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Gottfried Fliedl, Das Ewige Archiv

Gottfried Fliedl

Archive sind – ähnlich den Museen oder Bibliotheken – Organe des kollektiven Gedächtnisses. Was sie bewahren ist Grundlage gesellschaftlicher Erinnerungsfähigkeit. Ihre Bedeutung erhielten diese Institutionen mit der Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft: in dem Maß, in dem durch ihre Entwicklung, durch den ökonomischen und sozialen Fortschritt Tradition zerstört und Traditionsbewußtsein abgebaut wurde, schien die Erhaltung und Erschließung von Überliefertem „geschichtlichen Sinn“ (Joachim Ritter) – über den Traditionsbruch hinweg – zu ermöglichen. Die Beschleunigung des ökonomischen, sozialen und kulturellen Wandels läßt immer rascher Vergangenheiten zurück, denen die Strategien der Musealisierung jene Dinge entnehmen, die als sinnliche Substrate von Vergangenheit zeugen sollen.

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Was sich kompensativ diesem „Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit“ (Alexander Kluge) entgegenstemmt, richtet sich gegen den 'Tod der Dinge', gegen die Entleerung ihrer Bedeutungen, gegen die Zerstörung ihrer Funktionen, gegen ihr spurloses Verschwinden – doch um den Preis, ihre Entfunktionalisierung im Museum endgültig stillzustellen und dort zum irreversiblen Faktum zu machen. Diese prekäre 'Dialektik des Musealen' läßt Vergangenes nur als Vergangenes zu und spaltet es so von lebendiger ästhetischer, historischer und politischer Erfahrung ab. Als antiquarisches Bewußtsein fetischisiert und verdinglicht es jene potentielle Erfahrung, die die in den Objekten „inkorporierten Lebensspuren“ (Gottfried Korff) wieder entbinden und sozialem Gebrauch zugänglich machen könnte. Die Dialektik des Musealen, die Stillegung des Geschichtlichen, wird im „Ewigen Archiv“ umgekehrt und als List gegen die massenmediale Geschichtsvergessenheit selbst gewendet; dabei bedient es sich jener Mittel, die in der Geschichte der Moderne als Mittler der Kritik und der Polemik vielfach erprobt wurden: da das Museum generell Objekte ihrem ursprünglichen funktionalen und symbolischen Gebrauch und Kontext entfremdet (und statt dessen 'Bildung' anbietet), ist es wirksam, den musealen Kontext zu entfremden, zu stören und zu durchkreuzen oder einen neuen herzustellen, um stillgelegte Bedeutungen wieder in Fluß zu bringen. Durch die vielfach wechselnden Bearbeitungsformen, denen die Fotos ausgesetzt werden: Montage, Collage, Zerschneidung und Verkehrung, Kommentierung, Einfärbung und Formatänderung, Überzeichnungen und Verdoppelungen nageln sie die Aufmerksamkeit des Betrachters mit den Mittel der Ironie und des Schocks fest und attackieren dessen massenmedial dressierte Gleichgültigkeit gegenüber der Bilderflut: Gerade als öffentliche – durch ihre mediale Gleichförmigkeit, massenhafte und rasend wechselnde Reproduktionen – hatten die Bilder ihre Kraft eingebüßt; jetzt erhalten sie durch ihre 'Privatisierung' etwas von ihrer verletzenden Kraft zurück. Mit Gewitztheit, mit Listen und auch mit legitimem Zorn – aber nicht denunziatorisch – operiert der Archivar; einen Gutteil ihrer Wirkung beziehen die Abbildungen aus der ihnen impliziten Ästhetik und Bedeutung, die mit ihren eigenen Mitteln freigesetzt und sichtbar gemacht wird. Gerade weil nicht moralisiert wird, sondern die bornierte Versessenheit dieser Bildwelten auf Macht und Gewalt, Sexualität und Konsum, mit ihren eigenen Mitteln zurückgespiegelt wird, erhalten die Fotos ihre politische, ihre kommunikative und – partiell – ihre katarthische Kraft wieder. Auch die Entstellung von 'Porträts' zielt nicht auf die Integrität der Personen, sondern auf ihre mit Hilfe tausendfach reproduzierter Abziehbild-Stereotype betriebene Maskierung – also auch auf Anonymisierung von hinter Charaktermasken verborgener Macht.

Die Simultaneität der Bilder als Massenmedien suggerieren eine verständnisvolle Verfügung über deren Bedeutung und eine Gleichzeitigkeit des Inkommensurablen, dem dennoch ein Anschein von Wahrheit verliehen wird, weil das fotografierte oder gefilmte Bild mit der 'abbildlichen', 'mechanischen' Authentizität unbedingter Zeugenschaft ausgestattet ist. Dem versucht sich das „Ewige Archiv“ zu entziehen, beziehungsweise versucht es die Entlarvung dieses Vorganges.

Die Ambivalenz von authentischem Abbild und ästhetischer Verfremdung läßt die von aufblitzendem Erschrecken und ästhetischer Besänftigung offen. Nirgends verläßt sich das „Ewige Archiv“ auf die Gleichsetzung des ‘Ich-bin-dabei-gewesen' mit dem 'So-war-es'. Dem Betrachter wird nicht erlaubt, bloß den massenmedialen Blick zu beerben, vor dem sich alles Inhaltliche auf den 'sex appeal' des sinnlichen Reizes der ihrer inhaltlich-funktionalen Bestimmung entleerten bloßen 'Sachen' verlagert.

Massenmediale Wahrnehmung, die – wie empirische Untersuchungen zur Genüge zeigen – das Verhalten in Museen und Ausstellungen prägen, zeichnet sich durch zerstreute Wahrnehmung aus, in der jede Form des alltagsrelevanten Lernens mehr oder minder vermieden wird, wo 'expressives' Verhalten, das heißt, das 'DabeiGewesen-Sein' zum Wichtigsten und die Beschäftigung mit den visuell-sinnlichen Sensationsofferten spektakulärer Objekte und Arrangements zum Wesentlichen wird.

Das „Ewige Archiv“ bedient sich der massenmedialen Bildsprache, ihrer Grammatik und der Gesetze ihrer Entwertung – ihrer Öffentlichkeit (die in Wirklichkeit nur formal aufrecht ist, sich in schierer Zugänglichkeit erschöpft) kann es jedoch nichts als seine Privatheit entgegensetzen.

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