen und eine Konzentration der Balkanflüchtlinge in sogenannten „Aufnahmezentren“ – also speziellen Lagern – diskutiert.

Widersprüche (z.B. Deutscher – „Zigeuner“) transformiert. So werden Phänomene, Widersprüche und Probleme welche die bürgerlichkapitalistische Gesellschaft aus sich selbst heraus (re-)produziert (z.B.: Urbanisierung, Individualisierung, Ausbeutung, Monopolbildung, Verelendung, Massenarbeitslosigkeit) den „Anderen“ zugeschrieben. Als Lösung des Problems erscheint nun die Vertreibung/Verfolgung der „Anderen“, also im Antiziganismus der „Zigeuner“. Die „Zigeuner“ oder Geflüchteten werden zum Sündenbock für alles Negative. F LU C HT GR ÜN D E Antiziganismus ist vor allem in Osteuropa und den Balkanländern weit verbreitet. Die Mehrheit der Roma hat keine festen Unterkünfte, keine richtigen Wohnungen. Sie organisieren ihr Überleben in irregulären Siedlungen, Slums, oft ohne Wasser-, Abwasser- und Stromanschluss. Die Lebenserwartung ist gegenüber dem gesellschaftlichen Durchschnitt entsprechend niedrig, die Kindersterblichkeit um ein vielfaches höher. Ein regelmäßiges Einkommen ist fast nie vorhanden. In vielen Haushalten gibt es tagelang kaum etwas zu essen. Kernrechte, wie das Recht auf Wohnen, Nahrung, Arbeit, Bildung etc. sind nicht garantiert. Die Roma leiden unter Vorurteilen, systematischer Diskriminierung, Marginalisierung, Ausgrenzung und gewalttätigen Übergriffen. Viele unterliegen einem permanenten Vertreibungsdruck. Polizeiliche Räumungen von RomaSiedlungen sind alltäglich. Dies sind die Gründe warum viele in der Hoffnung auf ein besseres Leben hierher nach Deutschland kommen.

[…] Gesellschaftliche Widersprüche werden im rassistischen und antiziganistischen Weltbild nun in Form einfacher Innen-Außen-

Auszug aus dem Aufruf des Anarchistischen Netzwerk Südwest zu den Antira-Aktionstag in Karlsruhe am 30./31. Oktober. In Gänze unter www.a-netz.org


DAS A S Y L-

R E C HT – K EI N A LT R UI S M US , SO N D E R N D E R A N S P R U CH I N D ER W E L T MI T Z U MI S C H EN

Flüchtlinge sind für die kapitalistische Nation Deutschland eine ökonomische und politische Last. Entsprechend brutal geht Deutschland in aller Regel mit den Prinzipien Abschottung und Abschreckung gegen sie vor. Schon allein vor diesem Hintergrund kann man sich über Merkels Aktion nur wundern. Anstatt ihr aber Barmherzigkeit und Selbstlosigkeit zu bescheinigen, ist daran zu erinnern, dass das Asylrecht einen politischen Zweck hat, der nicht minder brutal ist. Das Asylrecht sortiert Flüchtlinge erst mal grundsätzlich. Wirtschaftliche Not ist demnach kein legitimer Grund nach Deutschland zu kommen. Politische Verfolgung muss der Flüchtling glaubhaft nachweisen. Jetzt ist es aber so, dass es keinen Staat in der Welt gibt, der nicht irgendwen aus seiner Bevölkerung politisch verfolgt, da muss man nicht nur an die RAF oder an die Berufsverbote in Deutschland denken. Jeder Staat kennt Verfassungsfeinde und hält sie mit unterschiedlich harten Mitteln in Schach. Wenn ein Staat nun Flüchtlingen politisches Asyl gewährt, dann ist das ein praktisch gemachter Vorwurf an die anderen Staaten: Ihr seid keine Herrschaft, die dem Menschen gemäß ist. Übersetzt heißt das: „Ich, Deutschland, kritisiere deine Art zu herrschen.“ Asylgründe sind mit der Zeit erweitert worden. Nicht nur der Staat kann politisch verfolgen, sondern auch Gruppierungen aus der Bevölkerung heraus. Wird dieser Fluchtgrund anerkannt, dann ist das auch eine Kritik an den regierenden Staat: „Ich, Deutschland, kritisiere deine Unfähigkeit oder den mangelnden Willen, eine Verfolgung aus der Bevölkerung heraus zu unterbinden.“ So oder so sind Flüchtlinge hier das Material für die Kritik eines Staates an dem anderen Staat. Mit dieser Kritik ist zugleich ein Anspruch in die Welt gesetzt: Der Asyl gebende Staat gibt sich das Recht in fremde

Staatsgewalten reinzureden und sich da diplomatisch bis militärisch einzumischen. Das nennen die Politiker dann „Verantwortung“.1 Das Asylrecht ist als unhintergehbares Individualrecht formuliert. Damit stellt sich Deutschland in die Position überall in der Welt als ein Hüter und Mithelfer für eine „gerechte“ und „gute“ Herrschaft zuständig zu sein, quasi als Selbstverantwortung vor der ganzen Menschheit. An den Gruppen, die das Asylrecht dann auch tatsächlich bekommen, kann man aber in aller Regel das aktuelle Feindschaftsverhältnis (in Deutschland: Eritrea, Syrien) des asylgebenden Staates zum anderen Staat ablesen; oder aber die Unzufriedenheit mit den dortigen politischen Zuständen (Afghanistan). Denn ob z.B. afghanische Islamisten Freiheitskämpfer sind, wenn sie gegen eine sowjetfreundliche afghanische Regierung kämpfen (bis 1989) oder aber dann als Terroristen gelten, weil sie sich nicht dem Westen unterordnen wollen, hat nichts damit zu tun, ob sie dafür politisch verfolgt werden. Sondern damit, was der Westen mit dem Landstrich vor hat. D E UT S CH L AN DS P O LI T I SC H E R W I LL E : A S Y L SO L L E S G E B EN , D I E L A ST EN DA G E G EN N I CH T

Das Asylrecht ist also ein imperialistisches Machtinstrument und auf das will Deutschland nicht verzichten. Der deutsche Staat sieht in Flüchtlingen eine ökonomische und politische Last zugleich. Diesen Widerspruch hat Deutschland, mit dem europäischen DublinSystem, eine lange Zeit relativ erfolgreich für sich gelöst. Asyl gibt es, die Kosten und der Aufenthalt der Flüchtlinge wurde von den Grenzstaaten getragen. So sollte die gemeinsame europäische Asylpolitik funktionieren. Die Berliner Gruppe Jimmy Boyle ist Teil der Gruppen gegen Kapital und Nation (www.gegner.in). Den ganzen Artikel in der Gai Dao (fda-ifo.org/gaidao) 1In diesem Sinne warnt EU-Ratspräsident Donald Tusk die EU-Staaten, dass andere Staaten die Behandlung der Flüchtlinge zum Material nehmen könnten, in die EU-Staaten reinreden zu wollen: „Sonst werden uns in Kürze Theokratien belehren, was religiöse Toleranz bedeutet. Und diejenigen, die für diesen Massenexodus verantwortlich sind, werden uns sagen, wie wir Flüchtlinge zu behandeln haben.“ (FAZ, 07.10.2015)


Während die linke Hälfte der bürgerlichen Mitte versucht, sich ein Deutschland zu bauen, auf das man stolz sein kann, passiert gleichzeitig im Grunde das, was PEGIDA und Co. von Anfang an wollten. Vor wenigen Wochen beschloß die ganz große Koalition aus CDU, SPD und Grünen die härtesten Asylrechtsverschärfungen seit Mitte der 90er Jahre im Schnellverfahren. Kritik konnte keinen Raum finden, unter dem Eindruck des inszenierten Notstandes musste alles ganz schnell gehen. Dieses Verfahren offenbart eine Wende zum Autoritarismus in der deutschen Politik: Nicht einmal ein offener Verfassungsbruch, der mit dem „ Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz“ begangen wurde, spielte noch eine größere Rolle im öffentlichen Diskurs. Denn vor einem Jahr hatte das Verfassungsgericht festgelegt, dass das „menschenwürdige Existenzminimum migrationspolitisch nicht zu relativieren ist“ – genau das aber wurde vor wenigen Wochen doch beschlossen, dass nämlich Menschen, denen der deutsche Staat keinen sicheren Aufenthaltsstatus zugestehen will, in Zukunft nichteinmal dieses menschenwürdige Existenzminimum mehr zugesprochen bekommen, sondern nur einen massiv reduzierten Satz zur bloßen Sicherung des physischen Überlebens. Was wird damit bezweckt? Man will denjenigen der Flüchtlinge, die man offenkundig nicht in Deutschland haben will, das Leben hier so schwer und unerträglich machen.

Aus der Rede des A-Netz-Südwest zu den AntiraAktionstagen in Karlsruhe.

W AS SIEHT MAN HINTER DEM K OPFTUCH ? W IE

DIE W IRKLICHKEITSAUSSC HNITTE DER M EDIEN UNSERE W AHRNEHMUNG ÜBER I SLAM T RUEBEN Mazyar Rahmani- 18. August 2015

Nach eineinhalbstündiger Bewusstlosigkeit befindet sich Leyla, die 21-jahrige Studentin der TU-Kaiserslautern, am 9.02.15 auf dem Boden. Ihr Kopftuch war zerrissen und auf ihre Kleidung war teilweise in Alkohol getränkt. „Sie habe zu viel Alkohol getrunken "lautet die Antwort der Polizei auf sie. Der Angriff ist in ein paar Sekunden stattgefunden, aber die mediale Berichterstattung danach war wochenlang verzögert. Das Bild einer Muslima ist zwar ein häufig auftretendes Zeichen in Medien, aber für andere Zwecke. Das Bild des Islams ist in deutschen Medien weit von der Wahrheit entfernt. Kopftuch, Islam, Terror, Anschläg, Rückständigkeit usw. sind ein Teil der Assoziationsketten, die wesentlich durch Medien verbreitet werden. Durch Auswahl besonderer Merkmale bzw. Wirklichkeitsausschnitte und ihrer Darstellung in Medien wird die Wahrnehmung des Menschen gelenkt. Diese Zeichen entsprechen manchmal den Fakten. Sie werden durch ständige Wiederholung zum Wissen verwandelt.Auf diese Weise entstehen Stereotypen, die pars pro toto für die ganze Wahrheit gehalten werden, so Dr. phil. Sabine Schiffer, die Sprachwissenschaftlerin und Medienpädagogin von Institut Medienverantwortung. Weltweit glauben ca. 1.57 Milliarden Menschen an den Islam, aber sie werden zunehmend als eine homogene Masse wahrgenommen. Dabei entsteht so genanntes Framing im Kopf. Framing ist zunehmend und vorschnell ein Sachverhalt in einem vorgefassten Kontext zu klassifizieren. Dadurch bildet sich Wissen, indem es nur auf teilweise reale Tatsachen basiert. Das Wissen filtert alles heraus, was nicht seiner Erwartungshaltung entspricht. Die Bilder der Stereotypen werden


wahrgenommen und verstärken das Wissen, das weiterhin seine Bestätigung sucht. Dies passiert nicht nur auf persönlicher Ebene, sondern verbreitet sich institutionell und medial. Ein Täter, der Muslim ist ist ein Terrorist, aber ein nicht muslimischer Täter ist meistens psychisch krank. So ist der nicht muslimische Copilot von Germanwings als krank mit suizidgefährdet unter psychotherapeutischer Behandlung beschrieben. Im Falle seines Muslim seins ist die von Medien erklärende Motivation offensichtlich. So wird ebenso die Krankheit paranoider Schizophrenie des norwegischen Terrorist Breivik eher in Mittelpunkt gestellt als sein rechtsextremistische und islamfeindliche Motivation. Solcher Informationsbruchstücke werden unkritisch übernommen und dadurch existiert eine Ablehnungshaltung gegenüber sachlicher Begründung. Dabei basiert das Wissen auf zusammenhanglosen und widersprüchlichen Informationen. Auf medialer Ebene existiert ein enger Zusammenhang zwischen Symbole und Informationen. Das Symbol von Kopftuch assoziiert am häufigsten die Beurteilung des Islams für die Unterdrückung der Frauen. Öfter werden auch die sachliche Informationen bezüglich Kopftuch gefiltert. So werden die Fotos der iranischen Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi als eine erfolgreiche muslimische Frau mit Kopftuch nicht dargestellt. Hier sind die Fakten nicht entscheidend, da die Ordnung vorexistiert und entscheidet. Was die Muslimas tun, ist immer falsch. Besteht eine Muslima auf dem Kopftuch, ist sie integrationsunfähig und rückständig. Legt sie es ab, ist es Verstellung oder Unterwanderungsversuch. Solche Kennzeichnungen erinnern Schiffer an die Formen der antisemitischen Propaganda im 19. Jahrhundert. Laut Soziologe Achim Buhl liegt Rassismus vor, wenn eine Gruppe beabsichtigt auf der Grundlage von realen oder gefühlten Differenzen eine andere Gruppe beherrscht, ausschließt oder gar tötet. Diese Differenzen werden quasi-erheblich und unveränderbar konstruiert, essentialisiert und mit wertenden Eigenschaften versehen. Durch diese Definition streckt sich der ausgeübte

antimuslimische Rassismus gegenüber Leyla in einem Spektrum zwischen ihr und Täter auf einer Seite und Ignoranz der Polizei und Medien auf anderer Seite. Die Rolle der Medien ist besonders als Querschnitt zwischen Zivilbevölkerung und Institutionen von großer Bedeutung. Eine verantwortungsbewusstes Medienmanagement unterwirft sich nicht dem offiziellen Agenda-Setting, das als Ordnung immer schon vorher existiert und ist eine künstliche. Schiffer kritisiert fehlende Recherchezeiten in Medien als eine Beeinträchtigung der journalistischen Arbeit. Die Medien können nun in höchster Zeit der Gefahr gegen Muslimas und Muslime einen wichtigen Beitrag leisten, indem sie vermehrt die Integrationsarbeit zwischen Zivilgesellschaft und Moscheen fordern. Die Dialog- und besser noch Trialogbemühungen sind elementare Maßnahmen dabei. Medienkompetenz ist eine Schlüsselqualifikation, die das Publikum zu verantwortlichen Bürgern in einer funktionierenden Demokratie macht. Mazyar Rahmani ist Antirassismus-Referent des Allgemeinen Studierendenausschuss (AStA) der TU Kaiserslautern.

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Viele prekäre Beschäftigte sind Migrant*innen. Z. B. an dem Kampf der rumänischen Arbeiter an der Mall of Berlin, die um ihren Lohn geprellt wurden, oder den Refugee-Protesten in vielen deutschen Städten erkennt man, dass es darum geht, Migrant*innen als Akteure zu betrachten, die natürlich für ihre Interessen kämpfen und denen wir uns anschließen sollten (ebenso wie sie sich uns) und nicht als Opfer, die nur unsere Hilfe brauchen.2 Ich halte es auch für wichtig, Flucht als eine bewusste Aktion zu sehen und nicht als etwas passives, was einem geschieht. Menschen fliehen, weil sie gute Gründe dafür haben und es entspricht natürlich ihren Interessen, diese Flucht und das Recht auf Asyl notfalls durchzusetzen – ob gegen Grenzschutz- oder Abschiebebehörden. Der Kampf für ihre Interessen ist ein Klassenkampf. Diese Einstellung ist auch wichtig, weil wir dann erkennen, dass sich Flüchtlinge auch Teilerfolge erringen können. Wenn Deutschland und Österreich tausende Syrer*innen aus Ungarn in ihr Land lassen – und damit die Dublin-Verordnung, einen wichtigen Teil des europäischen Grenzregimes, außer Kraft setzen – dann ist das keine milde Gabe oder ein Erfolg der Linken dieser Länder, sondern ein Zugeständnis an diejenigen Flüchtlinge, die zu Fuß durch Ungarn marschierten, ohne sich von ihrem Ziel abbringen zu lassen. Natürlich sind diese Erfolge nur punktuell und zeitweilig, wie alle Erfolge eines Klassenkampfes innerhalb des Kapitalismus.

Wenn wir nun über das kurzsichtige kapitalistische Konkurrenzdenken hinausgehen, erkennen wir, dass sich unsere Interessen und diejenigen der Migrant*innen nicht widersprechen, sondern decken: Wir haben alle ein Interesse an leistbarem und vernünftigem Wohnraum; daran, dass Grenzen nicht nur für Kapital, sondern auch für Menschen passierbar sind; und an höheren Löhnen für uns alle!3 Eine große Zahl an Flüchtlingen kann z. B. die Wohnungssituation verschärfen oder zu sinkenden Löhnen führen (wenn die Regierung den Mindestlohn aufweicht), aber nur, wenn wir uns nicht dagegen wehren. Wenn

einheimische und migrantische Arbeiter*innen gemeinsam anfangen, für bessere Löhne und bezahlbare Mieten zu kämpfen, dann können sie dagegen mehr Gerechtigkeit für alle erreichen. Rassistische Hetze hat dagegen noch nie für höhere Löhne gesorgt.

Tim Gmeiner ist Mitglied der Anarchistischen Initiative Kaiserslautern.

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Natürlich brauchen sie auch unsere Hilfe! Jeder Mensch braucht mal Hilfe, manche mehr, manche weniger.

Natürlich gibt es auch Interessen, die spezifisch diejenige von Flüchtlingen sind und nicht diejenigen der einheimischen Arbeiter*innenklasse, es handelt sich hier aber Ausnahmesituationen.


Rassismus hat viele Gesichter: diskriminierende Sprüche und Gesten, Polizeikontrollen aufgrund der Hautfarbe, nächtliche Abschiebungen, Brandanschläge und Pogrome, diskriminierende Gesetze, die Sortierung von Menschen nach ihrer ökonomischen Nützlichkeit. Sie sind allesamt zu bekämpfen! Doch neben diesen alltäglichen antirassistischen und antifaschistischen Abwehrkämpfen müssen wir eine eigene sozialrevolutionäre Perspektive eröffnen: Antifaschismus und Antirassismus müssen mehr sein als die Verteidigung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Wenn wir Faschismus und Rassismus nachhaltig bekämpfen wollen, müssen wir auch ihre Entstehungsbedingungen und die kapitalistische Vergesellschaftung angreifen, denn die beste Praxis gegen Volksgemeinschaft, Nationalismus und Rassismus ist immer noch der Klassenkampf, verstanden als Selbsttätigwerden der lohnabhängigen Klasse mit dem Ziel ihrer eigenen Aufhebung! Als Anarchist*innen lehnen wir diese bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsform ab, welche die Menschen in nützlich und un-

brauchbar einteilt. Wir wenden uns gegen diese Ordnung, die lediglich darauf abzielt, Gewinne zu erwirtschaften und in dem sich nur das Kapital frei und grenzenlos bewegen kann. Armut, Not und die Flucht davor sind keine Naturkatastrophen, sondern Resultate des kapitalistischen Systems! Eines Systems, das Menschen neben leer stehenden Häusern obdachlos werden oder andere neben Tonnen weggeworfener Lebensmittel verhungern lässt. Ein System, das nicht darauf ausgelegt ist, die Bedürfnisse von Menschen zu befriedigen, sondern alles, ob Mensch oder Natur, ausschließlich seiner mörderischen Verwertungslogik unterwirft. Wir treten für eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung ein, eine Gesellschaft ohne Staaten, Nationen, Grenzen und Zäune, eine Gesellschaft in der kein Mensch mehr über einen anderen Menschen herrschen soll. Wir wollen den freiheitlichen Kommunismus, also eine Gesellschaft basierend auf den Prinzipien der individuellen und kollektiven Freiheit, der gesellschaftlichen Selbstverwaltung und der kollektiven Bedürfnisbefriedigung.


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