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MIT MENSCHEN AUF DEN WEG GEHEN
from Angelus n° 04 / 2023
by Cathberne.ch
Der Welterfahrene Theologe Stefan Herbst Geh Rt Seit
FEBRUAR ZUM TEAM DES PASTORALRAUMS BIEL-PIETERLEN.
Vielerorts im deutschsprachigen Raum wird von katholischen Pfarreien nach Seelsorgern und Seelsorgerinnen gesucht. Weshalb ist Ihre Wahl auf Biel gefallen?
Auf Biel aufmerksam wurde ich durch eine Anzeige in der ökumenischen Zeitschrift Publik Forum, die mich seit meinen Anfangsjahren als junger Christ begleitet hat und für die ich auch einige Male geschrieben hatte. In dieser Anzeige wurde eine befreiungstheologisch, feministisch und ökumenisch ausgerichtete Pastoral versprochen. Das schien mir wie auf mich zugeschnitten zu sein. Ein Besuch in der Gemeinde zusammen mit meiner Frau machte dann die Entscheidung leicht. Die vielen Gespräche mit Zuwendung und Offenheit, das multikulturelle Klima der Stadt, die unterschiedlichen Ausformungen von Katholizität, sowie auch der Charme einer unvollendeten Stadt in einer wundervollen Natur mit See und Jura taten das Übrige. Warum nicht noch einmal mich dem Aufbau einer christlichen Gemeinde zuwenden?
Die Kirchgemeinde in Biel umfasst unterschiedlich kulturelle Sprachgemeinschaften, die einen guten Weg der Zusammenarbeit finden müssen. Wie wirkt dies auf Sie?
Zunächst einmal sehe ich das Positive. Hier wird versucht auf Menschen mit ihren unterschiedlichen kulturellen, auch religiös-kulturellen Beheimatungen einzugehen. Andererseits erlebe ich auch, dass wir Menschen uns das Leben oft schwerer machen als es ist, durch eigene Borniertheit, durch Unbedachtsamkeiten, durch Missverständnisse. Deshalb gilt es auch achtsam zu sein auf die damit einhergehenden Überforderungen von Menschen. Erschwerend hinzu kommen die Umbrüche, die unsere Kirchenoberen unseren Pfarreien und Gemeinden durch immer neue Strukturreformen und Ausblutung der pastoralen Mitarbeiter zugemutet haben. Das alles mitten in einer Welt, die immer komplexer wird und wo die Kirche viel von ihrer Glaubwürdigkeit verloren hat. Mich selbst fasziniert das alles. Es macht mich aber auch demütig, stärkt mein Vertrauen, das alles in Gottes Hände zu legen und zugleich spornt es mich an, das Meinige dazu zu geben.
Ein zentraler Orientierungspunkt in Ihrem Leben ist die Befreiungstheologie. Weshalb ist Ihnen diese wichtig?
Ich habe die befreiungstheologisch inspirierte Kirche im Aufbruch in Lateinamerika miterlebt und miterlitten. Ich durfte Freundschaft schliessen mit Menschen, die ihr Leben für das Evangelium, der Nachfolge Jesu Christi auf das Spiel gesetzt haben. Die Menschenrechtsarbeit im Rahmen der Missionszentrale der Franziskaner hat mich in viele lateinamerikanische Länder geführt – von Kolumbien, Argentinien bis Peru, Mexiko und Zentralamerika. Ich lebe innerlich auch tief aus dem Zeugnis dieser Christen – der Märtyrer- , meiner verfolgten FreundInnen in Kolumbien, aber auch aus dem Zeugnis eines Bischof Oscar Arnulfo Romero, dem Bischof Angelelli in Argentinien oder dem von den Militärs ermordeten und vorher gefolterten Franziskanerbruder in Chamical / Argentinien, in dessen Zimmer ich eine Woche lange übernachten und leben durfte.
Welche befreiungstheologischen Erfahrungen konnten Sie sammeln?
Ich habe in Mexiko ein Jahr lang Theologie an der Jesuitenuniversität Iberoamericana und an der vom damaligen Chef der Glaubenskongregation aufgelösten Universität einiger Orden studiert. Ich hatte in diesem «Freijahr» die Gelegenheit, die führenden Leute, die es damals in Mexiko –einem Land vieler exilierter Befreiungstheologen – gab, zu besuchen. Bei Enrique Dussel dem Befreiungsphilosophen aus Argentinien, bei Miguel Concha einem Dominikaner, und vielen mehr.
Erfahrungen habe ich damals auch in der Flüchtlingsarbeit gemacht. Ich lebte mit sechs Guatemalteken – alles Theologiestudenten mit dem Priesterwunsch – zusammen. Während wir morgens unsere Theologiekurse besuchten, widmeten wir uns nachmittags den guatemaltekischen Flüchtlingen, knüpften Kontakte. Ich selbst habe damals als geschützter Ausländer in den Studienferien Guatemala besucht, Briefe hinein und Informationen hinausgeschmuggelt, mitten im Militärputsch eine Ausgangssperre miterlebt, abenteuerliche Busreisen mit ständigen Militärkontrollen in Angst gemacht.
Ist die Schweiz, hier konkret Biel, auch ein Ort, welcher mehr befreiende Theologie nötig hat?
Überall wo viel Geld ist und wo Menschen zusammenleben, steht die Frage im Raum, wie es mit der Verteilungsgerechtigkeit ausschaut, wie wir miteinander Städte, Gemeinden und Kantone gestalten und wie wir es schaffen können, dem Anliegen Jesu einer Welt, für alle Menschen in Würde und Gerechtigkeit, nachzufolgen. Ich habe erst kürzlich gehört, dass Biel/Bienne eine der Schweizer Städte ist, wo es auch am meisten Arme und Bedürftige gibt. Dem gerecht zu werden und auch dafür zu sorgen, dass Biel innerhalb der Schweiz aber auch in der Kirche angemessen und solidarisch unterstützt wird, scheint wohl eine Frage zu sein, die im Raum steht.
In der Schweiz ist umstritten, wieweit sich die Kirche in politischen Fragen, welche Moral und Gerechtigkeit betreffen, positionieren soll. Wie ist Ihre Haltung dazu?
Der Befreiungstheologe Leonardo Boff hat einmal gesagt: Alles ist politisch, aber das Politische ist nicht alles. Ich denke, dass es das immer zu bedenken gilt. Religion – die christliche zumal –kann nie reine Privatsache sein. Dazu drängt die Religion von innen, von ihrer inneren Botschaft her viel zu sehr zu einer «heilen Welt». Die Kirche darf und muss sich einmischen. Ganz offenliegende Ungerechtigkeiten und Gewalt- und Machtverhältnisse, die Menschen klein machen und töten, können nicht toleriert werden – weder in der Kirche selbst, noch im Gemeinwesen. Wir Christen sollten uns gegenseitig dazu anspornen das Beste für alle – und das Wort «alle» bedeutet notwendigerweise ein «besonders für die Benachteiligten» – zu suchen und dann auch umzusetzen.
Die Seelsorgearbeit in einer Pfarrei umfasst unterschiedliche Tätigkeiten? Gibt es Anliegen / Dienstleistungen, die Sie besonders interessieren?
Ich interessiere mich eigentlich für fast alles –das war schon immer mein Charakter. Ich denke, dass wir als Kirche / Christen mehr dafür sorgen müssen, dass wir Menschen ermöglichen, ihre Welt in die eigenen Hände zu nehmen. Wir brauchen als Menschen Gemeinschaft, denn wir sind in dieser komplexen Welt eigentlich immer auf andere angewiesen. Ich möchte hier Menschen finden, die sich mit mir auf den Weg zu selbstbewussten, solidarischen, das Leben feiernden Menschen und Gemeinde machen. Das Wort Dienst-leistung macht mich etwas stutzig. Ich möchte weg von der Vorstellung, dass Kirche wie ein religiöses Unternehmen mit «Dienstleistungen» funktioniert. Ich bin eher gespannt, was in Biel noch alles auf mich zukommt.
Befreiungstheologe Leonardo Boff während einer Veranstaltung in Rio de Janeiro.
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Foto: shutterstock
BEFREIUNGSTHEOLOGE
LEONARDO BOFF
Auch in Biel sinkt die Zahl der Taufen und der Religionsschüler/innen. Ist diese Entwicklung zu bremsen?
Wenn Taufe der Beginn eines Lebens mit und in Jesus Christus und seinem Engagement für Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung wirklich bedeutet, dann können und möchten wir natürlich möglichst viele Menschen dafür gewinnen. Wenn Religionsunterricht, dazu beiträgt, dass Menschen selbständig werden und ihr Leben verantwortungsvoll gestalten – dann ist Religionsunterricht sicherlich eine entscheidende Aufgabe. Es darf dabei aber niemals nur um reine Wissensvermittlung gehen. Wesentlicher und entscheidender sind Haltungen, Sozialkompetenz, die wir einüben. Wir experimentieren eigentlich gerade, wie wir das, was Kirche ausmacht, in unserer heutigen Zeit einbringen und attraktiv machen können.
Inteview: Niklaus Baschung
Weihevolle Geste: Bischof Felix Gmür legt dem Weihekandidaten Josef Stübi seine Hände auf den Kopf.
Foto: Roger Wehrli