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Shaheen Merali, Der lange Atem

Shaheen Merali

Wenn man nicht in Worte fassen kann, was man fühlt oder woran man glaubt, wenn man zudem nicht für sich behalten kann, was man über die Welt weiß, über ihre Räumlichkeit, oder wie einen das alles tagtäglich beeinflusst - was macht man dann? Wählt man dann die meditativen Möglichkeiten des Schweigens oder konzentriert man sich allmählich auch auf Möglichkeiten über das Unsagbare hinaus?

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Für viele Menschen mit dieser Tendenz entwickeln sich solche Möglichkeiten in unkontrollierbaren Formen und zeigen Spuren einer Ausgrabung von ungezügelten Phantasien. Die Resultate könnte man als poetisch oder paradox bezeichnen, Lösungen, Änderungen oder Modifizierungen, die uns dazu bringen, den Lauf unseres Universums zu verändern. Der vielzitierte erste Satz von Franz Kafkas tiefsinniger Erzählung Die Verwandlung ist ein wichtiges Beispiel: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“ Eine Art epistemologischer Lizenz gestattete es dem japanischen Schriftsteller Haruki Murakami zudem, seinen metaphysischen und bewusstseinsverändernden Roman Kafka am Strand zu schreiben. In beiden Erzählungen wurden die Werkzeuge und Instrumente, um das deutlich zu machen, immanent im Visuellen geschmiedet; eine Erweiterung des Visuellen, das nicht mehr in traditionellen Kategorien von Bezeichnungen verharrt, die das Geschriebene, Choreographierte oder Gemalte voneinander trennen. Davon zeugen etwa die gespenstischen Prozesse des Denkens.

Der Prozess des Schaffens aus dem nicht Greifbaren, Unvergänglichen und sogar nicht Fühlbaren führt zu dieser Form der Visualisierung. Das übrig bleibende Material formt häufig mentale Bilder, mit deren Hilfe wir die zerbrechlichen visuellen Wahrnehmungen, aus denen sie ursprünglich entstehen, erfassen. Nicht alles ist möglich, aber Aspekte des Visuellen können im Lauf des kreativen Prozesses manchmal umfassender gemacht werden.

Für jene, die derartig flüchtige Momente der Klarheit kommunizieren können, ist das, was sich zeigt, nicht die innere oder äußere Landschaft, sondern eine potente Mischung aus emanzipierter Erinnerung, die imstande ist, immense Komplexitäten des Imaginierten sowie des Emotionalen zu überbrücken. Im kreativen Prozess überlagern Visualisierungen die Fiktionalisierung oder das Erzählte. Daraus ergeben sich oft sensible Beschreibungen, mutige Gegenüberstellungen und dunkle Subversivität als Ausdrucksform. Der Schwerpunkt der Erzählung bewegt sich mehr auf der visuellen Ebene als auf einer geschriebenen oder artikulierten Vermittlung. Schließlich werden wir mit den Augen geboren, mit denen wir sterben, während alle anderen Organe wachsen und sich ab dem Zeitpunkt unserer Geburt ständig verändern.

Für den „Ewigen Archivar“ Peter Putz ist das Visuelle zu einer täglichen Praxis des Aufzeichnens geworden, das Aufgezeichnete wird organisiert und behauptet seinen Platz in einer ständig anwachsenden, zusammengesetzten graphischen Darstellung. Dieses einsame Bemühen bestärkte seine künstlerische Überzeugung und produzierte ein verblüffendes Dokument von alltäglichen bis hin zu außergewöhnlichen Dingen, die seinen Lebensweg kreuzten. Sein Lebenswerk, Das Ewige Archiv, hat in gewisser Weise Parallelen zur Veröffentlichung von Archivmaterial bestimmter Institutionen, wie das kürzlich beim Metropolitan Museum of Art der Fall war, das 400 000 Bilder online für nicht-kommerzielle Zwecke veröffentlichte, oder beim British Pathé-Nachrichtenarchiv, das seine gesamte Sammlung von 85 000 historischen Filmen in hoher Auflösung auf ihren YouTube-Kanal lud. Das Ewige Archiv veröffentlicht und verbreitet sporadisch in Form von Broschüren, Publikationen, Filmen, Videos und als fotografische Arbeiten für ein Publikum, das sich seiner Ambitionen oder wie mit seinen Inhalten umzugehen ist, nie sicher sein kann, während es sich zwischen den Bereichen Dokumentation, künstlerische Fotografie, Tagebücher und Voyeurismus bewegt.

Das Ewige Archiv ist ein turbulentes Unternehmen, es fühlt sich nie ganz gemütlich still an und sichert sich so einen Kultstatus in diesen bemerkenswerten Zeiten, wo mit einem Klick oder einem kurzen Befehl an Suchmaschinen eine riesige Datenmenge vor unseren Augen aufgelistet wird, die unseren Horizont begrenzt, indem sie unsere visuelle Reichweite limitiert.

Ob per Instagramm, Pinterest, Downloads, in USB-Form, mit Picasa –diese Liste ist unglaublich lang und alle haben ihre tiefgreifenden Regeln und Philosophien, die bestimmen, wie wir die gesamte visuelle Bibliothek lesen, die angeboten wird. Diese Regeln basieren oft auf Sicherheitserfordernissen oder, etwa in früheren Zeiten, darauf, wie mit Wahrheit umgegangen oder wie Macht über den Körper oder die Gesellschaft ausgeübt wird. Wahrheiten schaffen ein Reservoir an Wissen in diesen Kontaktzonen, und wir, die Zuschauer, werden zu virtuellen Bürgern visueller Landschaften, besessen von den gemeinsam geteilten Erfahrungen, wobei wir das, was angeboten wird, ebenso kennenlernen wie das, was abgelehnt wird. Irrationale Gesetze darüber, was in ihren epistemologischen Grenzen präsentiert werden darf und was nicht, haben einen enormen Einfluss auf Facebook als Archiv.

Indem Putz sich dieser konzeptuellen Strukturen der fiktiven und der gelebten Realitäten auf holistische Art und Weise bedient, um die Welt zu erfassen, gelingt es ihm, sein Ewiges Archiv aus täglichen Aufzeichnungen und zahlreichen „Feindflügen“, kombiniert mit zufälligen und entfremdeten Begegnungen, zu erschaffen. Das Ewige wird zur Gesamtheit seiner Fähigkeit, das Dokumentierte auf diesen formelhaften „Seiten“ zu rekonstruieren. Die „Seiten“ , oft mit vier bis fünf Bildern einer beliebigen Situation, können zwischen dem Besuch eines Ateliers, eines Blumenladens, oder noch weiter hergeholt, Reiseberichten variieren. Durch die Platzierung auf ein und derselben „Seite“ agieren die Bilder wie eine Reihe von vorsichtigen Anmerkungen zu einer größeren Bildersammlung; Bilder, die sowohl räumliche als auch geografische zeitliche Bezüge verkörpern, und dabei, was das wichtigste ist, jede Menge über die Wissbegierde des Autors aussagen.

Man kann von diesen „Seiten“ nicht erwarten, dass sie uns ein Gesamtbild davon geben, was in seinem Privatarchiv vorhanden ist oder nicht – die Ewigen Archive präsentieren ein teilweise vermitteltes Bild. Dieses selektive Archiv ist der Prozess, mit dessen Hilfe Putz das Ganze visualisiert, die Welt und seinen Platz in ihr – es ist eine Kostprobe und

zugleich die Summe dessen, was ausgewählt und veröffentlicht wird. Putz gelingt es, diese Visualisierung kontinuierlich durchzuhalten, indem er sowohl recht großformatige Bücher als auch ergänzende Supplemente in kleineren Editionen produziert, die seine Vorstellung vom Konstrukt des Ewigen zeigen. Seine Wahrnehmung der Welt rund um ihn in täglichen Aufzeichnungen, mit seinen lustigen Scherzchen vor der Kamera, wirkt endlos. Das Ewige muss eben tagtäglich hinzugefügt werden, ergänzt durch ausgedehntes Vagabundieren und repetitive Explorationen des Gefundenen, wodurch der Bezug zum bereits Archivierten verwischt wird. Es ist eine Suche und auch eine Reise, die Peter Putz mit einer Freude und einer Leidenschaft unternimmt, die jede Seite durchdringt, eine Herausforderung und zugleich Zeugnis von der Sehnsucht, zu schaffen, was Kafka und Murakami gelang – der mäandernde Geist, der aus dem Alltäglichen eine Aussage über das Leben und Denken an den dunklen Rändern seiner digitalen Spur trifft.

Wie Leslie Jamison kürzlich sagte: “…accumulation, juxtaposition, the organizing possibilities of metaphor. These techniques are ways in which the essay has always linked the private confessional to the communal…”1)

1) Leslie Jamison, Was sollte ein Essay können? Zwei neue Sammlungen, die die Form neu erfinden, 8. Juli 2013. http://www.newrepublic.com/article/113737/solnit-faraway-nearby-and-orange-running-your-life „…Akkumulation, Juxtaposition, die organisierenden Möglichkeiten der Metapher. Diese Techniken sind Formen, in denen der Essay schon immer die private mit der öffentlichen Beichte verbunden hat…” (Anm. d. Übersetzers) Übersetzung aus dem englischen Original

Shaheen Merali ist Kurator und Autor, der zurzeit in London ansässig ist. Davor war er als Direktor für Ausstellungen, Filme und Neue Medien im Haus der Kulturen der Welt, Berlin (2003-2008) tätig, wo er diverse Ausstellungen kuratierte und zugleich bedeutende Publikationen herausgab, wie zum Beispiel The Black Atlantic; Dreams and Trauma – Moving images and the Promised Lands und Re-Imagining Asia, One Thousand years of Separation. Merali war Co-Kurator der 6. Gwangju Biennale, Korea (2006).

Nach seinem Deutschland-Aufenthalt kuratierte er zahlreiche Ausstellungen in Indien und im Iran; darauf folgte eine Zeit der Recherche und Beratung für die Erhaltung und zur Fertigstellung einer großen Ausstellung der International Collection of the Birla Academy of Art and Culture, Kolkata (2010-2012). Zu seinen neuesten Ausstellungen zählen: Refractions, Moving Images on Palestine, P21 Gallery, London; When Violence becomes Decadent, ACC Galerie, Weimar; Speaking from the Heart, Castrum Peregrini, Amsterdam; (After) Love at Last Sight / Nezeket Ekici Retrospective, PiArtworks , London und Fragile Hands, Universität für Angewandte Kunst Wien.

Merali schrieb Essays für Kataloge, unter anderem über Agathe de Bailliencourt, Jitish Kallat, Sara Rahbar, TV Santhosh, Cai Yuan and JJ Xi (Madforeal).

www.shaheenmerali.com Shaheen Merali, 2014

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