Neies Lautre - Juni 2015

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NEIES

LAUTRE

ZEITUNG FÜR EINE SOLIDARISCHE UND BASISDEMOKRATISCHE GESELLSCHAFT

Juni 2015 Kaiserslautern Auflage: 50

ZUM INHALT R EFLEXIONEN UNSERER P RAXIS Gerade wenn im Sommer die meisten Menschen in Sachen politischer Aktivität kürzer treten, ist es an der Zeit, seine vergangene und hoffentlich auch zukünftige Praxis zu reflektieren und Selbstkritik zu üben. Schließlich kommt dies auf dem Weg von Demo zu Kampagne und wieder zur nächsten Demo oft zu kurz. Mit dieser Ausgabe wollen wir unseren Beitrag dazu leisten.

Das Lower Class Magazine (lowerclassmag.com) betreibt seit 2013 'Proletkultjournalismus von der Straße für die Straße' und ist seither der bedeutendste Blog der undogmatischen radikalen Linken. In ihrem Artikel „Europa. Anders. Machen“? „So. Wird. Das. Nichts“ [S. 1-3] kritisieren sie eine Demonstration in Berlin gegen Austeritätspolitik und EU-Grenzregime, an der am 20.06. 6.000 Menschen teilnahmen. In unserem Artikel Die Isolation durchbrechen! [S. 4]thematisieren wir, wie Menschen, die wollen, sich besser in unserer Bewegung beteiligen können.

„E UROPA . A NDERS . M ACHEN “? „S O . W IRD . D AS . N ICHTS “ 19. Juni 2015 – Von Fatty McDirty Am Samstag ist in Berlin mal wieder „Aktionstag“ mit anschließendem Konzert. Wir brauchen schön langsam wirklich neue Ideen. Ein Vorschlag zur Diskussion, welche das sein könnten Seit vielen Jahren machen wir „Aktionstage“, „Aktionswochen“, bisweilen ganze „Aktionsjahreszeiten“ („heißer Herbst“, der zumeist recht kühl blieb). Jetzt kommt erneut ein „Aktionswochenende“ auf uns nieder. Am Samstag sollen wir zur Aktion schreiten und zwar in der Hauptstadt. Dort ruft ein „breites Bündnis“ (auch diese Formulierung wirkt schmerzhaft bekannt) dazu auf, zuerst zu demonstrieren und sich dann ein Konzert anzuhören (auch das gab´s vor wenigen Wochen mit exakt derselben thematischen Ausrichtung – Flüchtlingspolitik – wenige Kilometer entfernt am Oranienplatz). Diesmal, so erfährt man aus dem Aufruf zu Demo und Konzert, geht es darum, „dass an Europas Außengrenzen seit Jahren und immerfort Tausende geflüchtete Menschen sterben“ und es geht gegen das „Dogma des Neoliberalismus“, gegen TTIP und gegen die Politik der EU gegenüber Griechenland. Das alles sind sinnvolle Anliegen, wichtige Themen werden aufgegriffen

Die Antifa Kritik & Klassenkampf (akkffm.blogsport.de) betreibt in ihrem (von uns stark gekürzten) Text Der kommende Aufprall [S. 5-10] eine tiefgreifende Analyse der Krise und erarbeitet Vorschläge für eine bessere Praxis. Ergänzt haben wir diesen um Zitate einer von ihr veranstalteten Podiumsdiskussion mit der Basisgruppe Antifaschismus Bremen von '... ums Ganze' und den Freund*innen der klassenlosen Gesellschaft aus Berlin. Ungekürzt alles auf der Website der AKKffm.

Ein Text von Erich Mühsam auf S. 11.

und zahlreiche zentrale politische AkteurInnen der deutschen und migrantischen Linken unterstützen das Bündnis. Es ist dankenswert und gut, dass sich Menschen Mühe machen, den organisatorischen und finanziellen Aufwand zu bewältigen, den so ein Tag kostet. Gleichwohl kann man sich nicht ersparen, die Frage zu stellen: Was bringt´s? Aktionstage gingen Stück um Stück über die Bühne. Sie schafften einige Aufmerksamkeit für Themen, ein bis zwei Tage werden sich entsprechende Meldungen in entsprechenden Medien finden. Danach geht man auseinander und schreitet an die Vorbereitung der kommenden Aktionstage. Der Aufruf zu der morgigen Demonstration, die unter dem ob der Interpunktion etwas dadaistisch anmutenden Motto „Europa. Anders. Machen“ abgewickelt wird, ist hinsichtlich des zu erwartenden Outputs erfrischend aufrichtig. Er tut gar nicht mehr so, als könnten wir mit derartigen „Aktionen“ irgendwas ändern. Er sagt lediglich, man wolle damit zeigen, „dass die Bundesregierung nicht für uns spricht“. Ehrlich bis zur Schmerzgrenze heißt es: „Mit unserer Demo wollen wir einem anderen Bild von Europa Raum geben.“ Die Frage, die bleibt, ist: Was sollen die in libanesischen Lagern sitzenden Familien aus Syrien mit diesem „Bild“? Was sollen die vor dem – auch – europäischen Krieg in Libyen Geflohenen, die irgendwo im Mittelmeer aus den Schlepperbooten fallen, mit diesem „Bild“? Was machen die von der – vorrangig aus 1


Deutschland betriebenen – Austeritätspolitik Drangsalierten in Athen mit diesem „Bild“? Und wie verbessert dieses „Bild“ unsere eigene von Prekarisierung und Lohnarbeit oder Erwerbslosigkeit und Elend zertrümmerten Leben? Wie die Aktion werden wird, kann man sich denken, bevor man da war: Erst wird gelatscht, dann wird gequatscht. Wir werden Gregor Gysi und Co. lauschen und anderen, am Ende des Tages wird die Erkenntnis stehen, die wir alle auch schon zur Demonstration mitgebracht haben: Dieses Europa tötet. Soweit so gut. Aber was nun?

K EI N E „ B E SS E RE “ EU,

SO N DE R N GA R K EI N E

Es ist sehr schwer, auf diese Frage eine Antwort zu finden. Der Organisierungsgrad der Linken in Deutschland – wie in den meisten imperialistischen Zentren – ist so gering, dass über Kampfformen wie Generalstreiks kaum nachgedacht werden kann. Und selbst diese (zumindest, wenn sie befristet sind) haben – das zeigt die Erfahrung aus Griechenland oder Spanien – nicht mehr die Wirkung, die man sich von ihnen erhofft. Bevor wir also sprechen, was zu tun sein könnte, achten wir doch einen Moment auf die Theorie, die Analyse, aus der die Praxis des immerwährenden Aktionstags erwächst. Der Aufruf von „Europa. Anders. Machen.“ verrät uns, es gehe darum, dass „Europa“ (gemeint ist natürlich die Europäische Union, ansonsten machen diese Sätze semantisch keinen Sinn) ein „demokratisches und soziales Versprechen“ gegeben habe, das es nicht einlöse: „Statt der einst gepriesenen europäischen Werte von Vernunft, Gerechtigkeit, Freiheit und Demokratie herrscht der technokratische Wahnsinn.“ Man könnte schon hier einwenden, dass es eben gerade nicht „Wahnsinn“ ist, der Flüchtlinge in verwertbare und nicht-verwertbare einteilt und letztere zum Sterben verurteilt, sondern die ganz normale kapitalistische Wert-Rationalität. Wichtiger ist aber noch der Punkt: Es wird nicht gesagt, was diese EU eigentlich für ein Verein ist, sondern es wird geltend gemacht, man müsse sie „besser“ machen, man müsse „das Versprechen

Den Zaun anders machen, langt nicht, man muss ihn einreißen. Das geht aber nur, wenn man gleichzeitig einreißt, was das heutige „Europa“ ausmacht: die kapitalistische Verwertungslogik. 2

von einem solidarischen Europa der Demokratie und der Menschenrechte“ erfüllen. Das Problem ist, dass diese Sätze sehr abstrakt gehalten sind. Würde konkret von der Europäischen Union und nicht immer von einem nicht näher definierten „Europa“ die Rede sein, müssten wir sofort die Frage stellen: Was ist es denn an dieser EU, das wir behalten und besser machen könnten? Ist es die gemeinsame Europäische Außen- und Sicherheitspolitik? Sind es Agrarsubventionen, Programme zur Terrorbekämpfung oder Förderungen urbaner Großprojekte? Würde sich schlagartig alles zum Guten wenden, säßen nur vernünftige, linke Menschen in den Chefetagen der Europäischen Zentralbank, der EU-Kommission, des Europäischen Parlaments oder gar des Europäischen Rats? Das kann niemand glauben. Und dennoch ist genau das das Projekt derer, die sich nicht zu sagen trauen, was offenkundig ist: Die Institutionen der EU wurden weder für uns, noch für Flüchtlinge, griechische ReinigungsarbeiterInnen oder die in sklavenähnlichen Verhältnissen darbenden Tagelöhner auf spanischen Plantagen geschaffen, sie entsprechen Form und Inhalt nach nicht unseren Interessen und wir können sie deshalb auch nicht „von innen“ verbessern. Sie müssen zerschlagen werden.

DIE

EI G EN E

S EI T E

AU F BA U EN

Wer so denkt, den interessiert es höchstens aus taktischen Überlegungen, wer in die EU-Institutionen gewählt wird. Interessant wird bei einer solchen Analyse anderes, nämlich die Frage, wie wir uns eigene Formen von Organisation und Partizipation schaffen können, die Staat und EU zuwiderlaufen, sie untergraben und am Ende sprengen. Um diese Formen – in Ansätzen, klein und noch unscheinbar, aber als Idee schon mächtig – zu finden, müssen wir uns weder Wunderwelten ausmalen, noch gar – obwohl das durchaus sinnvoll ist – in die Geschichte der kommunistischen und anarchistischen ArbeiterInnenbewegung zurückblicken, in der Räte, Betriebe unter Arbeiterkontrolle und Selbstverwaltungsstrukturen allgegenwärtig sind. Wir müssen nur sehen, was die Praxis der Kämpfe in den vergangenen Jahren in vielen Ländern ohnehin schon hervorgebracht hat, diese Formen aufnehmen, analysieren, weiterentwickelt. Sehen wir nach Kurdistan und nehmen wir den Kampf ernst, als etwas, das nicht nur irgendwo in der Ferne unsere Unterstützung verdient, sondern als etwas, das uns hier gegenwärtig werden könnte: Stadtteilstrukturen, Frauenselbstorganisation, der Aufbau von Gegenmacht aus kleinen Einheiten über die Straße, den Stadtteil bis zum Bezirk, der Stadt und darüber hinaus. Zu weit weg? Geographisch etwas näher ist Istanbul: Hier bot uns der Taksim-Aufstand vor zwei Jahren die Erfahrungen der „Kommune vom Gezi-Park“. Noch näher gefällig? In Griechenland entstanden – genötigt durch Krise und Austerität – Stadtteilräte und Versuche einer Selbstversorgung mit basalen Gütern des täglichen Lebens. Be-


triebe wurden besetzt, in Thessaloniki wie in Istanbul, und selbstorganisiert weitergeführt. Es gibt viele dieser Erfahrungen. Sogar in Berlin. Das Bündnis „Zwangsräumung verhindern“ ist so eine Struktur, Kotti&Co. zeigte Ansätze davon, die neuerdings aufgekommene Diskussion um ein „soziales Zentrum“ geht in diese Richtung und „Hände weg vom Wedding“ macht mit seinen Ansätzen von Community Organising auch Ähnliches.

P AR L A M EN T ARI S MU S –> G ÄHN ! Der Aufbau solcher Strukturen von Gegenmacht vollzieht sich nicht auf meterhohen Bühnen im Regierungsviertel. Er braucht auch keinen Gregor Gysi, der ihn „repräsentiert“. Und er muss nicht wünschen, irgendwann die Institutionen der BRD oder der EU durch möglichst viele entsandte FunktionärInnen zu flluten, sondern er arbeitet auf die Zerschlagung der staatlichen und supranationalen Strukturen hin, die niemals unseren Interessen entsprechen werden. „Am Ende ist das Ideal der Commons (horizontaler, basisdemokratischer, tragfähiger Gegenseitigkeit, sowie Entscheidungsfindungen in der eigenen Kommune und radikaler Autonomie) völlig der Staatsform und dem eurozentrischen Regime der Souveränität entgegengesetzt, das bisland der „Container“ unserer „Rechte“, wie wir gewohnt waren, sie uns vorzustellen, war“, schreibt Max Haven im ROAR Magazine.1 „Also muss jedes ‚Recht auf Commons‘ notwendig ein aufständiges Recht, ein radikaler Anspruch an die Unterwanderung und Ersetzung staatlicher Souveränität sein.“ In einem solchen Konzept müssen Parteien wie Die LINKE nicht unbedingt völlig negiert und als Gegner angesehen werden. Sie können eine Rolle spielen, aber nicht, wenn sie, wie derzeit, im Parlamentarismus mit all seinen „Sachzwängen“ ihre Perspektive sehen. Nicht einmal ein „gleichberechtigtes“ Verhältnis von Partei und einer so verstandenen Bewegung ist anzustreben. Die Partei müsste, würde sie etwas Nützliches sein wollen, sich ganz einer solchen Bewegung verschreiben, sich ihr unterordnen und ihre eigenen Ziele als Partei hinter die der realen Bewegung zurückstellen. Das tut sie leider nicht. Da wo sie regiert, das sahen wir in Berlin und sehen wir in Thüringen, wird sie zu einem ganz braven Player im Spiel des Wählste Wulf, geht alles seinen geordneten Gang. 1

ROARMAG.org reflections on a revolution (roarmag.org/2015/06/max-haiven-common-austerity/)

parlamentarischen Spektakels. Da, wo sie nicht regiert, schürt sie Illusionen, alles würde besser, würde man nur endlich „richtig“, nämlich sie, wählen. Unterwürfigkeitsgesten gegenüber dem Gegner, der Wunsch, auch verwalten zu dürfen und das schale Argument, wenn man nicht selber mitspielen würde, würden´s die anderen noch schlimmer treiben, zeichnen heute diese Partei aus. Sicher gibt es auch in dieser Partei viele aufrichtige, gutmeinende Menschen. Diese Kritik ist keine ad hominem. Sie zielt auf die Form der Organisation. Und zu dieser Form lässt sich nur sagen: eine parlamentaristische, sich im vorgesehenen Rahmen bewegende Partei brauchen wir nicht.

S EI EN W I R R EA LI ST I SC H , U N MÖ G LI CH E !

V E RS U C HE N W I R DA S

Kommen wir zurück zum konkreten Anlass des Aktionstages „Europa. Anders. Machen“. Vorrangig geht es um die Flüchtlingspolitik der EU, und das macht ja auch ob der Drastik des Problems Sinn. Aber wie wird das Problem angegangen? Man wird sagen: Der Aktionstag schafft Aufmerksamkeit dafür, dass Menschen an den EU-Außengrenzen sterben. Das ist doch Blödsinn. „Aufmerksamkeit“ ist hier längst geschaffen. Es gibt zwischen dem bayerischen Prutting und Leck in Schleswig sicher keine noch so kleine Siedlung, in die nicht vorgedrungen ist, was im Mittelmeer passiert. Spiegel, Zeit, Welt, gar Bild oder Mopo – niemand, nicht eines dieser Blätter, verschweigt, dass an EUAußengrenzen Menschen sterben. Sogar bei Pro7News und im RTL-Nachmittagsprogramm weiß man davon, und was dort angekommen ist, bleibt selbst dem noch so hartnäckigen Verweigerer politischer Themen nicht verborgen. Was zu tun wäre, wäre zu erklären, warum dort Menschen sterben und wie das zu ändern ist. Das Warum wird im Aufruf zu „Europa. Anders. Machen“ völlig ausgeklammert. Die Krux an der Sache ist doch: Innerhalb der Paradigmen von Kapitalismus und Nationalstaat gibt es keine (!) Lösung des „Flüchtlingsproblems“. Das ist tragisch, weil wir soweit davon entfernt sind, die beiden abzuschaffen. Aber wer es verschweigt, trägt zur Verlängerung des Problems bei. Die Gleichung ist einfach: Solange Kapitalismus und Nationalstaat, solange sterben Flüchtlinge an Grenzen, solange gibts Lohndrückerei, Erwerbslosigkeit und Arschleben hier und in Griechenland. Willste nicht? Gut, musst du mithelfen, Kapitalismus und Nationalstaat wegzubekommen. Im gesamten Aufruf von „Europa. Anders. Machen“ kommt nichts davon vor. Das Wort „Kapitalismus“ fehlt völlig, „Nationalismus“ kommt einmal vor, aber auch der Nationalstaat bleibt ansonsten ungeschoren. Man fragt sich aufrichtig, was denn da eigentlich „Anders.“ gemacht werden soll. Ist das Warum des Massensterbens im Mittelmeer so benannt, müsste auf das oben beschriebene Wie zurückgekommen werden. Klar, wir können und müssen im Hier und Heute konkrete kleine Dinge angehen: Wir können und müssen Flüchtlinge schleusen, sie hier 3


unterstützen, mit ihnen Plätze besetzen, sie in ihren Kämpfen supporten. Aber so traurig es ist: Solange wir hier keine Bewegung haben, die die Verhältnisse gründlich umzuwälzen in der Lage ist, werden Menschen an der Verwertungslogik des Kapitals sterben. Wer das nicht einsieht, und die Illusionen von Parlamentarismus und „Reformen“ weiterverbreitet, muss sich am Ende des Tages die Frage stellen, wem eine solche Politik nützt.

D IE I SOLATION DURCHBRECHEN ! [Die längere Fassung dieses Textes, der von zwei Mitgliedern der Anarchistischen Initiative KL geschrieben wurde, erscheint in der Gai Dao (www.fdaifa.org/gaidao) im Juli 2015. Einige Aspekte, die auch für Menschen außerhalb der anarchistischen Bewegung interessant sind, geben wir hier wider.]

Für eine breite Bewegung braucht es auf jeden Fall sowohl verschiedene Inhalte als auch verschiedene Formen der Partizipation. Verschiedene Inhalte, weil eine Hausfrau, die nicht lohnarbeitet, wohl nicht Mitglied einer Gewerkschaft werden will; aber auch verschiedene Formen, weil politisch aktiv sein mehr bedeutet, als Aufrufe zu schreiben, Flyer zu verteilen und dann eine Demo zu organisieren. Die fehlende Kreativität in Teilen der Bewegung führt zu fehlender Effizienz (das einfache geschriebene Wort ist heute wohl allein nicht mehr in der Lage, die revolutionären Massen aufzustacheln), und zu fehlender Breite in den Gruppen (weil nur die Leute mitmachen, die sich hinter Bergen von Texten immer noch wohl fühlen).Dabei ist die Beteiligungsschwelle bei der anarchistischen Bewegung sowieso schon sehr hoch: wir haben keine formellen passiven Mitgliedschaften, keine Listen auf Wahlzetteln, keine Onlinepetitionen; wer dabei sei will, muss auch wirklich was tun. Wenn aber das niedrigschwellige Angebot nur sehr eingeschränkt ist, dann sollten die Partizipationsmöglichkeiten wenigstens so vielfältig, interessant und (ohne Szenekenntnisse) machbar sein, wie möglich. [...]

O R G AN I S AT I O N S D UA LI S M U S Anarchistische Föderationen wie die FdA existieren, um Anarchist*innen zu organisieren und deren Aktivitäten zu koordinieren. Aktuell bestehen diese Aktivitäten vor allem aus dem Verbreiten anarchistischer Gedanken durch Zeitungen wie die Gai Dao oder Kampagnen mit Vorträgen, Mobimaterialien und Demonstrationen. Dies ist aber natürlich nicht ausreichend, um der befreiten Gesellschaft näher zu kommen oder das kapitalistische System zumindest anzugreifen. Außerdem ist zumindest in der aktuellen Situation nicht zu erwarten, auf diese Weise eine große Masse an Menschen zu organisieren. Deshalb sieht das Konzept des Organisationsdualismus zusätzlich Interessenorganisationen vor. Dies können z. B. anarchosyndikalistische Gewerkschaften wie die FAU sein oder stadtpolitische Bündnisse gegen Gentrifizierung und Zwangsräumungen. Diese Organisationen helfen zum einen anarchistischen Aktivist*innen, die sich eben nicht nur abrackern und auf die Revolution warten müssen, da sie jetzt schon Verbesserungen für sich erkämpfen können.

Es ist ein Vorteil mancher Anarchist*innen wie z.B. der Graswurzelrevolution2, das positive und emanzipative an unserer Bewegung zu betonen. Denn der Anarchismus ist eben für den Großteil der Bevölkerung keine Bedrohung, sondern sollte die Hoffnung auf ein besseres Leben in einer solidarischen und freiheitlichen Gesellschaft sein. Diesem Großteil sollten wir die Möglichkeit anbieten, Anarchist*innen zu sein, ohne deshalb in eine Szenesubkultur eintreten zu müssen. Als ganz normale Menschen, Rebellinnen und Rebellen.

B R EI T E P ART I ZI P AT I O N S MÖ G LI C H K EI T EN Zum anderen können Interessenorganisationen die Homogenität der Bewegung abschwächen. Die anarchistische Bewegung ist größtenteils jung und besteht aus nur wenigen Frauen oder Menschen mit Migrationshintergrund. Da unmittelbare Interessen eben den meisten Menschen wichtiger sind als Utopien, kann die FAU auch rumänische Bauarbeiter organisieren, die sich wohl noch nie mit anarchistischen Theoretiker*innen auseinandergesetzt haben und auch nicht sofort damit anfangen werden, Kropotkins Memoiren zu lesen. 4

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Eine der bedeutendsten anarchistischen Zeitungen im deutschsprachigen Raum mit antimilitaristischer und gewaltloser Ausrichtung, deren Ansichten wir deswegen nicht vollkommen teilen, u.a. fehlt uns der Klassenstandpunkt.


D ER KOMMENDE A UFPRALL A UF DER S UCHE N ACH Z EITEN DER K RISE

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R EIßLEINE

IN

- Strategische Überlegungen 1. E I N L EI T UN G Es gibt bisher trotz aller Diskussion über die Krise in der deutschen Linken keine theoretisch fundierte, aber gleichzeitig gesellschaftlich relevante Praxis, um auf die mit Kapitalismus und Krise verbundenen Entwicklungen reagieren zu können.3 [...] Alle uns bis heute bekannten Versuche, auf die heutigen Krisenbearbeitungsstrategien des Kapitals zu reagieren, konnten die mit ihnen einhergehenden Angriffe auf die Lohnabhängigen nicht abwehren – unsere eigenen inbegriffen. Alle Politik, die über Teilbereichskämpfe hinausweist, begegnet uns in der einen oder anderen Form des Events oder der reinen Kritik. Beide Formen greifen nicht verändernd in unseren Alltag als Lohnabhängige, in die Sphäre der kapitalistischen Produktionsweise ein – unter den derzeitigen Bedingungen bleiben sie als Appell zahnlos. [...]

2. K RI S E Bevor wir zur Diskussion praktischer Perspektiven der radikalen Linken in der Krise kommen, wollen wir kurz darstellen, wie wir die gegenwärtige gesellschaftliche Situation einschätzen, da sich hieraus einige Konsequenzen für die Praxis ergeben.

er ist bei allem, was er tut, angewiesen auf eine funktionierende Kapitalakkumulation, deren Aufrechterhaltung entsprechend sein zentrales ,Interesse‘ sein muss – dies zu betonen, halten wir im gegenwärtigen Suchprozess der (radikalen) Linken für zentral, denn nur eine gehörige Delegitimation des Staats4 eröffnet eine langfristige Perspektive auf eine Selbstorganisation von unten jenseits der herrschenden Logik; wo der Staat als Teil der Lösung und nicht als Teil des Problems verhandelt wird, geht früher oder später jeder Ansatz von Selbstorganisation in staatstragende Organisation über. [...] Dennoch soll ein wesentlicher Aspekt linkskeynesianischer Programme5 hier nicht übergangen werden: Sie können bei entsprechender Ausrichtung dazu führen, dass es eben nicht primär die Lohnabhängigen sind, die den Entwertungsdruck zu spüren bekommen, und in diesem Sinne einen wesentlichen Unterschied machen.6 Sie sollten jedoch mit einem anderen, eben sozialrevolutionären Impetus angegangen werden, d.h. sie sollten nicht als Krisenlösung diskutiert, sondern als Maßnahmen betrachtet werden, die nur sinnvoll sind, wenn sie den Bedürfnissen der Lohnabhängigen entgegenkommen und damit die Krise vorantreiben. Sie wären zu betrachten als einzelne, wirtschaftspolitische Maßnahmen innerhalb eines viel weiter reichenden antikapitalistischen Transformationsprozesses, als Übergangsmaßnahmen, bei denen es darum geht „das letzte Geld sinnvoll (zu) verballern“ (Ortlieb).7 [...]

2. 1 W I D E R S P R U C H & K R I S E N D Y N A M I K

Auch wir gehen davon aus, dass die gegenwärtige Krise Ausdruck der grundlegenden Krisenhaftigkeit der kapitalistischen Produktionsweise ist, die in ihren inneren Widersprüchen angelegt ist. [...] Staaten können im Grunde nur zum Sachwalter des Entwertungsdrucks werden, egal ob dies im Gewand neoliberaler Austeritätspolitik, die Entwertung primär durch den Angriff auf die Lebensverhältnisse der Lohnabhängigen vorantreibt, oder keynesianischer Konjunkturpakete geschieht, die die Entwertung nur weiter hinausschieben. Denn jedes noch so gut gemeinte Konjunkturprogramm wird früher oder später an die Grenze seiner Finanzierbarkeit stoßen [...]. Deshalb teilen wir die These der Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft, dass es – zumindest systemimmanent – keine soziale Krisenlösung gibt. Eine solche ist nur als sozialrevolutionäre Umwälzung der kapitalistischen Produktionsweise zu haben. Diese Perspektive bedeutet für uns auch immer, eine radikale Kritik am Staat zu formulieren. Die Reproduktion verschiedenster – ökonomischer, rassistischer und sexistischer – Herrschaftsverhältnisse ist sein Job; 3

Damit ist weder gemeint, dass wir lediglich die eine richtige Theorie bräuchten, noch, dass es allein an der radikalen Linke läge, ob sie eine gesellschaftliche Relevanz erheischen kann oder nicht.

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Wobei es nicht nur um eine Delegitimation einzelner Repräsentant*innen (seien es Einzelpersonen oder Parteien) oder Repräsentationsmodi geht, sondern um eine Delegitimation des Staats als sozialer Form, um eine Destruktion des ‚Systemvertrauens’. 5 Die Grundidee des Keynesianismus ist es, die Wirtschaft über den Hebel der Nachfrage (Konsum und Investitionen – oder in Marxscher Terminologie: individuelle und produktive Konsumtion) zu steuern. Unter Linkskeynesianismus lassen sich jene Interpretationen der Theorie von John Maynard Keynes verstehen, „die in den von Keynes empfohlenen Maßnahmen der staatlichen Finanzpolitik oder einer ihnen entsprechenden Gewerkschaftspolitik einen Ansatzpunkt für die Realisierung eines Programms sozialer und demokratischer Reformen zugunsten der Arbeiterschaft sehen“ 6 Eine Spaltung der Linken in Etatist*innen und Antiautoritäre ist in dieser Perspektive und wenn es darauf ankommt, die verheerenden sozialen Folgen der Krisenpolitik zu verhindern, wenig sinnvoll. 7 Diese sozialrevolutionäre Herangehensweise wird in aller Regel jedoch durch das linkskeynesianische Versprechen sozialverträglichen kapitalistischen Wirtschaftens verhindert. 5


3. K L A SS E 3. 1 S E L B S T O R G A N I S I E R U N G U N D K L A S S E N K A M P F

„Die Proteste werden dann gefährlich, wenn sie als Klassenkampf angesehen werden.“ (Klaus Schwab, Gründer und Präsident des Weltwirtschaftsforums, 2012) Vor dem Hintergrund der beschriebenen ökonomischen Situation und der durch sie bedingten, sich verschärfenden Angriffe auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen, zu denen der Staat des Kapitals immer wieder ausholt, sowie des Erstarkens antisemitischer, rassistischer und national gesinnter Kräfte, wird eine handlungsfähige Linke immer dringlicher. Im Zusammenhang mit dem Ziel, handlungsfähig zu werden, das heißt auch die eigene Marginalität zu überwinden, ist immer wieder die Rede von der Selbstorganisierung, die in Gang gebracht werden soll und als Ausweg aus der Misere sowie sozialrevolutionäre Perspektive diskutiert wird. Diese Perspektive teilen wir grundsätzlich, doch stellt sich uns zunächst die Frage, wer sich überhaupt als Subjekt dieser Organisierung begreift bzw. begreifen könnte. Die klassisch marxistische Antwort, es sei das Proletariat oder die Arbeiter*innenklasse, scheint vor dem Hintergrund, dass sich heute anscheinend kaum jemand diesen Begriffen zuordnet, äußerst unbefriedigend und abstrakt. Doch ohne Träger*innen sozialrevolutionärer Veränderung kann es diese nicht geben. Handlungsfähigkeit unsererseits ist nicht denkbar ohne das Anknüpfen an potenzielle Subjekte der Selbstorganisierung. Es stellt sich uns also weiter die Frage, wer diese sein könnten. Klar ist: Es gibt kein per se revolutionäres Subjekt, so wenig wie es die ‚Klasse für sich‘ gibt. Der Prozess der Konstituierung potenzieller Träger*innen sozialrevolutionärer Veränderungen bedarf vielmehr einer bestimmten Form der politischen Auseinandersetzung, welche momentan nicht gegeben ist. a) Gerade in der Krise tritt die Abstraktheit nicht über sich selbst hinausblickender Alltags- und Interessenkämpfe von Lohn- und Reproduktionsarbeiter*innen, Mieter*innen, Student*innen u.a. besonders deutlich hervor. Der Mangel an gesellschaftlicher Kontextualisierung der vereinzelten Kämpfe der Lohnabhängigen und der sie repräsentierenden Organisationen macht sie zu langfristig wirkungslosen Erscheinungen. [...] Erst wenn der Widerspruch zwischen den eigenen Interes-

sen und Bedürfnissen und denen des Kapitals, der sich in dieser Form des politischen Kampfes ausdrückt, von den Kämpfenden auf die gesellschaftliche Totalität bezogen wird, das heißt die eigene Position innerhalb dieser verortet wird, konstituieren sich potenzielle Träger*innen sozialrevolutionärer Veränderung. Dieser bewusste Totalitätsbezug, in dem die eigene Position innerhalb des Reproduktionsprozesses des Kapitalverhältnisses reflektiert wird, ist es, den wir als Klassenbewusstsein verstehen. b) Demgegenüber steht die Abstraktheit der Kämpfe linker Politgruppen, die ihren Blick immer an sich selbst vorbei auf die Abschaffung des Kapitalismus richten. Der Mangel an Verankerung in Alltags- und Arbeitskämpfen macht sie zu wirkungslosen Erscheinungen. Das Selbstbewusstsein, mit dem moralische Appelle auf den alljährlichen Großevents vorgetragen werden, ist angesichts des fehlendes Einflusses auf die Reproduktionsprozesse gesellschaftlicher Herrschaft absurd. Auch die linksradikalen Aktivist*innen stehen – daran muss man (sich selbst) scheinbar immer wieder erinnern – in einem materiellen Verhältnis zur Verwertung des Kapitals, sind selbst Ausgebeutete. Nur wenn ihre Kämpfe direkt in dieses Verhältnis eingreifen, haben sie Einfluss darauf und können so antikapitalistisch wirken. [...] Die Forderung nach der Abschaffung des Kapitalismus muss sich aus dem Widerspruch, in dem die Bedürfnisse des eigenen Lebens zu den Bedürfnissen des Kapitals stehen, ergeben; sie bleibt idealistisch, solange sie reine Erkenntnis des gesellschaftlichen Ganzen bleibt und nicht die Bewegung des aus sich heraustreibenden Widerspruchs im Besonderen ist. Es zeigt sich, dass weder die systemimmanenten Einzelforderungen reiner Interessenkämpfe noch die scheinbar außerhalb des Systems stehenden Forderungen nach der Abschaffung des Kapitalismus ihr Ziel erreichen können – es mangelt ihnen am jeweils Anderen. [...] Vor dieser Beziehung bleiben die einseitigen Momente abstrakt. Diese Abstraktheit ist ihre politische Ohnmacht. Das Potenzial beider Formen des Kampfes kann sich nur in ihrer Verbindung realisieren. Der bewusste Kampf gegen die eigene Proletarität schafft die Möglichkeit der Konstituierung eines sozialrevolutionären Selbstorganisierungsprozesses. Die vermittelnde Kategorie beider Pole ist der Klassenkampf, der ohne Klassenbewusstsein nichts ist. Die Subjekte der „Selbstorganisation“ sind die klassenbewussten Proletarier*innen.

Das Bild zeigt ein Transparent der Anarchosyndikalistischen Jugend Berlin bei einer Demo für die um ihren Lohn geprellten Arbeiter der „Mall of Berlin“. 6


---------Einschub: Klasse, Klassenkampf, Klassenbewusstsein ---------ZUM BEGRIFF DER KLASSE

Wenn wir hier den Begriff der Klasse hervorkramen und versuchen politisch nutzbar zu machen, geht es uns nicht darum, einen alten Klassenbegriff aufzuwärmen, der zu Recht in vielerlei Hinsicht kritisiert wurde. [...] Dennoch ist und bleibt davon auszugehen, das kapitalistische Gesellschaften stets Klassengesellschaften sind – zunächst in dem ganz grundlegenden Sinne, dass sie auf einer Trennung der Produktionsmittel von den unmittelbaren Produzent*innen beruhen, die zugleich mit der Trennung von Lohn- und Hausarbeit, von Produktions- und Reproduktionssphäre einhergeht. Diese Trennung bedeutet, dass die Menschen, die den gesellschaftlichen Reichtum produzieren, nicht über ihn verfügen können, d.h. ihnen ist – in beiden Sphären – die Kontrolle über die zu ihrer Reproduktion notwendigen materiellen, sozialen und zeitlichen Bedingungen entzogen. Dies liegt nicht einfach am bösen Willen der Kapitalist*innen, es ist vielmehr der systemische Charakter der Heteronomie hervorzuheben; die Klassenherrschaft in kapitalistischen Gesellschaften ist in eine Form anonymer, subjektloser Herrschaft eingegliedert, die auch der herrschenden Klasse das Gesetz der Kapitalakkumulation aufzwingt. Dennoch hegt die Kapitalist*innenklasse ein besonderes Interesse an der Aufrechterhaltung dieser Gesellschaftsordnung. Sie setzt ihre Herrschaft ständig durch ideologische und materielle Gewalt bewusst um. So sind es (auf qualitativ andere Weise) die Bedürfnisse der Lohnabhängigen, die stets zu kurz kommen. ---------Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft: Was zu tun ist: Herauszuarbeiten, warum es gute Gründe für deutsche Prolet*innen gibt, warum ihnen der eigene Arbeitsplatz näher ist als die Solidarität zu Klassenbrüdern und -schwestern in Griechenland. ZUM BEGRIFF DES KLASSENKAMPFES

Vor diesem Hintergrund bedeutet Klassenkampf nicht schlicht den Kampf von (proletarischer) Klasse gegen (kapitalistische) Klasse, sondern ist als Kampf um die Aneignung der materiellen, sozialen und zeitlichen Bedingungen der Reproduktion bzw. der Bedürfnisbefriedigung zu verstehen, der nicht bloß ein Kampf innerhalb und – im besten Fall – gegen das Klassenverhältnis, sondern auch innerhalb und – im besten Fall – gegen das übergreifende Kapitalverhältnis und andere (etwa rassifizierte, vergeschlechtlichte) Ausbeutungsverhältnisse ist. [...] Der Begriff des Klassenkampfes erfüllt für uns eine dreifache Funktion:

1. Er bietet die Möglichkeit, eine Klammer zwischen verschiedenen Kämpfen (in Produktions- und Reproduktionssphäre) herzustellen. 2. Er verweist auf den potentiellen Widerspruch zwischen den „Bedürfnissen des Kapitals“ (Marx) und den daran hängenden Interessen ihrer privaten und staatlichen Funktionär*innen einerseits und den Bedürfnissen der Lohnabhängigen andererseits. 3. Er kann so zwischen Theorie und Bedürfnissen vermitteln und damit dazu beitragen, dass Kritik und Theorie zur materiellen Gewalt werden. [...] Basisgruppe Antifa: „Klassenkampf ist einfach immer da, wo es eine Klassengesellschaft gibt; die eine versucht die andere… ihr kennt das, wenn ihr zur Arbeit geht oder so ... es ist das notwendige Verhältnis der Klassen zueinander. In diesem Klassenkampf bringt jede Seite ihr jeweiliges Interesse vor und versucht es durchzusetzen; wobei die Klasse, der ich zugehörig bin, gerade nicht so gut dabei ist. Trotzdem, auch wenn wir nicht erfolgreich sind, ist das immer Klassenkampf. Indem ich aber losgehe, meine Interessen als Klasse durchzusetzen, verbleibe ich affirmativ immer auf dem Boden der Klassengesellschaft. Das ist nicht das revolutionäre Moment darin.“ 3. 2 . B E D Ü R F N I S U N D K L A S S E N B E W U S S T S E I N

„Die Theorie wird in einem Volke nur so weit verwirklicht, als sie die Verwirklichung seiner Bedürfnisse ist […]. Eine radikale Revolution kann nur die Revolution radikaler Bedürfnisse sein.“ (MEW) „To make love and to refuse night work to make love, is in the interest of the class“ (Dalla Costa) Wenn wir betonen, dass wir den (Praxis-)Begriff des Klassenbewusstseins für wichtig halten, weil mit diesem der Bezug auf die Totalität kapitalistischer Vergesellschaftung hergestellt werden kann, bedeutet dies nicht, dass wir einem industrieproletarisch verengten Begriff von Klasse aufsitzen. Klar ist: Die konkreten Lebensrealitäten derer, die gezwungen sind, von dem zu leben, was der Verkauf seiner*ihrer Arbeitskraft abwirft bzw. was die Arbeitskraft derer abwirft, von denen sie abhängig sind, sind nichts Homogenes, sondern durch verschiedene Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse in sich weiter fragmentiert. Insofern ergeben sich daraus auch verschiedene Anknüpfungspunkte für die Entstehung von Klassenkämpfen. Klassenbewusstsein kann dann als der Versuch beschrieben werden, im Kampf ein Gemeinsames zu finden. [...] Das Gemeinsame ergibt sich daraus, dass die verschiedenen Herrschaftsverhältnisse nicht einfach unvermittelt nebeneinander stehen, sondern Teil einer Totalität sind, die gebunden ist an abstrakte Arbeit, Ware, Mehrwert, Akkumulation, Zweigeschlechtlichkeit, geschlechtlich konnotierte, unentlohnte Reproduktionsarbeit sowie an einen rassifizierenden Nationalstaat 7


und Imperialismus. Klassenbewusstsein ist dabei weit mehr als ein bloß wissenschaftliches Erkennen, sondern ergibt sich aus der Dialektik von Theorie und Praxis und vermittelt sich über die Basis- und Selbstorganisierung. Besonders offen treten die sonst versteckten ökonomischen Kräfte und die dahinter liegende Gewalt in sozialen Kämpfen hervor, woraus sich Reflexion, Organisationsbildung und Spontaneität (im Sinne der Selbstorganisation) ergeben können. [...] Bedürfnisse können in einer Gesellschaft, in der die Bedürfnisbefriedigung der Menschen nur ein Abfallprodukt der Mehrwertproduktion ist, ein wichtiger Ausgangspunkt für sozialrevolutionäre Veränderungen sein. Dabei sind es insbesondere die Bedürfnisse der Lohnabhängigen, die immer wieder negiert und den herrschenden Verhältnissen subordiniert und eingepasst werden. [...] Eine materialistische Perspektive auf Bedürfnisse tritt einem unmittelbaristisch oder ontologisch gefassten Bedürfnisbegriff entgegen.8 Bedürfnisse sind nicht ahistorisch als richtige oder falsche, allgemeinmenschliche oder spezifisch-kapitalistische Bedürfnisse zu kategorisieren. In kapitalistischen Verhältnissen ist es die erste Bedingung der Produktion einer Ware, dass sie „menschliche Bedürfnisse irgendeiner Art befriedigt“ (MEW). Die Herrschaft des Kapitals ist damit aber nicht nur in ihrem Innersten von den bedürftigen Menschen abhängig, sondern produziert gleichzeitig seine Bedürftigkeit auf historisch qualitativ spezifische und neue Weise. Gleichzeitig können, da die Produkte gesellschaftlicher Arbeit privat angeeignet werden, die von der kapitalistischen Produktionsweise hervorgerufenen Bedürfnisse nur durch Zahlung befriedigt werden. Diese systematische Restriktion der Bedürfnisbefriedigung, ihre Subsumtion unter die Zahlungsfähigkeit, bedeutet, dass die gesellschaftlich produzierten Bedürfnisse ein die Herrschaft des Kapitals transzendierendes Potential enthalten. Gleichzeitig sind sie – mit H. Marcuse – zu verstehen als bereits von Herrschaftsinteressen der bestehenden Gesellschaft historisch geformte und durch den Sozialisationsprozess vermittelte. Sie sind Resultat einer Verinnerlichung der Leistungs- und Konkurrenzanforderungen des Kapitals an die Lohnabhängigen und tragen so zur kulturellen und psychischen Verelendung bei. In dieser Hinsicht sind sie Modalitäten der Aggression und des Elends, die die Unterdrückung verewigen. Bedürfnissen kommt damit ein Doppelcharakter zu: Sie sind immanentes, das Kapital stützendes und ihm verpflichtetes Produkt kapitalistischer Produktionsweise und gleichzeitig ihr von ihr selbst hervorgebrachter Totengräber. Das Radikale am Bedürfnis lässt sich mit 8

Mit erstem operiert – ohne sich dessen bewusst zu sein – der Teil der Bewegung, der sich stark an Hedonismuskonzepten orientiert („Drogen, Techno, Antifa“), mit dem zweiten eher der grün-alternative Teil der Linken. 8

Hilfe allgemeingültiger Maßstäbe praktisch realisieren, „die sich auf die optimale Entwicklung des Individuums, aller Individuen, beziehen unter optimaler Ausnutzung der materiellen und geistigen Ressourcen, über die der Mensch verfügt“ (Marcuse) und die sich historisch weiter entwickeln. Radikal sind Bedürfnisse, insofern sie zur Abschaffung von entfremdeter Lohnarbeit, Leid, Armut und Krieg hintreiben – sie zielen auf Kooperation und Solidarität, auf Befriedung, Kontemplation und Muße. Kurz: Es sind menschliche Bedürfnisse auf der Höhe des historisch Möglichen und Wünschbaren und als solche befinden sie sich in einem antagonistischen Verhältnis zur bestehenden Gesellschaft. Indem die politische Praxis diese aufgreift, kann ein Bewusstsein befördert werden, das die Grenzen der Repression überschreitet. Der Blick auf die Produktion und Negation der Bedürfnisse bringt die verschiedenen Spaltungslinien der kapitalistischen Herrschaft zu Tage. [...]

4. P R AXI S Die zu Beginn der Krise aufgekommenen Hoffnungen, dass die Krise auch in Deutschland, dem imperialistischen Zentrum Europas, zu verschärften sozialen Konflikten emanzipatorischen Gehalts führen würde, haben sich bisher nicht erfüllt. Der Großteil der Menschen scheint eine Haltung von grün bis tiefbraun einzunehmen, die eine Verteidigung des Standorts Deutschland als alternativlos akzeptiert. Zu den Abwehrkämpfen abseits linksradikaler Wunschprojektion und tatsächlicher, aber marginalisierter, Intervention lässt sich festhalten: „Abwehrkämpfe gibt es, doch antikapitalistische Ansätze oder gar Utopien stoßen auf Desinteresse.“ (Avanti Berlin). Anders sieht es auf Grund der dramatischen Konsequenzen in den stärker betroffenen Ländern aus, nur fehlen auch dort bisher sichtbare Erfolge. Die durchaus beachtenswerten Aktionen und Prozesse der Solidarisierung und Selbstorganisierung konnten die krisenpolitischen Angriffe der Troika nicht abwehren. Zudem kommt es zu keiner nennenswerten Verbindung zwischen den Betroffenen dort und den weniger Betroffenen hier. Dagegen haben reaktionäre, vermeintliche Krisenlösungen Hochkonjunktur, wie die Europawahlen 2014 zeigten: der Front National in Frankreich, die United Kingdom Independence Party, die Jobbik in Ungarn oder die Alternative für Deutschland konnten hohe Wahlergebnisse erzielen. Bis tief ins bürgerliche Lager zeigen sich starke Tendenzen nach rechts. Auf den Montagsdemonstrationen seit 2014 absorbierte eine komplett verballerte, antisemitische Verschwörungsideologie das Unbehagen der Menschen mit den klassisch linken Themen Frieden und Antimilitarismus. Mit PEGIDA und Co., gegen Ende des Jahres, trat offen zu Tage, wie es um den Bewusstseinsstand der sogenannten Mitte der Gesellschaft steht. Die herrschende Politik reagiert, wie Anfang der 1990er, mit einer Verschärfung der Asylregelungen.


Aus dieser kurzen Bestandsaufnahme lässt sich für uns nur der Schluss ziehen, dass es umso dringender einer linken Politik bedarf, die sich aus ihrer Zurückgezogenheit und dem Zurückgedrängtsein herausarbeitet. Auf der einen Seite antifaschistisch, mit dem offensiven Entgegentreten rechter Tendenzen von populistisch bis radikal und andererseits mit der Verbreitung eigener Analyse und der solidarischen Intervention in bestehende und dem Führen eigener Klassenkämpfe. Von Beginn der Krise an ist es vermessen gewesen, in die Krise und die damit verbundene eigene Politik alle Hoffnung auf ein emanzipatorisches Vorhaben zu setzen. Angesichts der Gefahr und bitteren Realität reaktionärer Krisenantworten bleibt uns jedoch nichts anderes übrig, als jetzt unsere eigenen Analysen, unsere Politik und Alternativvorschläge kritisch zu hinterfragen und umso schärfer in die Auseinandersetzungen zu gehen. [...] Seitdem sich der Großteil der radikalen Linken von Arbeitskämpfen entkoppelt hat und ohne gesellschaftlich verankerte Bewegung agiert, sind Events die vorherrschende Form der eigenen Politik geworden. Grundsätzlich halten wir Großmobilisierungen weiterhin für einen wichtigen Bestandteil politischer Arbeit, wenn es darum geht, sichtbar zu werden und gesellschaftliche Konflikte zuzuspitzen, Meinungshoheiten medial zumindest zu kontrastieren und einen gemeinsamen Ausdruck ansonsten vereinzelter Tageskämpfe zu finden. Doch geben erfolgreich organisierte Großdemonstrationen und „Blockaden“ einer EZB oder ähnlichen Zielen mit Systemcharakter nur Auskunft über eben unsere Fähigkeiten der Organisation und Mobilisierung und nicht unserer gesellschaftlichen Wirkung. Bezogen auf „uns“, die Organisierenden und Demonstrierenden, muss festgestellt werden, dass es nicht einfach darum gehen kann, Zehntausende auf die Straße zu bringen, die in ihrer Freizeit den Kapitalismus kritisieren, um ihm danach wieder voll und ganz zur Verfügung zu stehen. Bezogen auf die bisher befriedeten lohnabhängigen Zuschauer*innen lässt sich sagen, dass ein kritisches Bewusstsein eben äußerst selten als von außen herangetragene Position in Form von Demonstration, Flugblatt und Medienbericht entsteht. Inwiefern wir die systemrelevanten Akteur*innen mit unseren Events unter Druck setzen, ist schwer zu sagen. Das Geheule der Gegenseite ob eines gesellschaftlichen Auseinanderbrechens vor und nach jedem Event ist nicht viel mehr als kalkulierte Angstmache. Der Kostenfaktor eines verlorenen Arbeitstages durch die Blockade eines Geschäfts ist unwesentlich, verglichen mit der alltäglichen Verwertung. Unsere Solidaritätsbekundungen mit den Kämpfenden anderer Ländern blieben das, was sie eben sind: verbale Äußerungen. Was es unserer Ansicht nach in den hiesigen Verhältnissen hingegen braucht, ist eben die kontinuierliche dezentrale, aber strategisch fokussierte Aktivität in Produktion und Reproduktion, also dort, wo Alltag und Kritik ihre momentane Trennung überwinden könnten. Nur diese könnte uns in die Lage versetzen, das Funktionieren des kapitalistischen Systems, auch

im Sinne anderer Betroffener, zu behindern. Erst auf Grundlage dieser im Alltag verankerten Strukturen würde ein Event mehr sein als Protest, eben der oft benannte, aber selten eingelöste „Kristallisationspunkt“ vorhandener Kämpfe. [...] Inhaltlich geht es uns um nichts weniger als die soziale Revolution, aufbauend auf unserem oben dargelegten Verständnis von kapitalistischer Gesellschaft und Klassenkampf. In diesem Sinne verstehen wir die soziale Revolution als Überwindung der Klassenverhältnisse und als Prozess der Selbstaufhebung des Proletariats und der Abschaffung der Lohnarbeit. Dieser hier umrissene Ansatz soll in Abgrenzung zu Kategorien wie der Multitude oder konstituierender Macht, oder auch einem bloßen gemeinsamen Forderungskatalog, Grundlage unserer politischen Arbeit sein. Das Gemeinsame besteht zunächst als Negatives, als geteilter Problemzusammenhang, und das Positive kann sich erst im Kampf dagegen als Gemeinsames entwickeln. Die von uns hier entfaltete erweiterte Kategorie des Klassenbewusstseins ist theoretischer Ausgangspunkt unseres Strategievorschlags, um die Protestierenden und Kämpfenden – also nicht zuletzt auch uns selbst – zu einer Reflexion ihrer/unserer jeweiligen gesellschaftlichen Position zu provozieren, die nicht bei einer Politik der ersten Person stehenbleibt, sondern auf die gesellschaftliche Totalität als den gemeinsamen Bezugspunkt abhebt. Dabei geht es nicht darum, vorhandene Kämpfe unter dem Begriff des Klassenkampfes zu subsumieren, sondern diese viel eher wieder um die mit dem Klassenbegriff verbundenen Aspekte kapitalistischer Vergesellschaftung zu erweitern. Es geht also um den Versuch, den spezifischen Kampf um 2% mehr Lohn oder gegen die Maßnahmen der Agentur für Arbeit über die unmittelbaren Interessen hinaus zu ‚politisieren‘. In der Praxis vermittelt sich der gesellschaftliche verbindende Problemzusammenhang im Prozess der praktischen Solidarisierung. Solidarität ist dabei sowohl Voraussetzung für das praktische Entstehen von Klassenbewusstsein wie auch als dessen Resultat zu begreifen. Durch die Versuche, die Durchsetzung der eigenen Interessen mit der Durchsetzung anderer Interessen – die auch durchaus gegensätzlich sein können – zusammenzuführen, entstehen praktisch motivierte Fragen nach realen Trennungs- und Verbindungslinien zwischen den Kämpfenden im gesellschaftlichen Funktionszusammenhang. Auf dieser Grundlage können die Möglichkeiten gemeinsamer Praxis diskutiert werden und erst durch diese geteilte Perspektive kann ein wirklicher Austausch, eine gemeinsame Politik unter den Kämpfenden entstehen. [...] Ansätze einer praktischen Solidarität gibt es immer wieder und immer noch von Einzelpersonen, Gruppen und auch punktuell durch größere Bündnisse, aber eben nicht forciert als langfristige, übergreifende Organisierung, welche wir hier vorschlagen wollen. Damit Solidarisierungsprozesse nicht einfach wieder verpuffen, bedarf es einer Verfestigung der entstehenden 9


Kommunikations- und Koordinationsstrukturen in einer Organisierung, die vor allem als Informationsund Kommunikationsstruktur fungiert. In ihr können Erfahrungen geteilt, reflektiert und weitergegeben werden, sowie gemeinsame Aktionen zeitlich, räumlich und inhaltlich koordiniert werden. Ziel einer solchen Organisierung muss es unseres Erachtens sein, die Selbsttätigkeit der Kämpfenden zu fördern, ganz in dem oben erwähnten Sinne, dass Emanzipation das Selbsttätigwerden in der Geschichte bedeutet. Drei Dimensionen halten wir hierfür zunächst für sinnvoll, welche zwar möglichst zeitnah, aber eben auch in ihrer je notwendigen Zeit nebeneinander wachsen sollen. 1. Politische Gruppen und politisierte Kämpfe (dazu zählen für uns z.B. auch linke Gewerkschaftsinitiativen) organisieren sich nach ihren eigenen Interessen in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld und gehen solidarisch auf die Kämpfe in ihrer Umgebung/Sparte zu und unterstützen diese möglichst in einer regionalen Basisorganisierung. Dies ist die Ebene einer konkreten Vernetzung, welche an den Alltagsinteressen der Menschen (im Betrieb, der Uni, in der Hausarbeit) ansetzt und hier die Basis, wie auch Kontakte und Orte für eine gemeinsame solidarische Politik schafft. Damit einher geht für uns die gegenseitige Hilfe durch Erfahrungsaustausch sowie technische und finanzielle Hilfe. 2. Eine überregionale Vernetzung der bereits politischen Gruppen/Kämpfe und regionalen Bündnisse ermöglicht es zunächst ganz praktisch, überregional handlungsfähig zu werden. Nach innen soll diese überregionale Verbindung unser Ort der gemeinsamen politisch-strategischen Beratung und politische Konstante sein. Jedoch soll sie dabei kein Ort der zentralen Entscheidungsgewalt über die Kämpfe vor Ort sein. Ziel der Vernetzung ist es, zu einer möglichst gemeinsamen, koordinierten Praxis zu gelangen, die über alle kurzfristigen Mobilisierungen, Events und Standortlogiken (lokal, wie national) hinausweist und spürbar in die Reproduktion der Verhältnisse eingreift. 3. Der Aufbau eines Büros zur organisatorischen Unterstützung der Beteiligten, dessen Aufgabe es wäre, die direkten Verbindungen unter den Beteiligten zu stärken. [...] Auf der anderen Seite kann das Büro die Aufgabe eines Verstärkers übernehmen, wenn es um dringende Aufrufe an möglichst viele Teile der Organisierung geht. Darüber hinaus kann es in seiner unterstützenden Rolle Presse- und Propaganda-Arbeit im Sinne der laufenden Kämpfe übernehmen, Mediation zwischen den Beteiligten vermitteln, Vollversammlungen und Kongresse sowie finanzielle Unterstützung für die Beteiligten organisieren. Für die Erarbeitung komplexer Themenbereiche und deren Bedeutung für die Kämpfe, wie z.B. einer Einschränkung des Streikrechts, könnte das Büro zudem innerhalb des Netzwerks nach Expert*innen suchen, die Einschätzungen dazu formulieren könnten und diese an die Beteiligten als Entscheidungshilfe weitergeben. Um Tendenzen 10

der Verselbstständigung des Büros vorzubeugen, sind die jeweils dort handelnden Menschen mandatgebunden, jederzeit abwählbar und möglichst nach dem Rotationsprinzip besetzt. Alle drei Dimensionen (die praktische Soli-Arbeit, die politische Vernetzung und Reflexion sowie das Büro für organisatorische und inhaltliche Unterstützung) dienen der Schaffung von Verbindungen zwischen den verschiedenen Kämpfen, so dass sich die Basis auf der Straße und in den Betrieben verbreitert oder transnationaler Widerstand zu anstehenden Themen gleichzeitig wirkungsmächtig wird. Würde alles wie geschmiert laufen, so würden sich die Kämpfe immer mehr untereinander koordinieren; letztlich auch die Arbeit in Form einer politischen Gruppe, wie wir sie heute in unserer Defensivposition praktizieren, überflüssig werden. Mehr noch: Die unterschiedlichen Basisorganisationen, könnten als Keim einer sich herausbildenden Rätedemokratie und der umfassenden gesellschaftlichen Selbstverwaltung fungieren [...]. Die von uns vorgeschlagene Art einer sozialrevolutionären Organisierung gibt es momentan nicht, sie muss aufgebaut werden.9 Wie eine solche Organisierung konkret gestaltet und praktisch geschaffen werden kann, ist für uns die entscheidende Frage, welche beantwortet werden muss, und dies kann nicht von uns allein geleistet werden. Ziel unserer Strategie ist es, klassenbewusst eine emanzipatorische Gegenmacht zu Staat und Kapital aufzubauen, die insbesondere in Krisenzeiten eine praktische wie theoretische Alternative zu reaktionären Lösungsvorschlägen bieten kann. Also eine Politik, die den tatsächlichen Kampf mit den Herrschaftsverhältnissen wieder dort aufnimmt, wo sie sich direkt entfalten. An diesem Vorschlag ist vieles aufregend, aber wenig neu. [...] In der Gegenwart gibt es Initiativen Gewerkschaftslinker und revolutionärer Basisgewerkschaften,10 die betriebliche Kämpfe als Kampf gegen das Lohnsystem begreifen und deren Politikansätze in die zu beschreitende Richtung weisen. Unser PolitikVorschlag beruht auf einer Reaktualisierung und Repolitisierung des Klassenbegriffs, der auch Kämpfe gegen weitere Herrschaftsverhältnisse mit einschließt und eine praktische Verbindung der Kämpfe leisten soll. Was von dieser Idee eingelöst werden kann, ist eine Frage der gemeinsamen Praxis und nicht allein der Theorie. 9

Uns ist klar, dass solche Reisepläne in Richtung Utopia zunächst einigermaßen lächerlich wirken. Doch wer von Strategie redet, darf von ihrer Umsetzung nicht schweigen. Ihre Umsetzung aber hängt in der Praxis nicht vom starken Willen der Strateg*innen ab, sondern von Prozessen, deren Verlauf nicht in ihren Händen liegt. Daher die relative Hilflosigkeit der Schritt-für-Schritt-ins-Paradies-Pläne. Doch letztlich führt kein Weg in eine befreite Gesellschaft daran vorbei, gemeinsam praktische Ziele auszuloten und zu setzen und zu versuchen sie zu erreichen. 10 Zum Beispiel die FAU (www.fau.org), Wobblies (www.wobblies.de), TIE (www.tie-germany.org) u. a.


Z UR E INIGUNG DES R EVOLUTIONÄREN P ROLETARIATS Erich Mühsam war Anarchist und beteiligt an der Münchener Räterepublik 1919. In der darauffolgenden Haftzeit war er für wenige Monate Mitglied der KPD und schrieb nach seinem Austritt 1920 den Text ‚Zur Einigung des revolutionären Proletariats im Bolschewismus‘, aus dem wir einen kurzen Abschnitt hier abdrucken. 1934 wurde er von den Nazis ermordet. Es bleibt der einzige Ausweg, der mir gangbar scheint und den ich zu betreten den deutschen Kommunisten, Genossen aller Richtungen dringend empfehle. Das ist die Schaffung einer kommunistischen Föderation. Man überlege folgendes: Was die kommunistischen Organisationen, die Syndikalisten und die kommunistischen Anarchisten voneinander trennt, ist nichts, was in den Fragen der sozialen Revolution selbst und ihrer nächsten Zwecke miteinander kollidierte. Eine grundsätzliche Gegnerschaft besteht zwischen ihnen nicht. Ihre Differenzen begegnen sich durchweg auf dem Gebiete der taktischen Organisation, also der revolutionären Koalitionsform und gewisser Probleme des außerrevolutionären Verhaltens (Parlamentarismus, Gewerkschaftswesen, gesetzliche Betriebsrätewahlen). Diese Differenzen sollen und müssen in aller sachlichen Schärfe ausgetragen werden, denn die kommunistische Bewegung ist kein Harmonieklub, sondern eine Kampfgemeinschaft. Aber eine gänzliche Verbindungslosigkeit zwischen diesen Gruppen ist gefährlich und schädlich. Weder die Auflösung der bestehenden Organisationen noch die Sammlung aller Kommunisten in einer von ihnen ist im Moment möglich. Also müssen die Organisationen als solche miteinander einig werden. Mit einer Kartellierung der bestehenden Organisationen wäre allerdings die Frage noch nicht gelöst. Die Anarchisten sind zumeist nur in lockeren Diskussionsklubs miteinander verbunden, die ihrer Art nach einer korporativen Einfügung in die Föderation widerstreben, die Syndikalisten kennen nur wirtschaftliche Zusammenschlüsse. [...] Die Föderation müßte demgemäß sowohl ganzen Korporationen als auch Einzelindividuen offen stehen bei allen vorausgesetzt das unbedingte Bekenntnis zur Diktatur des Proletariats. [...] Die Vorteile der Föderation liegen zutage. Sie bestehen nicht allein in der Gewährleistung einheitlicher Entschlüsse aller kommunistisch gerichteten Strömungen, die Zusammenfassung wird vor allem auch bei künftigen Kämpfen wirksam zur Geltung kommen. [...] Das Bewußtsein im Proletariat, daß hier der Einigung schon mächtig vorgearbeitet ist, wird den Ratschlägen der Kommunisten eine ganz andere Wucht verleihen, als wenn sie als eine von den Parteien einfach am Beratungstisch routinierter Funktionäre Platz nehmen dürfen. Garnicht zu reden von der ungeheuren Verstärkung der agitatorischen Wirkung auf die Massen. [...]

Sollte der nicht stichhaltige Einwand erhoben werden, daß nachhaltige kommunistische Aufklärung, Arbeit und Aktion nur im Rahmen einer streng umgrenzten Partei möglich sei, so soll ja die Parteiarbeit ungestört bleiben. Aber der Ansicht, daß hermetischer Abschluß Bedingung für gedeihliches Wirken sei, widersprechen auch die Lehrer und Begründer des marxistischen Kommunismus selbst. Darüber heißt es im Kommunistischen Manifest: »Die Kommunisten sind keine besondere Partei gegenüber den anderen Arbeiterparteien. Sie haben keine von den Interessen des ganzen Proletariats getrennten Interessen. Sie stellen keine besonderen Prinzipien auf, wonach sie die proletarische Bewegung modeln wollen.« Die Unterscheidung liegt darin, daß sie »einerseits in den verschiedenen nationalen Kämpfen der Proletarier die gemeinsamen, von der Nationalität unabhängigen Interessen des gesamten Proletariats hervorheben und zur Geltung bringen, andererseits dadurch, daß sie in den verschiedenen Entwicklungsstufen, welche der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie durchläuft, stets das Interesse der Gesamtbewegung vertreten«. Darin wird also jedes engherzige Parteiwesen verworfen und als Bedingung für den Zusammenschluß nur verlangt, daß das Interesse der Gesamtbewegung der jeweiligen Entwicklungsstufe des Klassenkampfes gemäß hervorzuheben und zur Geltung zu bringen ist. Besteht Einmütigkeit darüber, daß Interesse der proletarischen Gesamtbewegung zur Zeit im Sturz des Kapitalismus zu suchen ist, so sollen innerhalb dieser Verständigung keine besonderen Prinzipien aufgestellt werden, wonach die proletarische Bewegung zu modeln wäre. Geschieht daß durch einzelne Parteigebilde trotzdem, so ergibt sich logisch die Notwendigkeit eines weiteren Zusammenschlusses, wie er mit der Föderation beabsichtigt wird. Genau so wie das Kommunistische Manifest faßte auch der Spartakusbund in seiner Programmschrift seine Aufgabe auf. »Der Spartakusbund ist keine Partei, die über der Arbeitermasse oder durch die Arbeitermasse zur Herrschaft gelangen will. Der Spartakusbund ist nur der zielbewußte Teil des Proletariats, der die ganze breite Masse der Arbeiterschaft bei jedem Schritt auf ihre geschichtlichen Aufgaben hinweist, der in jedem Einzelstadium der Revolution das sozialistische Endziel und in allen nationalen Fragen die Interessen der proletarischen Weltrevolution vertritt.« Der enge Parteicharakter wird somit auch hier nachdrücklich abgelehnt. Die Idee der kommunistischen Föderation hält sich in jeder Hinsicht in dem vom kommunistischen Manifest und vom Spartakusprogramm gestellten Rahmen. Nach rechts hin, d. h. allen opportunistischen Bestrebungen gegenüber die schärfste Absonderung, alle konsequent revolutionären dem großen Ziel ohne Abirrung zustrebenden Kommunisten die Hand zum Bunde! Ein besonderes Programm für die kommunistische Föderation erübrigt sich eigentlich. Entscheidend für die Zugehörigkeit ist das Bekenntnis zum Kommunismus und zur Rätediktatur. [...] Keine schon vorhandene revolutionäre Bildung soll zerstört werden. Aber die Kommunisten haben besseres zu tun, als sich in weit getrennten Zirkeln 11


gegenseitig zu befehden. Es geht jetzt um mehr als um Parteizank. Es geht ums Ganze. Darum müssen die Peripherien der Zirkel ineinandergreifen. Eine sichtbare Gemeinschaft muß sein, unter denen sie für dasselbe gewaltige Ziel kämpfen. Erich Mühsam: Zur Einigung des revolutionären Proletariats im Bolschewismus; Hg. von Philippe Kellermann 2014, Unrast Verlag (Münster)

FAZIT In letzter Zeit greifen auch nicht-anarchistische (radikale) Linke libertäre Ideen auf: Selbstorganisation von unten, Kollektivbetriebe, kommunale Rätestrukturen. … Für uns Anarchist*innen ist das erfreulich, wollen wir doch nicht das Copyright an unseren Konzepten behalten, sondern diese im Gegenteil möglichst weiterverbreiten. Gleichzeitig sind auch anarchistische Theorien kein Allheilmittel für die Probleme revolutionärer Praxis (Was tun mit Griechenland, wenn der Rest Europas vom Ende des Neoliberalismus nichts wissen will? Wie erhält man in Rojava Basisdemokratie in einem Krieg?). Wenn aber unsere revolutionären Ziele auch in unseren Mitteln enthalten sind, müssen wir keine Angst davor haben, diese Mittel an die aktuellen Gegebenheiten (eine globalisierte neoliberale Welt) anzupassen. ‚Fragend schreiten wir voran‘: dieser Satz bedeutet eben keine Selbstbeschränkung, im Gegenteil: weil wir Anarchist*innen sind in der Lage, uns an verschiedene Situationen anzupassen, ohne unsere Grundsätze über Bord zu werfen.

Macher*innen dieser Zeitung sind organisiert in der Anarchistischen Initiative Kaiserslautern (anarchistische-initiative-kl.blogspot.de). Bei Fragen kann man sich an diese per Mail wenden (aikl@riseup.net). Wir sind organisiert im Anarchistischen Netzwerk Südwest* (a-netz.org) und der Föderation deutschsprachiger Anarchist*innen (fda-ifa.org).

12

Die Pyramide der kapitalistischen Klassengesellschaft , entworfen von der syndikalistischen Gewerkschaft „Industrial Workers oft the World“ im Jahr 1911.


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