Das Magazin von Slow food Schweiz Suisse Svizzera Svizra
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Herbst/Winter 2009/2010 Fr. 18.20
slow
.ch
Markttreiben ISBN 978-3-9523472-2-5
Vom globalisierten Markt und lokalen Märkten. Chancen, Risiken und neue Projekte im Nahrungsmarkt.
Genussregion
Greyerzerland ganz slow
Köstlichkeiten für Bauch und Seele / Wandern und Besichtigen / Einkaufen und Einkehren
slow.ch wird gestaltet von: artdepartment asylstrasse 9, 8032 z端rich +41 44 55 888 77 artdepartment@ggaweb.ch
porträt
Slow Food ist eine internationale Non Profit-Organisation im ökogastronomischen Bereich, die von ihren Mitgliedern unterstützt wird.
A
nno 1986 sammelten sich in Bra im Piemont 62 engagierte Liebhaber der Gastronomie und gründeten die Vorgängervereinigung «Arcigola», um sich gegen die auch in Italien anrollende Fast FoodWelle zu wappnen. 1989 wurde in Paris dann die internationale Slow FoodBewegung ausgerufen, und Delegierte aus 15 Nationen unterzeichneten das Gründungsmanifest. 1992 wurde Slow Food Deutschland gegründet und 1993 Slow Food Schweiz. Das Schweizer Convivium Ticino existierte aber schon seit 1988 als eines der ersten Convivien (Regionalgruppen) der neuen Bewegung. Heute hat Slow Food weltweit über 85 000 Mitglieder und rund 900 Convivien.
Die Philosophie gut, sauber und fair Slow Food möchte dem Fast Life und Fast Food entgegenwirken und verhindern, dass lokale Esstraditionen in Vergessenheit geraten. Jeder hat ein Recht auf Genuss und damit aber auch eine Verantwortung, die Vielfalt der Produkte, der Arten, der Herstellungsmethoden und des Geschmacks zu schützen und zu erhalten. Essen soll gut sein, dann ist es ein Genuss. Es soll auf saubere Art und Weise hergestellt werden, die der Umwelt, dem Wohlergehen der Tiere und unserer Gesundheit Sorge trägt. Und letztlich sollen die Produzenten von gutem und sauber hergestelltem Essen eine faire Bezahlung und Anerkennung für ihre Arbeit erhalten.
Ko-Produzenten Konsumenten, die sich im Sinne von Slow Food dafür interessieren, wie unsere Nahrung produziert wird, und die Hersteller von guten und sauberen Lebensmittelprodukten aktiv unterstützen, übernehmen Verantwortung und werden zu Partnern im Produktionsprozess: zu Ko-Produzenten.
Die Philosophie in die Tat umgesetzt Slow Food setzt sich weltweit und lokal in verschiedenen Projekten dafür ein, den unschätzbaren Wert unseres grossen kulinarischen Erbes zu erhalten. Zum Beispiel den Schutz der Biodiversität mit den Initiativen «Arche des Geschmacks» und «Förderkreise». Mit dem Netzwerk Terra Madre ermöglicht Slow Food einen weltweiten Dialog zwischen Produzenten, Köchen, Wissenschaftlern und Ko-Produzenten. Slow Food bietet Geschmacksschulung an, engagiert sich für Geschmacksförderung bei Kindern und den Aufbau von Schulgärten. Slow Food organisiert Messen, Märkte und Events, um exzellente handwerklich hergestellte Produkte bekannt zu machen und Produzenten und Konsumenten zusammenzubringen. Nicht zuletzt ist Slow Food Mitbegründer der «Universität für Gastronomische Wissenschaften» im Piemont. Slow Food möchte damit wissenschaftliche Innovation und Forschung mit dem traditionellen Wissen von Bauern und Lebensmittelproduzenten verbinden, um das neue Wissen zu schaffen, das für die Auf3
wertung der lokalen Produktionen in einer globalisierten Landwirtschaft nötig ist.
Slow Food Schweiz Slow Food zählt in der Schweiz über 3000 Mitglieder, die in 17 Convivien organisiert sind. Die Convivien führen für die Mitglieder Anlässe mit lokalen Produzenten und der lokalen Gastronomie durch. Slow Food Schweiz wird von einer Geschäftsleitung und einem Vorstand, bestehend aus den Präsidentinnen und Präsidenten der Convivien, geleitet. 2006 ist Slow Food Schweiz eine Partnerschaft mit Coop eingegangen, um den Aufbau von schweizerischen Förderkreisen und den Absatz der Förderkreisprodukte zu ermöglichen. Was ein Förderkreis ist sowie die aktuelle Liste der schweizerischen Förderkreise sind in diesem Magazin aufgeführt. Darüber hinaus bietet Slow Food Schweiz Geschmacksschulungen an, fördert Schulgärten und organisiert zusammen mit dem Reiseveranstalter Kuoni Förderkreis-Reisen.
Kontakt Unterstützen Sie unsere Ideen und Projekte, werden Sie Mitglied! Weitere Informationen über Slow Food auf www.slowfood.com und www.slowfood.ch Adresse: Slow Food Schweiz, Kornhausplatz 11, 3011 Bern; Tel. 031 311 82 21; info@slowfood.ch
Editorial
Liebe Leserin, lieber Leser Slow.ch widmet deshalb die dritte Nummer dem Markt
W
und der Marktwirtschaft. Markante Marktmodelle, wie sie die Geschichte hervorgebracht hat, porträtiert Ueli
ie der Handel funktioniert, erlicken
Mäder, Soziologieprofessor an der Universität Basel. Das
schon Bébés: Fürs zahnlose Lächeln gibts Liebkosungen,
Fazit seines Beitrages «Weniger Markt, mehr Freiheit»
fürs Wecken die Brust oder den Nuggi. Der Dreikäse-
(S. 28) mag vielleicht utopisch klingen. Aber wie die
hoch wiederum weiss, dass die drei schönsten seiner
SP-Ständerätin und Präsidentin der Stiftung für Konsu-
Murmeln so viel Wert sind wie das Blechfeuerwehrauto.
mentenschutz, Simonetta Sommaruga, im Interview sagt
Schliesslich hat er es auf dem Spielplatz gegen die
(S. 38): «Der Markt wird sich nicht von heute auf morgen
Tigeraugen eingetauscht.
ändern … Umso wichtiger ist deshalb der Sand im
Das Markten scheint das menschliche Dasein zu
Getriebe.»
prägen. Ergo spielt es im Gesellschaftsgefüge eine
Dass es durchaus möglich ist, anders zu wirtschaften,
zentrale Rolle. Und zwar unabhängig davon, welchen
zeigt slow.ch anhand konkreter Beispiele: Ein Projekt im
Kulturen man angehört, welchen Altersgruppen oder
Kanton Zürich, das sich voll und ganz der Nachhaltigkeit
Religionsgemeinschaften. Der Handel dominiert den
und damit der Slow Food-Philosophie verschrieben hat,
Arbeitsmarkt, den Einkauf, die Freundschaft. Er funktio-
prosperiert seit Jahren (S. 18). Ebenso die neue Super-
niert im Staatswesen, im Sport, in der Kirche und sogar
marktkette Eataly, bei der Slow Food Pate stand. Zwar
in der Liebe – und dies nicht nur im Dienstleistungs-
weist Eataly noch Schwächen auf, leistet aber ihren
bereich. Alles ist bloss eine Frage der Währung.
Beitrag, um Ethik und Genuss wieder zu einen (S. 22).
So weit, so gut. Doch der Markt präsentiert sich heute
Slow Food macht Schule – und dies in doppeltem
als Zerrbild dessen, was er ursprünglich war. Durch das
Sinn. Weltweit erblühen kleine Netzwerke wider die
Handelsgebaren des 20. und 21. Jahrhunderts respektive
Renditenmaximierung der Globalplayers, zugunsten
die Masslosigkeit und den Machbarkeitswahn wurde der
eines «guten, sauberen und fairen» Handels. Und weil
Fluss des Gebens und Nehmens – notabene die Lebens-
schon Kinder ein Bewusstsein haben für das Markttrei-
ader des Marktes – punktuell gestaut zugunsten von
ben, sollen sie künftig in die ganze Wertschöpfungskette
Reservoirs einiger weniger und zum Leidwesen vieler,
eingeweiht werden, z. B. im Schulgarten (S. 80).
die nun auf dem Trockenen sitzen. Das Nord-Süd-Gefälle,
Eine nahrhafte Lektüre. Doch wie Carlo Petrini,
die weltweite Ressourcenverknappung und die drohen-
Präsident von Slow Food International, zu sagen pflegt:
de Klimakatastrophe machen deutlich, dass es Matthäi
«Essen ist Politik.»
am Letzten ist, um zu handeln und den giergeprägten
Stephanie Riedi
Handel zumindest zu unterwandern.
Redaktionsleitung slow.ch
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Inhalt
Hors-D’œuvre News ............................................................................... Standpunkt Erinnerungen an einen Quartiermarkt .......................... Kolumne Warten auf 2034 ...................................................................... meinung Bioethanol zum Zweiten ........................................................ erlesenes Buchtipps .............................................................................
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thema – markttreiben neue konzepte Bachser Märt / Eataly ................................................. Vermarktung Im Namen der Marke .................................................... Soziologie Weniger Markt, mehr Freiheit ........................................... Streiflicht Marktnotizen .................................................................... Interview Zu Tisch mit Simonetta Sommaruga .................................. Biodiversität Auf Kosten der Knollen ................................................ Küche Gottliebs Zander ........................................................................ Literatur Der sinnliche Bauch von Paris ........................................... KInderkrimi Rom – Dem Pfeffer auf der Spur .....................................
18 26 28 36 38 44 50 52 58
slow food Genussregion Greyerzerland / Pays d΄Enhaut Kulinarium / Wandern und besichtigen / Einkaufen und einkehren / Was für ein Käse! / Wettbewerb .........................................................
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im zeichen der schnecke Förderkreise Philosophie / Toggenburger Ziegen / Traditioneller Emmentaler ................................................................... Convivien Was war, was kommt ............................................................. International Ciao Polenzo! ................................................................
Impressum Herausgeber: Verein Slow Food Schweiz Suisse Svizzera Svizra, Kornhausplatz 11, 3001 Bern, info@slowfood.ch Verlag: Editions Slow Food Suisse Sarl; verantwortlich: Ursula Hasler, editions@slowfood.ch Redaktion: Stephanie Riedi (Leitung), redaktion@slowfood.ch Art Direction: artdepartment Adrian Hablützel, artdepartment@ggaweb.ch Texte: Jost Auf der Maur, Philipp Beck, Nelly Bernauer, Meret Bissegger, Jürg Ewald, Dominik Flammer, Michele Fossi, Ursula Hasler, Michael Higi, Paul Imhof, Marcel Luther, Ueli Mäder, Thomas Müller, Albert R. Nold, Rafael Pérez, Rafael Pfarrer, Iris Reichlin, Stephanie Riedi, Monique Rijks, Maja von Rosenbladt, Alessandra Roversi, Roger Staub, Thomas Widmer Mitarbeit: Judith Deflorin, Monika Nievergelt Chef vom Dienst: Donald Korrektorat: Alex Hansen Bildbearbeitung: Max Sommer Anzeigen: anzeigen@slowfood.ch Abonnement: Fr. 35.– jährlich, 2 Ausgaben, Slow Food-Mitglieder erhalten das Magazin gratis; Abonnement bestellen www.slow.ch; Mitglied werden: www.slowfood.ch Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Aufnahme in Online-Dienste und Internet sowie Vervielfältigung auf Datenträger wie CD-ROM, DVD-ROM etc. nur nach vorheriger schriftlicher Genehmigung des Verlags. Der Verlag haftet nicht für unverlangt eingesandte Manuskripte, Fotos und Datenträger. Slow.ch darf nur mit Genehmigung des Verlags in Lesezirkeln geführt werden. © Editions Slow Food Suisse Sarl
ISBN 978-3-9523472-2-5
Druck: Binkert Druck AG, Laufenburg, www.binkert.ch. Slow.ch erscheint auf FSC-zertifiziertem Papier «Refutura», das aus 100% Altpapier besteht und CO2-neutral ist. Klimaneutral gedruckt, www.climatepartner.com (Nr. 404-53213-0708-1001).
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74 80 85
HOrs-d’Œuvre Mit wenig mehr
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on wegen Kochen ist aufwändig und die Vorratskammer der Herdkoryphäen nur mit Spitzenerzeugnissen alimentiert! Das Rezeptkartenset «Nimm 3» zeigt, wie einfach es ist, etwas Berauschendes zu zaubern. Und dies, so verrät der Name der Menüsammlung, mit eben nur drei Zutaten. Die Rezeptvorschläge stammen von den besten Küchenchefs weltweit wie Ferran Adrià, Alain Ducasse und Sarah Wiener. MeterMorphosen Verlag, ca. Fr. 27.–, ISBN 3-934657-28-1
Eine überzeugende Botschaft:
Klimaneutrale Drucksachen Klimaneutrale Druckerzeugnisse sind eine Chance. In der Kommunikation eine vorbildliche Botschaft. Aber auch ein Zeichen für Innovation und Engagement. Und klimaneutrale Druckerzeugnisse sind glaubwürdig. Dieses Magazin wird klimaneutral gedruckt. Setzen auch Sie für Ihr Unternehmen deutliche Zeichen – unterstützen Sie den freiwilligen Klimaschutz – lassen Sie klimaneutral drucken!
Appetitkiller Mann
W Telefon +41 62 869 79 79 Telefax +41 62 869 79 80
binkertdruck@binkert.ch www.binkert.ch Zertifikate: ISO 9001:2000, ISO 14001:2004, FSC-COC
Auflösung von Seite 8: Wilhelm Busch
Binkert Druck AG
Baslerstrasse 15 CH-5080 Laufenburg
ie Psychologinnen der kanadischen McMaster University berichten, haben Tischgenossen Einfluss darauf, wie viel gegessen wird. Frauen begnügen sich mit weitaus weniger, wenn ein Mann ihnen gegenübersitzt. Wird die Runde gar vom starken Geschlecht dominiert, scheint es dem schönen wortwörtlich den Appetit zu verschlagen. «Den Männern hingegen ist es egal, mit wem sie essen», so die Wissenschaftlerinnen.
Süsses macht Schule
K
inder mit chemischen Süssstoffen abzuspeisen, schadet ihrem Wachstum. Dies das Fazit einer Studie des Monell Chemical Senses Centre in Philadelphia. «Rasches Wachstum bedeutet einen höheren Kalorienbedarf», so Forschungsleiterin Danielle Reed. Kommt hinzu, dass auch das Gehirn Zucker braucht, um die Konzentration der Abc-Schützen zu gewährleisten. Ausserdem fördert ein Stück Schokolade bekanntlich die gute Laune.
Gesundkost
E
Swiss-Beschiss
W
eder das Schweizer Kreuz noch die Bezeichnung Swissness garantieren waschechte Schweizer Produkte. Die Stiftung Konsumentenschutz (SKS) hat deshalb eine Liste publiziert mit Waren, die aus dem Ausland stammen oder mit fremdländischen Rohstoffen produziert werden. Auch der Bundesrat will gegen den Beschiss vorgehen, indem er die Vorschriften verschärft, um die Marke Schweiz zu schützen. Bis es jedoch so weit ist, hält man sich am besten an die SKS-Liste: www.konsumentenschutz.ch
«Gutes Essen verändert die Welt radikal»
s gibt noch Hoffnung: Wie eine Umfrage von Coop zeigt, erachtet fast die Hälfte der Schweizer Bevölkerung die Kombination «schnell und gesund» beim Essen als unvereinbar. Gut so. Denn selbst Gemüse, Früchte und Salat – so genannte Schnellverpflegung – verlieren an Nährwert, wenn sie vorgerüstet, geschnitten und abgepackt gekauft werden. Convenience-Food mag zwar im Nu zubereitet sein und auch sättigen. Gesund aber ist Bequemkost garantiert nicht.
Alice Waters, beste US-Köchin und Vizepräsidentin von Slow Food International
Naschbär
J
Fotos: Fotolia (1)
edes Kind weiss, dass Bären Schleckmäuler sind, die keinem Honigtopf widerstehen können. Nun fanden Schweizer und US-Forscher heraus, dass kleine Pandas auch den künstlichen Süssstoff Aspartam zu schmecken vermögen – eine Fähigkeit, die man bislang nur Primaten zugetraut hat. Möglicherweise enthält die Bambuskost der schwarzweissen Kuschelviecher eine Verbindung, die eine ähnlichen Struktur aufweist wie Aspartam, so die Wissenschaftler. 7
HOrs-d’Œuvre
Pro Bio
B
Mediterrane Tafelfreuden
D
Tierische Gärtner
S
üdamerikanische Baumameisen zerstören die Blüten ihrer Wirtspflanzen, um Wohnraum zu gewinnen. Nun stellte eine Forschergruppe der Harvard University fest, dass es sich dabei um wahre «Gartenarbeit» handelt. Die Bäume wachsen rascher. Fazit: «Weniger Ressourcen für die Fortpflanzung bedeuten mehr Ressourcen für neue Zweige.»
Zum Wohl allerseits!
D
ie «Arche des Geschmacks», von Slow Food International zur Rettung fast vergessener Nutzpflanzen, Nutztiere und Produkte ins Leben gerufen, hat auch für Weinliebhaber vorgesorgt: «Plant Robert» ist ein alter, autochthoner Gamay-Klon, der auf knapp 3 ha an La Côte angebaut wird. Optisch ist er kaum von einem Gamay zu unterscheiden, die Geschmacksnoten aber sind komplexer, feiner.
Wer einen guten Braten macht, hat auch ein gutes Herz.
Wen zitiert die Schnecke? Auflösung Seite 6.
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Fotos: Fotolia (2)
ie Mittelmeerküche wird seit Jahren als gesundheitsfördernd propagiert. Doch wer glaubt, dass es sich dabei bloss um ein Sammelsurium von Nahrungsmitteln handelt, die man berücksichtigen muss, irrt. «Es ist eine Lebensweise», sagt Mediziner Paolo Borrione von der Uni Rom. Man achtet auf regionale und saisonale Produkte, ersetzt Chips durch Antipasti und Süssigkeiten duch Obst. Auch spielt die Form der Nahrungsaufnahme eine wichtige Rolle. «Wer mit anderen gemeinsam am Tisch isst, lässt sich mehr Zeit und geniesst das Essen bewusster», so der Experte.
io wird offenbar auch in der Gastronomie immer mehr ein Thema. Grund sei die wachsende Zahl der Lohas (Lifestyle of Health and Sustainability), sagt BioSuisse-Sprecherin Jacqueline Forster-Zigerli. «Lohas essen gerne auswärts und erwarten im Restaurant dieselbe Qualität wie zu Hause.» Unter dem Motto «Genuss ohne Kompromiss» steht deshalb auch die Internationale Fachmesse für Gastronomie und Hotellerie, Igeho. Vom 21.–25. November wartet sie mit Infos zu Bio, Regio und Fair Trade auf. www.igeho.ch
standpunkt
Rafael Pérez,
Präsident von Slow Food Schweiz
Erinnerungen an einen Quartiermarkt
Z
u den Lieblingsbeschäftigungen meiner
gewünscht hatte. Erst Jahre später erkannte
Kindheit gehörte der Besuch des
ich, dass mein Bruder und ich gesünder als die
Quartiermarktes. An schulfreien Tagen
reichen Leute ernährt worden waren.
begleitete ich meine Mutter gerne auf die EinSlow Food hat die «Mercati della Terra» ins Leben gerufen, um die traditionellen Bauernmärkte zu fördern oder ihnen Starthilfe zu geben.
Heute hat für mich das Schlendern über
kaufstour. Den Ablauf habe ich noch so präsent,
traditionelle Märkte wie der Boquería in Barce-
als wäre es gestern gewesen. Der Weg führte uns
lona, der Hötorget in Stockholm, oder Jahrmärkte
zuerst zu dem etwas abgelegenen (und heute
wie der Zibelimärit in Bern den gleichen kultu-
abgerissenen) Quartiermarkt. Eine betriebsame
rellen Wert wie ein Museumsbesuch.
Halle, in der alle erdenklichen Düfte schwebten.
Diese früher in den meisten Quartieren
Mir entsprach der Duft der süssen Sommerfrüch-
anzutreffenden Märkte haben leider Seltenheits-
te mehr als jener der Wintergemüse. Danach ging
wert. Viele sind zu einem Surrogat mutiert, wo
es zum Comestibles-Laden, dessen liebenswürdi-
grösstenteils dieselben Lebensmittel wie bei den
ger Inhaber, Don Luciano, den Einkauf in ein
Grossverteilern angeboten werden, da die
Notizbuch eintrug. Ende Monat kriegte er jeweils
Erzeugnisse nicht direkt vom Hersteller, sondern
das geschuldete Geld von Mutter. Die Rundreise
vom Engros-Markt stammen.
endete mit einem Besuch in der Taberna, eine
Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken,
Mischung aus Quartierkneipe und Weinhandlung, hat Slow Food International die «Mercati della um Wein, Bier und Gaseosa zu kaufen. Die
Terra» ins Leben gerufen. Echte Bauernmärkte,
Brause-Limonade diente dazu, Bier oder Wein
wo gute, saubere und gerechte Lebensmittel
für uns Kinder zu verdünnen. Der Anteil lag im
direkt von den Produzenten angeboten werden.
umgekehrten Verhältnis zum Alter.
Diese Märkte in Zusammenarbeit mit Bauern-
Illustration: grafilu.ch
Ja, es waren keine verschwenderischen Zeiten.
und Produzenten-Verbänden und anderen
Meine Mutter musste die Peseta zweimal
interessierten Kreisen zu fördern, soll zu einer
umdrehen, und auch so reichte es oft nicht bis
Priorität von Slow Food werden. Auf dass die
Ende Monat. Die Folge davon war, dass wir stets
nächsten Generationen echte traditionelle
auf saisonale und lokale Produkte angewiesen
Märkte erleben können und sie nicht bloss als
waren. Konserven oder importierte Lebensmittel
Bild in einem Museum betrachten müssen. Auch
waren purer Luxus. Ich weiss noch, wie sich meine
das schönste Stillleben duftet nicht nach Honig-
Mutter eine Dose Spargeln zum Geburtstag
melonen.
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kolumne
Paul Imhof
ist Redaktor beim Tages-Anzeiger
1995 waren auch 854 Jahre vergangen, seit der Bischof von Lausanne, Guy de Maligny, den Klöstern Hautecrêt und Montheron Land im Dézaley übergeben hatte, damit die Zisterziensermönche den Boden urbar machten. Wenn man
Warten auf 2034
keit speziell auf die Ecke mit der Lage Dézaley richtet, kann
die Winzer am Genfersee ernteten im Herbst 1982 so
man sich vorstellen, welch halsbrecherisches Unterfangen die
viele Chasselastrauben, dass die Cuves und Foudres
Rodung dieser Felsen gewesen sein musste. Die Mönche, die
und Tanks in ihren Kellern den frischen Most nicht komplett
aus dem Burgund gekommen waren, rissen Sträucher aus und
fassen konnten. Die Säfte wurden in andern Behältern zwi-
pflanzten Reben. Hautecrêt existiert nicht mehr, von Monthe-
schengelagert, in Bottichen, Badewannen, Swimmingpools.
ron steht noch ein kleiner Gebäudekomplex, der auch der Ville de Lausanne gehört und als Wirtshaus dient.
1983 reifte in den Rebbergen ein vielversprechender
2007 erhielt das Lavaux das Prädikat «Unesco-Welterbe».
Jahrgang heran. Ich klapperte damals für das Magazin der Basler Zeitung Naturschutzgebiete in Basel-Stadt und
Das Lavaux erstreckt sich zwischen Lausanne und Vevey und
Basel-Landschaft ab, und im Herbst schrieb ich fürs Magazin
umfasst 830 Hektaren Rebfläche (davon gehören 574
eine Reportage über Jackie Steel und seine magischen
Hektaren zum Welterbe), verteilt auf 10 000 Terrassen auf 40
Künste. Zur gleichen Zeit wurde am Genfersee der Chasse-
Ebenen, gestützt von 400 Kilometer Mauern. Zwei Jahre später, an einem Freitagabend im Mai 2009,
las gelesen. Alle waren froh, dass die Mengen in normalen Dimensionen blieben. Auch auf Clos des Moines im Dézaley,
sass ich mit einem Freund im Restaurant Georges Wenger in
einer von fünf Domaines, die der Stadt Lausanne gehören.
Noirmont und schaute zu, wie der Sommelier eine Flasche Clos des Moines 1983 entkorkte. Der Wein hatte eine schöne
Im Dezember 1988 reiste ich nach Singapur und arbeitete dort während fast sechs Jahren als Südostasienkorrespon-
goldgelbe Farbe, er schmeckte leicht «liquoreux», wir spürten
dent für die Basler Zeitung; zu dieser Zeit war der grösste
Sherry-Noten und mineralische Stringenz und Dichte, aber
Teil des Chasselas Jahrgang 1983 bereits getrunken.
auch verblüffend viel Frucht – 26 Jahre nach der «mise en bouteille»!
1994 kehrte ich in die Schweiz zurück. Ein Jahr später
Anfang August 2009 degustierten wir bei der Firma
wurde eine Flasche Clos des Moines 1983 frisch verzapft. Da war mir noch kaum klar, dass man Chasselas lagern kann.
Schenk in Rolle ein Dutzend Chasselas-Weine, blind. Der
Féchy, La Côte und Fendant waren die Weine, die wir als
erste hatte eine zarte, hellgelbe Farbe; das Bouquet war
Studenten per Halbeli tranken, St-Saph, Epesses und Yvorne
elegant, aber nicht allzu kraftvoll, und im Gaumen entfaltete
die teureren, ebenfalls im Offenausschank. Eine Flasche
sich dieser frische Chasselas mit einer gewissen Souplesse.
Dézaley, vorzugsweise Ville de Lausanne (denn wer kannte
Nach der Demaskierung staunten wir: Clos des Moines 2008,
schon die einzelnen Clos, Domaines oder Châteaux?) gab es
ein Dézaley – darauf war niemand gekommen. Nun warte ich
zu Fisch oder Feiern.
gespannt aufs Jahr 2034. 10
Illustrationen: grafilu.ch (Portrait), Lorenz Meier
D
vom See her auf das Lavaux schaut und seine Aufmerksam-
meinung
Biotreibstoff wurden neue, so genannte Derivate erfunden. Hierbei handelt es sich um rein spekulatives Geld, bei dem der Rohstoff als
Bioethanol zum Zweiten – über den Welthunger und den Durst nach Gerechtigkeit
Wertgrösse kaum mehr eine Rolle spielt. Börsenspekulanten setzten auf steigende oder fallende Preise, auf Risiken (z. B. Klimakatastrophen), auf Kredite oder auf Firmen, die vielleicht gar nie gegründet werden. Das alles ist pures Kasino. Warren Buffet nennt die Derivate «finanzielle
Von Roger Staub
D
sich Ende 2007 auf 596 Millarden und stieg bis ie Uno verordnete sich anno 2000 das
Mitte 2008 auf 863 Millarden Dollar (nach der
Ziel, die Zahl der Hungernden bis
Bank für internationalen Zahlungsausgleich
2015 zu halbieren. Kürzlich musste sie
BIZ), das entspricht dem 17-fachen globalen
eingestehen, dass 2008 die Zahl gar um 100
Bruttosozialprodukt, also 17 mal das, was die
Millionen zugenommen hat – bald werden eine
ganze Menschheit an Gütern und Dienstleistun-
Milliarde Menschen vom Hunger betroffen sein.
gen in einem Jahr herstellt. Im Zuge der jüngsten
Berührt es Sie auch peinlich, dass der Anteil
Wirtschaftskrise wurden nur wenige Billionen
an Biotreibstoffen, die aus Nahrungsmitteln
davon abgeschrieben. Warum nicht alles, fragt
hergestellt werden, immer noch zunimmt? In
man sich. Warum auch, fragt der Börsenspeku-
Kenia soll jetzt ein Feuchtgebiet für Zuckerrohr-
lant. Solange das «Vertrauen in den Finanzmarkt»
Ethanol entstehen, so gross wie Appenzell
durch staatliche Spritzen wiederhergestellt wird,
Ausserrhoden. Brasilien – der grösste Hersteller
sieht man dort keinen Grund, auf das rein
von pflanzlichen Treibstoffen – zeigt atemberau-
spekulative Kapital zu verzichten. Übrigens, der
bend wachsende Produktionszahlen. Dazu eine
Staat, das sind wir. Und wir sind gerade daran,
kleine Rechnung: Um mit dem Auto 2 Kilometer
das während Jahren auf uns gewettete Geld
zum Bäcker zu fahren, werden 2100 Kalorien
nachzuschiessen.Womit? Mit unserer ganzen
Treibstoff verbraucht, gerade so viel, wie ein
Arbeitskraft, mit Lohnverlust, mit unserer
erwachsener Mensch zum Überleben braucht.
Altersvorsorge, mit den Sozialwerken. Das erinnert an das alte Russland, wo die reichen
skrupellose spekulanten
Gutsbesitzer an den Spieltischen nebst Grund-
Die Weltbank stellte kürzlich fest, dass 75% des
eigentum «Seelen» setzten – ihre Leibeigenen.
Preisanstiegs bei Nahrungsmitteln auf die Pro-
Im Moment geben sich die Spieler mit einigen
duktion von Treibstoffen aus Nahrungsmitteln
Billionen zufrieden, bis der Finanzmarkt so weit
zurückzuführen sind. Laut einem EU-Kommis-
kuriert ist, dass wieder lohnende Renditen win-
sionsbericht hat der spekulative Handel mit
ken. Dann rücken sie ihren Zaster wieder raus,
Nahrungsmitteln seit zehn Jahren «ein bislang
die Blase wächst weiter, und man lässt wieder ein
unbekanntes Wachstum» erlebt. Auch für den
bisschen Luft raus, etwas mehr als beim letzten 12
Foto: Ricardo Funari / BrazilPhotos
Der grösste Raubzug in der Geschichte der Menschheit geht von einem monetären Heissluftballon aus, der Hunger und Elend verursacht.
Massenvernichtungswaffen». Ihre Summe belief
Zuckerrohrfeld bei Ribeirao Preto in Brasilien. 13
Meinung Mal … bis es nicht mehr geht. Dieses
Jahre), so wären über den Daumen
lassen sich mit solchen Patenten keine
Finanzkonzert wird von einer propa-
gepeilt 1 500 000 Gefängnisjahre zu
Profite einspielen, sonst hätte man das
gandistischen Doppelstrategie beglei-
vergeben. Wer soll die absitzen?
Patent schon angemeldet.
tet: Man bedauert die steigenden
Wer also über «grünen Sprit» nach-
Arbeitslosenzahlen und verspricht uns
denkt, landet unweigerlich beim Nah-
armut trotz rohstoffreichtum
die Talsohle schon im nächsten Jahr.
rungsmittelhandel und somit auf dem
Kommen wir langsam zum Schluss und
Finanzmarkt. Und verabschiedet sich
zum hoffnungsvolleren Teil. Zu uns
schichte der Menschheit geht nicht von
von der Illusion, dass Hunger Schicksal
nämlich: Wüssten wir mehr um die
Anlagebetrügern wie Allan Stanford
sei. Die Fakten sind doch bekannt, die
Zusammenhänge, fiele es uns schwer,
aus, sondern von einem monetären
Systeme und Abläufe beschrieben.
noch rasch ins Shoppingcenter zu
Heissluftballon, der – um in stratosphä-
Aber bringt es uns weiter, mit der
fahren, um etwas Belangloses einzu-
rische Gewinnhöhen vorzudringen –
gleichen Raffinesse, mit der wir die
kaufen. Fünf Minuten hin, zehn
Hunger und Elend verursacht. Die
Welt zugrunde richten, die Ursachen zu
Minuten Einkauf, fünf Minuten zurück
Raubsumme der letzten 20 Jahre
analysieren? Eigentlich könnte man
– inzwischen sind 240 Kinder an
beläuft sich auf beinahe 900 000
sogar eine Patentlösung anbieten: Geld
Unterernährung gestorben. Gewiss,
Milliarden Dollar. Setzt man Stanfords
ist ein geniales Tauschmittel und darf
nicht weil wir im Shoppingcenter
Deliktsumme (8 Mrd.) ins Verhältnis
niemals zur Handelsware werden. Und:
waren. Aber vielleicht ist man bereits
zur über ihn verhängten Strafe (150
kein Geld ohne reelle Deckung! Leider
mit Biotreibstoff gefahren aus einem
Der grösste Raubzug in der Ge-
Land, wo die Bauern durch «Struktur-
Methode in Verbindung mit der Natur
Salzwasser löschen wollen und uns
reformen» verarmen – oder das Pro-
für den eigenen Tisch oder den lokalen
vorgaukeln, wir seien nur noch wenige
dukt, das wir gekauft haben, stammt
Markt produzieren können. Die huma-
Schritte vom Reichtum und Wohlstand
aus einem rohstoffreichen Land, das
nitären Organisationen sollen aufhö-
für alle entfernt. Sie, welche unter
Lebensmittel exportiert und dessen
ren, Lebensmittel in Gebiete zu senden,
«alle» vor allem sich verstehen, gefal-
Bewohner doch hungern. Wer weiss,
wo sie die traditionellen und funktio-
en sich in der Rolle der Auserwählten,
oder besser, wir wissen das gar nicht.
nierenden Märkte kaputtmachen. Die
als wäre es eine Kunst, aus Millionen
Auf alle Fälle scheint es so, als seien wir
Autoindustrie soll aufhören, aufgebla-
Millionen zu machen oder – noch irrer
Teil des Problems. Und weil diese Ein-
sene Benzinschleudern zu produzieren,
– als sei es bereits eine Leistung, reich
sicht nicht unbedingt zur Ermunterung
und die multinationalen Agrarkonzer-
geboren zu sein. Vielleicht täte unserer
einlädt, noch etwas wirklich Hoffnungs-
ne sollen endlich aufhören, durch
Zeit ein Voltaire gut.
volles: Die Leute haben langsam genug,
Gentech- und Monokultur die Biodi-
und es findet vielerorts ein Umdenken
versität und die kleinbäuerliche Kultur
statt: Die Palmölfarm auf Malaysia und
zu zerstören. So oder ähnlich tönt es
die Zuckerrohrplantage in Brasilien,
allerorten – von der ersten bis zur
die auf Biodiesel setzen, sollen ver-
dritten Welt. Jetzt müssen wir nur noch
schwinden, die Bauern ihr Land zurück-
den Einflüsterern widerstehen, welche
erhalten, damit sie nach bewährter
unseren Durst nach Gerechtigkeit mit
Roger Staub ist Lehrer und Autor. Er schreibt regelmässig für slow.ch
erlesenes
Hommage an die Marktfahrer Der Schweizerische Marktverband feiert demnächst den 100. Geburtstag. Ein Buch würdigt das bunte Treiben.
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ärkte spiegeln die Seele einer Region. Sie bringen Farbe und Leben in die Gemeinden und Städte. Meist zentral gelegen, sind sie auch für Auswärtige leicht zu finden. Deshalb herrscht an Markttagen jeweils ein urwüchsiges Treiben, fernab von halluzinierten Trends und sozialem Standes- und Szenedünkel. Die Eidgenossenschaft verfügt über ein dichtes Marktnetz, wie der neue Bildband «Wochenmärkte der Schweiz» zeigt. Insgesamt 38 Märkte sind darin porträtiert. Wobei es sich namentlich um den ersten Band handelt, in dem die Nord- und Westschweiz sowie das Tessin vorgestellt werden. Der zweite Band erscheint zu einem späteren Zeitpunkt. Er soll die Ostschweiz sowie das Bündnerland entsprechend würdigen. Autor Daniel Ingold arbeitet in der Marktforschung. Damit ist er quasi prädestiniert, auch hiesige Märkte zu erforschen. Gemeinsam mit Kollegin Sonja HuotZahnd spürte er über Jahre dem Marktgeschehen nach. Wobei auf vertiefende Analysen verzichtet wurde, wie Ingold im Vorwort schreibt: «Es sind Momentaufnahmen.» Das Buch erhebe keinen Anspruch, objektiv oder repräsentativ zu sein: «Es handelt sich um saisongeprägte Ersteindrücke, für die es in der Regel keine zweite Besuchsgelegenheit gab.»
Darum geniesst man «Wochenmärkte der Schweiz» am besten als Aperitif. Wohl dient die Lektüre dazu, den Appetit anzuregen. Stillen sollte man ihn jedoch selbst: auf dem Markt. Das Buch macht Lust, auch an Ferienorten das Authentische auszukundschaften. Oft entdeckt man dabei Schätze und kann so jenen Menschen Referenz erweisen, die vielfach unter garstigen Bedingungen ihren Lebensunterhalt bestreiten, Traditionen pflegen, diese weiterentwickeln und ihr Wissen gerne bei einem Gespräch preisgeben. Im kommenden Jahr feiert der Schweizerische Marktverband seinen 100. Geburtstag. «Wochenmärkte der Schweiz» widmet ihm ein farbenfröhliches Kränzchen. Darüber hinaus ist die Eloge ein Appell: an die Konsumentinnen und Konsumenten einerseits, an die Behörden andererseits. Der Markt darf nicht sterben. «Wir haben beobachtet», schreibt Ingold, «dass gerade die Wertschätzung oder die Gleichgültigkeit von Gemeindebehörden den Unterschied ausmachen zwischen lebendigen und vom Sterben bedrohten Marktplätzen.» Verdienstvoll sind deshalb die Listen mit Trouvaillen, die den jeweiligen Märkten Urtümlichkeit und Eigenständigkeit verleihen. Ein bisschen mehr Scharfzüngigkeit wäre jedoch dort angebracht gewesen, wo das Angebot im Ganzen zu wünschen übrig lässt. Zwar weisen die Autoren explizit darauf hin, «dass Kritik nur bei mehrmaligem Hingucken gerechtfertigt wäre». Aber manchmal reicht ein Blick, um zu erkennen, wie pulsierend oder eben narkotisierend das Marktgeschehen ist. Wird es eher von Bauern und Idealisten respektive deren urchigen Erzeugnissen geprägt oder aber von Grosshändlern, deren Angebot sich nur durch höhere Preise von jenem im Supermarkt unterscheidet? Ebenso hätten die Porträts einzelner Marktfahrer mehr Raum verdient. Schliesslich sind es die Menschen, deren Hingabe das Markttreiben in Schwung bringen und damit am Leben erhalten. Stephanie Riedi
Daniel Ingold: Wochenmärkte der Schweiz, Weber Verlag, Gwattstrasse 125, 3645 Thun, www.weberverlag.ch. 190 Seiten, Fr. 39.–, ISBN 3-909532-59-9
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ökoherbergen Sabine Reichen: Der andere Hotelführer
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bewegende biografie Widmer, Zatti: Zwischen Birchermüesli und Lebensphilosophie
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as Birchermüesli ist eine Erfolgsgeschichte der kulinarischen Schweiz. Vom Arzt Maximilian Bircher-Benner vor über 100 Jahren erfunden, wird es heute weltweit in allen Variationen schnabuliert. Auch die Bircher-Benner-Klinik in Zürich zog über Dekaden eine illustre Klientel an, und zwar auch dank Dagmar Liechti von Brasch. Maximilians Nichte brachte nach dessen Tod 1939 neuen Schwung ins Sanatorium. Nun würdigt eine Biografie ihre aussergewöhnliche Leistung.
Limmat Verlag, 280 S., Fr. 34.80 ISBN 3-85791-567-3
ie grüne Welle rollt und rollt. Deshalb liegt es auf der Hand, dass sich auch im Dienstleistungsbereich einiges zugunsten der Umwelt getan hat. «Der andere Hotelführer» listet in der 4. Auflage sage und schreibe 15 neue Trouvaillen auf, die ökogerecht wirtschaften. Insgesamt bietet die Schweiz 55 Übernachtungsmöglichkeiten, Verpflegung teilweise inklusive, deren oberstes Gebot Nachhaltigkeit heisst. Rotpunkt Verlag, 462 S., ca. Fr. 42.– ISBN 3-85869-398-3
spitzengastronomie Paul Imhof: Küche zwischen Berg und Tal
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arkus Neff vom Waldhotel Fletschhorn in Saas Fee ist einer der ganz grossen Schweizer Gourmetköche. Autor Paul Imhof widmet dem Meister am Herd
und seinem Team eine gloriose und gleichzeitig appetitanregende Hommage. Im Gegenzug präsentiert Neff, dem Rhythmus der Natur entprechend, jeweils drei Menüs à je fünf Gänge. Das Werk ist bebildert mit brillanten Reportagefotografien von Andri Pol und sinnlichen Foodaufnahmen von Martina Meier. Kurzum: ein Feuerwerk des Genusses. AT-Verlag, 360 S., ca. Fr. 118.– ISBN 3-03800-476-9
lustvoller selbstversuch Andreas Hoppe: Allein unter Gurken
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ie schafft man es, sich lokal zu ernähren? Was gibt ein Radius von 100 km an regionalen Spezialitäten her? Muss man den Balkon mit Gurken begrünen, oder tuts auch ein Marktbummel? TV-«Tatort»-Kommissar Andreas Hoppe hat einen Selbstversuch gewagt und ein witziges Buch darüber geschrieben. Fazit: «Local Food ist alltagstauglich, macht einen Heidenspass, und man kann vor allem grandios scheitern.» Hoppes Erfahrungsbericht ist
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eine genussreiche Lektüre, die Lust macht, das abenteuerliche Experiment in der eigenen Region zu wiederholen. Pendo, 240 S., Fr. 29.90 ISBN 3-86612-234-5 Erscheint 3. November
Kinderküche Lukas Hartmann: Spuren in der Polenta
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ina will eigentlich bloss ihr Taschengeld aufbessern. Aber dann erhält sie die Chance, einem Bösewicht auf die Schliche zu kommen … «Spuren in der Polenta» ist eine von zehn packenden Kurzgeschichten, die Autor Lukas Hartmann für Kinder geschrieben hat. Der Clou dabei: Sämtliche Abenteuer sind mit Rezepten angereichert, die kleine Köche fast ganz allein zubereiten können. Tipps und Wissenswertes ergänzen das zauberhafte Werk.
Bajazzo Verlag,
142 S., Fr. 28.– ISBN 3-90758-884-0
neue Konzepte
Markt Kultur
Von der legend채ren Kulturbeiz zur Mikrowirtschaft: Eine Erfolgsgeschichte aus dem Kanton Z체rich.
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neue konzepte
Inhaber die Kulturbeiz Neuhof in Bachs. Der damals 27-Jährige hatte Ideen und Visionen im Reisegepäck sowie ein grosses Fachwissen als Gastronom, Hotelfachschullehrer und Erwachsenenin Samstag in der Ginsterstrasse, bildner. Bei seinem Projekt, das er im Begriff «rundumkultur» zusammenfasst, Zürich-Albisrieden. Die Luft steht nicht das Geld – auf dem heutigen ist erfüllt von Musik. Geige, Markt meist Antrieb, Inhalt und Ziel Kontrabass, Klarinette spielen um die zugleich – im Mittelpunkt des WirtschafWette; Klezmer-Melodien erfreuen das tens, sondern der Mensch als freies Publikum. Junge und alte Menschen Individuum. Im Klartext: Honauer sitzen auf Bänken unter Sonnenstoren, trinken Kaffee, essen Gipfeli – gratis zur interessiert sich für die Menschen der Unternehmung, ohne dabei sein Umfeld Eröffnungsfeier des «Bachser Märt», aus den Augen zu verlieren, wo wiedereinem Quartier-, Hof- und Bioladen. um Menschen wirtschaften und produIm Innern des neuen Geschäfts zieren. Ebenso gehört zu Honauers folgen Besucher dem Pfeil «Bachsertal und regional». Sämtliche Produkte sind Konzept, dass soziale und ökologische Verantwortung übernommen wird, in beschriftet: Demeterkonfi, Familie punkto Handeln und für die daraus Weidmann, Bachs; Bio-Forelle, Familie Glauser, Bachs. Auf den Gesichtern der resultierenden Folgen. Dies alles sei innerhalb der wirtschaftlichen GrundBesucherinnen und Besucher spiegelt sich Freude. «Schau, alles ist biologisch! regeln möglich, versichert der Pionier. Patrick Honauer, damals der NeuzuDas hat gefehlt», meint eine potenzielle züger, der Fremde im Dorf, suchte den Kundin. «Sieht gut aus», erwidert eine andere. Und ein älterer Herr grummelt: Kontakt zu Landwirten aus der Region «Das ist besser als erwartet.» Bloss eine und zur Dorfbevölkerung. Es wurde verhandelt, was die Produzenten anbauen Dame fragt leicht konsterniert: «Bei Thalmanns gab es diese Fertigmischung können und was der Gastrobetrieb abnehmen kann. Schon bald gehörte der für Vanilleköpfli. Gibt es die nicht Neuhof zu den ersten biozertifizierten mehr?» Die Angestellte rät, etwas Betrieben der Schweiz. weiter hinten nachzugucken. Auf den Seiner sozialen Verantwortung folBio-Parcours folgen Regale mit Volggend entwickelte der Tausendsassa ein Produkten. Bei der Kasse hat sich eine kleine Kolonne gebildet. Doch niemand Berufsintegrationsprojekt. Ziel: Jugendlichen mit sozialen oder psychischen reklamiert. Man plaudert mit den Beeinträchtigungen eine Ausbildung im Nachbarn, diskutiert das gelungene geschützten Rahmen zu bieten. Parallel Konzept. «Es ist bereits der zweite dazu entstand der Verein «axisbildung», Laden», weiss eine Konsumentin, «das ein Lehrbetriebsverbund. sagt doch einiges über das Projekt.» Bis heute übernimmt «axisbildung» soziale verantwortung die Administration, betreibt für die Jugendlichen eine Bildungswerkstatt, Der zweite Laden liegt, wie der Name spricht Betriebsbeiträge zu oder pflegt vermuten lässt, in Bachs im Zürcher Unterland. Er heisst ähnlich wie jener in den Kontakt mit den zuweisenden Behörden. Dem Neuhof angegliedert Albisrieden, nämlich «Bachser Märt, entstand zudem eine Bäckerei, die als Dorf-, Hof- und Bioladen». Mit seinem Verbundbetrieb weitere AusbildungsplätAngebot ist er Teil eines komplexen ze anbietet. Im Austausch mit anderen Mikromarktes, einer Art Mikrowirtschaft, deren Wurzeln in der Vergangen- regionalen Unternehmen fand Honauer Gleichgesinnte, die bereit sind, als heit gründen. Vor etwa 20 Jahren übernahm Patrick Verbundbetriebe der «axisbildung», niederschwellige Ausbildungsplätze für Honauer, der heutige Bachser-Märt-
Von Iris Reichlin Fotos ute Kümpel
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weitere Berufe anzubieten. Für die letzte Ausbildungsphase gewinnt er zudem Verbundbetriebe aus der freien Wirtschaft. Im Dialog sowie im «Zusammen-Tun» entwickelte sich in und rund um Bachs ein verbindliches Netzwerk aus eigenständigen Betrieben. Da für Honauer und seine Partner und Partnerinnen der Mensch im Zentrum der Unternehmung steht, wachsen daraus eben andere Ideen, Inhalte und Ziele als im gängingen Wirtschaftsleben. Geld ist für die Neuerer Gegenwert eines Projektes, die Materialisierung des Geplanten und nicht das Ziel. Auf dieser Grundlage übernahm der Unternehmer 2008 den einzigen Dorfladen in Bachs, der im Zeitalter des Lädelisterbens vor dem Aus stand.
enorme nachfrage Wie kommt es, dass «axisbildung» nach nur einem Jahr selbsttragend war? Also schwarze Zahlen schreiben konnte, und zwar ohne Zuschüsse für sozialpädagogisch begleitete Ausbildungsplätze? Niederschwellige Ausbildungsplätze sind gefragt. Bei «axisbildung» haben sie bislang im Detailhandel gefehlt. Deshalb ist ein Projekt wie der Bachser Märt sehr willkommen. Auch das Angebot an qualitativ hochstehenden landwirtschaftlichen Produkten aus dem Bachsertal ist enorm, und dies trotz der in Mode gekommenen Hofläden. Kommen all die Zulieferanten hinzu, die Gebäck oder hausgemachte Pastaprodukte feilbieten. Klar, dass ein Betrieb, der all diese Köstlichkeiten sozusagen unter ein Dach respektive auf den Markt bringen kann, reüssieren muss. Die Kundschaft erweitert sich sukzessive. Für die Wildschweinwurst aus der Region, geräucherte Forelle oder die Bachser Joghurts nehmen auch Gourmets aus Zürich den Weg ins Zürcher Unterland auf sich. Um das Gleichgewicht im Netzwerk aufrecht zu erhalten, braucht es jedoch einen weiteren Laden – vorzugsweise in der Stadt. So kann der Anreiseweg der Zürcher Klientel verkürzt und dem Lädelisterben ein weiteres Mal getrotzt werden. In Albisrieden wird Honauer
neue konzepte schliesslich fündig. Und wieder sitzt er mit Landwirten aus der Region zusammen, um über Angebot und Nachfrage zu diskutieren ... Und wann erreicht die «rundumkultur» ihre Grenzen? Honauer überlegt eine Weile: «Wenn ich die Lernenden nicht mehr mit ihrem Namen ansprechen kann. Wenn ich nicht mehr mit den Produzenten zusammensitzen, über ihre und meine Bedürfnisse diskutieren kann. Wenn kein Dialog mehr möglich ist.» Honauers Vision ist die Saat. Vielleicht gedeihen auch in andern Regionen und Tälern Mikromärkte, die der Landflucht Einhalt zu gebieten vermögen. In der Quartierstrasse in ZürichAlbisrieden ist es Mittag geworden. Die Gäste essen Spanferkel mit Spätzli, serviert vom Bachser-Märt-Team. Das Landwirt-Ehepaar Stucki aus Bachs brät das Ferkel am Spiess über der Glut. In einer kleinen Broschüre, die abgegeben wird, ist der Hof und die Familie porträtiert. Hinter den Produkten stehen Gesichter. Gesichter, die künftig vom neuen Bachser-Märt-Team vertreten werden. An ihnen wird es liegen, den Dialog mit den Produzenten zu pflegen, um die Herkunft, Verarbeitung und Qualität der Produkte zu gewährleisten. Der Austausch mit der Klientel hat heute begonnen. Vermutlich gibts dereinst auch eine Vanilleköpfli-Fertigmischung im Sortiment des Quartier-, Hofund Bioladens. Markt ist eben Angebot und Nachfrage – auch im Bachser Märt. Iris Reichlin ist Lehrerin und Köchin. Sie schreibt regelmässig für slow.ch.
Markt der Superlativen Eine italienische Delikatessen-Kette erobert den Erdball. Slow Food stand Pate. Das Für und Wider. Von michele fossi
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ehn Megamärkte, acht Gourmetrestaurants, zwei Cafés, eine Brauerei, ein Weinkeller, eine Gelateria sowie eine umfangreiche Kundenbibliothek: Mit einer Gesamtfläche von über 11 000 m² gilt Eataly im italienischen Turin als der grösste Feinschmeckertempel der Welt. Das Abenteuer Eataly (eine Wortschöpfung, die sich aus «eat» für essen und «Italy» zusammensetzt) fing im Jahr 2004 an: Der italienische Unternehmer Oscar Farinetti, bislang vor allem als Verwaltungsratspräsident eines bedeutenden Elektrogeräteherstellers bekannt, hatte die Vision, ein Schlaraffenland mit regionalen Produkten zu gründen. Erklärtes Ziel Farinettis ist die Rettung alter Rezepte und Produkte, die vom Aussterben bedroht sind. Zudem will er beweisen, dass es möglich ist, Nischenprodukte einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Die angebotenen Waren, die man normalerweise nur in kleinen, zumeist hochpreisigen Gourmetläden findet, sollen bei Eataly – und das ist die Novität und der Stolz des Projekts – zu günstigeren Preisen erhältlich sein. «Dank einer Verkürzung der Vertriebswege», erklärt Nicola Farinetti, Oscars Sohn. «Die Produzenten können ihre hochwertigen Erzeugnisse direkt den Kunden anbieten. Dadurch fällt der Zwischenhandel weg, und die Preise bleiben erschwinglich.
Bachser Märt Quartier-, Hof- und Bioladen, Ginsterstrasse 1, 8047 Zürich Albisrieden Dorf-, Hof- und Bioladen Bachsertalstrasse 14, 8164 Bachs laden@bachsermaert.ch www.bachsermaert.ch Restaurant Neuhof Sternenstrasse 30, 8164 Bachs neuhof@neuhof-bachs.ch www.neuhof-bachs.ch axisbildung Solistrasse 74, 8180 Bülach axis@axisbildung.ch, www.axisbildung.ch 22
Die Japaner sind Gourmets.
Gepflegt einkaufen und speisen in Turin.
Kosten, einkaufen, essen, plaudern in Eataly-Filialen rund um die Welt. Zelebrierte Gastlichkeit in Bologna.
Markttreiben in Turin.
neue konzepte
hinaus wurde ein ehemaliges Kino in Bologna letzten Dezember in ein Mehrzwecklokal umgebaut, das nun eine Buchhandlung beherbergt samt 1000 m² Regalfläche, bestückt mit erlesenen Lebensmitteln und Weinen. «Die Verhandlungen für einen weiteren Ableger sind bereits abgeschlossen», so Farinetti. In New York soll eine Filiale auf der Fifth Avenue eröffnet werden. Bis zum Jahr 2015 sind noch mehr Läden in italienischen und anderen internationalen Städten geplant. Wird Eataly bald wie Aldi oder WalMart fast in jedem Land der Welt zu finden sein? «Nein. Unser Modell lässt sich nicht ins Unendliche ausweiten», erklärt Farinetti. «Hochwertige Rohstoffe sind selten, sogar sehr selten.» Eataly wolle kleine Erzeuger eben nicht in Produktionszwang bringen, um die Gefahr einer Qualitätsminderung zu verhindern. Mitverantwortlich für die Erfolgsstory ist Carlo Petrini, Präsident von Slow Food International. «Er stand mir mit seiner langjährigen Erfahrung und wertvollen Kontakten zur Seite», sagt Farinetti. Dadurch sei Eataly auch zum Nur bedingte expansion ersten aus Sicht von Slow Food korrekten Supermarkt der Welt geworden. Eataly ist eine Erfolgsgeschichte. «Wir Petrini durfte mitentscheiden, welche sind selbst erstaunt, wie gut alles läuft», sagt Nicola Farinetti. «Nach weniger als Produkte in das Sortiment aufgenommen wurden. Insgesamt sind heute 700 kleine, zwei Jahren haben wir eine Besucherregionale Lieferanten bei Eataly verzahl von beinahe 5 Millionen erreicht, zeichnet, ungefähr 30 davon stammen und der Umsatz ist trotz Krise um ein aus italienischen Slow Food-FörderkreiFünftel gestiegen.» sen. Auch bietet Slow Food die meisten Nach der Eröffnung im Januar 2007 gastronomischen Seminare und Degustain Turin und eines Corners in einem grossen Kaufhaus in Mailand hat Eataly tionen an. Mit Slow Food teilt sich allerdings Ende September 2008 einen imposanten Eataly nicht nur einige Aspekte seiner Ableger in Tokio eröffnet mit kulinarischen Spitzenprodukten aus Italien und Philosophie, sondern ebenso die Vorwürfe, die sich Petrinis Bewegung immer japanischen Spezialitäten. Darüber Letztlich ist Eataly der erste intelligente Supermarkt. Als Kunde packt man die Ware nicht einfach in den Einkaufskorb, sondern lernt stets etwas Wissenswertes dazu, etwa über das Angebot. Allgegenwärtige Plakate stimmen ein Loblied an auf saisonale und lokale Gemüsesorten und infomieren über die Notwendigkeit, Verpackungen und verschwenderisches Verhalten auf ein Minimum zu beschränken. Dadurch wird etwas für einen Supermarkt Aussergewöhnliches propagiert: Weniger kaufen und weniger konsumieren, dafür in besserer Qualität. Als weiterer Pluspunkt lockt ein umfangreiches Angebot an Lehraktivitäten: von Kursen über Gourmetgastronomie bis hin zu literarischen Degustationen, wo man grossen Namen der internationalen kulinarischen Szene begegnen kann. Ein Treffpunkt also, an dem man sich als Teil einer Gemeinschaft fühlt, die nicht nur isst, sondern auch atmet, denkt, liest, diskutiert – gutes Essen und guten Wein liebt, und die zu Recht die Gourmetgastronomie zur Kultur erhebt.
wieder von Gegnern anhören muss: Eataly sei wie Slow Food ein elitäres Luxusunternehmen. «Einkaufen bei Eataly ist teurer als im konventionellen Supermarkt», gibt Paolo Di Croce vom Slow Food-Pressebüro in Bra unumwunden zu. Aber: «Wie viel wird den kleinen Produzenten bezahlt?», fragt er provokativ zurück. Die Methoden herkömmlicher Handelsketten anzuwenden hiesse, den Bauern niedrigere Preise aufzuzwingen, was letztlich zu Qualitätseinbussen führe.
Teuer aber nicht zu teuer Bei Eataly setze der Produzent den Quellenpreis fest, bestätigt Franco Boeri, Olivenlieferant aus Taggia. «Bis vor kurzem waren wir kleinen Olivenölproduzenten in den Fängen von Baronen», erzählt Boeri mit kaum verhohlenem Groll. «Sie zwangen uns, den Quellenpreis dramatisch zu senken, um die Produkte anschliessend mit einer Marge von über 200% zu vermarkten.» Eine überaus kurzsichtige Politik: Ein lächerlich niedriger Quellenpreis lässt auf geringe Qualität schliessen. Darüber hinaus senkt miese Qualität bei teuren Endpreisen die Verkaufszahlen enorm. Betrachtet man Eatalys Warenangebot, erkennt man, dass es da ein bisschen von allem gibt: teure und weniger teure Produkte. Einige der Letzteren sind zu Recht teuer, andere wiederum lassen beim Kunden Zweifel aufkommen, ob die Preise gerechtfertigt sind. Dazu einige Beispiele: Eine 580-g-Dose geschälte Tomaten «Il miracolo di San Gennaro Afeltra» kostet ca. Fr. 4.20, eine 500-g-Packung handgemachter Fusilli «Pastaio di Gragnano» ca. Fr. 14.70 und ein Kilo der legendären
Ein Treffpunkt, wo man gutes Essen und guten Wein zu schätzen weiss und die Gastronomie zur Kultur erhebt
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Nicht überall und bei allen kommt die Zusammenarbeit von Eataly und Slow Food gut an
«Ferrisi»-Tomaten gar ca. Fr. 42.80, während man auf der Website des Produzenten für den gleichen Preis ganze 5 Kilo bekommt (Kosten für die Lieferung ausgenommen). Es muss indes eingeräumt werden, dass bei Eataly zahlreiche Produkte preisgünstig sind, wie beispielsweise Brot. Ebenso ist es möglich, in einem der Gourmetrestaurants zu speisen, ohne sich finanziell zu ruinieren – selbst in dem mit einem Michelin-Stern ausgezeichneten Lokal.
im kreuzfeuer der kritik Vermutlich ermöglicht nur diese Preispolitik – den Betrag einiger Produkte, insbesondere der teureren, zu erhöhen, um jenen der anderen so tief wie möglich zu halten und den Produzenten dennoch einen fairen Quellenpreis zu bezahlen – das ehrgeizige Ziel, das Farinetti am Eröffnungstag formuliert hat: «Unsere Absicht ist es, alle Kunden zu versorgen. Wir sind der Meinung, dass sich auch weniger begüterte Familien Lebensmittel von bester Qualität leisten können sollen.» Di Croce vom Slow Food-Pressebüro bezeichnet das Ziel zwar als sehr ehrgeizig, aber nicht unerreichbar: «Wenn man bedenkt, wie viele noch essbare Lebensmittel wir täglich in den Abfall werfen, oftmals noch verpackt, fällt hier schon mal ein grosser Betrag an.» Ein selbstbewusster Verbraucher, dem die Verschwendung bewusst sei, könne es sich also theoretisch leisten, bei Eataly regelmässig einzukaufen. Am Ende des Jahres hätte er weniger Geld ausgegeben und sich erst noch besser ernährt. Dennoch: Nicht überall kommt die Zusammenar-
beit von Slow Food und Eataly gut an. Die Bewegung Slow Food kämpft notabene seit ihrer Gründung für den Schutz lokaler und traditioneller Erzeugnisse, für Biodiversität in der Landwirtschaft und bei den Nahrungsmitteln. Die in Turin ansässige Tageszeitung «La Stampa» fragte deshalb gehässig: «Eataly – von Slow Food zu Fast Food?», und vermeldete der Kooperation gegenüber grosse Vorbehalte. Ebenso stösst das Bündnis einige Slow Food-Mitglieder vor den Kopf. Es sei in sich widersprüchlich, meinen Kritiker. Das Projekt masse sich an, die ökologisch-gastronomischen Ideale von Slow Food mit der Praxis einer Handelskette zusammenzuführen. Das könne nicht funktionieren, ja, der Versuch grenze an Betrug. Oscar Farinetti winkt ab. «Wir wollen einem breiten Konsumentenkreis gute, gesunde Lebensmittel von nachhaltig arbeitenden Produzenten anbieten, einer Klientel, die den Wert der Produkte zu schätzen weiss und die Tradition des Essens pflegen will.» Im Gegensatz zu den gängigen Handelsketten, wo es zahlreiche Produkte zu kaufen gebe, deren Philosophie bloss die Gewinnmaximierung sei, finde man bei Eataly eine Vielzahl von Artikeln, die der Slow Food-Philosophie «gut, sauber und fair» entsprächen.
schritt halten mit der zeit Dieser Ansicht ist auch di Croce. Er schränkt jedoch ein: «Wir können uns nicht gänzlich mit Eataly identifizieren. Wir sind in erster Linie ein gemeinnütziger Verein. Unsere Aufgabe besteht nicht darin, Produkte zu verkaufen, sondern sie zu schützen.» Andererseits
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sei es schön zu sehen, dass eine Wirtschafts- und Handelsrealität wie Eataly unter diesem Gesichtspunkt funktioniere und sich von der Slow FoodPhilosophie und den Idealen anregen lasse. «Das ist für uns eine zusätzliche Bestätigung, dass unsere Theorie auch in der Praxis anwendbar ist.» Auch Tommaso Venturini, Post-DocForscher an der Universität in Bologna und Mitarbeiter am Slow Food-Studienzentrum, findet, dass es nichts Inkonsequentes gibt am Bündnis von Eataly und Slow Food. «Eataly ist für Slow Food ein Weg, sich selbst treu zu bleiben», sagt er. Das bedeute einerseits, zwar die Ideologien der Modernität, der Globalisierung und des Wachstumzwangs kategorisch abzulehnen. Andererseits aber gelte es, Kompromisse zu suchen, um die Methoden umsetzen zu können. Die Eigenproduktion, die Bauernmärkte und Einkaufsgruppen und viele andere Formen kurzer Vertriebswege sind laut Venturini durchaus lobenswerte und wichtige Unternehmungen. Supermärkte seien einfach eine wesentliche Komponente des heutigen Alltags geworden, meint er. «Würde Slow Food diese Realität ignorieren, liefe die Bewegung Gefahr, sich an den Rand der Gesellschaft zu manövrieren.» Michele Fossi ist Chemiker und arbeitet als Fachjounalist für diverse italienische Zeitschriften.
Infos über Eataly unter: www.eataly.it Eataly-Filialen gibt es bislang in Turin, Bologna, Mailand, Tokio und bald auch in New York.
vermarktung
Im Namen der Marke Personifizierte Produkte suggerieren Qualität und Verlässlichkeit. Sie schaffen Vertrauen. Zu Recht?
Von Stephanie Riedi
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nna’s Best, Heidi, Max Havelaar: Personifizierte Brands, Logos und Labels sind vom zeitgeistigen Vermarktungssystem nicht mehr wegzudenken. Je anonymer der Alltag des Modernisten sich gestaltet, desto grösser scheint sein Bedürfnis nach Identifikation zu sein. Die Marke ist somit von ihrer Funktion als Orientierungshilfe zum treuen und teuren Vertrauten der Konsumentin, des Konsumenten mutiert – teils mit zweifelhaftem, teils mit berechtigtem Erfolg. Die Pizza «Don Giovanni» etwa suggeriert dem Italophilen, ein Meisterstück der italienischen Küche serviert zu bekommen. Desgleichen weiss die Hausfrau im Labyrinth des unpersönlichen Supermarkts: Auf «Betty Bossi» ist Verlass. Woran sonst sollte sich auch halten in einem Ladenlokal ohne beratendes Personal? Dumm nur, wenn die pseudopersönlichen Gefährten in die Schlagzeilen geraten, wie das im Sommer der Fall war: «Don Giovanni», «Betty Bossi»
& Co. wurden von den Medien der Mogelei bezichtigt: Die Pizza und Ravioli enthielten keinen Schinken, sondern eine Pampe aus billigen Fleischresten, Wasser und Stärke. Der Käse wiederum entpuppte sich als Masse aus Öl und Pflanzenaromen. Kurzum: Der Glaube an die Marke wurde nachhaltig erschüttert. Okay, auch Tante Emma, die Lädelibesitzerin von anno dazumal, flunkerte bisweilen. Und hätte man das Kleingedruckte auf der Verpackung gelesen, wäre die Enttäuschung weniger frappant gewesen. Dennoch: Worauf, bitte schön, soll man heute noch bauen können, wenn nicht auf die Marke? Der Zweck eines Labels besteht laut Marketingmanagern doch gerade darin, die Klientel an ein Produkt zu binden – euphemistisch Markentreue respektive Markenbewusstsein genannt.
einmalige Qualitätsgarantie Ein Blick über die Landesgrenzen hinaus zeigt denn auch, dass die Marke durchaus jenen Mehrwert bekommen kann, der ihr gebührt. Im Südtirol hat sich eine Gruppe von Bauern zusammengeschlossen, um ihre Produkte unter dem Sammelbegriff «ahrntal 26
Der Zweck der Marke besteht darin, die Klientel ans Produkt zu binden
natur» zu vertreiben. Der Clou dabei: Die meisten der bäuerlichen Erzeugnisse gelangen mit einem Brand in den Handel, der schlicht «mein Honig», «mein Käse», «mein Brot» lautet. Dazu sind die Konterfeis der jeweiligen Produzenten abgebildet. Die augenfällige Qualitätsgarantie ist die beste Prophylaxe gegen Schummelei und die Südtiroler Selbstvermarktung folgerichtig eine Erfolgsgeschichte.
Marken sind Medien. Sie transportieren die Botschaft vom Produzenten zum Konsumenten. Letztlich übernehmen sie jene Aufgabe, die früher Sache der Geschäftsführer und Verkäufer war: Verantwortung und Qualitätsgarantie. In einer Zeit der Renditenmaximierung und der dadurch bedingten Aufwandminimierung scheint es also nur nahezuliegen, diese an ein Fantasiegebilde zu delegieren, das menschliche Züge trägt – und sei es bloss dem Namen nach, wie beispielsweise «Anna’s Best».
keine neue erfindung Personifizierte Produktbezeichnungen sind allerdings keine Erfindung der Neuzeit. «Dr. Oetker» etwa existiert als Marke seit über 100 Jahren. Dahinter steckt der Apotheker August Oetker, der zunächst portioniertes Backpulver und später Puddingpulver unter seinem Namen vertrieb. Im Gegensatz zur Kunstfigur «Betty Bossi», die 2006 ihren 50. Geburtstag feierte, bürgte Dr. Oetker als Person für sein Produkt. «Betty Bossi» indes verdingte sich zu Beginn ihrer Karriere nicht als Brand von Convenience-Produkten, sondern stand für Kochrezepte und Küchenutensilien. Einige Jahre später erwarb Coop 50% der Marke «Betty Bossi», quasi als Antwort auf die von Migros lancierte Linie «Anna’s Best». Beide «Damen» bieten seit Mitte der neunziger Jahre Bequemkost an. Das Sortiment besteht aus Hunderten Produkten. Zuwachs garantiert. Nicht Quantität, sondern Qualität steht bei «ahrntal natur» im Vordergrund. Das Projekt wurzelt in der Slow Food-Philosophie, Ethik und Genuss zu verbinden. «Wir wollen», sagt Projektleiter Michael Oberhollenzer, «gewöhnliche Produkte aussergewöhnlich gut machen und dafür faire Preise verlangen». Die Konsumenten sollen das Gefühl haben, mit den Herstellern in Beziehung zu stehen. Bis zu einem 27
gewissen Grad wird das auch in der Schweiz praktiziert (siehe S. 18). Doch sind die Produzentennamen meist diskret erwähnt und geniessen deshalb eher den Stellenwert eines Provenienznachweises. Die mit den Herstellern bebilderten Produkte respektive das initiierte Südtiroler Netzwerk – Landwirtschaft, Handel, Gastronomie – hilft den Bauern, ihre Naturerzeugnisse das ganze Jahr über abzusetzen statt nur in den Sommermonaten auf dem Bauernmarkt. Sie versorgen heute eine Reihe von Herbergen und Gourmetgeschäften, und zwar in ganz Südtirol sowie über die Region hinaus. Nun liebäugeln die Eigenvermarkter gar damit, den Sprung über den Brenner zu wagen.
ausgezeichnetes projekt Das Projekt prosperiert zweifellos. «Die Bauern erzielen wieder ein angemessenes Einkommen», sagt Michael Oberhollenzer. Ebenso sei ihr Image gestiegen. Die beteiligten Landwirtschaftsbetriebe bieten regelmässig Veranstaltungen an, um ihren Kunden Einblick in den bäuerlichen Alltag zu gewähren, an denen Fragen gestellt, die Tiere gestreichelt, Käse und Honig verkostet werden dürfen. Sympathie gegenüber dem personifizierten Selbstvermarktungsprojekt bekunden gar die Behörden. Sie erliessen eigens ein Gesetz, das vor allem im Hygienebereich Erleichterung bringen soll; die rigiden EU-Vorschriften sind von den Kleinbauern kaum einzuhalten. Im Frühjahr wurde «ahrntal natur» zudem vom österreichischen «Verband für Kaufleute und Dienstleister» mit dem «Merkur»-Preis für das «innovativste Projekt zur Steigerung der Lebensqualität» ausgezeichnet. Das Label «ahrntal natur» suggeriert eben nicht nur Verlass und Qualität, sondern bietet sie auch. Stephanie Riedi ist freie Journalistin. Sie leitet die Redaktion von slow.ch.
soziologie
Weniger Markt mehr Freiheit Von Ueli M채der Fotos Dan Cermak
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Der Handel dominiert die Gesellschaft. Zum Wohl weniger, zum Leid vieler. Ein Pl채doyer f체r mehr Ausgewogenheit.
soziologie
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uf dem Markt handeln wir. Wir tauschen Geld gegen Waren. Auf dem Markt kommen Angebot und Nachfrage zusammen. Da spielt sich auch viel Geselliges ab. Auf dem Marktplatz kaufen wir Gemüse, im Supermarkt den Staubsauger. Und dann gibt es noch den Markt der Liebe. Zudem den Finanzmarkt und eine Kontroverse darüber, was der Markt alles regeln kann. Sie steht hier im Vordergrund. Etwas theoretisch. Der Markt dient der Verteilung vielfältiger Produkte. Die einen stellen landwirtschaftliche Güter her, andere industriell gefertigte. Dank dem Markt kommen alle zur Schaufel und zu den Kartoffeln. Vielleicht auch zu Bananen und TV-Geräten. Und das zu einem mehr oder weniger erschwinglichen Preis. Der Markt erlaubt uns, komplementär zu wirtschaften. Das hat viele Vorteile. Niemand möchte sie missen. Trotz Kehrseiten.
liberalismus Nach dem erschütternden Zweiten Weltkrieg öffneten sich die Märkte. Der Markt erlebte einen gewaltigen Aufschwung. Zusammen mit der Idee der Sozialen Marktwirtschaft. Sie ist nun gut sechzig Jahre alt und recht verschieden konzipiert. Die einen wollen den Markt mit starken staatlichen Eingriffen kombinieren, andere nur mit schwachen oder gar keinen. Was viele Vorstellungen vom Markt vereint, ist die Orientierung am Liberalismus. Allerdings gibt es auch hier erhebliche Unterschiede. So etwa zwischen dem wirtschaftlichen und
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dem politischen Liberalismus. Als Kennzeichen des Liberalismus gilt, wie beharrlich er die individuelle Freiheit hoch hält. Viele verbinden den klassischen Liberalismus mit dem schottischen Moralphilosophen Adam Smith (1723–90), der 1776 seine Studien über den Reichtum der Nationen (the Wealth of Nations) veröffentlichte. Nach seiner Auffassung prosperiert eine Gesellschaft am besten, wenn das harmonische Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage ohne Eingriffe funktioniert. Wenn sich der Markt selbst regle, entstehe Wohlstand. Und der wirtschaftliche Aufschwung beseitige die Armut quasi automatisch, weil das Wachstum allen zugute komme. Kritiken am wirtschaftlichen Liberalismus geben hingegen zu bedenken, dass der angeblich freie Markt soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit verschärfe.
Sozialer Markt Ludwig Erhard (1897–1977) gilt als Mitbegründer der Sozialen Marktwirtschaft. Er war von 1949–63 Bundesminister für Wirtschaft und von 1963-66 Kanzler der Bundesrepublik Deutschland. «Sozial» ist nach seiner Auffassung die Marktwirtschaft, weil sich der Wohlstand im Liberalismus quasi von allein einstelle. Daher sei der Begriff «Soziale Marktwirtschaft» eigentlich ein Pleonasmus – wie ein «weisser Schimmel»; denn der Markt sei ja bereits sozial. Laut Ludwig Erhard bringt ein gut funktionierender Markt «Wohlstand für alle» (1957). Die Soziale Marktwirtschaft beinhalte aber auch weitere soziale Elemente, die ein«reiner» und «ungezügelter» Marktkapitalismus vernachlässige. Der Staat erlässt Regeln und Rahmenbedingungen, die
Im Kontext der Finanzkrise sieht sich der Staat heute noch mehr dazu gezwungen, in die Märkte einzugreifen
beispielsweise mit einem Kartellrecht oder einer Währungsordnung das Funktionieren der Märkte erst ermöglichen sollen. Die «Soziale Marktwirtschaft» nimmt somit auch die ordoliberale Tradition auf. Sie stammt von der so genannten Freiburger Schule der Nationalökonomie. Zu den wichtigsten Vertretern gehörte Walter Eucken (1891–1950). Das lateinische Wort «ordo» heisst Ordnung. Der Ordoliberalismus ist eine spezifisch deutsche Variante des Neoliberalismus. Sie unterscheidet sich deutlich von der angelsächsischen Ausprägung, die heute dominiert und freie Märkte verabsolutiert. Alfred Müller-Armack (1901–78) hiess ein weiterer Vertreter des ordoliberalen Ansatzes. Er betrachtete den Markt als tragendes Gerüst. Der Markt helfe, eine Wirtschaftsordnung der Mitte zu bilden, und zwar jenseits der sowjetischen Planwirtschaft und des
amerikanischen Kapitalismus. Der soziale Markt verbündet sich nach dieser Vorstellung eng mit dem Sozialstaat. Er tut dies im Rahmen einer liberalen Wirtschaftsordnung. Dazu gehört der Wettbewerb; wobei die Konkurrenz so zu gestalten ist, dass soziale Gerechtigkeit und Sicherheit gewährleistet bleiben. Der soziale Markt «erlaubt» zumindest Sozialversicherungen, die «soziale Härten» abfedern, ohne den Markt zu verzerren. Soweit die Ideen, die Müller-Armack nach dem Zweiten Weltkrieg vertrat. Dies unter anderem in seiner Schrift «Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft». Müller-Armack trat damals auch, von der katholischen Soziallehre angetan, der CDU bei. 1933 (und ab 1940 als Professor in Münster) hatte er noch als Mitglied der NSDAP nationalsozialistische Ideologien unterstützt. So etwa mit seinem Buch «Staatsidee und Wirtschaftsordnung im Deutschen Reich». Von 1958–63 wirkte Müller-Armack als Staatssekretär für Europäische Angelegenheiten und Berater von Ludwig Erhard, der die wachsende Staatsquote kritisierte, die das Ende der sozialen Marktwirtschaft bedeute. Auch, weil sie die Marktkräfte schwäche.
Macht konzentriert sich Im Kontext der Finanzkrise sieht sich heute der Staat noch mehr dazu gezwungen, in die Märkte einzugreifen, die offenbar nur beschränkt in der Lage sind, sich selbst zu regeln. Damit geraten jene libertären Vorstellungen weiter ins Abseits, die an einem rigorosen Markt festhalten und staatliche Eingriffe für die Krise verantwortlich machen. Diese Vorstellungen orientieren sich am amerikanischen «Liber-
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tarianism», der sich gegen jeglichen staatlichen Zwang auf die Märkte wendet. So postuliert der Manchesterliberalismus völligen Freihandel. Er lehnt, wie die Laisser-faire-Haltung der Chicago-Schule, staatliche Sozialpolitik ab. Im Aufwind befinden sich derzeit jedoch Konzepte, die den Markt mehr ordnen wollen. Sie begründen die Krise der Finanzmärkte unter anderem mit der Globalisierung der Wirtschaft, die sich über politische Rahmenbedingungen hinwegsetzt. Die deutsche Bundespräsidentin Angela Merkel (2009) plädiert deshalb für eine internationale soziale Marktwirtschaft, in der sich auch die Wirtschaftsakteure vermehrt an politische Absprachen halten müssen. Alternative Ansätze weisen auf die beschränkte Reichweite dieses systemtreuen Vorschlages hin. Zum einen, weil die aktuellen Finanzprobleme keineswegs neu sind; und zum andern, weil das grosse Vertrauen in die Selbstregulierung der Märkte vorwiegend den Mächtigen nützt und sich so der Reichtum extrem konzentriert, wie das Beispiel der Schweiz zeigt. In der Schweiz besitzen 163 000 Millionäre mit 540 Milliarden Franken mehr als die restlichen 4,2 Millionen Steuerpflichtigen (Eidgenössische Steuerverwaltung 2006). 68 Prozent der privaten Steuerpflichtigen haben weniger als 100 000 Franken Nettovermögen. Zusammen kommen sie auf sechs Prozent des Vermögens. Wie das Wirtschaftsmagazin «Bilanz» (21/2008) schätzt, erhöhten die 300 Reichsten in der Schweiz ihren Reichtum von 86 Milliarden Franken (1989) auf über 459 Milliarden Franken (2008). Die zehn Reichsten verloren von ihren 126 Milliarden Franken durch die Finanzkrise 16 Milliarden. Bei den Einkom-
soziologie
men ist die einseitige Verteilung weniger krass als bei den Vermögen. Nominell sind sie bei uns im Durchschnitt sogar leicht gestiegen. Gesunken sind jedoch die unteren und mittleren verfügbaren Einkommen. Dies vor allem in den steuergünstigen Kantonen. Rund die Hälfte der 300 Reichsten der Schweiz verdanken ihren Reichtum Erbschaften. Die reichsten zehn Prozent erhalten drei Viertel der gesamten Erbschaften. Von den 40 Milliarden Franken, die im Jahr 2009 vererbt werden, gehen über die Hälfte an bestehende Millionäre. Der pensionierte Zürcher Kantonsstatistiker Hans Kissling kritisiert in seinem Buch «Reichtum ohne Leistung» (2008), wie sich die Schweiz mit der Konzentration der Vermögen refeudalisiert und von der sozialen Marktwirtschaft verabschiedet. 13 000 Personen erben in den nächsten drei Jahrzehnten je über zehn Millionen Franken, 900 Personen über 100 Millionen Franken. Sie gehören zum Geldadel, der sein Vermögen selbst in schlechten Börsenjahren überproportional vermehrte. Die Ideologie des kurzfristigen Gewinnstrebens plädiert auch für mehr Markt und Flexibilität. Mittelschichten haben sich bei der beruflichen Mobilität am meisten daran gehalten und so erhebliche Verluste erlitten.
Soziale Ungleichheit Die Finanzkrise hat viel mit dem (angelsächsisch geprägten) wirtschaftlichen Neoliberalismus und der Verherrlichung der Märkte zu tun. Er zielt darauf ab, die Verluste zu sozialisieren und die Gewinne zu privatisieren. Die
neoliberale Ideologie setzt sich über die Maximen des politischen Liberalismus und ethischer Soziallehren hinweg, die eine soziale Verträglichkeit des Eigentums und eine strengere Regulierung der Märkte postulieren. Die neoliberale Ideologie favorisiert auch das fiktive Kapital, das produktiver zu sein scheint als die reale Arbeit. Sie privilegiert das Kapital ebenfalls steuerlich, während sie die Arbeit streng registriert und belangt. Die Finanzmarktkrise fällt nun zunehmend auf die Realwirtschaft zurück. Sie trifft dabei jene besonders, die über wenige Ressourcen verfügen. Sozial Benachteiligte müssen keine Million Franken verlieren, um die Krise zu entdecken. Sie spüren die Folgen schon lange: zum Beispiel durch Lohneinbussen. Eine Million Menschen leben in der Schweiz entweder in Haushalten erwerbstätiger Armer, so genannter working poor, oder sie sind arbeitslos, von der Sozialhilfe abhängig oder aus psychischen Gründen behindert. Bislang liessen sich einige von ihnen einreden, sie hätten in der Schule halt besser aufpassen müssen, dann würden sie heute auch mehr verdienen. Seit den rezessiven Einbrüchen der 1970er-Jahre und insbesondere seit dem hoffnungsvollen Fall der Berliner Mauer (von 1989) hat sich mit dem «freieren Spiel der Marktkräfte» die Kluft bei den Vermögen und bei den verfügbaren Einkommen vertieft. Das empört viele. Vor allem auch sozial Benachteiligte. Die transparenter gewordenen Ungerechtigkeiten führen dazu, dass resignative Verstimmung da und dort in Wut umschlägt. Hoffentlich fördert die Krise die Solidarität unter-
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einander. Vielleicht nähern sich sogar das ebenfalls betroffene (Klein-) Gewerbe und die Gewerkschaften an. Von allein kommt der Schulterschluss aber kaum zustande. Konkrete Handlungsalternativen sind nötig, sonst gelingt es populistischen Kräften, die Wut und Verunsicherung für autoritäre Ordnungsstrategien zu instrumentalisieren, die Halt vermitteln, indem sie pauschalisieren und simplifizieren. Es gibt aber keine Alternative zum manchmal mühsamen, aber interessanten Versuch zu differenzieren.
Orientierungs- und Sinnkrise Der wirtschaftliche Liberalismus, der stets auf deregulierte Märkte drängte, stellt nun die Finanzkrise als Beleg für das Staatsversagen dar. Er wendet sich auch gegen den sozialen Ausgleich. In Deutschland fordern beispielsweise Gewerkschaften einen Mindestlohn von 7.50 Euro. Weniger als 7.50 Euro verdienen 11% der Arbeitnehmenden im Westen und 21% im Osten. Sie alle erhalten Löhne unter diesem niedrigen Ansatz. Aber das ist laut NZZ (16. 4. 09) nicht das Problem. Das Problem sei vielmehr die verlangte Lohnregulierung, die den Wettbewerb einschränke. Die Gewerkschaften gefährdeten so diese billigen Arbeitsplätze. Die ebenfalls geforderte Reichtumssteuer bezeichnet die NZZ als populistische Neidsteuer. «Solche Vorschläge zur Ausbeutung einer kleinen Minderheit sind nicht nur populistisch, sondern auch kontra-produktiv», kritisiert die NZZ. Die Reichtumssteuer fördere nämlich die Steuerhinterziehung. Oder die Kapitalflucht – im Kontext des Steuerwettbewerbs. Der wirtschaftliche
Wenn wir Ungleiches mit einem angeblich freien Markt gleich behandeln, bleibt es ungleich
Liberalismus versucht so, anders als der politische, den sozialen Ausgleich zu behindern, der durch den Markt nicht zustande kommt. Wer ein Problem bewältigen will, muss zunächst versuchen, die Ursachen zu ergründen. Auslöser der Finanzkrise waren gewiss die fahrlässigen Liegenschaftskredite in den USA, die grossen Risiken für hohe Renditen und die verdeckte Weitergabe von Papieren ohne Wert. Aber die Finanzkrise ist viel älter und umfassender. Sie dokumentiert auch das Gewinn- und Konkurrenzdenken, die Marktgläubigkeit und die Diffamierung des öffentlich-rechtlichen Korrektivs. Die Finanzkrise ist auch eine System-, Orientierungs- und Sinnkrise. Hoffentlich regt uns die Krise dazu an, wieder mehr nach dem Sinn dessen zu fragen, was wir tun. Schneller ist nicht immer besser. Und die permanente Optimierung der Effizienz erweist sich oft als bürokratischer
Leerlauf und unproduktiver Stress. Vordringlich ist eine bessere Verteilung von Arbeit und Einkommen. Sie kommt aber nicht einfach über den angeblich freien Markt zustande. «Soyez réalistes, demandez l’impossible» hiess ein 1968er-Slogan. Oder anders ausgedrückt: Die konkrete Utopie ist Teil der Realität. Meine Vision: Wir begrenzen die obersten Einkommen auf das Dreifache der untersten. So käme das meritokratische Prinzip wieder mehr zur Geltung. Leistung soll sich lohnen. Deshalb sollten wir auch die grossen Erbschaften von über einer Million Franken, die nach oligarchischem Prinzip mehrheitlich an Millionäre gehen, national besteuern und zudem den globalen Ausgleich fördern, der durch den Markt nicht zustande kommt.
Globaler Austausch Solidarität in der Globalität verlangt einen globalen Ausgleich. Sie fordert von uns Privilegierten auch die Bereitschaft, faire und gerechte Preise zu bezahlen. Zum Beispiel für den Kaffee. Wenn die Preise für die industriellen Produkte steigen, die wir exportieren, dann sollte das auch bei den Rohstoffen und Primärgütern der Fall sein, die wir importieren. Nach Berechnungen der Vereinten Nationen (UN) genügte den armen Regionen die Hälfte des Mehrerlöses, um ihre existenziellen Bedürfnisse zu befriedigen. Mittlerweile erzielen aber viele Länder des Südens mit höheren Ausfuhren weniger Erlös. Mehr Leistung macht sich für sie nicht bezahlt, weil die Karten ungleich verteilt sind und multinationale Konzerne den Weltmarkt dominieren.
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Was arme Regionen entmutigt, verpflichtet uns. Auch im Sinne von: global denken, lokal handeln. Die Wirtschaft braucht ein demokratisches und zivilgesellschaftliches Korrektiv. Wenn wir Ungleiches mit einem angeblich freien Markt gleich behandeln, bleibt es ungleich. Deshalb sind Absprachen und politische Verbindlichkeiten nötig. Zum Schutz aller. Mit einer rigorosen Weltmarktöffnung wäre die kleine Schweiz nie gross geworden. Zwischenzeitlich sicherten selektiv protektionistische Massnahmen das wirtschaftliche Wachstum. Die soziale Marktwirtschaft ist ein Schritt in diese Richtung, aber kein ausreichender. Konzepte einer sozialen Globalität plädieren für eine gerechtere Weltwirtschaft. Stabile Abnahmequoten und Preise könnten vor allem ärmeren Regionen helfen, ihre Produktion aufzufächern und die Abhängigkeit von einzelnen Exportgütern zu mindern. Wenn es nicht gelingt, den forcierten Wettbewerb zu ordnen, befinden wir uns laut dem kürzlich verstorbenen Soziologen Ralf Dahrendorf auf dem Weg in ein autoritäres 21. Jahrhundert. Weniger Gläubigkeit in den Markt könnte mehr Freiheit bedeuten.
Ueli Mäder (58) ist Professor für Soziologie an der Universität Basel und der Hochschule für Soziale Arbeit (FHNW). Er leitet das Nachdiplomstudium in Konfliktanalysen und Konfliktbewältigung. Sein Arbeitsschwerpunkt ist die soziale Ungleichheit.
streiflicht
Marktnotizen
Was bedeutet Fischel? Wer sind Miss Albisrieden und Ritter Roland? Allerlei Kurioses rund um die öffentlichen Marktplätze der Schweiz. Von Thomas Widmer ILLUSTRATionen Svenja Plaas
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DER RITTER ROLAND Hruotland, Held des mittelalterlichen Rolandsliedes, wurde später zum Sinnbild der freien Stadt. Und eine Roland-Statue signalisierte den freien Stadtmarkt. Erhaltene Rolande, meist aus Sandstein, gibt es heute vor allem in Deutschland. Doch einer findet sich in der Schweiz. Der Roland von Brissago ist ein Geschenk des letzten deutschen Kaisers, Wilhelm II., an seinen Lieblingskomponisten Ruggero Leoncavallo, der die Oper «Der Roland von Berlin» komponierte. Nach einer
Zügelaktion steht der Roland nun vor dem Palazzo BrancaBaccalà, dem Leoncavallo-Museum in Brissago.
GOTTHELFS MARKTPSYCHOLOGIE Aus Jeremias Gotthelfs Erzählung «Die Frau Pfarrerin» (1855): «Lustig ists, wie in bestimmten Häusern ein regelmässiger Wechsel ist wie zwischen Ebbe und Flut, dass man mit Sicherheit aus dem Marktkorbe schliessen kann, besonders wenn die Frau selbst noch Einkäufe besorgt, beginnt ein Monat, oder geht er zu Ende.» 36
MISS ALBISRIEDEN 2008 hiessen die zwei Schönen Paola und Senta. Ihre Nachfolgerinnen werden heuer Ende September erkoren, und nein – weder paradieren sie im Badeanzug, noch geben sie Interviews. In Albisrieden, einem erst 1934 eingemeindeten Zürcher Quartier, wird jährlich in verschiedenen Kategorien eine Miss erkoren. Es handelt sich aber um Kühe. Die Schönen erhalten eine Glocke umgehängt. Dies alles im Rahmen der Viehschau Albisrieden, die wie jede Viehschau mit zahlreichen Marktständen aufwartet. So lebt das Land in der Stadt weiter.
Esswaren und wie sie in Zürich 1748 auf Tafeln vermarktet wurden, etwa Bienenhonig: «Ob wol des Bienleins Angel sticht/ Verschmächt ma doch sein Honig nicht.» – Schaffleisch: «Jungs Schaaf-Fleisch ist theils leicht zu kauen/ Theils leicht im Magen zu verdauen.» – Tauben: «Wer solche wil, muss ohn Verdriessen/ Sie kaufen oder selber schiessen.»
AARAUER RÜEBLIMÄRT Man nennt den Aargau «Rüeblikanton» und denkt gleich an die Aargauer Rüeblitorte. Die gibt es mit allem anderen Guten von der Karotte im November am Rüeblimärt in der Kantonshauptstadt. Bald 30 Jahre alt ist diese Tradition, sie ergibt auch insofern Sinn, als in der Schweiz pro Kopf und Jahr gut 9 Kilo Rüebli gegessen werden. In Aarau wird dem
MARKTVERBAND
geschätzten Standardgemüse gehuldigt – und immerhin, es kommen um die 100 Marktfahrer.
FISCHEL UND FUSS Im Mittelalter war das Land ein Neben- oder vielmehr Durcheinander Hunderter von Herrschaften. Jede Herrschaft hatte ihre eigenen Masseinheiten und Mengenangaben – besuchte man einen anderen Markt als den in der engeren Heimat, konnte das nachhaltig verwirren. Ein Fischel zum Beispiel, ein Hohlmass fürs Korn, variierte je nach Ort von 12 bis 30 Liter. Kleines Abc der Masseinheiten: Elle und Stab für Stoff. Viertel, Sester, Mäss, Mütt, Sack, Malter, Viernzel für Getreide. Sack und Wagen für Salz. Mass, Schoppen, Eimer, Ohm, Brente, Zuber, Saum, Lagel, Fuder für Getränke.
MARKTHALLE VON COMO Vier Minuten dauert die S-Bahn-Fahrt von Chiasso nach Como, das ist Grenzhüpferdistanz. Um Comos Piazza Cavour gibt es alles, was Italien an Schmackhaftem hervorbringt. Ein Paradies für den Esser ist besonders der Mercato Coperto an der Via Mentana, geöffnet Dienstag, Donnerstag, Samstag. Die Stände ächzen unter der Last dessen, was die Bauern ankarren. Spezialität sind – natürlich neben der frischen Pasta – Fleischwaren wie Kaninchenfleisch oder Entrecôtes.
MUOTITALER ALPCHÄSMÄRCHT Die Schwyzer Gemeinde Muotathal ist fast so gross wie
der Kanton Zug. Sie ist berühmt für die Höllloch-Höhle, für die «Wetterschmöcker» – und für den Alpchäsmärcht. Ende Oktober steigen die Sennen mit den Wallebärten wieder herab von ihren Alpen wie Roggenloch, Pragel/Bödmeren, Planggstock, Waldi, Dreckloch. Wer es urchig mag, deckt sich nicht nur mit Käse ein, sondern auch mit Schafwolldecken, Yps-Pfeifen und Geissenglocken.
AM PRANGER VON SURSEE Das spätgotische Rat- und Markthaus ist eines der Wahrzeichen des Städtchens Sursee. An der südlichen Aussenwand findet man etwas ganz Besonderes: ein Überbleibsel der gestrengen Gerichtsbarkeit 37
des Mittelalters: ein Pranger, der einzige erhaltene dieser Art in der Schweiz. Wer gegen das lokale Recht sündigte, zum Beispiel auf dem Markt einen Bürger mit spitzer Zunge beleidigte, der wurde gestraft, indem er anderthalb Meter über dem Boden, mit einer Kette um den Hals fixiert, gut sichtbar zur Schau gestellt wurde. Immerhin: Er wurde nicht verregnet, die Mauernische ist überkront.
Anfrage beim Schweizerischen Marktverband (820 Mitglieder in sechs Sektionen): Was ist im Kommen? «Immer wichtiger wird der persönliche Bezug zum Kunden und die Dienstleistung.» Was geht nicht mehr? «Ungehaltensein mit den Kunden und eine lieblose Behandlung. Und schmuddelige Stände. Dies wird vor allem im Lebensmittelsektor gesetzlich überwacht.» Ist der Warenmarkt vital? «Der traditionelle Warenmarkt hat immer noch seine Berechtigung, ist er doch der beliebteste Grossverteiler. Es wird ein geschätzter Jahresumsatz von 340 Millionen Franken erwirtschaftet.»
Thomas Widmer ist Redaktor beim Tages-Anzeiger
interview
Zu Tisch mit Simonetta Sommaruga S Ihr Engagement für die Konsumentinnen und Konsumenten ist legendär. Wofür die SP-Politikerin sonst noch kämpft, verrät sie beim Mittagessen.
Wer mit wem?
Simonetta Sommaruga, Präsidentin der Stiftung für Konsumentenschutz, Berner SP-Ständerätin und Stiftungsrätin bei der Stiftung Slow Food Schweiz im Gespräch mit den slow.ch-Mitarbeiterinnen Ursula Hasler und Stephanie Riedi sowie dem Fotografen Michael Blaser.
Wo?
Restaurant Mille Sens, Markthalle, Bubenbergplatz 9, 3011 Bern, Tel. 031 329 29 29, www.millesens.ch.
imonetta Sommaruga empfiehlt die Berner Markthalle als Treffpunkt. Ein stimmiger Ort, um mit der Präsidentin der Stiftung für Konsumentenschutz, Berner SP-Ständerätin und seit kurzem Mitglied im Stiftungsrat von Slow Food Schweiz, ein Tischgespräch zu führen. Hier präsentiert sich ein kulinarischer Mikrokosmos multikultureller Prägung. Im Restaurant Mille Sens kommen zunächst die Sinne auf ihre Kosten. Anschliessend folgt die Nahrung für Geist und Seele – das Interview mit Simonetta Sommaruga: Die heute 49-Jährige wuchs mit drei Geschwistern in Sins AG auf. Nach der Matura liess sie sich in Luzern, Kalifornien und Rom zur Pianistin ausbilden. Ende der achtziger Jahre begann sie, an der Universität Fribourg FR Anglistik und Romanistik zu studieren. Heute lebt Simonetta Sommaruga mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Lukas Hartmann, in Köniz bei Bern. Ausgangspunkt ihrer politischen Karriere war die Tätigkeit als Geschäftsführerin der Stiftung für Konsumentenschutz: «In diesem Job packte mich das Interesse, ja sogar die Faszination für den Markt.»
Was Wurde besonders Gelobt?
Slow.ch: Frau Sommaruga, Sie haben das Restaurant Mille Sens für unser Treffen vorgeschlagen. Was schätzen Sie an der Küche von Patron Urs Messerli?
Wie war die Gesprächsstimmung?
Simonetta Sommaruga: Die Gerichte sind aus authentischen, ethisch vertretbaren und nachhaltig produzierten Lebensmitteln zubereitet. Messerli würdigt die Saison und das Marktange-
Das Essen war generell ausgezeichnet. Simonetta Sommaruga lobte zudem den Espresso: «Guter Kaffee ist in der Schweiz eine Rarität.» Wenn sie nach Italien fahre, beschliesse sie jedes Mal: «Nach meiner Rückkehr verzichte ich definitiv auf Kaffee.» Äusserst angeregt und offenherzig.
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Interview
«Zeit ist das kostbarste und teuerste Gut unserer Gesellschaft.» bot. Mich beeindruckt, dass er die Rohstoffe ernst nimmt. Dann sind Sie hier Stammgast? Leider nein. Ich mache mittags keine längeren Pausen. Nach einem ausgedehnten Mahl wäre ich für rund zwei Stunden lahmgelegt. Deshalb begnüge ich mich normalerweise mit einem Sandwich oder einem Salat. Abends geniesse ich es dafür umso mehr, mich von meinem Mann verwöhnen zu lassen. Lukas kocht sehr gut und liebevoll. Er verwendet, wenn immer möglich, Produkte, die er vorher im Garten geerntet hat. Kurzum, es ist schön, von ihm bekocht zu werden. Deshalb rate ich allen jungen Frauen zu einem Mann, der gut kochen kann ... Erachten Sie es als Privileg, frische Produkte konsumieren respektive sich diese leisten zu können? Der Genuss von Frischprodukten ist keine Frage des Geldes, sondern eine Frage der Zeit – mittlerweile das kostbarste und teuerste Gut unserer Gesellschaft. Das gilt übrigens auch für die Gastronomie. Es ist bekannt, dass Frischwaren, die selber verarbeitet werden, das Budget wesentlich weniger belasten als Convenience-Produkte. Aber ihre Veredelung ist mit viel Auf-
wand verbunden. Und natürlich mit Wissen, wie die Produkte zubereitet werden müssen – ein Know-how, das leider nur noch selten von Grund auf erworben wird. Die günstigste mir bekannte Küche ist die indische, vor allem die vegetarische. Doch wenn ich indische Spezialitäten zubereite, stehe ich den ganzen Tag am Herd. ----------Das Essen wird serviert. Auf den Tabletts befinden sich jeweils vier Schälchen, in denen die Wunschgerichte dampfen. «Butterzart», bezeichnet Simonetta Sommaruga das Biolammfleisch. Auch die jungen Kartoffeln gefallen. Es brauche so wenig, wenn die Produkte selbst Geschmack haben, meint sie. Für kurze Zeit herrscht andächtiges Schweigen; die Köstlichkeiten wollen entsprechend gewürdigt werden. Das Mini-Kalbs-Cordon-Bleu überzeugt durch den fein ausbalancierten Goût ebenso wie der sämige Carnaroli-Risotto mit frischen Eierschwämmli und die Ratatouille, deren Duft die Provence hochleben lässt. -----------Sie haben vorhin das mangelnde Wissen in der Küche angesprochen. Als Politikerin machen Sie sich auch für die Bildung stark. Gehören Kochen und Ernährung Ihrer Ansicht nach wieder auf den Lehrplan? 40
Die Ausbildung ist sehr wichtig. Ich bin eine Fürsprecherin des Kochunterrichts, obwohl ich damals rausgeflogen bin. Das machte mir nichts aus, da mir der erste Teil, nämlich die Haushaltschule, sowieso nicht gefallen hat. Heute erkenne ich jedoch selbst darin den Wert. Wenn die Kinder zu Hause nicht mehr mitbekommen, wie man ein Hemd bügelt oder eine Suppe kocht, wo sollen sie es denn sonst lernen? Kürzlich erzählte mir eine Studentin, sie wisse nicht, wie man eine Salatsauce zubereitet. Das war für mich ein Schlüsselerlebnis. Mir wurde bewusst, dass in diesem Bereich ein grundlegendes Wissen verlorenzugehen droht. Sie sagen aber selbst, dass Ihnen die Rüebli-RS damals zuwider war. Müsste es nicht eine andere Art von Kochunterricht sein als der lustfeindliche und pedantische Küchendrill, wie er früher praktiziert wurde? Auf jeden Fall. Bei uns stand das Sparen im Vordergrund. Nicht die Freude am Kochen wurde uns beigebracht und natürlich auch nicht jene am Essen. Ich erinnere mich noch gut an den Teekrug auf dem Tisch. Diesen missbrauchten wir als Gefäss, um die ungeliebten Bissen darin zu versenken. Schliesslich musste alles aufgegessen werden …
Und wie könnte man Ihrer Meinung nach die Freude der Kinder wecken? Das Thema sollte spielerisch angegangen werden: Kinder sind neugierig und interessiert – auch an Esswaren und wie diese erzeugt werden. So können sie lernen, die Geschmacksunterschiede wahrzunehmen. Als mein Mann beschloss, ein Kinderkochbuch zu schreiben (siehe S. 17), stellte er fest, dass die Kinder kaum mehr die Gemüsenamen kennen, also beispielsweise nicht wissen, was ein Kohlrabi ist, geschweige denn, wie es roh schmeckt oder wann es Saison hat. Das Wissensmanko zeigt sich allerdings nicht nur bei den Kindern. Natürliche Rhythmen werden im Nahrungsmittelbereich kaum mehr wahrgenommen. Auch sprechen wir von Bohnen oder Rüebli und ignorieren dabei, dass es diverse Sorten gibt. Wo haben Sie Ihr Wissen erworben, respektive, wie kamen Sie schliesslich doch noch auf den Geschmack? Meine Eltern hatten einen Garten. Das war eine Geschmacksschule, die mich fürs Leben geprägt hat. Ich kann fast keine gekauften Erdbeeren essen, weil ich weiss, wie sie frisch gepflückt schmecken. Städtische Kinder haben diese Chance nur selten. Deshalb sind Krippen und Mittagstische wichtig. Sie bieten den Kindern die Möglichkeit, eine andere Küche kennen zu lernen.
Gut wäre, das Essen mit Wissensvermittlung zu verbinden, indem man vielleicht mal irgendwo hinfährt, um zu schauen, woher Gemüse, Früchte, Fleisch, Milch und Eier stammen. Kinder sind das eine, Jugendliche das andere. Wie könnte man Letztere dazu bringen, dass sie wieder gerne am Tisch sitzen und das Essen geniessen statt jederzeit und im Gehen irgendein Fastfood zu vertilgen? Ich sehe darin eher eine Phase, die Jugendliche durchleben müssen. Wichtiger erscheint mir, dass sie in der Kindheit authentische Nahrungsmittel kennen lernen. Ich weiss, dass die Essgewohnheiten sich gewaltig geändert haben. Kürzlich traf ich ein Paar, das seit Jahren keinen Esstisch mehr hat. Vielleicht bewirkt die grassierende Fettleibigkeit ein Umdenken. Andererseits ist sie in den USA seit Jahren ein Thema, geändert hat sich jedoch nichts. Deshalb will das Bundesamt für Gesundheit (BAG) nun ein Label einführen, das gesündere Alternativen innerhalb bestimmter Lebensmittelkategorien kennzeichnet. Was ist davon zu halten? Ich bin nicht sicher, was dieses Ampelsystem wirklich bringt. Schliesslich weiss jeder, dass Pommes-Chips in grösseren Mengen ungesund sind, weil sie zu viel Fett und Salz enthalten. Ein 41
roter Punkt auf der Tüte wirkt deshalb kaum abschreckend. Bei den Kinderprodukten hingegen ist eine Kennzeichnung durchaus sinnvoll. Gerade bei vermeintlich gesunden Lebensmitteln wie Fertigmüesli, ist man immer wieder erstaunt, wie viel Zucker sie enthalten. Sie plädieren ja auch dafür, KinderJunkfood-Werbung zu verbieten. Haben wir nicht schon genug Verbote? Das Verbot gegen Junkfood-Werbung für Kinder ist ein internationales Projekt. Kinder sind verführbar, und das wird schamlos ausgenutzt. Natürlich reicht eine einzige Massnahme allein aber nicht. Weil die Klientel selbst widersprüchlich ist? Man spricht ja heute von hybriden Konsumenten. Wir leben in einer sehr widersprüchlichen Gesellschaft. Zum einen haben wir Zivilisationskrankheiten wie Herz-Kreislauf-Probleme und Diabetes, die oft auf ungesunde Ernährung zurückzuführen sind. Zum andern zeigt sich bei den Nahrungsmitteln ein Paradigmenwechsel, der hoffen lässt. Noch vor zehn, zwanzig Jahren wurden Konsumentinnen und Konsumenten belächelt, die Bioprodukte kauften. Heute bieten selbst Grossverteiler nachhaltig erzeugte Nahrungsmittel an. Solche Trends muss man unterstützen,
interview
und zwar ohne den Anspruch zu haben, morgen müsse alles anders sein. Ich könnte mir gut vorstellen, dass beim Kochen etwas Ähnliches geschieht wie bei den Bioprodukten. In ein paar Jahren wird es vielleicht der Inbegriff von Luxus sein, sich Zeit zu nehmen, um auf dem Markt oder beim Bauern einzukaufen und anschliessend etwas Gutes zu kochen. Wir schätzen ja immer, wovon wir zu wenig haben. Ich selbst besuche hin und wieder einen Kochkurs und stelle fest, dass ich mich dabei wunderbar entspannen kann.
Meinung nach auf den Etiketten alles deklariert werden?
----------«Hat es geschmeckt?», fragt die Servicefachfrau. Wir bejahen unisono. Das Essen war vorzüglich. Beim Espresso erzählt Simonetta Sommaruga eine Anekdote von einem Geschäftsessen im Januar. Als Gemüsebeilage wurden Spargeln serviert. Sie refüsierte den Teller mit der Begründung, im Winter wolle sie keinen Spargel. Die Tischfreunde lachten. «Als die Kellnerin den Teller mit Peperoni zurückbrachte», sagt Simonetta Sommaruga, «musste auch ich lauthals lachen.» -----------
Sobald die Anbieter mit einem Imageverlust zu rechnen haben, setzen sie alles daran, ihn zu vermeiden. Ein gutes Beispiel sind die Käfigeier. Seit sie als solche deklariert werden müssen, sind sie aus den Verkaufsregalen verschwunden. Das werte ich als kleinen Erfolg, obwohl mir durchaus bewusst ist, dass die mehreren Millionen Batterie-Eier, die jährlich importiert werden, vermutlich in Züpfen, Teigwaren und anderen verarbeiteten Produkten landen.
Womit wir wieder beim Wissen sind. Um das Richtige einzukaufen, braucht es Information. Als Präsidentin des Konsumentenschutzes kämpfen Sie ja auch dafür, dass die Produzenten über Herkunft und Verarbeitung Auskunft geben müssen. Was müsste Ihrer
Ganz sicher die Herkunft der Produkte. In der EU vertrat man vor Jahren die Ansicht, das interessiere niemanden. Doch in der Schweiz setzten wir es durch, und jetzt zieht die EU nach. Präventivmassnahmen können wichtiger sein als die Reaktion der Konsumentinnen und Konsumenten. Was meinen Sie damit? Haben Sie ein konkretes Beispiel?
Bei Produkten von geklonten Tieren, wie sie kürzlich von der EU angedroht worden sind, sei eine Herkunftsdeklaration ab der dritten oder vierten Generation gar nicht möglich. Macht Klonfleisch überhaupt Sinn? Schliesslich ist bekannt, dass es heute genügend Rinder gibt weltweit, um die ganze Menschheit zu ernähren. 42
Ich weiss nicht, ob Produkte von geklonten Tieren überhaupt eine Chance hätten. Dennoch müssen wir dranbleiben. Im Kampf gegen die Gentechnologie hatte die Schweiz eine Vorreiterrolle. Wir forderten damals die Deklarationspflicht genmanipulierter Nahrungsmittel. Die EU folgte und heute geht sie partiell sogar weiter als wir. Es ist doch interessant, dass die Gentech-Befürworter in den letzten zwanzig Jahren nicht wirklich etwas Konkretes erreicht haben trotz millionenteuren Kampagnen. Vielleicht waren sie in China erfolgreich oder in Brasilien. Allerdings nur mit Produkten für die Textil- oder Futtermittelindustrie. Gegen Gentech-Lebensmittel haben die Menschen eine Abwehr entwickelt. Besteht nicht die Gefahr, dass die errungenen Teilsiege punkto Deklarationspflicht durch das Cassis-de-DijonPrinzip wieder verloren gehen? Wir vom Konsumentenschutz waren nicht grundsätzlich gegen den Entscheid. Vorschriften, die Warenimporte verteuern, sollen künftig weitgehend wegfallen. Das ist ein erster und wichtiger Schritt gegen die Hochpreisinsel Schweiz. Aber: Wir haben zehn Ausnahmen gefordert, und zwar bei den Lebensmitteln. Die Herkunft der Produkte etwa soll weiterhin deklariert werden müssen, ebenso allergene Stoffe, Gentechfreiheit etcetera. Wir
«Die Patente auf Lebensmittel und Saatgut bereiten mir Sorge.» brachten alle Forderungen durch. Natürlich hatten wir die Bauern im Rücken, wenn auch eher aus protektionistischen Gründen. Sie wissen, dass die Deklaration ihnen einen Vorsprung verschafft. Weniger zufrieden scheint die Stiftung für Konsumentenschutz mit dem Argrar-Freihandelsabkommen zu sein. Weshalb? Der Agrarfreihandel wurde als Lösung für viele Probleme propagiert. Davon bin ich nicht überzeugt, denn er ist kein Selbstzweck. Er macht nur Sinn, wenn wir bereit sind, unsere landwirtschaftlichen Produkte und ihre Verarbeitung weiter zu entwickeln in Richtung Qualität, Ökologie, Tierschutz und Gentechfreiheit. Damit kann sich die Schweizer Landwirtschaft profilieren. Schweizer Nahrungsmittel haben – zu Recht! – einen guten Ruf. Wer darauf aufbauen will, braucht die Konkurrenz aus dem Ausland nicht zu fürchten. Wer hingegen Agrarfreihandel will, um in der Schweiz Tierfabriken zu bauen oder Gentech-Lebensmittel durchzudrücken, leistet den Bauern, aber auch den Konsumenten keinen Dienst. Wo sehen Sie als Konsumentenschützerin und Politikerin sonst noch Handlungsbedarf?
Sorgen bereiten mir die Patente auf Lebensmittel im Allgemeinen und auf Saatgut im Besonderen. Das ist eine beängstigende Entwicklung, die eine ungeheuerliche Machtkonzentration mit sich bringt, und zwar ganz am Anfang der Nahrungsmittelkette. Wird gar genmanipuliertes Saatgut patentiert, gerät die Existenz vieler Menschen in die Hände weniger. Machtkonzentration ist das eine. Welche Gefahren birgt die Saatgutpatentierung sonst noch? Wir haben beispielsweise heute weltweit nur noch ganz wenige Kükenzuchtbetriebe. Bricht nun eine Seuche oder Krankheit aus, haben wir rund um den Erdball ein Problem. Das ist die Crux globalisierter Lebensmittel. Die Vogel- und Schweinegrippe, BSE sowie die Maul- und Klauenseuche sind letztlich die Schattenseiten der Mobilität und der Globalisierung. Umkehren lässt sich dies freilich nicht. Aber es braucht Organisationen wie Slow Food, die Aufklärungsarbeit leisten und sich für Biodiversität einsetzen. Sie sind sozusagen der Sand im Getriebe. Worauf achten Sie persönlich beim Einkauf von Lebensmitteln? Hätten Sie ein paar Tipps für die Konsumentinnen und Konsumenten? 43
Ich empfehle immer wieder, Lebensmittel einzukaufen, die so wenig wie möglich verarbeitet sind. Das heisst zwar nicht, dass solche Produkte per se qualitativ hochwertig sind. Aber man kommt näher an den Geschmack des ursprünglichen Produktes heran. Mit der Zeit merkt man, was sich bewährt. Blindversuche sind eine weitere Möglichkeit, den Geschmackssinn zu schulen. Vor ein paar Jahren nahm ich an einem Test teil, bei dem zehn Rüeblisorten degustiert werden sollten. Eine davon war aus biologischem Anbau. Trotz verbundener Augen konnten die meisten der Versuchspersonen das Bio-Rüebli identifizieren. Es schmeckte einfach intensiver. Bei Blindversuchen fokussiert man die Sinne wieder auf das Eigentliche, das gustatorische Erlebnis. Geschmacksschulungen, wie sie ja auch Slow Food regelmässig für Kinder und Erwachsene organisiert, haben nichts Elitäres an sich. Essen ist schliesslich elementar. ------------Mittlerweile ist es 14.30 Uhr. Die Tabletts sind abgeräumt und die Espressotassen leer. Allmählich wird es Zeit, an die Arbeit zurückzukehren. Tischgespräch und Mittagessen waren von besonderer Güte. Es war eine Freude, mit Simonetta Sommaruga im Mille Sens zu tafeln.
Biodiversität
Auf Kosten der Knollen
Die Behörden diktieren, welche Kartoffelsorten angebaut werden. Nun formiert sich europaweit der Widerstand.
Von Thomas Müller Fotos Herbert Augsburger artdepartment
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berhalb von Arosa, in Maran, liegt das Kartoffelparadies der Schweiz. Den Eingang bewacht ein Wärterhaus mit runzliger Bretterfassade. Doch wer das Holzgatter hinter sich schliesst, ist im Sortengarten jederzeit willkommen. Ein paar Schritte nach dem Alpengarten mit seltenen Pflanzen eröffnet sich der Blick auf die Parzelle Nummer vier: das rund sechs Aren grosse Kartoffelfeld. Mit 64 Zentimeter Reihenabstand und 33 Zentimeter Pflanzdistanz schiessen hier über hundert Sorten ins Kraut. Der Standort der höchstgelegenen Versuchsstation für Kartoffeln in der Schweiz ist ideal. Die rauen Witterungsbedingungen lassen die Knollen weitgehend unbehelligt von Krautfäule oder anderen Krankheiten heranwachsen. «Auf 1850 Meter über Meer gibt es praktisch keine Blattläuse», erklärt Franz Gut von der Eidgenössischen 44
Forschungsanstalt Agroscope Reckenholz-Tänikon, die den Kartoffelgarten betreibt. Dadurch könne vermieden werden, dass sich gefährliche Viruskrankheiten übertragen.
ausbeute und uniformität Maran dient seit 1932 dazu, das Kartoffelerbe des Landes zu hüten; während des Zweiten Weltkriegs war die Versuchsstation quasi das HärdöpfelReduit der Schweiz. Hier stellt die Forschungsanstalt die stetige Verfügbarkeit der bedeutendsten Sorten sicher, was lange Zeit eher eintönig war. Denn die Hauptkriterien für die Sortenwahl waren bislang Ausbeute und Uniformität, damit beim Bauern möglichst viele und gleichförmige Knollen aus der Erntemaschine kullern. «Ertrag und Effizienz sind für den Landwirt wichtige Kriterien», begründet das Eva Reinhard, alsVize-
Biodiversität
Um Lokalsorten kommerziell zu nutzen, bedarf es einer zusätzlichen Genehmigung
direktorin im Bundesamt für Landwirtschaft für Sortenfragen zuständig. Industrietauglichkeit demonstriert jene Ecke mit den 33 Sorten, welche die Branchenvereinigung Swisspatat den 6800 Schweizer Kartoffelproduzenten zum Anbau empfiehlt: Agria, Désirée, Urgenta und wie sie alle heissen. Deren Fleisch ist stets gelblich und die Knollenform langoval bis rund, damit sie schön in die Maschinen der Chips- und Frites-Fabrikanten passen. Ab und zu streicht das Swisspatat-Gremium eine Sorte von der Liste oder nimmt eine neue auf, so zum Beispiel 2009 die niederösterreichische Mustang, Chips-Eignung «sehr gut».
symbol des widerstands Dank den alten Sorten strotzt der Kartoffelgarten trotzdem vor Vielfalt. Die Namen verraten einiges über Form und Herkunft oder die Hoffnungen des Züchters: Acht-Wochen-Nüdeli, Ackersegen, Aargauer Müsli, Erntestolz, Röseler, Weisse Lötschentaler und, wie schön, Weltwunder. Bei einem Kraut schimmern die Stengel violett zwischen den Blättern hervor, die Blüten fallen mit einem leichten Blaustich statt dem üblichen Weiss ins Auge. Es sind Blaue Schweden, wie ein Schild bestätigt. Sie stammen aus der umfangreichen Sammlung der Stiftung Pro Specie Rara (PSR), die hier seit drei Jahren gepflegt wird. Varietät in Form, Farbe, Geschmack und Anbaueigenschaften stehen bei der Stiftung im Vordergrund. «Viele alte, traditionell genutzte Sorten sind nicht einheitlich», erläutert Béla Bartha, der
Geschäftsführer von Pro Specie Rara. Diese genetische Vielfalt mache sie als Ausgangsmaterial für die Züchtung und damit für zukünftige Generationen interessant. Darunter sind auch drei umstrittene, die zum Symbol des Widerstands gegen den Kartoffeleinheitsbrei geworden sind: die blaufleischigen Vitelotte noire, die Burgundy Red mit rötlichem Fleisch und die Corne de Gatte mit ihren kleinen, länglichen Knollen. Allesamt tolle Sorten mit dem Potenzial, Gourmetmenus zu bereichern und initiativen Bauern mit einem Schuss Risikobereitschaft die Chance auf einen Zusatzverdienst zu schaffen. Denn der Kilopreis ist natürlich höher als bei Nullachtfünfzehn-Kartoffeln. Erhalt durch Nutzung nennt sich dieses Konzept von Pro Specie Rara. Bürokratische Hürden stoppten allerdings den Schwung. Obwohl das Bundesamt für Landwirtschaft sie zuvor als Lokalsorte bewilligt hatte, entschied es im Frühjahr 2009, den Erhalt durch Nutzung – im Klartext, den kommerziellen Anbau – nicht zuzulassen. Der Entscheid bewog Pro Specie Rara zur Kampagne «Vielfalt für alle». Tausende von Konsumenten haben den Aufruf unterschrieben (www.vielfalt-fuer-alle.ch). Die Forderung: «Freier Anbau von alten Sorten, die keinem Sortenschutz unterliegen und daher Allgemeingut sind.» Dazu muss man wissen, dass einzig Sorten in Verkehr gebracht werden dürfen, die offiziell zugelassen sind. Eine Kartoffel schafft eine Zulassung nur dann, wenn sie eine Reihe von Prüfungen besteht (siehe Kasten Sortenkataloge).
kein kommerzieller anbau Dank der Überzeugungsarbeit von Organisationen wie Pro Specie Rara erkannten die Behörden in der Schweiz schon früher als in anderen Ländern Europas, dass auch alte Sorten wertvoll sein können – selbst wenn sie den
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Sprung in den Sortenkatalog der Schweiz oder der EU nicht geschafft haben, etwa weil sie ein wenig dünner, gekrümmter und farbiger sind oder weil ihre Erträge geringer ausfallen. Deshalb erlaubt der Bund unter dem Titel «Lokalsorte» einen beschränkten, nicht kommerziellen Anbau. Der Erhalt einer Lokalsorte durch kommerzielle Nutzung bedarf hingegen einer zusätzlichen Genehmigung. Die Blauen Schweden, Parli und ein halbes Dutzend weitere Sorten haben sie erhalten, jedoch mit einer Beschränkung auf kleine Mengen von meist wenig Dutzend Tonnen. «Eine Bewilligung des kommerziellen Anbaus von Lokalsorten ist nur möglich», sagt Eva Reinhard, «wenn sich die Sorte an die Schweizer Anbaubedingungen adaptiert hat und mindestens dreissig Jahre im Land nachgewiesen werden kann». Genau das sei aber bei der Vitelotte noire, der Burgundy Red und den Corne de Gatte nicht der Fall. Deshalb habe der Bund den kommerziellen Anbau eben nicht erlaubt.
null unterstützung Mit diesem Entscheid bremst Bern auch den Grossverteiler Coop aus. Wie zuvor schon mit den Blauen Schweden, Parli und Acht-Wochen-Nüdeli will er dazu beitragen, dass auch diese alten Sorten durch aktive Verwendung am Leben bleiben und nicht nur im Reagenzglas schlummern. Sie wurden Ende 2007 ausgewählt und anschliessend vermehrt, auf Herbst 2009 waren Testverkäufe geplant. Die lange Vorlaufzeit liegt in der Komplexität des Kartoffelanbaus. Anders als etwa bei Getreide ist das Saatgut nur einen Winter haltbar; es muss jedes Jahr frisch vermehrt werden, sonst verfault es im Keller. Zugleich kann die Anbaumenge von Jahr zu Jahr nur begrenzt gesteigert werden. «Ohne Überdenkung Ihres Entscheids», schrieb Coop dem Bundesamt für Landwirtschaft, «werden
Biodiversität
wir gezwungen sein, den Anbau der Sorten abzubrechen.» Während die Promoter der alten Sorten mit den Behörden im Clinch liegen, lehnen sich die Grossen der Kartoffelbranche zurück. «Wir halten uns aus der Diskussion raus», sagt Ernst König, Geschäftsführer von Swisspatat. «Ich hoffe, das klingt nicht herablassend. Aber solche Lokalsorten sind für uns zu unbedeutend.» Natürlich sei unabdingbar, dass bei allfälligen Zulassungen keine Krankheiten eingeschleppt würden, doch «bei der phytosanitarischen Beurteilung vertrauen wir unseren Forschungsanstalten und den Bundesbehörden voll und ganz».
grosser pestizideinsatz Die Branchenorganisation operiert in Dimensionen, die sich diametral vom Anbau ausserhalb ihres Einflussbereichs unterscheiden. Alle übrigen Sorten kamen Schätzungen von Branchenkennern zufolge 2008 mengenmässig auf nicht mehr als ein halbes Prozent jener Tonnagen, die Swisspatat mit ihren 33 empfohlenen Sorten umsetzte. Der Härdöpfelverband koordiniert eine Jahresernte von rund 330 000 Tonnen und damit verbunden gewichtige Geldströme, nahmen doch die Kartoffelbauern insgesamt über 150 Millionen Franken ein. Je nach Sorte schwankte der Produzentenpreis zwischen 39 Rappen (Désirée) und 52 Rappen pro Kilogramm (Panda), im Detailhandel lag der Verkaufspreis ungewaschen in der Regel gut drei Mal höher. Bei biologischem Anbau erhielt ein Produzent durchschnittlich 86 Rappen pro Kilogramm Désirée und 77 Rappen für Panda. Vor schlechter Widerstandskraft gegen Krankheiten sind übrigens Swisspatat-Sorten nicht gefeit. Die ertragsstarken Bintje sind anfällig auf Kartoffelkrankheiten wie Schorf, Krautund Knollenfäule, Viruskrankheiten, Kartoffelkrebs und Fadenwürmer. Der
Sortenkataloge
bestimmen, aus welchen Kartoffeln die Gerichte von morgen zubereitet werden.
Schweizer Sortenkatalog Der Bund hat in einer SaatgutVerordnung geregelt, welche Kartoffelsorten in der Schweiz legal in Verkehr gebracht und angebaut werden dürfen. Dabei handelt es sich um Sorten von ausländischen Züchtern, einzige Ausnahme sind die Blauen St. Galler. Um aufgenommen zu werden, muss eine Sorte sich eindeutig von anderen unterscheiden, homogen und stabil sein. Weitere Kriterien sind Ertragssicherheit, Resistenzen gegen Krankheiten, die Speise- und Verarbeitungsqualität sowie die Gesundheit der Konsumenten, etwa im Hinblick auf die Bildung von gesundheitsschädigendem Acrylamid bei der Chips- und Fritesherstellung. Die Schweiz und die EU anerkennen ihre Sortenkataloge gegenseitig.
Schweizer Lokalsorten Für alte Kartoffelsorten, die den Sprung in den offiziellen Schweizer Sortenkatalog nicht schaffen – zum Beispiel wegen schwankendem oder tiefem Ertrag oder weil niemand die mindestens 10 000 Franken teure Zulassung finanziert –, gibt es Ausnahmebestimmungen. Ziel ist es, die genetischen Ressourcen zu erhalten. Der Anbau kann als sogenannte Lokalsorte in zwei Stufen
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bewilligt werden. Die erste erlaubt lediglich den Anbau in kleinem, nichtkommerziellen Stil. Die zweite Stufe gestattet auch eine bescheidene kommerzielle Verwendung; als Voraussetzung verlangt das Bundesamt für Landwirtschaft, dass eine Sorte seit dreissig Jahren in der Schweiz nachgewiesen werden kann.
SwisspatatSortenliste Die Branchenvereinigung Swisspatat führt eine Liste mit den Kartoffelsorten, die sie im jeweiligen Jahr zum Anbau empfiehlt. Für 2009 enthält diese Liste 33 Sorten, die aus den Sortenkatalogen der Schweiz und der EU ausgewählt wurden. Die Liste der Swisspatat hat grosse wirtschaftliche Bedeutung. Die Saatguthersteller ziehen sie heran, um die nötige Menge von Saatkartoffeln bereitzustellen.
EU-Sortenkatalog Der gemeinsame Sortenkatalog der EU umfasst rund 1300 Kartoffelsorten aus allen Ländern der Europäischen Union. Es ist allerdings fraglich, ob für alle diese Sorten tatsächlich Saatgut für den Anbau erhältlich ist. Manche Sorten bleiben auf der Liste, obwohl der nötige Anbau für das Saatgut bereits eingestellt worden ist.
Anbau der langjährigen Paradesorte erfordert beträchtlichen Pestizideinsatz, weshalb eine Bio-Produktion praktisch nicht möglich ist. Seit 1935 stehen Bintje auf der Swisspatat-Empfehlungsliste, länger als jede andere Sorte. Inzwischen ist die Menge auf sechs Prozent der Gesamternte (2008) heruntergefahren worden, voraussichtlich 2011 will Swisspatat die Sorte auslaufen lassen. Die Anforderungen an eine Kartoffelsorte verändern sich also im Laufe der Zeit. Vielleicht erfordert künftig die Veränderung des Weltklimas andere Anbaueigenschaften, etwa grössere Toleranz gegenüber Trockenheit oder Wärme. Oder die Resistenz gegen eine spezielle Krankheit wird wichtiger. Dann kommt die genetische Vielfalt der alten Sorten zum Zug. Bei ihnen werden Züchter auf der Suche nach speziellen Eigenschaften oft fündig.
Erste schweizer züchtung Das zeigt ein Besuch bei Christoph Gämperli. Der Agronom des landwirtschafltichen Zentrums Flawil ist für die St. Gallische Saatzuchtgenossenschaft tätig, in der sich rund achtzig Bauern der Region zusammengeschlossen haben. Auf dem Gelände der ehemaligen landwirtschaftlichen Schule findet in abgedeckten Gemüsetunnels unter insektendichten weissen Netzen (Blattläuse!) die Saatgutvermehrung für die PSR-Sammlung statt. Gerade sortiert Gämperli frisch geerntete Aargauer Müsli. «Schauen Sie, perfekte Härdöpfeli! Kein Schorf und nichts.» Die ausgelaugte Schale der Mutterpflanze ist als Nummer drei mit Filzstift gekennzeichnet. Die erste Generation wächst aus empfindlichen kleinsten Pflanzen heran, die in Reagenzgläsern aus der Forschungsanstalt Agroscope Changins-Wädenswil angeliefert werden. Deren Forscher nehmen die Keimlinge der Knollen, die Pro Specie Rara
Der Klimawandel dürfte künftig andere Anbaueigenschaften erfordern, etwa jene der alten Sorten
anliefert und gewinnen daraus im Labor virenfreie Zellen. Diese setzen sie in Nährlösung an, bis daraus die kleinen Pflänzchen wachsen. Inmitten der vielen Sorten begann Christoph Gämperli eines Tages zu experimentieren. «Aus Gwunder» nahm er im Hausgarten die Blüte eines Blauen Schweden, befruchtete sie mit einer anderen PSR-Sorte und pflanzte den Samen an. Dann waren Geduld, Züchterhandwerk und Glück gefragt. Gesucht war blaues Fleisch, das auch beim Frittieren die Farbe behält. Scheibchen schneiden, und ab damit in die Friteuse. Wurden sie braun – «und das war meistens der Fall» –, riss der 46-jährige die entsprechende Pflanze im Garten sogleich aus. Der Grund für die Braunfärbung ist ein hoher Anteil an reduzierendem Zucker, eine typische Eigenschaft der Blauen Schweden. Schliesslich entschied er sich zum Antrag um Aufnahme in den Schweizer Sortenkatalog, ein Zulassungsprozedere, das mehrere Jahre dauert. Die Blauen St. Galler nahmen sämtliche Hürden. Schliesslich wurde die Lowcost-Züchtung 2007 als vollwertige neue Sorte akzeptiert. «Hierzulande gibt es keine kommerziellen Züchterfirmen. Deshalb sind die Blauen St. Galler die allererste Schweizer Züchtung», sagt der Agronom. Bei den Konsumenten kommen sie gut an, und zwar als farbige Pommes Chips. Der Run darauf «war so gross, dass sie bereits nach kurzer Zeit ausverkauft waren», berichtet Gämperli. Nun will er die Anbaumengen steigern. Auf fünf Hektaren wachsen, falls die Ernte gut verläuft, bis zu
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hundert Tonnen Saatgut für den Frühling 2010 heran. Zurück zum Ausgangsmaterial, den alten Pro-Specie-Rara-Sorten. Das Bundesamt für Landwirtschaft fände wohl relativ bald eine Lösung, die Kartoffelgrossbauern, Detailhandel und den Promoter der alten Sorten dient – wenn die Schweiz eine Insel wäre. «Wir sind aber längst nicht mehr auf Landesebene am Kämpfen, sondern europaweit», sagt PSR-Geschäftsführer Béla Bartha. Denn nach der Schweiz hat auch die EU das Problem der «Lokalsorten» erkannt und 2008 eine neue Saatgutrichtlinie geschaffen, die in den einzelnen Ländern derzeit umgesetzt wird. «Zum Teil wird sie aber so restriktiv ausgelegt, dass ein Erhalt der Sorten durch eine aktive Nutzung selbst in bescheidenem Rahmen verunmöglicht würde», so Bartha. Gegensteuer will nun das EU-weite Projekt «Farm Seed Opportunities» geben, das die Richtlinie im Hinblick auf die Folgen in der Praxis untersucht. Im Oktober bereitet Pro Specia Rara zusammen mit europäischen Organisationen eine Eingabe an die EU-Behörden vor. Die harte Linie der einzelnen EULänder ist nicht zuletzt der Lobby der Saatguthersteller zu verdanken. Einen Vorgeschmack, was deren Druck bewirken kann, lieferte ein Urteil, das noch unter altem Recht erging. Der französische Verein Kokopelli, der sich für alte Sorten einsetzt, wurde im Januar 2008 zu Zahlungen von 35 000 Euro an den Saatguthändler Baumaux, den Branchenverband FNPSP und den französischen Staat verurteilt, weil er nicht zugelassene Sorten in Verkehr gebracht und sich damit einen unlauteren Wettbewerbsvorteil verschafft habe. PSR: www.prospecierara.ch Kampagne: www.vielfalt-fuer-alle.ch Thomas Müller ist freier Wirtschaftsjournalist.
küche
Gottliebs Zander Wie ein Junggeselle seine Amouren zu verwöhnen lernt.
von Jost Auf der Maur
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ls Gottlieb fünfzig Jahre alt zu werden gedachte, war nicht sogleich klar, was dem strammen Burschen zu schenken sei. Da er die Daseinsform des Junggesellen als Imago betrachtet, wollten wir ihn mit etwas überraschen, das prekäre Gefühlslagen auf diesem nicht besiedelbaren Trabanten namens Gottlieb stabilisieren helfen sollte. So erwuchs die Idee, Gottlieb einen Kochkurs zu schenken. Ziel: Bei Damenbesuch sollte Gottlieb in der Lage sein, auf kulinarisch sicherem Fundament auftreten zu können, ohne sich dabei die Finger zu verbrennen. Es ist ja keine neue Erkenntnis, dass vor Eskapaden aller Art das Urvertrauen zu stärken ist. Im vorliegenden Fall gehörte dazu, dass Gottlieb sich nicht auf grosse Erfahrungen am Herd stützen konnte, das Rezept also von genialer Einfachheit zu sein hatte. Und im Hinblick auf amouröse Unternehmungen sollte das Gericht auch den Verdauungstrakt nicht über Gebühr belasten. Das Motto:
Leicht einzukaufen, leicht zuzubereiten, leicht zu verdauen – leichtes Spiel. Darum Fisch. Damit beweist der Koch, so wenig begnadet er vielleicht in der Tat ist, dass er zumindest an diesem Abend zärtlich umzugehen weiss mit zartem Fisch. Wir haben Gottlieb auf den Einkaufszettel geschrieben: «Nimm Zander!, wenn es welchen hat. Zander-Filets. 400 Gramm sollten reichen. Und wenn es keinen Zander hat, dann nimm Rückenfilets vom Kabeljau.» Das haben wir ihm auf den Einkaufszettel geschrieben und die Daumen gedrückt. Und haben noch dazu gekritzelt: «Zander wäre einfacher, weil du den mit der flachen Holzkelle ohne Probleme aus der feuerfesten Form auf den Teller bringst. Kabeljau kann bei diesem Akt verunglücken. Zudem sind die armen Kabeljaue überfischt. Doch schmackhaft sind sie freilich. Und ebenso günstig wie Zander. Wenn du beide bekommst, dann achte darauf, ob der Zander ein Wildfang ist. Sonst nimmst den Kabeljau.» Jost Auf der Maur ist Redaktor bei der Schweizer Familie.
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Die Zutaten – selbstverständlich für zwei Personen:
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400 Gramm Zanderfilet oder Rückenfilet
√ √ √ √ √ √ √ √
vom Kabeljau 1 Zitrone trockener Sherry 2 dl Rahm Olivenöl konzentrierte Hühnerbouillon 3 Schalotten weisser Pfeffer feuerfeste Form
DAS REZEPT
Zubereitung
√ Ofen auf echte 170 Grad vorheizen (das Ofenthermometer sagts) √ Die Teller vorwärmen √ Den Fisch auspacken und mit Zitrone beträufeln √ Die Schalotten schälen und in Streifen schneiden Ungefähr (wir betonen ungefähr, weil die Menge abhängig ist von der Grösse der Form, der Pegelstand der Flüssigkeit sollte die Schalottenstreifen knapp übersteigen), also ungefähr einen Dezi Olivenöl, einen Dezi Sherry und etwas Hühnerbouillon in die weite feuerfeste Form giessen. Die Mischung muss jetzt «gut gesalzen» schmecken, denn der Salzgehalt soll für das ganze Gericht reichen.
√ Die fein geschnittenen Schalotten einstreuen. Ab mit der Form in den Ofen. Dort bleibt der Fond eine gute
halbe Stunde. Jedenfalls solange, bis er ein wenig konzentriert ist und er beim Test jetzt schon ganz einfach gut schmeckt. Dieser Fond ist das entscheidende Element.
√ Jetzt den Fisch mit weissem Pfeffer würzen und in die Form geben. Temperatur im Ofen auf 140 Grad (genau gemessen) reduzieren. √ Nach 12–15 Minuten den Fisch herausnehmen und die Form ohne den Fisch nochmals für fünf Minuten in den Ofen stellen. Den Rahm dazugeben und mit einer Holzkelle verrühren. Köcheln. Die Sauce sollte jetzt gebunden wirken. Nun kommt der Auftritt: Anrichten, und die Sauce gehört über den Fisch. Übrigens: Gottlieb hat das Rezept inzwischen intus. Die Damen reissen sich jedenfalls um eine Einladung. Aber er, der nicht mehr ganz junge Mann von nebenan, ist Junggeselle geblieben.
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Literatur
Der sinnliche Bauch von Paris Oder der siegreiche Kampf der Fetten gegen die Mageren: Im Roman von Emile Zola ist der Markt als «Bauch von Paris» Metapher für Gefrässigkeit.
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Früchten, lebenden Tieren, Fischen, Käsen, Spezereien ins Zentrum dieses gigantischen Organismus. Dort wird alles aufbereitet, gebündelt, geschlachtet, zubereitet und bei Tagesanbruch über Tausende von Handelskanälen in den nimmersatten Grosstadtleib verteilt: Nun hörte er das langgezogene Dröhnen, das an den Hallen begann. Paris kaut die Bissen für seine zwei Millionen Einwohner. Es war, als schlüge wütend ein riesiges Herz, welches das Lebensblut in alle Adern pumpte. Das Getöse ungeheurer Kiefer, lärmender Radau der Lebensmittelversorgung, angefangen von den Peitschenschlägen der Grosshändler, die zu den Märkten in den einzelnen Vierteln aufbrachen, bis zum schleppenden Schritt der armen Frauen, die mit ihrem Körben von Tür zu Tür gingen und Salat anboten. (46) Die eigentliche Handlung der über 400-seitigen Erzählung «Le Ventre de Paris,» 1873 erschienen, ist jedoch eher dürftig und kann mit wenigen Sätzen zusammengefasst werden: Nach seiner Flucht aus Cayenne, wohin er aufgrund eines Missverständnisses unschuldig als Aufständischer deportiert worden war, sucht Florent in Paris seinen Halb-
Bild: Bridgeman Art Library
Von Ursula Hasler
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er völlig abgemagerte Florent kommt nach einer abenteuerlichen Flucht aus Cayenne (Französisch-Guyana), wohin er verbannt worden war, im September 1858 nach Paris zurück. Der vor Hunger Geschwächte wird morgens um vier Uhr am Strassenrand von der Wagenkolonne der Gemüsebauern, die ins Zentrum zu den Markthallen fahren, aufgelesen und fährt nun auf einer Wagenladung duftender Möhren, die seine Sinne bis zur Bewusstlosigkeit trüben, direkt in den «Bauch von Paris». In dieser wundervoll ironischen Eröffnungsszene des Romans «Der Bauch von Paris» von Emile Zola werden die unversöhnlichen Gegensätze, die die zentrale Thematik dieser naturalistischen Erzählung bilden, schon angedeutet: Hunger und Nahrungsüberfluss, unzufriedene Magere und wohlig Satte, trockene Weltverbesserer und feiste Sinnlichkeit. Der erzählerisch perfekte Ort, wo diese Gegensätze aufeinanderprallen, ist der Lebensmittelmarkt, nämlich Les Halles de Paris (siehe Kasten). Diese Markthallen mitten im Zentrum von Paris haben während rund hundert Jahren die ganze Versorgung der rasant wachsenden Grossstadt gemeistert: aus allen Stadttoren fliesst Nacht für Nacht ein nie endender Strom von Gemüse,
«Les Halles» (1895): Stimmungsvolles Gemälde von Leon Lhermitte (1844–1925). 53
literatur
Die Handlung wirkt wie ein Nebenschauplatz im Roman; die Hauptrolle spielen die Markthallen als Milieu. Im Naturalismus, als dessen wichtigster Vertreter in der französischen Literatur Emile Zola gilt, geht es darum, die Wirklichkeit so exakt wie möglich und ohne subjektive Wertung des Erzählers abzubilden. So erstrecken sich auch im «Bauch von Paris» über Seiten hinweg die minuziösen Beschreibungen des naturalistischen Erzählers, der die gigantische Menge an überquellender Nahrung mit einem entsprechend
fülligen Wortschatz vor uns ausbreitet. In diesem Zusammenhang muss die ausgezeichnete Arbeit der Übersetzerin Karin Meddekis bei der deutschen Neuausgabe gewürdigt werden. Die akribisch gezeichneten Figuren, die in und von diesen Markthallen leben, werden von Zola in ihrem Handeln beobachtet. Er führt sie dem Leser in exemplarischen Momentaufnahmen vor, so zum Beispiel die Metzgersfrau Lisa aus der Perspektive von Florent, kurz nachdem er bei ihr und seinem Bruder nach der Heimkehr eingezogen ist: Die schöne Lisa blieb hinter ihrem Ladentisch stehen und neigte den Kopf ein wenig zur Seite, an der die Markthallen standen. Und Florent betrachtete sie schweigend und war überrascht, dass sie ihm so gut gefiel. Er hatte sie bis jetzt nicht richtig angesehen. Er verstand es nicht, Frauen zu betrachten. Sie überragte das Fleisch, das auf dem Ladentisch lag. Vor ihr lagen auf weissen Porzellanplatten angeschnittene Arleser und Lyoneser Würste, Zungen und gekochte Pökelfleischstücke, der in Aspik eingebettete Schweinskopf, eine geöffnete Dose feingehacktes, in Schmalz gebratenes Schweinefleisch und eine Büchse Sardinen, auf deren beschädigtem Deckel eine Öllache lag; rechts und links lagen auf Brettern Leberkäse und Presskopf, ein normaler Schinken von blassrosa Farbe und ein Yorker Schinken mit blutigem Fleisch unter einem breiten Fettrand. Ausserdem standen dort noch runde und ovale Platten, und zwar die Platten mit gekochter Zunge, Trüffelsülze und Schweinskopf mit Pistazien; während ganz in ihrer Nähe unter ihren Händen gespicktes Kalb, Leberpastete und Hasenpastete in gelben Terrinen standen. (99) Für den von dieser fleischlichen Üppigkeit geblendeten Florent verschmelzen Lisa und die Fülle der Auslagen ihrer Metzgerei zu einem schinkenrosa Bildnis: 54
Blick in die Markthallen um die fünfziger Jahre.
Der Geruch des Fleisches stieg in die Luft, und der Duft der Trüffeln hielt sie in ihrem schweren Frieden gefangen. An diesem Tag zeigte sie eine herrliche Frische. Das Weiss ihrer Schürze und ihrer Ärmel setzte das Weiss der Platten fort bis zu ihrem dicken Hals und ihren rosigen Wangen, auf denen der zarte Ton der Schinken und die Blässe der durchsichtigen Fette weiterlebten. Je länger Florent sie ansah, desto mehr schüchterte ihn dieser Anblick ein, und da ihn überdies diese tadellose Haltung beunruhigte, beobachtete er sie schliesslich heimlich in den Spiegeln, die an den Wänden im Laden hingen. Sie spiegelte sich in ihnen von hinten, von vorn und von der Seite. Selbst an der Decke fand er sie, den Kopf nach hinten gerichtet, mit ihrem festen Haarknoten und den schmalen Strähnen, die auf ihrer Stirn klebten. Scharenweise sah er Spiegelbilder von Lisa, die die Breite ihrer Schultern zeigten, die starken Schultergelenke und die runde Brust, die so stumm und so gespannt war, dass sie einem Bauch ähnelte und keinen Gedanken an
Bild: akg images, Walter Limot
bruder Quenu auf, der mittlerweile mit Lisa verheiratet ist, mit einer Erbschaft eine gut gehende Metzgerei aufgebaut hat und ein zufriedenes, sattes Leben führt. Er empfängt seinen Bruder mit offenen Armen, während Florents Magerkeit die wohlgenährte kleinbürgerliche Lisa misstrauisch macht. Der rastlose und damit unheimliche Florent muss möglichst schnell in ihre geordnete Welt der Nahrungsberge einverleibt werden. Er wird also trotz seines Ekels vor Gerüchen und Fäulnis mit sanftem Druck genötigt, den Posten eines Aufsehers in der Seefischhalle anzunehmen, womit sein Leidensweg als Dürrer zwischen den rivalisierenden prallen Marktweibern beginnt. Florent rettet sich abends aus der fetttriefenden Metzgerfamilie in die Hinterstube eines Wirtshauses, wo er Möchtegernrevolutionäre, Idealisten und andere Weltverbesserer trifft. So nimmt die Geschichte ihren unvermeidlichen Lauf: Florent, der naive Träumer, merkt nicht, dass die Polizei Spitzel in seine Revolutionsgruppe eingeschleust hat, und Lisa beschliesst mit den neidischen Marktweibern seine Vertreibung aus dem Paradies, da ihre Strategie – voller Bauch gegen aufrührerische Ideen – bei Florent nichts gefruchtet hatte: Er verschmähte sogar ihr Essen. Deshalb wähnt sie in ihm eine Bedrohung für ihre satte, sichere Welt der täglichen Nahrungsfülle. Florent wird verhaftet und wieder nach Cayenne deportiert – der feiste Bauch von Paris atmet befreit auf.
die schöne Normande, Fischhändlerin und grosse Rivalin von Lisa bezüglich üppiger Schwere, versucht mit allen Mitteln, den weiblichen Reizen gegenüber völlig immunen Florent zu verführen. Aber vergeblich. Es erweist sich eben als sehr schwierig, einen Mann mit Fischen zu locken. Besser geeignet scheinen da freches junges Gemüse zu sein oder besser noch: betörende Früchtchen. Alle Marktfiguren sind ein Ebenbild ihrer Waren, und die Eigenschaften der Verkäufer übertragen sich auf ihre Produkte. So wie Lisa und ihre Schinken zur rosaschimmernden Einheit werden, macht die mollige Obsthändlerin Sarriette aus ihrer Früchteauslage eine nackte Wollust:
Fleischeslust weckte. Sein Blick verharrte auf einem Spiegelbild, denn er fand besonders an einem ihrer Profile Gefallen, das er in einem Spiegel neben sich zwischen zwei Schweinehälften sah. Entlang des ganzen Marmors und der Spiegel hingen an den gezahnten Stangen Schweine und Speckstreifen zum Spicken. Und Lisas Profil mit dem starken Hals, den runden Umrissen und dem vorstehenden Busen verwandelte sie inmitten dieses Specks und dieses rohen Fleisches in ein Bildnis einer gemästeten Königin. (100) Diese herrliche Szene ist in mehrerer Hinsicht aufschlussreich: die Personen vereinen sich mit ihren Waren. Lisa regiert über das Imperium aus Speck, Würsten und Schweinsköpfen und verschmilzt gleichzeitig als rosig speckiger Teil mit ihnen. Zudem deutet die sich überall spiegelnde und damit omnipräsente Lisa auch an, dass Florent ihr und der Welt des fetten Bauches, die sie repräsentiert, nicht entkommen wird. Der «Bauch von Paris» ist ein sehr sinnliches Milieu,
Die Kirschen, die einzeln nebeneinander lagen, ähneln den schmalen Lippen lächelnder Chinesinnen, die Montmorency-Sauerkirschen wulstigen Lippen dicker Frauen, die englischen Kirschen längeren und ernsteren, die Herzkirschen gewöhnlichem, schwarzem, von Küssen zerquetschtem Fleisch und die weiss und rosa gefleckten Knorpelkirschen einem fröhlichen und zugleich verärgerten Lachen. Die Äpfel und Birnen türmten sich mit architektonischer Gleichmässigkeit, bildeten Pyramiden und zeigten das Erröten spriessender Brüste, goldener Schultern und Hüften, eine ganze verschwiegene Nacktheit inmitten der Farnwedel. […] An heissen Julinachmittagen spürte sie auch, dass sich ihr der Kopf drehte, wenn die Melonen sie mit ihrem starken Moschusdunst benebelten. Berauscht zeigt sie dann mehr von ihrem kaum reifen und frühlingsfrischen Fleisch unter ihrem Brusttuch,
Aber die Sarriette machte aus ihrer Auslage eine einzige nackte Wollust
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führte die Münder in Versuchung und fachte die Lust zu Mundraub an. Sie war es, ihre Arme waren es, und ihr Hals war es, die ihren Früchten dieses verliebte Leben, diese seidenweiche Wärme einer Frau verliehen. Am Verkaufsstand nebenan stellte eine alte Händlerin, eine schreckliche Trinkerin, nur runzelige Äpfel, Birnen, die wie leere Brüste herabhingen, und leichenartige Aprikosen vom niederträchtigen Gelb einer Hexe aus. Aber die Sarriette machte aus ihrer Auslage eine einzige nackte Wollust. Ihre Lippen hatten die Kirschen dort wie rote Küsse einzeln hingelegt. Aus ihrem Mieder liess sie die seidigen Pfirsiche fallen. Sie lieferte den Pflaumen ihre zarteste Haut, die Haut ihrer Schläfen, ihres Kinns und ihrer Mundwinkel. Sie liess etwas von ihrem rotem Blut in die Adern der Johannisbeeren fliessen. Die Glut eines schönen Mädchens machte diese Früchte der Erde brünstig, all diese Samen, deren Lieben sich auf einem Lager aus Blättern erfüllte, verborgen in den mit Moos ausgeschlagenen Alkoven der kleinen Körbe. (330 f) Der trockene Florent hat aber kein Sensorium für diese dralle Sinnlichkeit. Der Maler Claude Lantier, aus dessen Perspektive Zola einen grossen Teil der Erzählung berichtet, ist insofern ein Gleichgesinnter, als auch er nicht zum «Bauch» gehört, sondern als Maler ein Beobachter ist und die Sache deshalb aus Distanz betrachten kann. Er hat eine Theorie über die Fetten und die Mageren entwickelt und warnt Florent nun eindringlich vor den Fetten: Sie sind ein erstaunlicher Magerer, der König der Mageren, mein Ehrenwort. Erinnern Sie sich an Ihren Streit mit den Fischhändlerinnen? Das war herrlich, wie diese riesigen Busen auf ihre flache Brust losgelassen waren. Und sie handelten aus ihrem Instinkt heraus; sie jagten den Mageren, wie die Katzen die Mäuse jagen … Im Prinzip, verstehen Sie, findet ein Fetter einen Mageren so abscheulich, dass er das
literatur
Jede Geschichte ist für den Naturalisten eine Studie, wie die Menschen als von Milieu und Erbanlagen determinierte Wesen unter dem Druck des Milieus und spezieller Umstände reagieren. Der magere Florent ist in dieser Welt der Nahrungsfülle allein schon suspekt, weil seine Hagerkeit die Werte des dicken Wohlstands in Frage stellt, und da er sich offensichtlich nicht verführen respektive mästen lässt, muss er wieder weg. Bei der folgenden Szene, wo die drei Marktweiber Sarriette, Madame Lecoeur und Mademoiselle Saget in geheimer Verschwörung hinter dem Butter-Käse-Stand von Madame Lecœur Pläne zur Verleumdung von Florent schmieden, stellt Zola zwischen ihrer Lästerei und dem Milieu – den sie umgebenden Käsen – wieder eine ironische Parallele her: Sie schauten sich alle drei verständnisinnig an. Und da sie ein wenig schnauften, rochen sie vor allem den Camembert. Der Camembert hatte mit seinem Wildbretdunst die dumpferen Gerüche des Marolles und des Limburger besiegt. Er dehnt seine Ausdünstungen aus und erstickte die andern Gerüche unter einer überraschenden Überfülle verdorbenen Atems. In diesen kräftigen Tonsatz warf der Parmesan jedoch ab und zu einen dünnen Strahl einer Hirtenflöte, während der Brie die fade Süsse feuchter Tamborins ins Spiel brachte. Es erfolgte eine atemberaubende Reprise des Livarot. Und diese Symphonie verharrte einen Moment auf einem
Les Halles de Paris Die Pariser Markthallen wurden zwischen 1854 und 1870 vom Architekten Victor Baltard erbaut. Damit sollten die Versorgungsund Hygieneprobleme der rasant wachsenden Hauptstadt Frankreichs gelöst werden. Auf Wunsch Napoleons III wurde die waghalsige Architektur der modernen Bahnhöfe, gigantische Bauten aus Stahl und Glas, auch für die Markthallen gewählt. Zu Zolas Zeit gab es deren zehn. Sie faszinierten ihn als Zeichen des positivistischen Industriezeitalters. Die letzten beiden der zwölf geplanten Markthallen wurden erst 1936 erstellt. In den Siebzigerjahren fielen die Gebäude der Abrissbirne zum Opfer, und der Markt wurde nach Rungis, im Süden von Paris verlegt. Das Quartier Les Halles hat hingegen seinen Namen behalten.
grellen Ton des mit Anis gewürzten Géromé, der als Orgelpunkt lang nachhallte. (340) Und wie ihr Geschwätz immer giftiger wird, bis die Vernichtung von Florent eine beschlossene Sache ist, steigert sich der Käsegeruch ins Unerträgliche: Sie blieben stehen und verabschiedeten sich im Geruchsfinale des Käses, in das zu diesem Zeitpunkt alle einstimmten. Das war ein Missklang ekelhafter Gerüche, von der weichen Schwere gekochten Breis des Schweizerkäses und des Holländers bis zu den Ammoniakschärfen des Olivet. Es erklang dumpfes Schnarchen des Cantal, des Chester und des Ziegenkäses ähnlich einem breiten Bassgesang, von dem sich in staccato gespielten Tönen der jähe kleine Mief des Neufchâtel, des Troyes und des Mont-d’or abhoben. Dann gerieten die Gerüche in Bestürzung, rollten sich alle übereinander, verdichteten sich mit den Dunstböen des Port-Salut, des Limburger, des Géromé, des Marolles, des Livarot und des Pont-Evêque, die sich allmählich vermischt hatten und in einer einzigen 56
Gestanksexplosion erblühten. Der Gestank breitete sich aus, behauptete sich inmitten der allgemeinen Schwingung, in der es keine unterschiedlichen Gerüche mehr gab und ein fortwährender Schwindel von Übelkeit und eine schreckliche Kraft des Erstickungstodes vorherrschte. Es schien jedoch, als seien es die bösen Worte von Madame Lecœur und von Mademoiselle Saget, die so stanken. (344) Die ausufernden Beschreibungen dienen überall im Buch als Metaphern für das, was die eigentliche Bedeutung der harmlos wirkenden Szenen ist. Die Gemeinheit der Klatschweiber demonstriert bildlich oder hier eher olfaktorisch den erstickenden Geruch der durch die Hitze immer stärker stinkenden Käse. Es wäre auch gar nicht nötig gewesen, dass der Erzähler die Metapher mit dem letzten Satz auflöst, als Leser hat man längst verstanden. Alles ist nun eingefädelt, Florent wird von unzähligen Personen des Pariser «Bauches» bei der Polizei denunziert, die ihn ohnehin beobachtet. Die Stimmung in den Markthallen ist derart angespannt, dass selbst Florent endlich
Bild: akg images
Bedürfnis verspürt, ihn aus seinem Blickfeld zu entfernen, indem er ihn beisst oder mit den Füssen tritt. Darum würde ich an Ihrer Stelle Vorsichtsmassnahmen ergreifen. Die Quenus sind Fette, die Méhudins sind Fette. Letztendlich haben sie nur Fette um sich herum. Das würde mich beunruhigen. […] Mademoiselle Saget und Madame Lecoeur sind Magere, übrigens sehr gefährliche Spielarten, verzweifelte Magere, die zu allem fähig sind, um fett zu werden. (303 f.)
Erzähler als ironisches Abbild der momentanen Stimmung eingesetzt werden – man vergleiche dazu die obige Szene mit der ähnlichen zu Beginn. Der naive Florent tappt schliesslich in die Falle: Die Polizei erwartet ihn auf seinem Zimmer – nichts ahnend betritt er das Haus der Quenu. Auf dem Fischmarkt herrschte Schweigen. Die riesigen Bäuche und Brüste hielten den Atem an und warteten, bis er verschwunden war. Und dann quoll alles über, die Brüste breiteten sich aus, und die Bäuche platzten vor Schadenfreude. Der Streich war geglückt. Nichts war lustiger. […] Endlich war der grosse Dürre geschnappt worden, und sie mussten seine dumme Miene und seine Sträflingsaugen nicht mehr ertragen. Sie alle wünschten ihm eine gute Reise und hofften, dass der neue Aufseher ein schöner Mann sein würde. (424) etwas merkt. Er hat Schande über Lisa und die unbescholtene Metzgerei gebracht: In der grossen Fleischerei der QuenuGradelles [war es] düster geworden. Die Spiegel verblassten; der Marmor schimmerte in einem eisigen Weiss, das gekochte Fleisch auf dem Ladentisch schlief in vergilbtem Fett und in Seen von trübem Gelee. Claude betrat sogar eines Tages die Fleischerei, um seiner Tante zu sagen, dass ihre Auslage «ganz verärgert» aussehe. Das stimmte. Auf dem Lager aus feinen, blauen Papierschnipseln nahmen die gekochten Strassburger Zungen die weissliche Melancholie kranker Zungen an, während die hübschen gelben Gesichter des Eisbeins ganz schwächlich aussahen und von traurigen grünen Manschetten überragt wurden. […] Die schöne Lisa trug die Trauer der Fleischerei mit stummer Würde. (372) Es kann als Stilmerkmal von Zola bezeichnet werden, dass die Beschreibungen der Nahrungsmittel im «Bauch von Paris» eben nie naturalistisch akribisch die Realität abbilden, sondern vom
Es gibt keine Moral von der Geschicht. Der Markt ist ein perfektes Milieu für den Naturalisten, eine Welt im Kleinen, mit ihren Hierarchien von Grosshändlern bis zu den Strassenverkäuferinnen: Alle leben nach den Gesetzen und Abläufen des gigantischen Umschlagplatzes. Was sich zwischen der Ankunft Florents in Paris und seiner erneuten Verhaftung und Deportation ereignet, folgt der Logik des Milieus, nämlich des Marktes, den nichts interessiert als Wohlstand und Sicherheit, die eine Überfülle an Nahrung verleiht. Den Bauch interessieren weder Herz noch Kopf. Die Figuren handeln instinktiv. Sie sichern ihre Welt, indem sie alles, was diese Welt bedrohen könnte, vertreiben. Wenn das Milieu der Markt ist und Zola dafür die Metapher des Bauchs wählt, zeigt sich die Determiniertheit durch das Milieu logischerweise in der Fettleibigkeit respektive Magerkeit. Auch diese Zuspitzung einer eigentlich tragischen Geschichte auf einen abstrusen Kampf zwischen Fetten und Mageren verweist wieder auf den augenzwinkernden Umgang Zolas mit naturalistischen Forderungen. 57
Die Metapher des Bauches zeigt den Markt bildlich als Moloch, der sich alles einverleibt, sie bringt aber auch zum Ausdruck, dass es eine Naturgewalt ist, gegen die man nicht angehen kann. Der Bauch ist ein Sinnbild für unersättliche Gefrässigkeit. Wer dazu gehört, geniesst die schwere Trägheit der glücklichen Verdauung. Wer nicht dazu gehört, wie Florent, wird verschlungen und dann als unverdaulich ausgespuckt. Danach ist die Welt wieder in Ordnung. Lisa hat Florents Verhaftung hinter dem Rücken ihres Mannes organisiert.Während Florent von der Polizei an der geschlossenen Küchentür vorbei aus dem Haus geführt wird, hört er drinnen die fröhliche Stimme seines Bruders Quenu: «Oh, verdammt, die Blutwurst wird gut … Auguste, reichen Sie mir das Fett.» (427) Ursula Hasler ist Autorin und Dozentin.
Emile Zola, 1840-1902 Emile Zola gilt als wichtigster Repräsentant des Naturalismus in der französischen Literatur. Mit dem Roman «Thérèse Raquin» gelang ihm 1867 der Durchbruch als Schriftsteller. Was Zola heute noch lesbar macht, sind die stark metaphorischen und fein ironischen Bilder seiner Zeit. Dazu gehört «Le Ventre de Paris», das 1873 als dritter Band des Romanzyklus «Les Rougon-Macquart» erschienen ist. Aufgrund seines Leitartikels «J’accuse!» in der Zeitung «L’Aurore», worin er in der Dreyfus-Affäre Stellung bezog, wurde er zu einer Haftstrafe verurteilt, flüchtete jedoch ins englische Exil. Zola starb unter mysteriösen Umständen an einer Kohlenmonoxidvergiftung in seinem Büro. Emile Zola: Der Bauch von Paris, Bastei Lübbe, 2000 (2007), 444 Seiten, Fr. 16.50 ISBN 978-3-404-14414-3 (Die Seitenangaben der Textauszüge beziehen sich auf diese Ausgabe.)
kinderkrimi
Rom – auf der Suche nach dem Pfeffer Drei clevere Jungs kommen Pfefferdieben auf die Schliche. Werden sie die Beute retten können?
Von Maja von Rosenbladt Illustration Adrian Hablützel
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ie Wege Roms, seine breiten Strassen und schmalen Gassen, liegen verlassen im hellen Sonnenlicht. Wo sonst lebhaftes Treiben herrscht und Geschäftigkeit, liegen jetzt nur ein paar abgemagerte Katzen matt im Schatten der Häuser. Ab und zu schleppt sich ein Mensch langsam und schwach über einen kleinen Platz. Niemand lacht, niemand streitet. Stille. Dann aber plötzlich Lärm an der Porta Ostiense: Wieder einmal versuchen ein paar verzweifelte Bürger, hinauszukommen zu ihren Feldern und Gärten, und wieder werden sie von den fremden Soldaten zurückgewiesen. An allen Toren Roms, auch auf seiner Wasserader, dem Tiber, geschieht das gleiche: Nichts und niemand kann hinaus, niemand und nichts kann herein, nicht das kleinste Körnchen Getreide, kein einziger Fisch, kein Öl, kein Wein. Der Gotenkönig Alarich belagert Rom mit seinen Soldaten.
Sie haben die Stadt umzingelt und von ihrem Umland abgeschnitten. Die Menschen in Rom hungern. «Und weisst du, was mich so wütend macht?», fragt Marius seinen Freund Claudius. Die beiden sitzen im Schatten einer alten Mauer, und ihre Mägen knurren und schmerzen. Claudius schaut Marius nur müde an. «Von meinem Freund Sextus, der bei Laeta arbeitet», fährt Marius fort, «weisst du, der alten Kaiserwitwe, die noch bis vor kurzem Brot an die Armen verteilen konnte, also, von Sextus habe ich erfahren, dass sich Rom freikaufen könnte! 5 000 Pfund Gold, 30 000 Pfund Silber, 3 000 Pfund Pfeffer und noch anderes – dann würde Alarich abziehen!» «Das sollten die reichen Patrizier doch aufbringen!», flüstert Claudius und lässt seinen Kopf auf die Knie sinken. «Ja!», antwortet Marius, und trotz seiner Schwäche bebt seine Stimme vor Zorn, «sie haben auch fast alles, nur, stell dir vor, den Pfeffer haben sie nicht! Der ist versteckt, von den Gewürzhändlern, und niemand weiss, wo!» 58
«Nein!» Claudius richtet sich auf, «das ist nicht wahr!» «Doch!», bestätigt Marius. «Aber was meinst du …? Wir haben doch schon einmal …» Die Jungen schauen einander stumm an, sie nicken. Ein leises, hoffnungsvolles Lächeln breitet sich über ihre abgemagerten Gesichter aus. Sie werden den Pfeffer finden! Ein paar Tage dauert es, bis sie den Händlern auf die Spur kommen, Tage, während derer sie belauern, warten, nachschleichen. Und dann sind sie fast soweit. Es ist eine helle Mondnacht. Marius und seine Freunde, auch Sextus ist dabei, hocken hinter einer Strassenecke und beobachten ein Gebäude, in dem zwei Männer vor einer Weile verschwunden sind. Tiefer Schatten liegt
Alle menschlichen Sinnesempfindungen werden betrachtet
Mit 3 000 Pfund Pfeffer könnte Rom freigekauft werden. über dem Platz. Dann treffen die ersten Mondstrahlen das Gebäude, sein Porticus blitzt silbern auf, und Sextus flüstert überrascht: «Das ist ja der Tempel der Minerva! Das war er jedenfalls früher. Dann hat ihn eine Theatergruppe genutzt, als Lagerraum. Ich habe mal für die Gruppe gearbeitet, lange ist’s her – und ich weiss etwas, ich weiss etwas …!» Er verstummt, die Jungen ducken sich tiefer. Das Tor des Tempels öffnet sich knarrend, und die Männer kommen heraus. Ein Schlüssel dreht sich quietschend im Schloss, und dann stapfen die beiden davon, jeder mit einem Sack auf dem Rücken. «Wirklich, da haben sie den Pfeffer!», flüstert Claudius. «Sollen wir die
Männer weiter verfolgen?» «Nein, nein», entgegnet Marius, «in den Tempel müssen wir! Aber wie?» «Das wollte ich euch eben sagen!», flüstert Sextus. «Oben auf dem Dach gibt es zwei lose Ziegel, die liegen über einem Loch, durch das habe ich manchmal geguckt, wenn sich die Frauen umgezogen haben.» Er kichert. «Und du meinst, durch dieses Loch kommen wir hinein?», fragt Marius. Sextus nickt. «Und wie wieder hinaus?», fragt Marius weiter. «Oh, da stehen genug Leitern und so was herum», beruhigt ihn Sextus. Am nächsten Morgen sind die Jungen wieder beim Minervatempel. Die Sonne ist gerade erst aufgegangen, und niemand bemerkt sie, als sie sich 59
an der unebenen Wand mit ihren Löchern und Vorsprüngen auf das Dach hinaufhangeln. Sextus findet die losen Ziegel, hebt sie ab, und die Jungen schauen hinunter in einen dämmrigen Raum. Vorsichtig lassen sich Sextus und Marius durch das Loch auf den Boden und schauen sich um. Durch einige Risse in der Mauer fällt helles Sonnenlicht, Staubkörnchen wirbeln auf und tanzen in den Strahlen. Marius hält erschrocken die Luft an: Ledermasken glotzen von den Wänden herunter, an Holzgestellen hängen verstaubte, bunte Gewänder, grell bemalte Kulissen stehen kreuz und quer herum. Die Jungen beginnen zu suchen. Aber da sind keine Säcke mit Pfeffer! Nichts! Plötzlich halten sie
kinderkrimi
Flüsternd erklärt Sextus seinem Freund Marius den Plan inne: der Pfiff der Möwe! Der Warnruf! Gerade noch können sie sich hinter einem Ständer mit Kostümen verstecken, da dreht sich auch schon der Schlüssel im Schloss, und die beiden Pfefferhändler kommen herein. Sie schliessen das Tor und gehen an den Jungen vorbei, zu der Wand hinter dem ehemaligen Altar der Minerva. Die Jungen hören wieder das Geräusch eines schweren Schlüssels, und die beiden Männer verschwinden in einem Raum dahinter. Marius und Sextus wagen fast nicht zu atmen. Stumm blicken sie einander an, und beide denken dasselbe: «Der Pfeffer!» Nach wenigen Minuten kommen die Männer zurück, dieses Mal mit kleinen Säckchen unter ihren Gewändern, und verschwinden. Die Jungen huschen zum geheimen Eingang. Die Tür steht offen! Die Männer haben vergessen, sie abzuschliessen. Schnell schlüpfen Marius und Sextus hinein. Und dort stehen die Säcke! Da erstarren die beiden. Einer der Männer kommt fluchend zurück. Die Jungen ducken sich hinter einen Pfeffersack. Der Mann schlägt die Tür zu und schliesst sie ab. Die beiden sind gefangen. Panik steigt in Marius auf. Zum Glück aber fällt auch hier ein wenig Licht durch ein paar Mauerritzen, und nach einer Weile können die Jungen die vielen prallen Säcke erkennen, die auf dem Boden und an den Wänden gestapelt stehen. «Was nun?», fragt Marius bang. «Was machen wir, wenn die Männer zurückkommen?» Sextus legt nachdenklich einen Finger an die Nase. «Ich hab’s!», sagt er nach einer Weile, und flüsternd erklärt er Marius seinen Plan. Und sie
haben Glück! Sie finden auf dem rohen felsigen Fussboden, was sie brauchen: derbe Tonscherben und ein paar handgrosse Steine. Schweigend machen sie sich an die Arbeit, und während der nächsten Stunden sind sie damit beschäftigt, Pfefferkörner, die sie aus einem Sack holen, mit Hilfe der Scherben und der Steine zu feinem Pfefferpulver zu zermahlen. Einmal muss Marius niesen. «Siehst du, es wirkt!», lacht Sextus. Die Sonne wandert auf die andere Seite des Tempels, und es wird noch dunkler in ihrem Gefängnis. Da, endlich, hören sie, wie das Tor des Tempels geöffnet wird. Die Händler kommen zurück. Mit dem gemahlenen Pfeffer in die Hand schleichen Marius und Sextus an die Tür. Da wird auch schon der Schlüssel gedreht, und die Männer treten ein. «Jetzt!», ruft Sextus und bläst dem Ersten das Pfefferpulver ins Gesicht. Der zuckt zurück und fängt furchtbar an zu niesen. Dem Zweiten ergeht es schlimmer: Marius hat ihn mutig angesprungen und ihm den Pfeffer in die Augen geblasen. Heulend und niesend und fluchend taumeln die Männer beiseite. Marius und Sextus huschen so schnell sie können in den Tempelraum. Ein Blick auf das Dach, das Loch ist offen! Da steht auch das Holzgestell, an das sie rechtzeitig gedacht haben! Oben erwartet sie Claudius, hilft ihnen aufs Dach. Schnell noch die Ziegel wieder auf das Loch gelegt! Gerettet! Kurz darauf verlassen die Gewürzhändler fluchend den Tempel. Die Jungen lassen sich vom Dach gleiten und rennen zur nächstgelegenen Wache. Die Nachricht, dass der Pfeffer gefunden worden ist, der versteckte, 60
gehortete Pfeffer, der Pfeffer, der Rom retten soll, verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Die Jungen aber ziehen sich zufrieden in den Schatten der Mauer zurück und erzählen sich immer wieder, wie die Gewürzhändler geniest und geniest und geniest haben, und die Jungen lachen und lachen und lachen. Maja von Rosenbladt ist Autorin von Kinderkrimis, die sich um Gewürze und deren Handelswege drehen. Ausserdem leitet die Soziologin und Ökologin Kindergruppen beim deutschen Bund Naturschutz Bayern.
gewürze als luxusgut Schon früh hatten die Menschen entdeckt, wie wertvoll Gewürze waren: als Heilmittel und für den Wohlgeschmack der Speisen. Gewürze aber kamen von weither, waren knapp und sehr teuer. Weil man damit reich werden konnte, machten sich die Menschen Europas auf zu den fremden Ländern, in denen Pfeffer, Zimt, Nelken und andere Gewürze wuchsen. Um ihre Gewinne zu sichern, besetzten sie diese Länder, gründeten später sogar Kolonien und führten Kriege um die Gewürze. Der hohe Wert, den Gewürze besassen, erklärt auch, dass der Gotenkönig Alarich, der im Jahr 408 Rom belagerte, unter anderem als Lösegeld 3 000 Pfund Pfeffer verlangte. Und Rom konnte sich wirklich freikaufen. Dass die Gewürzhändler ihren Pfeffer zunächst zurückhielten, ist nicht belegt, hätte aber so sein können.
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Das Schweizer Kochbuch · 370 Rezepte von Schweizer Spitzenköchen · Hintergrundtexte · Einkaufstipps · Glossar
Von den Älplermagronen bis zum Zürcher Geschnetzelten: Wer die Schweizer Küche in ihrer ganzen Kreativität und Vielfalt kennenlernen möchte, findet im UrchuchiRezeptbuch eine Fülle von kulinarischen Kostbarkeiten. Sieben Jahre lang hat der «Urchuchi»-Autor Martin Weiss die Schweiz bis in die hintersten Bergtäler er forscht und regionale Rezepte gesammelt: bei Bauersfrauen und Spitzenköchen. Entstanden ist ein Standardwerk, das die bekanntesten Gerichte aus dem kulinarischen Erbe der Schweiz in einer einzigartigen Sammlung zusammenfasst. Dazu gehören Klassiker wie Egli im Bierteig, Papet vaudois oder Tessiner Brasato, aber auch fast vergessene Kostbarkeiten wie der Appenzeller Fenz, die Scmieza aus dem Misox oder die Walliser Cholera. Auch moderne Schweizer Kreationen laden zum Nachkochen ein. Etwa die Stein-Moos-Suppe des Spitzenkochs Stefan Wiesner. Oder die Heusuppe, die in in den 1990er-Jahren im Engadin von Peter Jörimann erfunden wurde. Wie für den «Urchuchi»-Autor üblich, enthält auch das Rezeptbuch zahlreiche Hintergrundtexte zur Kulturgeschichte der Schweizer Küche.
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Einfach nachzukochen Sämtliche Gerichte sind so rezeptiert, dass sie auch von Nichtprofis problemlos nachgekocht werden können – mit Einkaufsliste und Schritt-für-SchrittAnleitung. Zu fast allen Gerichten gibt es eine Abbildung. Dazu kommt ein umfangreiches Glossar, das die Begriffe und die grundlegenden Küchentechniken erklärt.
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Urchuchi-Rezepte Das Schweizer Kochbuch 450 Farbfotos, 384 Seiten, gebunden, 2009 ISBN 978-3-85869-409-6, Fr. 68.–
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Bienvenue!
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In der Region La Gruyère ist die Mischung aus Kulturerbe und Modernität gelungen. Eine intakte Natur, traditionelle Feste im Rhythmus der wechselnden Jahreszeiten und ein florierendes Handwerk – da ist es kaum erstaunlich, dass auch altüberlieferte, kulinarische Bräuche den Sprung in die Moderne geschafft haben. Die Bewohner der Region zeigen ein Gespür für den Geist der Zeit und wissen, wie wertvoll Altherkömmliches für unsere moderne Gesellschaft ist. Mit Slow Food können Sie regionalen Köstlichkeiten, lokalen Kleinproduktionen und traditionellem Können nachspüren. Nehmen Sie sich Zeit, entdecken Sie dieses Land und seine Leute, die mit Leidenschaft ihre Traditionen FotoS Ueli Alder Seiten 63/67/70 schützen und ihre Gerichte mit der Grosszügigkeit und der Bescheidenheit echter Genussmenschen teilen. Der junge Appenzeller
Für Bauch und Seele
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Wandern und Besichtigen
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Künstler setzt73 sich in Wettbewerb seinem Bilderwerk humorvoll mit dem Brauchtum seiner Heimat auseinander. www.alderego.ch
Fotos von Fabian Scheffold 63
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Köstlichkeiten für Bauch und Seele.
Le Chantzet – Herbst- und Winterspezialität
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Freiburger Kühe in Chile? Seit den Siebzigerjahren gilt die echte Freiburger Kuh, deren schwarzweisses Fell an das Kantonswappen erinnert, als ausgestorben. Kürzlich entdeckten Forscher in Chile schwarzweisse Kühe, die im 19. Jahrhundert zusammen mit Auswandern nach Südamerika gelangt waren. Prompt hoffte man, bald wieder «waschechte» Freiburgerinnen züchten zu können. Die Stiftung Pro Specie Rara prüfte bereits eine Import-Möglichkeit – alles vergebens. Die Kühe sehen zwar aus wie die ursprünglichen Freiburger Schönheiten, ihre Gene aber entsprechen ihnen nicht.
10 Kartoffeln 2 Zwiebeln eine Handvoll wilder Spinat und Brennnesseln 1 Liter Milch 2 Liter Wasser 200 g Hörnli 5–6 dl Doppelrahm 300 g reifer Gruyère, fein geschnitten
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Klosterguetsli – von himmlischer Güte Essen verkaufe sich immer, meinte der Pater. Ergo fingen die Glaubensschwestern des Carmel-Klosters in Le Pâquier-Montbarry an, Guetsli und Früchtebrot zu backen, als das Stickereigewerbe zu serbeln begann. Heute verfügen die Karmeliterinnen über eine kleine, professionell ausgestattete Backstube. Ihre Guetsli sind in der ganzen Westschweiz gefragt und gewähren den Ordensfrauen ein Auskommen. Gut so: Das Gebäck wird notabene aus regionalen Produkten und völlig ohne Zusatzstoffe hergestellt. www.carmel-lepaquier.com
Schmeckt auch im Betonkabäuschen
Kartoffelwürfel zusammen mit den fein geschnittenen Zwiebeln, dem Wasser, der Milch und dem Salz kochen. Spinat und Brennesseln in Streifen schneiden, ca. 1 Stunde mitkochen. Den Rahm beigeben, erwärmen, aber nicht mehr kochen. Die Käsescheiben auf die Teller verteilen, die Suppe darüber anrichten. Wer Abwechslung mag, kann ein Stück Speck mitkochen.
Texte: Monique Rijks; Mitarbeit: Alessandra Roversi, Rafael Pfarrer
Der kehlige Name «Chantzet» weist auf den wichtigsten Bestandteil der währschaften Wurst hin: Blut. Ursprünglich wurde die typische Spezialität aus dem Pays d’Enhaut vor allem im Herbst, wenn die Schweine geschlachtet wurden, produziert. Damals wie heute mischte man das frische Blut mit Speckschwarte, Kabis, Fett und anderem mehr, bevor man die Masse in einen Rindsoder Schweinedarm presste. Slow Food hat nun einen Förderkreis gegründet, um die Rezeptur dieser lokalen Spezialität zu schützen. Darüber hinaus soll die Schweinezucht vor Ort gefördert werden. Der Chantzet ist eine klassische Brühwurst, die aber auch geräuchert werden kann. Köstlich schmeckt Chantzet zusammen mit selbstgemachtem, delikat säuerlichem Apfelmus.
Vin Cuit – für Schleckmäuler und Feinschmecker Interview mit Isabelle RaboudSchüle, Kuratorin im Greyerzer Museum in Bulle
La Bénichon – ein Tisch voller Tradition Feiern Sie als Walliserin die Fête de la Bénichon? Das würde ich mir nicht entgehen lassen! Nächstes Jahr im September organisieren wir im Museum am zweiten Sonntag im September mehrere Anlässe zum Thema Bénichon – ein lustvoller Markt mit Spezialitäten und Degustationen.
Fotos: Pierre Duperrex (1), Béatrice Devènes, (1) Véronique Hoegger
Was ist das Besondere an der Bénichon? Die Ernte wird gefeiert! Dabei kommt alles Gute, was die Erde hergibt und was die Menschen daraus machen, auf den Tisch. Zum Beispiel? Die Cuchaule, eine Art Zopf mit Safran, der mit Moutarde de Bénichon bestrichen wird. Dann gibts geräucherten Schinken, Jambon de la Borne, Lammgigot sowie Poires à Botzi – in karamellisiertem Zucker gekochte Birnen. Als Spitzenprodukte des Kantons gehören heute auch Gruyère und Vacherin zur Bénichon. Zum Dessert kommen Meringues, Bricelets, Anisbrötli und Crème double auf den Tisch. Eine eher schwere Angelegenheit? Das Essen spiegelt die Tradition der Region. Die Bauern aus dem Greyerzerland leben seit dem 16. Jh. hauptsächlich vom Käse, den sie seit jeher exportieren. Mit dem verdienten Geld importieren sie die wichtigen Lebensmittel. Das prägt nicht nur die Landschaft, sondern auch die Küche.
Wer Hochprozentiges erwartet, wird enttäuscht. Der «gekochte Wein» enthält keinen Alkohol. Für den dickflüssigen, bersteinfarbenen Sirup wird Most verwendet – meistens aus Äpfeln und Birnen. Im Greyerzerland verarbeitet man reinen Birnensaft. Er wird so lange eingekocht, bis sein Volumen zehnmal kleiner ist. Das Gebräu schmeckt süss und erinnert in seiner Konsistenz an Melasse. In harten Zeiten galt Vin cuit als Zucker der armen Leute, heute macht er Traditionalisten und Gourmets glücklich. Sie ziehen ihn etwa unter die Crème double oder backen damit den famosen Gâteau au Vin cuit. Ausserdem wäre der berühmte Moutarde de Bénichon ohne Vin cuit undenkbar.
Le Sapelet –
Gutes vom Schaf Le Sapelet heisst der kleine Molkerei-Betrieb der Familie Henchoz aus Rossinière, dessen Spezialität die Herstellung verschiedener Produkte aus roher Schafsmilch ist. Nebst Joghurt, Quark und Frischkäse ist vor allem der Weichkäse «Le Sapelet» empfehlenswert: Er passt, mit einer Prise Kümel bestreut, hervorragend zu den traditionellen Bricelets.
Vacherin Fribourgeois au Lait Cru Unvergleichlich im Geschmack und deshalb schützenswert
Vacherin aus Rohmilch erkennt man beim ersten Bissen: Er entfaltet ein unvergleichliches Aromenbouquet – Kenner vermögen gar zu orten, woher die Delikatesse kommt. Je höher nämlich die Kühe weiden durften, von denen die Milch stammt, desto komplexer und intensiver sind die Geschmacksnuancen. Auch die Produktionsart lässt sich beim Rohmilch-Vacherin herausschmecken: Auf vielen Alpen wird er heute noch über dem Holzfeuer gerührt. Der Slow Food-Förderkreis dient dazu, die Herstellung des Käses weiterhin zu gewährleisten und den Verkauf zu fördern. «Vacherin Fribourgeois au Lait Cru AOC» reift mindestens drei Monate, bevor er in den Handel gelangt. 65
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greyerzerland Wandern
im Greyerzerland und im Pays d’Enhaut bekommt Beinen und Bauch.
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zWeI KÄSereIen Und eIne aBgeHaCKTe Hand
Route: Gruyères-Pringy – La Provêta – MolésonVillage (2 H) oder Gruyères-Pringy – Les Reybes – Moléson-Village (2 h) Einkehr: Fromagerie d’Alpage, 1663 Moléson-surGruyères, Tel. 026 921 85 00 Anfahrt: Anfahrt: Zug bis Gruyères-Pringy (www.sbb.ch) Informationen: www.la-gruyere.ch
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iese Wanderung verbindet die moderne Schau-Käserei «Maison de la Gruyère» von Pringy (in der die Herstellung und Lagerung erklärt und gezeigt werden) mit der traditionellen Alpkäserei von Moléson. Dazwischen liegen zwei gute Wanderstunden, ein grüner, sanft ansteigender Hang und eine Handvoll traditioneller Hütten für Mensch und Tier. Bevor man in die
hügelige Landschaft der Freiburger Voralpen sticht, lohnt sich der kleine Abstecher (ca. 15 Minuten Fussmarsch) hinauf zum pittoresken Dorf Gruyère. Entlang der Hauptstrasse reihen sich die Restaurants dicht aneinander. Ein schwerer Käseduft liegt in der Luft – das Gros der Besucher geniesst auch im Hochsommer das berühmte Fondue, das zwar in Zürich erfunden worden sein soll, aber hier wie nirgendwo sonst zelebriert wird. Ein Besuch des spektakulär gelegenen Schlosses empfiehlt sich ebenfalls: Hier gibts eine abgehackte Hand zu besichtigen, um die sich zahlreiche Legenden ranken. Jetzt, wo die Fantasie so richtig angeregt worden ist, finden die Füsse den Weg quasi von allein. Um nach Moléson zu gelangen, kann man zwischen zwei Routen wählen. Die eine führt über la Provêta, die andere über les Reybes. Beide sind gleich lang und gleich gemütlich (die zweite ist ein bisschen steiler). Wer sich nicht entscheiden mag, marschiert auf der einen hinauf und auf der anderen hinunter. Entlang des Weges können verschiedene Alphütten besichtigt werden; beschriftete Tafeln geben Auskunft über das einstige Leben der Älpler. In Echtzeit taucht man in dieses Leben am Ziel ein, in der Alpkäserei von Moléson. Hier zaubern Käser Gruyère und Vacherin nach traditioneller Manier im Kessel über dem Holzfeuer. Wer ein Hüngerchen hat, lässt sich nieder und geniesst Käse, Rauchschinken und Meringues mit der obligaten, weil göttlichen Crème double. Hinunter geht es sich wieder fast von allein.
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VOM VIllage deS BallOnS zUr CaVe de l’eTIVaz Route: Château-d’Œx – Ramaclé – Gérignoz – Les Paccots – La Case – Plan de la Douve – L’Etivaz. (4:30 h) Einkehr: Hotel du Chamois, 1660 L’Etivaz Tel. 026 924 62 66 Anfahrt: Mit dem Zug bis nach Château-d’Œx. Informationen: www.pays-denhaut.ch
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das Pays d’Enhaut wartet nicht nur mit rezenterem Käse auf als das Greyerzerland, sondern auch mit steileren Hängen. Eine schöne Wanderung durch diese raue Landschaft fängt in Château-d’Œx an, gleich neben der «Espace Ballons». Von hier aus startete 1997 und 1998 Bertrand Piccard zu seinem Weltumflug. Beim erstenVersuch musste er nach sechs Stunden im Mittelmeer, beim zweiten nach fast
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greyerzerland zehn Tagen in Burma notlanden. Sein Ziel hat er beide Male nicht erreicht. Von Piccards Niederlage bleiben wir Wanderer gottlob verschont. Der Fussmarsch nach L’Etivaz über das Dörfchen Les Paccots ist zwar eher anspruchsvoll und dauert fast 5 Stunden. Dennoch hat bis heute jeder das kleine Dorf erreicht, dessen Käse (siehe S. 70) fast schon einem Gaumenwunder gleichkommt. Kurz nach Château-d’Œx führt der Weg über die Turian-Hängebrücke ins Schwemmland von Ramaclé. 1160 Meter gilt es bis zum Höhepunkt, dem Plan de la Douve, zu überwinden. Das Schwitzen und Keuchen lohnt sich ines allein schon wegen der einmaligen Aussicht auf die Waadtländer Alpen und den markanten Rochers-de-Naye. Wer den kleinen Umweg von 10 Minuten Richtung Col de la Douve in Kauf nimmt, kann auf dem schönen Picknickplatz ein bisschen rasten und sich für den Abstieg stärken mit allem, was der Rucksack eben gerade hergibt. Fast 1 000 Höhenmeter tiefer liegt L’Etivaz. Der Weg dorthin ist zum Glück nicht als gerade Linie, sondern als bequemer Zickzackweg angelegt. Bevor man die müden Beine streckt, empfiehlt sich ein kurzer Rundgang durch die Maison de L’Etivaz (www. etivaz.ch). Hier kann man den hiesigen Käse in verschiedenen Variationen und Reifegraden degustieren.
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und Gourmetfreuden – von Slow Food Schweiz empfohlen.
ESSEN Restaurants 1 Hôtel Restaurant de
la Poste La petite Ray 1660 Château-d’Œx Tel. 026 924 62 84 www.rosaly.ch Einfaches, sympathisches Restaurant mit aufmerksamem Service und örtlichen Spezialitäten wie Steinsuppe oder Saucisses à l’Etivaz, modern inszeniert.
2 Café de L’Ecu
Rue St-Denis 5 1630 Bulle Tel. 026 912 93 18 Montag und Dienstag Ruhetag Traditionelles Lokal mit etwas gewöhnungsbedürftigem Interieur. Auf dem Teller macht sich das Greyerzerland breit.
3 Brasserie de l’Ours Place Centrale 1660 Château-d’Œx Tel. 026 924 28 28 www.brasseriedelours.ch (Keine Ruhetage) Urchiges Lokal mit MiniBierbrauerei und vielen Käsegerichten. 4 Restaurant La
Cabriolle Rue de Gruyères 5 1630 Bulle Tel. 026 912 22 37 Montag Ruhetag La Cabriole ist eine junge Ziege und der Name Programm: Im traditionellen Lokal von Manon und Daniel Minning, dessen Dekor von Bauernkitsch nur so trieft, gibts ein 68
Ziegenkäse-Fondue zu probieren. Es schmeckt ein bisschen saurer als das herkömmliche, dafür liegt es weniger schwer im Magen.
5 Café de la Gare Avenue de la Gare 4 1630 Bulle Tel. 026 912 76 88 Mittwoch Ruhetag Die Familie Decroux wirtet seit bald 150 Jahren an dieser Adresse – das sagt mehr als tausend Worte. Spezialität des Hauses: Das echte Freiburger Fondue aus Vacherin, das mit Kartoffeln gegessen wird. 6 Restaurant de la Couronne 1669 Lessoc Tel. 026 928 23 98 Dienstag und Mittwoch Ruhetag Wer einmal im Leben an einem Bénichon-Essen teilnehmen möchte und keine Verwandte im Freiburgerland hat, besucht am besten Marielaure und Philippe Milleret. 7 Restaurant Le Chalet 1663 Gruyères Tel. 026 921 34 34 www.chalet-gruyeres.ch Durchgehend offen Wenn die Einheimischen auswärts Fondue essen wollen, bevorzugen sie das Chalet mit seinem typischen Interieur. Hier wird ein wahrlich königliches Fondue serviert. Das wissen auch die Wirtsleute und haben ihre Spezialität deshalb «Fondue Château de Gruyères» getauft.
8 Auberge de la
Croix Blanche 1583 Villarepos Tel. 026 675 30 75 Dienstag und Mittwoch Ruhetag Arno Abächerli ist ein Tiefstapler. Obwohl er zu den grossen Nachwuchstalenten gehört, mag er es unprätentiös. Er verarbeitet fast ausschliesslich regionale Produkte. Seine Menüvorschläge klingen schlicht, sind aber oho!
9 Der Fondue-Zug Transports Publics Fribourgeois Case Postale 1536 1701 Fribourg Tel. 026 351 02 00 www.tpf.ch Was gibt es Schöneres und Echteres, als durch die liebliche Landschaft des Greyerzerlandes zu tuckern und dabei im Fondue-Caquelon zu rühren? Der nostalgische Fondue-Zug, der von Bulle nach Montbovon fährt, bietet das Erlebnis auf Bestellung.
EINKAUFEN 1 Boucherie Michel Combrement Le Devant 1660 L’Etivaz Tel. 026 924 62 72 Chantzet und andere Wurstspezialitäten. 2 Boucherie-Laiterie Patrick Buchs Grand Rue 1660 Château-d’Œx Tel. 026 924 78 81 Chantzet und Patés.
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Murten
3 La Fromagerie
Marc-Henri Horner 1633 Marsens Tel. 026 915 28 42 Vacherin Mont d’Or aus Rohmilch, Gruyère und Crème double.
Villarepos
4 Fromagerie 6
Belfaux Montagny-la-Ville
Essen
7 Fribourg
Einkaufen
Startpunkt Wanderungen
Le Bry
Lac de la Gruyère
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Marsens
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7 Laiterie fromagerie de
Charmey
Belfaux Michel Eggertswyler Route du Centre 30 1782 Belfaux Tel. 026 475 26 01 Vacherin Mont d’or aus Rohmilch.
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Le Pâquier
Gruyère
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5 Maison de l’Etivaz Frederic Deschenaux 1660 L’Etivaz Tel. 026 924 70 60 www.etivaz-aoc.ch Geschäft der Produzenten aus der Region: Käse, Würste, Patés und vieles mehr. Alles in bester Qualität. 6 Laiterie Philippe Caille 1776 Montagnyla-Ville Tel. 026 660 18 84 Vacherin Mont d’or aus Rohmilch.
Botterens
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André Remy En Coppet 12 1638 Charmey Tel. 026 927 15 23 Ebenfalls Vacherin Mont d’Or aus Rohmilch.
Moléson-Village
8 Boulangerie
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Lessoc Château d´Oex
Montbovon
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Rougemont
Angelo Rime Route de Botterens 147 Tel. 026 921 15 64 1652 Botterens Die besten Meringues.
9 Chocolaterie Hot-Xcocolatl Bäsegässli 1 3214 Ulmiz Tel. 077 409 08 14 www.hot-xocolatl.com Tafelschokolade, Truffes und Mohrenköpfe mit Rosenblüten.
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5 L´Etivaz
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10 Monastère
le Carmel Route du Carmel 67 1661 Le Pâquier/ Montbarry Tel. 026 912 72 74 www.carmel-lepaquier. com Gebäck vom Feinsten.
11 Distillerie & Cidrerie Paul Morard La Gîte 1645 Le Bry Tel. 026 411 17 29 Hier gibts den berühmten Vin cuit zu kaufen. 12 Les Délices
du Terroir Sandra Saugy Le Village 1659 Rougemont Tel. 026 925 04 09 Spezialitäten aus der Gegend.
13 Le Goût de Vrai Sébastien Meloni Grand-Rue 44 1630 Bulle Tel. 026 912 18 29 Kleines Geschäft mit integrierter Snackbar, wo man die Spezialitäten der Region degustieren und kaufen kann.
Märkte und Feste Jeweils im September: Gastromesse für einheimische Produkte. Infos: www.la-gruyere.ch Ebenfalls im September: La Bénichon – wird in den Dörfern an unterschiedlichen Tagen gefeiert. Infos: www.la-gruyere.ch
slow food genussregion
greyerzerland Schweizer Käse
Was für ein Käse! Von Mönchen erfunden, von Gourmets hoch geschätzt: der L’Etivaz.
W
ahrscheinlich wurde auf den Alpen des waadtländischen Pays d’Enhaut bereits vor Jahrhunderten der erste Schweizer Labkäse hergestellt. Und noch heute ist der hier oben produzierte Alpkäse, genannt L’Etivaz, der wohl urtümlichste Schweizer Terroir-Käse. Gewürdigt wird der rauchig-fruchtige Alpkäse mit feiner Haselnussnote indes vor allem von den Franzosen. Seit Jahrzehnten gehört der finessenreiche L’Etivaz zu den begehrtesten und teuersten Käse der von Gourmets bevorzugten Pariser Laiteries. Angefangen hat alles im Waadtländer Kloster Rougemont. Von dort aus begannen die Mönche im 12. Jahrhundert die Alpweiden zu bewirtschaften. Das Wissen über die Labkäserei verbreitete sich über das Berner Oberland in weite Teile der Schweizer Alpen bis hinunter ins Emmental. Die «Rötschmunder»-Käser, wie sie in der Deutschschweiz genannt wurden, machten als Erste den Emmentaler zu einem Exportprodukt, und sie waren die Väter der Hart- und Extrahartkäserei. Wurden früher in der Schweiz vor allem weiche oder halbharte Käse aus Ziegen-, Schafs- und Kuhmilch hergestellt, wussten die Käser aus dem Pays d’Enhaut bereits im ausgehenden Mittelalter, wie dem Käsebruch durch Erhitzen Wasser entzogen werden kann. Auch die Pflege der Laibe mit Salz und Schmiere war ihnen bekannt, wodurch ihr Käse härter, lagerbarer und vor allem schmackhafter wurde. Das Wissen ist hier oben in den Waadtländer Alpen erhalten geblieben, und die Käser aus Rougemont, Rossi-
nière oder Château d’Œx gehören auch heute noch – trotz oder wegen des Traditionsbewusstseins – zu den innovativsten Käsekreateuren der Schweiz. Jeden Sommer käsen rund 70 Familien auf den Alpen des Pays d’Enhaut, wie eh und je auf dem Holzfeuer und nur mit Milch der eigenen Kühe. Gepflegt und gelagert werden die Laibe im genossenschaftseigenen Käsekeller des Weilers L’Etivaz.
mit alpgruyère verwandt Hier hatten sich die Käser dieser Gegend auch von der Schweizerischen Käseunion losgesagt. Ebenso emanzipierten sie sich schon vor geraumer Zeit vom Alp-Greyezer, den sie früher hergestellt hatten, und der mit dem L’Etivaz am engsten verwandt ist. Dennoch wurde der Käse der Waadtländer Alpen während Jahrhunderten als Gruyère exportiert. Doch dies war vor allem politisch bedingt. Allerdings ist der Gruyère vermutlich auch in den Waadtländer Alpen beheimatet und nicht, wie allgemein angenommen wird, im Greyerzerland. Das älteste Dokument, in dem der legendäre Schweizer Hartkäse erwähnt wird, stammt notabene aus dem Kloster Rougemont. Fast die Hälfte der L’Etivaz-Jahresproduktion von rund 450 Tonnen wird seit Jahrzehnten nach Frankreich exportiert. Lange Zeit blieb deshalb kaum viel für die Deutschschweiz übrig. Das mag wohl mit ein Grund sein, weshalb der Waadtländer Alpkäse diesseits des Röstigrabens immer noch der grosse Unbekannte ist. Dominik Flammer ist freier Wirtschaftsund Foodjournalist. 70
Von Urkäsen, traditionellen Käsesorten und den neuen Käsekreationen, AT-Verlag. Dominik Flammer (Text), Fabian Scheffold (Fotografie), 350 Seiten, Fr. 98.–, ISBN 3-03800-474-5 Unter dem Patronat von Slow Food Schweiz stellt Autor Dominik Flammer die jahrhundertealte Tradition hiesiger Käsespezalitäten vor. Das umfassende Standardwerk würdigt die besten Käser und ihre herausragenden Produkte. Ursorten wie Bloderkäse, Kümmel- und Kräuterziger oder Mascarplin finden im reichen Bildband ebenso Platz wie weltberühmte Exportschlager und neue Kreationen innovativer Käsekünstler. Ein Verzeichnis aller Schweizer Delikatessen und Fachbegriffe machen das Werk zu einem Muss für Käseliebhaber. Fünf Bücher werden als Wettbewerbspreis verlost (S. 73).
vorzugspreis für slow fooD-mitglieder und abonennten von slow.ch Sie bezahlen nur Fr. 78.– statt Fr. 98.–. Das Buch wird portofrei direkt vom Verlag zugeschickt. Benutzen Sie die Gelegenheit, Mitglied zu werden oder slow.ch zu abonnieren (S. 90). Ihre Bestellung mit der Mitgliedernummer oder mit Name des Abonennten und genauer Lieferadresse schicken Sie bitte per Postkarte, Fax oder E-Mail an: Slow Food Schweiz, Kornhausplatz 11, 3001 Bern, Tel. / Fax 031 311 82 21, E-Mail: info@slowfood.ch
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slow food genussregion
greyerzerland Gewinnen Sie
mit dem richtigen Lösungswort und ein wenig Glück ein Wochenende für 2 Personen in La Gruyère FR oder das Buch «Schweizer Käse».
1 Von welchem Kloster aus begann der Siegeszug des L’Etivaz?
7 Wie lange muss der Vacherin Fribourgeois au Lait Cru AOC mindestens reifen?
Fribourg (M) Rougemont (C) Le Pâquier-Montbarry (A)
6 Monate (S) 2 Monate (T) 3 Monate (O)
2 Welche Zutat ist ein Muss im Moutarde de Bénichon?
8 Seit wann gibts keine echten Fribourger Kühe mehr?
Crème double (U) Bricelets (I) Vin cuit (R)
Seit den siebziger Jahren (U) Seit den fünfziger Jahren (M) Seit den zwanziger Jahren (V)
3 Was gibt es Grausiges im Schloss von Gruyère zu sehen?
9 Mit welchem Käse ist der L’Etivaz eng verwandt?
Eine abgehackte Hand (E) Ein echter Schrumpfkopf (T) Eine uralte Mumie (Q)
Alp-Greyerzer (B) Tête de Moine (L) Epoisses (F)
4 Wie verdienten die Karmeliterinnen aus Le Pâquier-Montbarry früher ihr Brot?
10 Welches Unkraut adelt die Soupe de Chalet?
Weinbau (W) Kräutermedizin (S) Stickerei (M) 5 Woher stammt der Urgruyère? Aus Gruyère (C) Aus den Waadtländer Alpen (E) Aus St. Ursanne (L) 6 Was ist der Hauptbestandteil der Chantzet-Wurst? Blut (D) Fett (T) Brot (W)
Das Gibts zu Gewinnen 1. Preis 1 Wochenende in La Gruyère für 2 Personen im Wert von Fr. 400.–, inklusive 2 Übernachtungen, einen Fondueabend und Pass für kostenlosen Eintritt in Schaukäsereien, Schloss Greyerz, Greyerzer Museum, H. R. Giger Museum, Musée de Chamey sowie Rabatte für Bergbahnen und diverse Sportmöglichkeiten. Gesponsert von: La Gruyère Tourisme, Place des Alpes 26, 1630 Bulle, Tel 0848 424 424, www.la-gruyere.ch
Löwenzahn (Z) Schafgarbe (O) Brennnessel (L) 11 Wen ehrt die Bénichon? Die Hausfrauen (G) Das Vieh (W) Die Ernte (E)
2.–6. Preis
So funktionierts
Lösungswort und Absender auf eine Postkarte schreiben. Einsenden an: Slow Food Schweiz Kornhausplatz 11, 3001 Bern Oder: info@slowfood.ch. Einsendeschluss: 28. Februar 2010
Das Lösungswort Die Gewinnerin oder der Gewinner wird ausgelost und schriftlich benachrichtigt. Über die Verlosung wird keine Korrespondenz geführt. Keine Barauszahlung. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.
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Je ein Buch «Schweizer Käse – Von Urkäsen, traditionellen Käsesorten und den neuen Käsekreationen», AT-Verlag, im Wert von Fr. 98.– (siehe S. 70).
Wettbewerb slow.ch 2/2009
Das Lösungswort des Specials «Appenzellerland» lautet «meeschtelos». Wir gratulieren der glücklichen Gewinnerin Eveline Nussbaumer, Villmergen. Leider hat sich der Fehlerteufel eingeschlichen, wie fast alle Teilnehmenden bemerkt haben. Wir entschuldigen uns hiermit: Auf 10 000 und nicht auf 1 000 Einwohner von AI kommen 4 Metzger.
Philosophie
Slow Food Förderkreise Altes Wissen erhalten und regionale Wertschöpfung fördern.
D
as Hauptziel der weltweiten Slow Food-Bewegung ist es, die Vielfalt von Nutzpflanzen und Tierrassen sowie von Grundprodukten und Lebensmitteln zu erhalten. Diese Vielfalt von Geschmack und Genuss beim Essen ist ein wichtiger Teil unserer Lebensqualität, nämlich unseres Wohlbefindens und letztlich unserer Gesundheit. Will man diese Vielfalt erhalten, müssen die natürlichen Ressourcen respektiert und das Wissen erhalten werden, das die Menschen durch jahrzehnte-, manchmal jahrhundertelange sorgfältige Nutzung dieser Ressourcen entwickelt haben. Slow Food hat deshalb bereits in den neunziger Jahren zwei grosse Initiativen lanciert: Die Arche des Geschmacks und die Förderkreise, um angesichts der globalisierten Nahrungsmittel-Industrialisierung die Zukunft der lokalen, hochwertigen Agrar- und Lebensmittelproduktion zu sichern. Herausragende gastronomische Produkte, die durch die industrielle Standardisierung, durch die Bedingungen der Grossdistribution mit ihren Hygienevorschriften und durch die Umweltverschmutzung bedroht sind, werden in die symbolische Arche des Geschmacks aufgenommen. Um die Zukunft dieser Produkte zu sichern, werden in einem zweiten Schritt die wirtschaftlichen Massnahmen geplant und umgesetzt, indem ein Förderkreis gegründet wird. 74
Die konkreten Ziele eines Förderkreises sind vielfältig
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übrig gebliebene Produzenten zusammenbringen und ihnen durch Kommunikationsmassnahmen Aufmerksamkeit verschaffen Wissen über alte handwerkliche Produktionsmethoden und damit lokale Arbeitsplätze mit fairer Entlöhnung bewahren und Abwanderung verhindern mit dem traditionellen Wissen ein neues absatzfähiges Produkt entwickeln ein lokales Ökosystem erhalten oder wieder wirtschaftliche Perspektiven schaffen Qualitätsprodukte durch eine Verbreiterung des Absatzmarktes erhalten, indem sie einem grösseren Publikum bekannt gemacht werden und so die Wichtigkeit der Geschmacksvielfalt und unseres kulinarischen Erbes wieder bewusst wird Allen Zielen gemeinsam ist, dass eine lokale und wirtschaftlich nachhaltige Wertschöpfung gesichert oder wieder geschaffen wird. Hier ist die Zusammenarbeit zwischen Slow Food und Coop zentral und eröffnet den Produzenten mit dem überregionalen Verkauf ihrer Produkte in Coop-Läden die notwendigen wirtschaftlichen Perspektiven.
Schweizer Förderkreise Zincarlin, ein Käse aus dem Val
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di Muggio im Tessin, 2006 Cicitt, eine Bratwurst aus Ziegenfleisch aus dem Locarnese im Tessin, 2006
hergestellt und über 12 Monate feucht gelagert, Erhalt des Wissens und der Strukturen im Ursprungsgebiet Vacherin fribourgeois aus Rohmilch, Erhalt des Wissens und der Strukturen im Ursprungsgebiet Öl aus gerösteten Baumnüssen, Pflege von Baumnussbeständen und Erhalt des spezialisierten Know-how der Ölmühlen Furmagin da cion, eine Art Paté (Fleischpastete) zur Verwertung von Fleischresten, Erhalt der Rezeptur dieser Puschlaver Spezialität Chantzet, eine schwarze, z. T. geräucherte Winter-Rohwurst (Blutwurst mit Kabis und Schweinefleisch), Pays-d’Enhaut (Waadtland) Toggenburger Ziege, Produkte (Fleisch, Käse) der einheimischen Ziegenrasse, Erhalt des gefährdeten Bestandes, in Zusammenarbeit mit Culinarium Wimmiser Chriesimus, aromatischer Kirschendicksaft, Erhalt der Rezepturen und Pflege der Schweizer Kirschensorte «Die Schöne von Einigen», Region Thunersee Churer Beinwurst, grobe, geräucherte, deftige Siedwurst mit Knorpel- und Schwartenstücken, Region Chur, GR Mascarplin stagionato, mindestens 3 Wochen gereifter Ziegenkäse, hergestellt durch Hitze-Säurefällung, Bergell GR Alp-Sbrinz, extraharter Alpkäse aus Rohmilch auf den Sömmerungsbetrieben während der Sommermonate hergestellt. 3 Jahre gereift, Unterwalden
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Foto: Véronique Hoegger
Aufbau mit Unterstützung aus dem Coop-Fonds für Nachhaltigkeit:
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Pastefrolle della Valle Bedretto, Mürbeteiggebäck aus dem Tessin, 2007 Paun sejel Val Müstair/Paarl, Roggenbrot aus dem Engadiner Münstertal, 2007 Ur-Roggenbrot aus dem Wallis, 2007 Farina bóna, Mehl aus gerösteten Maiskörnern, Tessin, 2008 Zwetschgenlandschaften im Tafeljura, Produkte aus Hochstammzwetschgen, Baselbieter und Fricktaler Jura, 2008. Schweizer Brenzer-Kirsch aus einheimischen dunklen Hochstammkirschen, Regionen Innerschweiz und Baselbiet, 2008 einheimische Dunkle Biene Schweiz, in Zusammenarbeit mit ProSpecieRara, Bienenhonig, schweizweit, 2008 Dörrbohnen aus reinen Schweizer Biobohnen, schweizerisches Mittelland, 2008 Neue Schweizer Förderkreise 2009
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Rohmilchbutter, Butter aus nicht-thermisiertem Rahm, Erhalt des spezialisierten Know-how der Herstellung, schweizweit traditioneller Emmentaler mit Fettsirte 75
Zusammenarbeit zwischen Slow Food und Coop 2006 wurde eine Zusammenarbeit zwischen Slow Food Schweiz und Coop vereinbart, um den Aufbau von schweizerischen Förderkreisen und die Vermarktung von schweizerischen und internationalen Förderkreis-Produkten zu ermöglichen. Coop unterstützt Slow Food mit Mitteln aus dem Fonds für Nachhaltigkeit. Die Partnerschaft mit Slow Food ermöglicht Coop, sein Engagement für biologische und traditionelle Vielfalt im Lebensmittelangebot zu verstärken, und bietet den FörderkreisProdukten den notwendigen Absatzmarkt, damit sie zu fairen Bedingungen produziert werden können und erhalten bleiben. Die Förderkreis-Produkte sind in ausgewählten Coop-Läden und in Abhängigkeit von ihrer Verfügbarkeit erhältlich (Liste der Verkaufsstellen siehe www.coop.ch/slowfood).
Förderkreis
Toggenburger Geiss Sie ist robust, wirtschaftlich und dennoch bedroht. Der Slow FoodFörderkreis Toggenburger Ziege will ihr Aussterben verhindern.
qualitativ hochwertige produkte Slow Food unterstützt das Projekt der Ziegenfreunde rund um Baumgartner. Zu diesem Zweck wurde der Förderkreis «Toggenburger Ziege» ins Leben gerufen. Er will die Vermarktung der handwerklich hochwertigen Produkte fördern, die aus Milch oder Fleisch der rüstigen Toggenburger Geissen hergestellt werden. Darüber hinaus soll dank dem Förderkreis der Genpool erhalten
sowie alle Produzenten im Ursprungsgebiet erfasst werden. «Dadurch bietet sich die Möglichkeit, dass alte und bewährte Rezepte, die in bestimmten Regionen fast verschwunden sind, weiterhin ge- nossen oder gar wiederbelebt werden», sagt Baumgartner. Die Toggenburger Ziege stammt, wie der Name besagt, aus dem Toggenburg und dem angrenzenden Werdenberg. Ende des 19. Jahrhunderts wurden die ersten Zuchtböcke anerkannt und prämiert. Seit 1906 gilt die Toggenburger Ziege als eigenständige
Die Ziegenbestände sind erschreckend dezimiert worden in der Schweiz Rasse. Ihr freundliches, genügsames und gleichzeitig ausserordentlich wirtschaftliches Wesen machte sie schon bald zum Exportschlager. Heute ist sie in ganz Zentraleuropa und Nordamerika anzutreffen. Bloss: In heimischen Gefilden ist das Zottelvieh mittlerweile vom Aussterben bedroht. Die Industrialisierung und das Verbot, die Geissen auf Waldweiden frei äsen zu lassen, haben die Ziegenbestände in der Schweiz arg dezimiert. Wurden 1945 sage und schreibe 19 984 Toggenburger Geissen im Herdenbuch gelistet, waren es 2006 noch klägliche 3 104. Eine Jeremiade. Schliesslich werden Fleisch und Milch von Ziegen seit Menschengedenken konsumiert, und zwar in allen Kulturen, in denen die Nutztiere gehalten werden. Aus gutem Grund: Ernährungswissenschaftlich gelten Geissenprodukte als sehr wertvoll. Eine Untersuchung in den Achtzigerjahren zeigte etwa, dass 40% aller 76
Kinder, die unter einer Kuhmilchallergie leiden, Ziegenmilch und -käse problemlos vertragen. Sie ist leicht verdaulich und der Vitamin D-Gehalt dreimal höher als bei Kuhmilch, da Ziegen sich fast ausschliesslich im Freien aufhalten. Darüber hinaus zeichnet ein tendenziell höherer Calcium-, Kalium- und Harnstoffgehalt die Geissenmilch aus. Das Fleisch wiederum ist reich an Eiweiss, Vitaminen, Mineralien und Spurenelementen, jedoch sehr arm an Fett und Cholesterin. Daher ist es leicht bekömmlich und eignet sich auch für Menschen, die aus gesundheitlichen und diätetischen Gründen keine schwere Kost zu sich nehmen sollten. Unter Gourmets gilt vor allem das zarte Gitzifleisch als Delikatesse – sei es als Pfeffer im Herbst oder als Voressen an Ostern. Sven Baumgartner Verein Ziegenfreunde Landwirtschaftliches Zentrum SG Rheinhofstrasse 11 9465 Salez Tel. 081 758 13 59 Sven.baumgartner@lzsg.ch Auch in ausgewählten Coop-Filialen sind Milch- und Fleischwaren der Toggenburger Ziege als FörderkreisProdukte erhältlich. www.coop.ch/slowfood
Kontakt
Slow Food Förderkreis-Referent: Raphael Pfarrer, Convivium Bern Champ du Brez 17, 1797 Münchenwiler raphael.pfarrer@slowfood.ch
Bilder: Sven Baumgartner
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äbe es einen Wettbewerb, der die Geiss mit den kräftigsten Beinen und Fesseln kürt, stünde zweifellos die Toggenburger Ziege auf dem Siegerpodest. Sie ist ein regelrechtes Urvieh, was Robustheit und Anpassungsfähigkeit anbelangt. Ihr dichtes Zottelfell erinnert an eine Hippiemähne; die hellbraune bis mausgraue Wolle schützt die Toggenburgerin im rauen Bergklima des Alpsteins vor Regen und Kälteeinbrüchen. Zudem hat die jahrelange Selektion auf die Marschtüchtigkeit den Vierbeiner zum fleissigen Milchlieferanten gemacht; eine Toggenburger Ziege produziert rund 750 kg Milch in 275 Tagen. Das entspricht umgerechnet etwa der Leistung einer Kuh. Bislang konnte das Erbgut der Toggenburger Ziege sowie ein Grossteil der traditionellen, natürlichen Haltung bewahrt werden. Doch um die Geiss als heimische Rasse in der Region Toggenburg und Werdenberg weiterhin zu erhalten, muss der Verkauf von Fleisch- und Milchprodukten gewährleistet sein. Zu diesem Zweck wurde vor ein paar Jahren der «Verein Ziegenfreunde» gegründet. «Wir wollen ein Bindeglied sein zwischen Produzenten, Verarbeitern und Konsumenten», sagt Mitinitiator Sven Baumgartner.
Die Toggenburger Geiss ist ein gen端gsames Vieh, eine t端chtige Milchlieferantin und erst noch dem rauen Bergklima gewachsen.
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Förderkreis
Traditioneller Emmentaler Der berühmte Hartkäse wird heute weltweit fabriziert. Der Slow FoodFörderkreis hilft, die Emmentaler-Produktion wieder lokal zu verankern.
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uf die Frage, in welchem Land am meisten Emmentaler Käse produziert wird, antwortet hierzulande natürlich jeder stolz: in der Schweiz. Irrtum. Frankreich stellt rund acht Mal so viel Emmentaler her wie die Eidgenossenschaft, nämlich 250 000 Tonnen pro Jahr. Auch Deutschland und Finnland, ja, sogar die USA konkurrenzieren mit Tausenden Tonnen eigenfabriziertem Emmentaler jährlich das Urschweizer Original. Die Zahlen illustrieren eine Erfolgsgeschichte, die der Bevölkerung im Emmental BE sauer aufstossen muss. Zumal der weltbekannte Käse selbst in der Schweiz nicht nur im Tal der Emme hergestellt wird. Das Produktionsgebiet umfasst neun weitere Kantone im Mittelland sowie in der Inner- und Ostschweiz. Erst seit 2006 muss die Herkunft deklariert werden, und nur der Emmentaler aus dem Emmental wird mit dem AOC-Siegel ausgezeichnet.
ursprüngliche produktion Indes: Selbst bei den AOC-Emmentalern wird der Grossteil heute industriell fabriziert. Deshalb hat Slow Food den Förderkreis «Traditioneller Emmentaler» gegründet. Dieser hat zum Ziel, die Käsespezialität vor Ort wieder zu verankern, will heissen, die Produktion des ursprünglichen Emmentalers im Emmental zu unterstützen und damit auch die typischen kleinen Betriebsstrukturen in der hügeligen Landschaft zu erhalten. Letztere sollen dank des Förderkreises vom Druck der Milchund Käsewirtschaft entlastet werden, damit sie ihre Qualitätsmilch in die lokale Wertschöpfungskette einfliessen lassen können. Zurzeit gehören eine Käserei, zwölf Milchlieferanten sowie ein Affineur dem Förderkreis an.
Der traditionelle Emmentaler ist ein vollfetter Hartkäse aus Kuhrohmilch. Das Grundprodukt, sprich die Milch, stammt von Kühen, die ein fideles Leben führen. Sie halten sich regelmässig im Freien auf und verköstigen sich hauptsächlich an Naturwiesen. Benötigen sie zusätzlich Trockenfutter, bekommen sie garantiert kein gentechnisch verändertes vorgesetzt. Die Milch gerät auf kürzestem Weg, maximal zehn Kilometer Luftlinie, zum Käser und wird noch am gleichen Tag verarbeitet. Bevor der traditionelle Emmentaler in den Verkauf gelangt, muss er mindestens zwölf Monate im Reifekeller gelagert worden sein. Er schmeckt dadurch rezenter, ohne jedoch sein süsslich-nussiges Aroma einzubüssen.
Die typischen kleinen Betriebsstrukturen im Emmental erhalten Schon der erste Bissen des charakterstarken Stücks lässt erahnen, warum der Emmentaler früher so begehrt gewesen ist. Einer Quelle aus dem 16. Jahrhundert zufolge wurde er gar als Hochzeitsgeschenk dargebracht. Ein paar Dekaden später begannen Berner Patrizier Alprechte aufzukaufen und für die Bewirtschaftung der Ländereien Küher zu engagieren, die ihr Budget mit Käsen aufstocken konnten. Ihnen ist es letztlich zu verdanken, dass die Emmentaler-Produktion im 17. und 18. Jahrhundert eine Blütezeit erlebte. In den Handelszentren des Berner Mittellandes wurden gigantische Lagerkeller eingerichtet und die ersten Käse auf Weltreise geschickt. Anfang des 19. Jahrhunderts erhielt der Emmentaler sein heutiges Erschei78
nungsbild. Die grossen Milchmengen ermöglichten den Käsern, riesige Laibe von über 100 kg herzustellen. Das war sinnvoll, weil früher nicht das Gewicht, sondern die Stückzahl der exportierten Emmentaler die Höhe der Zollgebühren bestimmte. Im letzten Jahrhundert gings mit der Käse-Produktion stetig bergab. Agrarschutzzölle hemmten die Ausfuhr und der Ausbruch des Ersten Weltkrieges brachte sie ganz zum Erliegen. Erst ab 1945 florierte das Geschäft wieder, die Qualität blieb jedoch auf durchschnittlichem Niveau, da die Käseproduktion nun definitiv der Industrie oblag. Der Förderkreis «Traditioneller Emmentaler» soll einerseits das kulinarische Erbe würdigen und schützen. Andererseits bietet er Käsern die Möglichkeit, ihr Handwerk zu pflegen und sich mit einem Emmentaler Spitzenprodukt vom Allerweltsallerlei rund um den Globus abzuheben. Ernst Oettli Gourmino AG 8574 Illighausen Tel. 071 688 42 48 Fax 071 688 42 49 E-Mail info@gourmino.ch Internet www.gourmino.ch Auch in ausgewählten Coop-Filialen ist der Traditionelle Emmentaler als Förderkreis-Produkt erhältlich. www.coop.ch/slowfood
Kontakt
Slow Food Förderkreis-Referent: Raphael Pfarrer, Convivium Bern Champ du Brez 17, 1797 Münchenwiler raphael.pfarrer@slowfood.ch
Der traditionelle Emmentaler wird aus Kuhrohmilch hergestellt und muss mindestens zwรถlf Monate im Reifekeller gelagert werden.
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schweiz Erlebnisberichte diverser Regionalgruppen
Tessin
Grüne Däumchen
Schulgärten, ein pädagogisches Projekt mit Zukunft.
Von Meret Bissegger und Roger Staub
A
m 3. Juni wurde in der Primarschule von Chiasso das erste Tessiner Schulgartenprojekt vorgestellt. Die Pädagogik von «Hacke und Schaufel» hat eine lange Tradition, doch hat man ihre Bedeutung erst vor wenigen Jahren wieder entdeckt. In zahlreichen Ländern rund um den Globus sind Schulgärten entstanden, in einigen Ländern gehören sie sogar zum Pflichtkanon des Unterrichts. In den Vereinigten Staaten erleben sie ebenfalls eine Renaissance – sogar bis in den Campus der Universitäten dringen sie vor, unterstützt von bekannten Persönlichkeiten wie der kalifornischen Starköchin Alice Waters. Auch in der Schweiz beginnen sich die Geister und somit die Gemüse und Kräuter in den Schulgärten zu regen. Das jüngste Kind dieser Idee wurde wie erwähnt im Tessin geboren. Seit letztem Frühling existieren in den Gemeinden Chiasso und Claro Schulgärten, die von je zwei Pilotklassen gepflegt werden. Betreut wird das Projekt von Simona Picco (Slow Food Ticino) in Zusammenarbeit mit Verena Wiederkehr (Radix Svizzera Italiana). Sie haben ein kooperatives Netzwerk aufgebaut. Beteiligt sind neben Slow Food und Radix auch Pro Specie Rara sowie natürlich die Gemeinden und Schulbehörden von Chiasso und Claro, schliesslich stellt das Projekt unter
Primarschüler lernen unter kundiger Anleitung, wie ein Gartenbeet angelegt wird.
anderem Anforderungen an das Personal, angefangen bei den Kindern, den beteiligten Lehrern sowie den technischen Mitarbeitern. Wie an der Pressekonferenz Anfang Juni in Chiasso betont wurde, stellen solche Schulgärten ein multifunktionales, interdisziplinäres pädagogischdidaktisches Instrument dar, um die Schüler an den Boden und die Wurzeln von Handel und Leben heranzuführen. Gerade in hochtechnisierten Gesellschaften geht die Bedeutung von Natur und Umwelt im Bewusstsein (nicht nur von Kindern und Jugendlichen) verloren. Hier, in solchen Schulgärten, schaffen die Kinder einen eigenen Raum; vom Säen übers Pflegen und Sammeln bis zum Kompostieren
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überschauen sie den ganzen Prozess. Sie sehen die Früchte ihrer Arbeit, und sie erkennen die Bedeutung der Natur sowie ihrer Grenzen – Jahreszeiten, Wetter und anderes mehr. Das Projekt ist auf drei Jahre angelegt und auch Ausgangspunkt von Begleitevents wie etwa Geschmackslaboratorien. Hoffen wir, dass dem engagierten Projekt Erfolg beschieden ist und alle Beteiligten zufrieden sind, damit künftige Schulen von den Erfahrungen profitieren können.
OSTSCHWEIZ Von Michael Higi
Meckerer, Geissköniginnen und blaue Wunder Es war eine wahrhaft tierische Angelegenheit und Slow Food Ostschweiz mittendrin: In der Markthalle Wattwil SG fand Ende März die Nationale Ziegenschau statt. Viele Schweizer Ziegenrassen sind in ihrer Reinheit bedroht. Dies gilt auch für die Toggenburger Ziege. Desalb bekam sie einen Platz in der Slow Food-Arche, und es wurde ein Förderkreis gegründet in Zusammenarbeit mit dem Verein Ziegenfreunde und dem Culinarium (S. 76). Es war nicht immer einfach, die Botschaft von Slow Food zu erklären, denn das Gebimmel und Gemecker der Schönheiten übertönte alles. Doch die kecken Sprünge der kleinen Gitzi, die imposanten Hörner der Böcke und die elegante Schönheit der Ziegen liessen uns sogar den strengen Geruch vergessen. Und erst die Vielfalt an Fleischund Milchprodukten! Darunter auch der Slow Food-Arche-Käse aus Milch der Toggenburgerziege. Neben der Prämierung der Ziegendamen war die Wahl der Schweizer Geisskönigin natürlich das Ereignis in der Markthalle. Noch ein Thema beschäftigte uns in diesem Frühling: die Öl-Krise! St. Galler Bauern haben ihr den Kampf angesagt. Sie errichten aber keine Fördertürme, sondern bauen Raps, Lein und Mohn an. Der Vater aller St.Galler Öle, Christoph Gämperli von der Saatzuchtanstalt in Flawil SG (S. 49), führte uns im Rahmen der Geschmackswerkstatt in die Geheimnisse der Ölförderung und des Ölgenusses
ein: Mohnöl zu Bio-Lachs und Leinöl zu Toggenburger Schafskäse sind zwei der genussreichen Kombinationen. Auch wenn das Mohnöl keine berauschende Wirkung zeigt, der Anblick der rot oder violett blühenden Felder macht süchtig! Und wenn Sie eine Fahrt ins Blaue planen, besuchen Sie ein Feld mit blühendem Lein, Sie werden ihr blaues Wunder erleben. Bezugsquellen Für Arche-Käse: info@bangshof.com Für Öle: www.st.galleroel.ch
BERN Von Philipp Beck
gen Marktbesuch trennt sich die Gruppe. Die einen geniessen einen Stadtbummel in Freiburg, die andern zieht es ins Gasthaus zum Kaiserstuhl in Niederrotweil – ein Slow Food-Geheimtipp! Grob könnte man die Küche als saisonale «Chrütli-Chuchi» umschreiben, doch würde man der Geschmacksvielfalt kaum gerecht. Am späteren Nachmittag treffen wir uns wieder beim Weingut Salwey in Oberrotweil. Die Weine werden traditionell ausgebaut. Sie überzeugen durch Fruchtigkeit und Komplexität. Der Besuch im «Schwarzen Adler» ist der letzte offizielle Punkt unserer Reise und ein würdiger Abschluss unseres Besuchs im Markgräflerland und am Kaiserstuhl.
Ausflug ins Markgräflerland Engadin Von Albert R. Nold und an den Wertschöpfung Kaiserstuhl vor Ort im Wir sieben Mitglieder vom Slow Food Convivium Bern treffen uns am FreiVal Müstair tagmorgen bei der traditionsreichen Destillerie Schladerer in Staufen. Kompetent werden wir durch die verschiedenen Stationen der Gewinnung von hochprozentigen Edelbränden geführt. Nach einem Mittagessen brechen wir auf zu einer Weindegustation bei Herrmann Dörflinger in der Gemeinde Müllheim im Markgräflerland. An der von Dörflinger junior begleiteten Degustation können wir uns von der hohen Qualität der Weine überzeugen. Den Abend verbringen wir in Merkle’s Rebstock in Endingen. Der Stil des Restaurants lässt auf die Karte schliessen: Modern mit einem leicht asiatischen Touch, wobei die regionalen Spezialitäten im äusserst kreativen Repertoire nicht zu kurz kommen. Am zweiten Tag unserer Reise besammeln wir uns auf dem Münstermarkt in Freiburg. Nach dem ausgiebi-
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Projektleiter der Südbünden-Förderkreise, Jürgen Schnaithmann, hatte die Reise des Conviviums Engadin organisiert. Der erste Besuch galt der Bäckerei Meier in Sta. Maria. Meinrad Meier und der Ex-Gemeinepräsident von Müstair, Gilbert Ruintscha, erklärten einleitend die Philosophie, die dank dem Projekt «Biosfera Val Müstair – Nationalpark» im Tal erfolgreich Fuss gefasst hat. Dabei wurde die Idee «Wertschöpfung vor Ort» konsequent umgesetzt, indem die einheimischen Spezialitäten ausschliesslich aus einheimischen Rohstoffen und in allen Produktionsstufen im Tal hergestellt werden. Anschliessend wurden die grossen Anbauflächen für die Rohstoffe der Getreideprodukte neben dem Kloster besichtigt. Biobauer Johannes Fallet
schweiz
erklärte die Anbaumethoden für den Roggen und den speziellen Nackthafer als Spezialität für Bäcker Meier sowie die Braugerste für das Tschliner-Bier. Als nächster Schritt in der Produktionskette konnte die kleine Mühle in Müstair besichtigt werden, die seitens des Müllers Scartazzini aus Promontogno extra in Betrieb genommen wurde. Er betreibt sie seit fünf Jahren sporadisch als Nebenbetrieb, um vor allem das Mehl für das Paun sejel des Meier-Becks herzustellen. Die Bewohner des Val Müstair haben erreicht, dass die Lebensqualität und die Produkte verbessert und bekannter geworden sind. Als krönender Abschluss der Exkursion tafelten wir im Restaurant Hirschen in Lü und wurden wunderbar verwöhnt.
AARGAU-SOLOTHURN Von Nelly Bernauer
Kulinarische Städtchenwanderung in Bremgarten Treffpunkt war das Café-Restaurant Bijou direkt an der Reuss gelegen, wo am 6. Juni 2009 rund 40 Teilnehmer durch die Organisatoren Vreni und Ruedi Schulz begrüsst wurden. Nach einem feinen Apéro bei schönem und warmem Frühsommerwetter machten wir uns unter kundiger Leitung von Frau Bamert auf, um die historische Vielfalt von Bremgarten zu entdecken. Perfekt auf den Rundgang abgestimmt erlebten wir auch die meteorologische Vielfalt: Just als wir beim Besuch des Hexenturms von der historisch dunklen Seite von Bremgarten (Hexenverbrennungen) hörten, entluden die sich in der Zwischenzeit herangewachenen
dunklen Wolken über unseren Köpfen. Nach der historischen Vielfalt konnten wir uns im Trottenkeller der Ortsbürger bei einem Umtrunk, offeriert von den Mitgliedern Christa und Werner Lienberger mit eigenem Wein aus Spreitenbach, auf die bevorstehende kulinarische Entdeckungsreise einstimmen. Erster Halt war das Restaurant Stadthof, wo uns ein Antipasti-Teller mit Schweizer Spezialitäten (Trockenfleisch, Melone, eingelegtes Gemüse) serviert wurde. Danach ging es weiter mit dem Hauptgang. Unsere Gaumen wurden mit roter Polenta aus dem Tessin, schmackhaften Fleischvögeln und buntem Wurzelgemüse verwöhnt. Der offizielle Abschluss fand wieder im Restaurant Bijou statt. Er wurde durch ein Dessert versüsst – hausgemachte Eistorte oder Käse. Ein paar unermüdliche Mitglieder pilgerten noch weiter: zum Digestif ins Smuggler, weit über die Stadtgrenze hinaus bekannt für eine umwerfende Auswahl an Whiskies.
BASEL Von Jürg Ewald
Future-Fisch und Essen mit Whisky? Toby Herrlich von der «Bayshore SA» in Oberwil (BL) und Dominique Brändle, Vize-Tafelmeister vom Netz 08 des «Goldenen Fisches», heckten zusammen mit Rita und Leo Lüber von der «Brücke» zu Grellingen ein Menü aus, das ausschliesslich Fische aus nachhaltiger Herkunft bot. Und zwar so ausschliesslich, wie es die Firma Bayshore nun bereits in der zweiten Generation betreibt. Eperlin, Egli, Zander, Limande und Seesaibling wurden in verschiedenen Variationen
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Genussreicher Abend zu Ehren schottischer Whiskies.
zubereitet. Die Firmenmarke «Fish For Future» möchte man angesichts der drohenden Leerfischung mancher Meereszonen gerne übersetzen mit «Hoffentlich gibt es künftig überhaupt noch Fisch!» Die stolze Zahl von 46 Interessierten, drei Neumitglieder inklusive, liess sich im vollständig belegten Restaurant, das seit langem mit dem Goldenen Fisch ausgezeichnet ist, von der hervorragenden Küche aufs Feinste verwöhnen. Zwei Monate später wurde das Convivium nach Binningen eingeladen. Hanspeter Greiner, der sich gerne mal ein schottisches Destillat einverleibt, hatte angeregt, ob man nicht einmal Whisky mit einem Essen kombinieren könnte. In Tobias Sturzenegger von der Ullrich AG – Whisky, Weine und Spirituosen – in Basel fanden wir einen ausserordentlich versierten Kenner. Und dieser animierte Thierry Fischer, Küchenchef im Schloss Binningen, zu einem wahrlich einmaligen Menü. Zu fünf Gerichten assoziierte er fünf verschiedene Whisky-Saucen. Zu den einzelnen Gängen konnten auch noch die entsprechenden reinen Destillate degustiert werden, deren Eigenheiten kenntnisreich kommentiert wurden.
Adressen und Termine der Regionalgruppen
Adressen der Convivien CV Aargau / Solothurn Giuseppe Domeniconi / Ursula Hasler Im Roggebode 2 5400 Baden Tel 056 222 89 15 Fax 056 222 89 14 slowfood-aargau(at) hispeed.ch CV Basel Stadt und Land Jürg Ewald Ziefnerstrasse 28 4424 Arboldswil Tel 061 931 20 12 Fax 061 933 90 70 juerg.ewald(at)slowfood.ch CV Bern Raphael Pfarrer Champ du Brez 39 1797 Villars-les Moines Mob 078 614 29 27 raphael.pfarrer(at)slowfood.ch CV Bündner Herrschaft Rainer Riedi Poststrasse 22 7000 Chur Tel 081 252 29 59 Fax 081 252 29 54 info(at)slowfood-grischa.ch www.slowfood-grischa.ch
CV Ostschweiz Michael Higi Rüti 621 9036 Grub Tel 071 891 54 16 michael.higi(at)slowfoodost.ch info(at)slowfood-ost.ch www.slowfood-ost.ch CV Pays de Vaud Sekretariat Bern Tel 031 311 82 21 info(at)slowfood.ch CV Säuliamt Kurt & Yvonne Schmutz Ettenbergstrasse 40 8907 Wettswil Tel 044 700 32 07 Fax 044 700 32 07 k.schmutz(at)printcolor.ch CV Ticino Luca Cavadini 6837 Bruzella Tel 091 684 18 16 slowfoodticino(at) bluewin.ch www.slowfood-ticino.ch CV Wallis - Valais Christophe Pritschke Route de Rionda 10 3968 Veyras Tel 031 311 82 21 chprit(at)netplus.ch
CV Engadin Jürgen Schnaithmann Hotel Chesa Alpina 7516 Maloja Tel 081 824 31 12 Fax 081 24 35 41 chesaalpina.maloja(at) bluewin.ch
CV Weinland/Rheinland Denise Buchser Hardmeier Kilchbergstrasse 143 8038 Zürich Tel 044 450 16 88 Mob 078 607 87 80 denise.buchser(at) slowfood.ch
CV Léman Alessandra Roversi Rue de Zurich 17 1201 Genève Tel 022 731 03 14 info(at)slowfood-leman.ch www.slowfood-leman.ch
CV Zentralschweiz Simon Meyer Ried 9 6182 Escholzmatt Tel 041 485 00 44 simon.meyer(at) slowfood.ch
www.slowfood-zentralschweiz.ch
Termine Convivien 2009
CV Zürcher Oberland Markus Baumgartner Zelglisteig 2 8127 Forch Tel 044 391 38 24 Fax 044 391 61 00 markus.baumgartner(at) slowfood.ch
Aargau-Solothurn
CV Zürcher Unterland Denise Buchser Hardmeier Kilchbergstrasse 143 8038 Zürich Tel 044 450 16 88 Mob 078 607 87 80 denise.buchser(at) slowfood.ch
21. 11. 09 Einheimische Öle – flüssiges Gold aus unseren Breitengraden
CV Zürich linkes Seeufer Kurt & Yvonne Schmutz Ettenbergstrasse 40 8907 Wettswil Tel 044 700 32 07 Fax 044 700 32 07 k.schmutz(at)printcolor.ch CV Zürich Stadt Raymond Marti Schaffhauserstrasse 315 8050 Zürich Tel 044 318 80 00 Mob 079 401 50 29 raymond.marti(at) slowfood.ch
21. 10. 09 Geschmackswerkstatt: Brote und Butterarten. Unter kundiger Anleitung verschiedene Brote und Butterarten kosten und testen.
Bern 21. 10. 09 Geschmackslaboratorium «FörderkreisProdukte»
Säuliamt 13. 11. 09 Whisky -Wasser des Lebens Rheinland/Weinland + Zürcher Unterland 1. 11. 09 Traditionelle Metzgete im Restaurant Buck, Rheinau Zentralschweiz 7. 10. 09 Slow Food-Treff 4/09 2. 12. 09 Slow Food-Treff 5/09 3. 2. 10 Slow Food-Treff 1/10 mit Degustation (Salz)
12. 12. 09 Wohltätiges Weihnachts- Zürcher Oberland essen 31. 10. 09 Besuch beim Imker in Bündner Herrschaft Küsnacht mit Essen eines Honig-Menu. 21. 10. 09 Besichtigung der «Calanda-Bräu» in Chur 28. 11. 09 Pflanzensilvester im Fidazerhof
Alle:
9. – 12. 10. 09 Gourmesse im Kongresshaus Zürich Slow Food nimmt auch Engadin dieses Jahr an der Gour12. 10. 09 messe teil: mit Produkten Tea Time: Interessantes an insgesamt 6 Ständen, und Wissenswertes über einem Infostand und der Tee mit anschliessender Kinder Gourmesse Filmvorführung «We feed the world» 6. 3. 10 Nationales DegustationsOstschweiz spiel in allen Convivien zu Käse, Brot und Wein 7. 11. 09 Arche-Dinner Bitte beachten Sie auf jeden Fall die aktuellen Termine der Convivien-Anlässe auf der Slow FoodWebsite www.slowfood.ch
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Ciao Pollenzo! Freude und Frust eines Schweizer Studenten an der Slow Food-Universität in Bra. Der Erlebnisbericht. Von Marcel Luther
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iao!» Vor rund drei Jahren war ciao das erste Wort, das ich gelernt hatte. Ohne genau zu wissen, was ich da überhaupt sagte, streckte ich allen meine Hand entgegen und erwiderte «piacere, sono Marcel». Wie wenig wusste ich damals über das Abenteuer, das mich erwartete und nun enden sollte! Und genau dieses «ciao», das ich in den letzten 3 Jahren so oft gebraucht hatte, schien mir plötzlich schwer auf der Zunge zu liegen. Als wäre es gestern gewesen, weiss ich noch, wie ich mich zu Beginn allein fühlte in einem fremden Land,
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dessen Sprache ich nicht verstand, an einem Ort, nämlich Bra, den ich nicht kannte. Ich hatte Panik. Die ersten zwei Monate waren sehr intensiv. Natürlich bildeten sich bald Grüppchen, vor allem der Sprache wegen. Doch die vielen Ausflüge und Erkundungstouren durchs Piemont brachten immer wieder neue Kontakte und Erfahrungen. Dann stand auch schon die erste Stage an. Wie ein Kind freute ich mich darauf, eine Woche lang in die Toskana zu fahren, um alles über Schinken und Salami zu lernen. Ich lernte aber vor allem eines: Dass nur wenig Italiener ihre Muttersprache ins Englische übersetzen können und ich darum schnell Italienisch lernen musste.
unpünktlichkeit macht schule Das tat ich. Und mit der Sprache lernte ich auch die Mentalität der Italiener kennen. Was uns als Bünzlischweizer zuerst auffällt, ist die Unpünktlichkeit. Ich verbrachte mehr Zeit damit, auf den Bus zu warten, als in Prüfungen zu investieren. Und genau dann, wenn ich mal eine Minute zu spät an die Bushaltestelle kam, war der Bus natürlich schon weg. Dass fast alle den Saal erst betraten, nachdem der Unterricht begonnen hatte, lernte man bald zu ignorieren. Auch dass gewisse Professoren regelmässig zu spät kamen, war egal. Wir tranken einfach einen Espresso mehr. Schwieriger war es, sich an die italienischen Prüfungen zu gewöhnen. Bei den mündlichen durfte nämlich jeder dabei sein, der wollte. Zum Teil sassen 40 Leute hinter mir und hörten zu, wie ich dem Professor etwas vorstotterte. Doch Prüfungen sind zum Glück irgendwann vorbei, und das Studentenleben kann weitergehen. Mit Studentenleben meine ich natürlich, dass wir die regionalen Weinproduzenten besuchten, um uns «weiterzubilden». Ab und zu wurden diese freiwilligen Degustationen leider durch erzwungene Stages gestört. So musste ich Ende des zweiten Jahres nach Mexiko fliegen und den Barolo für zwei Wochen durch Tequilla ersetzen – schrecklich. Über jede dieser Stages könnte ich ein Buch schreiben. Doch ich beschränke mich hier auf die Kurzversion: Die thematischen Stages waren in Italien, die regionalen führten mich in Länder wie Kuba, Irland, Mexiko. Oft hatte ich das Glück, dass ein Freund, Edward Mukuni aus Kenia, in meiner Gruppe mitreiste. Am Ende des Studiums war es merkwürdig, die Freunde im Wissen zu verlassen, dass man um den Erdball reisen müsste, um sie wiederzusehen. Schliesslich kamen sie aus über dreissig Ländern. Hätte ich nochmals die Chance, ich würde mich wieder einschreiben – und dies trotz vieler Dinge, die mir nicht gefallen, ja, mir gar Kopfschmerzen bereiteten hatten (die waren nämlich nicht nur vom Barolo). Im September fuhr ich noch einmal nach Bra ans «Cheese»Festival. Ich traf ein paar Freunde. Aber dann hiess es leider definitiv: «Ciao Pollenzo, è stato un piacere». Info: www.unisg.it
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Mehrwert für alle Beteiligten Bekömmlich, vielfältig, einzigartig: Marktgerechte Produkte aus BiotradeProjekten in Afrika erhalten die Biodiversität und reduzieren die Armut. Von Hans-Peter Egler
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it der Unterzeichung der Biodiversitäts-Konvention haben die Schweiz und weitere 170 Staaten 1992 in Rio de Janeiro nicht nur ihren Willen zur Erhaltung der biologischen Vielfalt besiegelt, sondern auch den Grundstein zur nachhaltigen Nutzung der Biodiversität gelegt. Nur wenn sich das Hegen und Pflegen der Artenvielfalt wirtschaftlich lohnt, kann sie nachhaltig geschützt werden. Mit Biotrade, dem Handel von Biodiversitätsprodukten, bietet das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) Afrika neue Perspektiven, um stärker von der Integration in den Welthandel zu profitieren. Die Artenvielfalt und der natürliche Reichtum Afrikas scheinen unerschöpflich. Doch Veränderungen des Klimas und der Landnutzung bedrohen die Erhaltung der Biodiversität, die über kurz oder lang ökologisch und sozial zur Überlebensfrage wird. Das subsaharische Afrika hat aus der Not eine Tugend gemacht und erkannt, dass sich die Biodiversität durch nachhaltige Nutzung schützen lässt und für die lokale Bevölkerung gleichzeitig wirtschaftliche Chancen bietet.
Integration in den Welthandel Weltweit leben 70% der armen Bevölkerungsschichten in ländlichen Gebieten und verdienen ihren Lebensunterhalt mit landwirtschaftlichen Produkten – ein Grossteil im subsaharischen Afrika. Erhöhte Exportvolumen von Agrarprodukten verbessern die Einkommen der Produzenten und tragen gleichermassen zur Armuts-
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reduktion und Ernährungssicherheit bei. Exportorientierte Entwicklungsländer sind jedoch oft von wenigen Agrarrohstoffen und beträchtlichen Preisschwankungen abhängig. Biotrade schafft hier doppelt Abhilfe: Erstens bedeutet die nachhaltige Nutzung der Biodiversität eine Diversifikation der Produktbasis und damit neue Exportmöglichkeiten. Zweitens erschliesst Biotrade einen Nischenmarkt, der ähnlich wie bei Bioprodukten und dem Fairen Handel einen höheren, stabilen Preis mit sich bringt.
Biodiversität generiert Mehrwert Biotrade beruht auf Wildsammlung oder Landbewirtschaftung und umfasst das Ernten, Erzeugen, Verarbeiten, Veredeln und Vermarkten dieser meist sehr gesunden und nahrhaften Produkte aus heimischen biologischen Ressourcen. Biotrade erhöht die Wert86
Biotrade erschliesst einen Nischenmarkt und schafft Einkommen schöpfung und schafft einen Mehrwert für alle Beteiligten. Um den Anforderungen der Exportmärkte und den Bedürfnissen der Konsumentinnen und Konsumenten gerecht zu werden, ist für diese exotischen Spezialitäten aus Afrika eine hohe Qualität erforderlich. Die Zertifizierung von Biodiversitätsprodukten verbessert den Marktzugang zusätzlich.
Die BioTrade-Initiative Die Biotrade-Initiative (www.biotrade. org), 1996 durch die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD) gegründet, bietet Entwicklungsländern rund um
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3 1 Die biologische Vielfalt gilt es zu pflegen. 2 Biotrade-Initiative: eine Genossenschaft und ihre Zulieferer. 3 Die Frucht des Kigelia- Baums wird für Kosmetik bevorzugt. 4 Allanblackia-Nüsse finden Eingang in globale Wertschöpfungsketten.
Foto 3: PhytoTrade
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den Globus hervorragende Möglichkeiten, die Artenvielfalt für natürliche Produkte oder natürliche Bestandteile von Nahrungs- und Heilmitteln oder Kosmetik nachhaltig zu nutzen. Sie optimiert Wertschöpfungsketten für Biodiversitätsprodukte vom Management, der Produktentwicklung und Verarbeitung bis hin zum Marketing. In den einzelnen Regionen arbeitet die Initiative mit lokalen Partnern zusammen. Im subsaharischen Afrika profitieren über 40’000 Produzenten von der besseren Vermarktung nachhaltig und fair produzierter Naturprodukte. Die umsichtige Produktentwicklung und pro-aktive Markterschliessung haben die Markteinführung unter anderem von Fruchtextrakten des Affenbrotbaumes (Baobab) für die Nahrungsmittelindustrie oder des Leberwurstbaumes (Kigelia) in der Kosmetikbranche ermöglicht.
Produkte zwischen Tradition und Innovation Der Baobab mit seinem unverkennbar dicken, kurzen Stamm wird im Süden Afrikas nicht umsonst auch «Lebensbaum» genannt: Seine Früchte enthalten viel Calcium und Eisen und fast sechsmal mehr Vitamin C als Orangen. Während sich der Baobab in Afrika seit Menschengedenken als Nahrungsmittel und Medizin grosser Beliebtheit erfreut, findet seine Frucht als Exportprodukt vor allem für Getreideriegel und Fruchtsäfte und jüngst auch für Sportgetränke Anwendung. Die marktgerechte Produktentwicklung aus der wurstförmigen, bis 60 cm grossen Frucht des Kigelia für die Kosmetik beruht ebenfalls auf einer traditionellen Verwendung und liegt bei uns als Bestandteil von AntiAging-Crèmes voll im Trend! Eine erfolgreiche Kommerzialisierung erfahren auch Allanblackia-Nüsse 87
aus Ghana, Tansania und Nigeria. Mit der Integration in globale Wertschöpfungsketten profiliert sich das aus Allanblackia-Samen gewonnene Öl als Substitut für Palmöl und weckt als umweltfreundliche Alternative auch das Interesse multinationaler Nahrungsmittelkonzerne. http://www.seco-cooperation.admin.ch/ themen/handel/ Hans-Peter Egler ist Leiter Handelsförderung im Bereich Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung des SECO.
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as Magazin slow.ch ist nicht am Kiosk erhältlich, als Kunde oder Gast bekommen Sie von einem Restaurant oder Geschäft, das Slow Food unterstützt, ein Exemplar geschenkt. Die Mitglieder von Slow Food Schweiz erhalten slow.ch gratis. Wollen Sie sich regelmässig ein Exemplar sichern, dann lösen Sie ein Abonnement, oder werden Sie Mitglied bei Slow Food! Mit einem Abonnement oder noch besser mit einer Mitgliedschaft unterstützen Sie unseren Einsatz für gute, saubere und faire Lebensmittel, nämlich für geschmackvolle, qualitativ hochstehende und mit Respekt für die Erhaltung der Artenvielfalt und Ressourcen hergestellte Produkte.
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Slow.ch erscheint 2 x pro Jahr, im Herbst und im Frühjahr, umfasst ca. 90 S. und enthält ein Special Slow Food-Genussregion. Darin wird eine Gegend in der Schweiz aus der Perspektive Slow Food näher vorgestellt: alte Bräuche im Zusammenhang mit Essen, Legenden, kulturhistorische Wanderungen, Restaurants, Hotels, Produktionsbetriebe und lokale Spezialitäten.
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