Kalte Kriege – Der schmale Grat zwischen Risiko und Realität

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Andy Kirkpatrick

K A LT E KRIEGE

Der schmale Grat zwischen Risiko und Realität

Der preisgekrönte Autor von «Psychovertikal»


Für Ella und Ewen

Die Originalausgabe ist 2011 in englischer Sprache unter dem Titel «Cold Wars» von Andy Kirkpatrick bei Vertebrate Publishing, einem Imprint von Vertebrate Graphics Ltd, Crescent House, 228 Psalter Lane, Sheffield, S11 8UT, UK, erschienen.

www.as-verlag.ch Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe: AS Verlag & Buchkonzept AG, Zürich 2012 Gestaltung: Urs Bolz, Zürich Lektorat: Emil Zopfi, Zürich Korrektorat: Alfred Mathis, Willstätt Druck und Einband: Kösel GmbH & Co. KG, Altusried-Krugzell ISBN 978-3-906055-01-5


Andy Kirkpatrick

Kalte Kriege Aus dem Englischen 端bersetzt von Robert Steiner

AS Verlag


It was gravity which pulled us down and destiny which broke us apart You tamed the lion in my cage but it just wasn’t enough to change my heart Now everything’s a little upside down, as a matter of fact the wheels have stopped What’s good is bad, what’s bad is good, you’ll find out when you reach the top You’re on the bottom Bob Dylan, Idiot Wind


Inhalt

6 Vorwort 9 Yosemite 33 Dru 55 Lafaille 83 Schwarzer Hund 97 Fitz Roy 123 Mermoz 151 Park 161 Angst 183 Weihnachten 195 Troll 213 Hart 225 Troll II 249 Atmen 259 Lesueur 295 Schafe 307 Diamond 335 Post 345 Charlie 371 Am Boden 381 Das Magische Anhang 421 Wie man schreibt, wenn man es nicht kann 427 Wie man klettert: eine kurze Anleitung f端r Nichtkletterer 430 Glossar


Vorwort

Im April 2010 war ich in der Schweiz zur Veröffentlichung der deutschen Übersetzung meines ersten Buches «Psychovertikal» – eines Buches, das wenige Stunden vor dem Beginn des hier vorliegenden Werkes endet. Bei der Veranstaltung, die voll von ernsten und akademischen Leuten war, trat eine ältere, weißhaarige Schweizer Dame auf mich zu und fragte höflich, ob ich nicht etwas zu jung dazu sei, meine Biografie zu schreiben. Die Frage verblüffte mich etwas, besonders weil «Psychovertical» endet, als ich gerade mal 29 war, und zehn Jahre voll von Geschichten und Reisen hinter mir lagen, die noch darauf warteten, erzählt zu werden. «Psychovertikal» sollte bloß der erste Teil einer Trilogie sein. «Oh, wenn Sie Andys Buch lesen, werden Sie sehen, dass er viel zu erzählen hat», sagte Robert Steiner, der Übersetzer. «Aber Sie sind doch noch so jung!», sagte die Dame, noch wenig überzeugt. Sie sah aus, als ob sie Ende sechzig sei und selbst einige Geschichten erzählen könnte. «Es ist keine Autobiografie», entgegnete ich ihrer Frage lachend und gleichzeitig ein bisschen beschämt, weil ich noch nie über diese Idee nachgedacht hatte. «Es ist nur eine Geschichte über einen Kletterer», fügte ich hinzu und versuchte, bescheiden zu klingen. Als ich in eine große Halle mit Leuten begleitet wurde, fühlte ich mich immer noch etwas unwohl. Alle warteten darauf, mich über mein Buch sprechen zu hören. Robert hatte mich gewarnt, dass es nicht einfach werden würde, denn Schweizer sähen jemanden wie mich – der nicht allzu sehr am Leben zu hängen schien – als Verrückten, und zwar einen Verrückten im negativen Sinn.

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«Hallo», sagte ich, und Robert übersetzte, «mein Name ist Andy Kirkpatrick und ich bin geistig krank.» Das todernste Publikum brach in Gelächter aus. Ich war gerettet. «Psychovertikal» war ein Buch über einen Mann, der kämpft: gegen die Wand, gegen sich selbst. Einen, der letztendlich gewinnt. Das ganze Buch, hunderttausend Worte, waren eine einzige Antwort auf die Frage: «Warum klettern Sie?» «Kalte Kriege» wirft eine andere Frage auf: «Welchen Preis zahlst du für das ganze Risiko?» Die meisten in diesem Buch beschriebenen Leute sind Freunde am Berg und Freunde im Leben und ich schulde ihnen allen viel dafür, dass sie mich geduldet haben. Manche bleiben ohne Namen, denn sie möchten weder die Aufmerksamkeit der einen noch der anderen Sorte, andere sind genannt, weil es sich nicht vermeiden ließ. Es sind ihre Geschichten, nicht meine. Ich danke vielen Menschen, die mir mit diesem Buch geholfen haben, an dem ich hart arbeitete, um es besser werden zu lassen als «Psychovertikal», denn es sollte nicht das übliche «schwierige» zweite Werk sein. Ich glaube, man muss ein Buch schreiben, um zu wissen, was es heißt, Bücher zu schreiben. Ein großer Dank geht an Rob Sanders für das Durchlesen des englischen Manuskriptes und an Tim Maud und Chris Hale für ihr Feedback. Ich danke auch John und Jon von Vertebrate für ihre große Geduld (als ich sagte, ich sei bald fertig, hatte ich gerade angefangen, aber ich glaube, ihr wusstet das). Ich möchte mich auch bei den Menschen und Firmen bedanken, die meine in diesem Buch beschriebenen Abenteuer unterstützten: Patagonia, Black Diamond, Petzl, La Sportiva, der British Mountaineering Council, die Mount Everest Foundation, Outside und Snow+Rock genauso wie Geoff Birtles and Ian Smith vom High Magazine (die ebenso geduldig waren). Zuletzt, und sie fällt dadurch auf, dass sie in diesem Buch nicht vorkommt, geht mein Dank an Mandy. Es war nie einfach.

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S CHWARZER H UND

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s ist nach Mitternacht und ich sitze in der Notaufnahme unter den Neonlichtern, Blut in den Haaren, mit einem benebelten,

pochenden und nicht mehr ganz intakten Kopf. Um mich herum sitzen – oder kauern – Kranke und Verstörte, alle warten wir auf den Arzt, warten darauf, geheilt zu werden. Ich sehe auf die Uhr und frage mich, ob es mehr als ein Zufall ist, dass Patient mit dem Wort Patience zu tun hat: Geduld. Vier Stunden schon mit nichts anderem zum Studieren als meinen Mitleidenden. Ich wünschte, ich hätte ein Buch mitgebracht. Ich betrachte sie, jeder hat sein eigenes Trauma. Dieser Raum ist eine Linse für den Blick auf die Sterblichkeit. Die letzten Monate über, als ich Ella und Ewen wachsen gesehen habe, machte ich mir Gedanken um den Tod, meine Einstellung geriet ins Wanken darüber, welche Risiken ich auf mich genommen hatte und welche ich auf mich nehmen würde. Aber hier, in diesen Gesichtern, lag eine andere Wahrheit, die diese Gefühle bestätigte: Menschen leiden und sterben, egal ob sie gefährlich leben oder nicht. Wenn mich jemand fragt, warum ich mein Leben riskieren kann, fällt mir nur eine Antwort ein: «Wie kann man leben, ohne Risiken einzugehen?» Oft dachte ich daran, dass mein Onkel Doug, ein großartiger Mann, der Funktechniker auf Baffin Island und Jäger in Neuseeland gewesen war, in seinen besten Jahren gestorben war, noch bevor er überhaupt seine Rente hatte genießen können. Ich sagte mir, dass man sein Leben jetzt leben musste und nicht auf später verschieben konnte. Bevor man es sich versieht, hat man so etwas vielleicht gar nicht mehr: Zukunft. «Mr. Samuels?», sagt ein Arzt, ein alter Mann steht schmerzhaft auf und folgt ihm in die Untersuchungsräume. Ich schaue mich nach den anderen um, viele von ihnen scheinen die Notaufnahme zu kennen, sie landen wahrscheinlich jedes Mal hier, wenn sie ausgehen. Manche sind Zeitverschwender, Hypochonder, die man an ihrem Bemühen, krank auszusehen, schnell ausmachen kann – gleichzeitig scheinen sie sich hier wohl zu fühlen. Ich frage mich, warum solche Leute von Orten wie Krankenhäusern 84


angezogen werden, die normale Menschen zu vermeiden versuchen. Vielleicht sind sie einsam, sehnen sich nach wärmender Aufmerksamkeit, nach jemand, der sich um sie kümmert und Interesse an ihrem Leben zeigt, welches alle ignorieren bis auf jene, die dafür bezahlt werden. «Mrs. Nugg?», sagt der Doktor. Der alte Mann schlürft von dannen, eine neue Patientin steht auf und folgt ihm. Halb eins. Der Tag fing gut an, mein erster als echter professioneller Kletterer. Ich unterschrieb meinen ersten Vertrag mit der Kleiderfirma Patagonia. Eine große Sache, denn es ging nicht nur um Material, sondern auch um Geld; etwas, das ich mir nie erträumt hatte. Ich hatte ein paar Jahre für Patagonia gearbeitet, Kleider zum Testen bekommen, manchmal eine Jacke aus zwei verschiedenen Stoffen, die eine Hälfte aus dem Stoff A, die andere aus dem Stoff B, so dass ich aussah wie ein Clown oder wie jemand, der seine Kleider aus Reststücken zusammennähte. Aber jetzt ging es richtig zur Sache. Die Reticent Wall solo zu klettern sagte so gut wie keinem Briten etwas. Ich zweifle daran, ob es mehr als zwanzig Leute im Land gab, die von der Route gehört hatten. Mit der Lafaille-Route war es anders. Die Leute nahmen davon Notiz. Die Kletterer hatten von Lafaille gehört, und obwohl außerhalb von Frankreich kaum über seine Route berichtet wurde, war der Stempel «Härteste Bigwall in Europa» etwas, was die Redakteure sofort begriffen. Sogar die «Independent» berichtete über unsere Begehung, obgleich sie den Schwerpunkt darauf legte, dass wir fünfzehn Tage gebraucht hatten, um 800 Meter zu klettern. Nicht alle klopften uns so schnell auf die Schultern. Der Chefredakteur von «On the Edge» brachte sofort einen ziemlich an den Haaren herbeigezogenen Quatsch voller Widersprüchlichkeiten heraus. Er sagte, dass wir ja gar nicht zum Gipfel gestiegen seien und dass bessere Leute so eine Route frei klettern könnten. Daraus wurde in erster Linie ersichtlich, dass alles, was nicht aus einer Einseillängen-Route im Peak District bestand, so ziemlich an ihm vorbeiging. Ian war ungewöhnlich aufgebracht, was angesichts der Energie, 85


die wir in die Route gesteckt hatten, auch verständlich war. Ian schrieb einen Brief an den Redakteur und fragte ihn, ob er jemals Erfrierungen gehabt oder in einem Schlafsack geschlafen habe, der mehr aus Eis denn aus Federn bestand, oder ob er jemals mit den Jümars an einem Seil aufgestiegen sei, von dem man denken musste, dass es im Sturm durchgescheuert worden war. Es war eine gute Art von Rückmeldung, und die ganze Sache zeigte, dass einfach der Willen fehlte, Dinge zu verstehen, in denen man sich nicht auskannte. Vielleicht verstehen die Leute deswegen so wenig vom modernen Alpinismus. Zum Nordpol zu laufen oder auf den Everest zu klettern, so etwas begreift man und kann daraus ein paar Zeilen zusammenschustern. Aber etwas Neues zu erklären, dazu waren die Medien nicht in der Lage, außer es starb jemand. Wenn Ian gestorben wäre, hätten sich plötzlich alle für ihn interessiert. Trotz allem waren wir beide über Nacht so etwas wie kleine Kletterstars geworden und solche Leute wie Doug Scott und Chris Bonington sagten nette Sachen über uns, und unsere Bilder, die, wie ich selber zugeben muss, verdammt gut waren, erschienen in den Magazinen. Ein Höhepunkt war für mich, als ich in der Schlange an der Toilette im «National Exhibition Centre» in Birmingham anstand. Ein total Fremder kam aus der Kabine, in die ich wollte, und schüttelte mir die Hand. «Gut gemacht, das mit der Lafaille, Kumpel. Richtig gute Sache.» Das bedeutete viel für mich, auch wenn ich mir wünschte, er hätte vorher seine Hände gewaschen. «Mr. Green?», sagt der Doktor. Ein weiterer Mann steht auf. Ich rutsche in meinem billigen, pflegeleichten, orangen Plastikstuhl herum. Ich sitze seit Stunden da, mein Arsch tut mittlerweile genauso weh wie mein Kopf. Ab und zu fühle ich die Wunde ab, die große Beule, die aufgerissene Haut, stelle mir vor, wie die Finger den Schädelknochen berühren, und rede mir zu, nicht so viel Selbstmitleid zu haben. Ich denke zurück an die Lafaille und frage mich, wie schwierig sie wirklich war und um wie viel schwieriger ich noch klettern konnte. 86


Wir konnten die Grenze noch weiter verschieben, Ian und ich. Es war eine harte Sache gewesen, die Fotos zeugten davon, mit dem Hunger als schlimmster Zugabe, aber ich war froh gewesen, einfach nur dort zu sein, ganz ehrlich, ohne jedes «Suche-nach-deiner-SeeleGeschwätz». Ohne das Gewicht kann ich alles klettern. Ich kann alles klettern. «Mr. Kempster?», ruft der Doktor. Er sieht müde aus. Niemand steht auf. «Mr. Kempster?» Niemand steht auf. «Dann Mr. Rasheed?» Einer steht auf, die anderen warten weiter. Nachdem ich aus den Alpen zurückgekommen war, wurde ich gefragt, ob ich bei einem Bergsteiger-Symposium des Alpine Club auftreten könne. Viele Kletterer aus der ganzen Welt kamen und sprachen – wie ich – über ihre Routen. Ich erzählte von der Lafaille und der Reticent Wall, die, wie ich vermute, Routen von hohem Stand waren und mit den anderen schwierigen Touren, die europäische Kletterer gemacht hatten, mithalten konnten. Auch wenn ich beide geklettert war, sah ich das doch ein bisschen anders. Ich war nicht stolz darauf. Ich war nur stolz auf die Geschichten, die ich aus beiden mitgenommen hatte. Nach den Vorträgen wurden wir alle zu einer Pizzeria gefahren, in deren Bar das Kletter-Expertengespräch nur so summte. Ich selbst stand in der Bar, ein Bier in der Hand, neben zwei der erstaunlichsten Bergsteiger unseres Planeten: Silvo Karo und Voytek Kurtyka. Silvo, der kurzes Haar und den Oberkörper eines Boxers hatte, war ein slowenischer Bergsteiger, der das Weltklasseniveau im Extremalpinismus der achtziger Jahre entscheidend geprägt hatte. Es war Silvo gewesen, von dem wir das Dru-Mantra «Jeden Tag einen Schritt» hatten. Jede seiner Routen war lang, technisch anspruchsvoll, wagemutig und gefährlich – und die meisten waren nie wiederholt worden. Sein Name war zu einem Synonym für «Todesroute» geworden. Diese durchgedrehten Ost87


europäer! Man stellte sich vor, er hätte wilde Augen und lange Haare gehabt, so wie ein Mexikaner in einem Italo-Western. In Wirklichkeit war er zurückhaltend und sprach mit weicher Stimme; seine Routen hatte er nicht aufgrund von Verrücktheit, sondern wegen seines Talentes, seiner Stärke und seiner Erfahrung in allen Disziplinen des Alpinismus geschafft. Voytek war Pole, die Liste seiner Errungenschaften ließ jeden mit offenem Mund dastehen. Angefangen mit der ersten Winterbegehung der Trollwand, dann dem Himalaya, wo er neue Standards setzte, indem er die härtesten Wände im saubersten Stil kletterte. Er war einer von einer Handvoll Bergsteigern gewesen, die in den siebziger und achtziger Jahren die Grenzen des Menschenmöglichen und Mentalen verschoben, denn manche ihrer Klettereien sahen fast wie Selbstmord aus. Auch wenn Voytek überlebt hatte, so waren doch viele seiner Kameraden am Berg geblieben, genauso wie bei Silvo. Voytek hatte ein eindrucksvolles Gesicht, wie Rudolf Nurejev, und verströmte eine Aura, die einen glauben ließ, er sei schon übermenschlich. Er war eine Art Achilles des Kletterns. Zwischen diesen beiden Männern fühlte ich mich klein, als ob ich nichts zu sagen hätte zu so großen Menschen, auch konnte ich nichts fragen oder über mich erzählen. Alles hätte mich nur noch kleiner gemacht. Stattdessen stand ich einfach nur da und fühlte, wie ich unsichtbar war. Eine junge Frau trat auf uns zu und fragte Silvo mit standardisierten Fragen über seine berühmten Routen aus, kritzelte Notizen auf einen Block. «Wann haben Sie angefangen zu klettern?» und «Hatten Sie jemals einen Unfall?» Sie kamen auf das Thema zu sprechen, welche seine schwierigsten Routen waren, und John Porter, der einer der Organisatoren des Symposiums war, erklärte der Journalistin einige der Routen und welche Rolle sie für den Alpinismus spielen. Silvo war ein harter Brocken für die beiden. Die berüchtigte «Teufelsverschneidung» am Fitz Roy wurde erwähnt, die er zusammen mit dem ebenso begnadeten Janez Jeglicˇ und Francˇek Knež 1983 geklet88


tert war. Die Route hatte bei westlichen Kletterern den Spitznamen «Das dich runterspülende slowenische Todescouloir», 1200 Meter loser Fels und Gefahr. Karo und seine Freunde hatten mit unendlicher Geduld im Lauf von über zwei Monaten an der Erstbegehung gearbeitet, waren an Fixseilen abgeseilt, die sie in den Sturmpausen angebracht hatten, die Belagerung unterstrich die Ernsthaftigkeit. «Es war hart», lautete Silvos einsilbige Beschreibung. Wenn Ian und ich diese Route geklettert wären, im Winter, nur wir beide, Alpinstil, dann wäre ich vielleicht nicht unsichtbar gewesen. In diesem Moment begann eine neue Bergfahrt. «Mr. Kirkpatrick?», fragt der aus dem Untersuchungszimmer kommende Doktor. «Mr. Kirkpatrick?» Ich folge ihm, vorbei an den Zeitverschwendern, humpelnd und steif. «Setzen Sie sich auf den Stuhl», sagt der Doktor, mechanisch wie ein Roboter, der die Kranken abarbeitet. «Wie ich sehe, haben Sie sich den Kopf angeschlagen», sagt er und schaut auf meinen blutigen Skalp hinunter wie jemand, der nachsieht, ob die Toilette gespült wird. «Was ist passiert?» Ich war schon lange nicht mehr mit dem Fahrrad gefahren, aber an diesem Morgen hatte ich beschlossen, zu Patagonia in Matlock zu radeln, was etwa vierzig Kilometer entfernt lag. Dort würde ich mit jemand aus der Führungsetage zu Mittag essen und den Vertrag unterschreiben. Wie üblich unterschätzte ich sowohl Zeit als auch Distanz, fing an zu schwitzen und meine Füße versuchten sich daran zu erinnern, wie man Fahrrad fuhr. Das Rad fühlte sich an wie ein Auto, das zu lange herumgestanden war. Alles fühlte sich anders an, und zwar im negativen Sinn. Ich hatte außerdem meinen Fahrradhelm vergessen, und ohne ihn zu radeln verunsicherte mich, so ähnlich wie unangeschnallt Auto zu fahren. Schweißüberströmt, ausgepowert und japsend anzukommen schien mir kein guter Anfang einer Profi-Athleten-Karriere zu sein. Jedenfalls wollte ich nicht so zu diesem Treffen 89


erscheinen. Dann schien mir wieder, genau dieses Aussehen würde meinen Charme unterstreichen. Ich unterschrieb ganz unten und wir gingen zum Mittagessen. Es ging nicht um viel Geld, nur um einen Bruchteil meines alten Gehaltes, aber es war ein Anfang und gab mir ein bisschen mehr Freiheit, klettern zu gehen. Beim Unterschreiben erzählte ich Hervé, dem französischen Manager, der für den britischen Markt zuständig war, dass es für mich seltsam sei, mit dem Tragen von Kleidern Geld zu verdienen, denn als Kind hatte meine Mutter Geld vom Sozialamt bekommen, um mir Kleider kaufen zu können. Sein Leben zu riskieren scheint gar nicht so schlimm, wenn man nur gut genug dabei aussieht. Wie immer sprach ich zu schnell, und er lächelte nur, wahrscheinlich hatte er keine Ahnung, von was ich sprach. Nachdem das Mittagessen beendet war, sagte ich Auf Wiedersehen und schwang mich auf mein Fahrrad, um heimzufahren. Ich musste um halb fünf wieder drüben bei Jean sein, unserer Babysitterin. Es würde also noch einmal eine schweißtreibende Fahrt werden. Meine Phantasie eilte mir an diesem Nachmittag voraus. Das war nur der Anfang. Mit weiteren schwierigen Routen würde ich bessere Deals angeboten bekommen und mehr Geld verdienen, was meine Möglichkeiten bergzusteigen weiter vergrößerte. Wenn das Bergsteigen ein gut bezahlter Beruf war, gab es keinen Grund für Schuldgefühle. Den Vertrag zu unterschreiben war genau wie das Klettern einer schwierigen Route gewesen: ein weiterer Schritt für mich auf meinem Weg. Meine Aufregung darüber war schon fast vorbei, ich dachte bereits an die nächsten Ziele. Ich fragte mich, ob das Sponsoring Erfolgsdruck mit sich bringen würde, aber mir war klar, dass es nichts gab, was meine eigene Motivation übertrumpfen konnte. Aber würde es nicht so sein, dass meine Entscheidungsfähigkeit eingenebelt, dass das Bergsteigen nun zielorientierter wurde? Ich musste einen rationalen Blick auf die Dinge bewahren. Wie auch immer, ein sicherer Kletterer war ich schon, und je mehr ich kletterte, desto größer würde auch mein Sicherheitsgefühl werden. 90


Als ich über den Hügel hinunter nach Sheffield raste, die Finger um die Bremshebel geklammert, spürte ich die Ausgesetztheit, denn einen Helm hatte ich immer noch nicht. Wahrscheinlich war es genau meine Art von Glück, jetzt ein Schlagloch zu erwischen und dabei zu sterben. Immerhin machte ich immer ein großes Trara darum, dass Kletterer Helme tragen sollten. Oft dachte ich an den berühmten Kletterer, der viele schwierige Routen gemacht und den Everest bestiegen hatte, aber dann bei einer Reparatur im Badezimmer die Leiter runterfiel und sich das Genick brach. Der Tod lauert auch auf lichten Ebenen, nicht nur in dunklen Ecken. Ich bremste weiter, bis ich ein paar hundert Meter vor unserem Zuhause zum letzten kurzen Anstieg kam. Zweihundert Meter leere Straße und Terrassenhäuser. Das einzige Lebenszeichen war ein parkendes Auto. In einer Minute würde ich daheim bei den Kindern sein. Wir würden dann in den Park gehen und zur Feier Eiscreme essen. Ich bog in die Straße ein und raste hinunter, die Finger weg von den Bremsen, den Wind in den Haaren, die Schwerelosigkeit im Magen. Vor mir sah ich das Auto, das vor- und zurückfahrend einparkte. Der Fahrer öffnete die Tür. Ich zog auf die andere Seite der Straße hinüber und beschleunigte noch einmal, um den Anstieg schnell zu schaffen. Ich fragte mich, warum ich so lange nicht mit dem Fahrrad gefahren war. Verschwommen nahm ich wahr, dass die hintere Tür des Autos offen stand, aber ich wusste, dass mir nichts passieren konnten, denn ich hatte genügend Sicherheitsabstand. Plötzlich sprang etwas Schwarzes heraus. Ein Hund. Flüchtend. Panisch. Auf der Straße. Unmöglich, auszuweichen. Kein Helm. 91


Ich lag am Boden, keine Ahnung, wo ich war, die Welt drehte sich in zwei verschiedene Richtungen, ein Kaleidoskop, das nur langsam schärfer wurde. Ein blauer Himmel. Eine Straße mit Reihenhäusern. Ich konnte nicht atmen, aber wusste aus Erfahrung, dass die Atmung wieder einsetzen würde – Erfahrungen aus der Kindheit, als ich oft von Bäumen gefallen war. Man starb nicht, man atmete nur nicht. Ein Bein fühlte sich sehr schwer an, vielleicht gebrochen. Ich konnte es nicht hochheben, rollte zur Seite und versuchte zu atmen. Mein Schuh steckte immer noch im Pedal. Jetzt wusste ich es wieder: der Hund. «Haben Sie sich weh getan, mein Junge?», sagte eine alte Frau, die aus ihrem Haus kam und aussah wie meine Oma, eine Schürze, wie ein Geist. Sie starb, als ich ein Kind war. «Ich bin mit dem Hund zusammengestoßen», sagte ich. «Er ist auf dem Kopf gelandet», sagte eine Stimme hinter mir. «Sein Kopf blutet wirklich schlimm», sagte noch eine andere Stimme. Ich griff nach dem Kopf, die Finger zitterten, und fühlte einen warmen, klebrigen Fleck. «Hier, mein Junge», sagte eine andere Frau. Die Straße musste voll sein mit besorgten Leuten. «Lege das auf deinen Kopf.» Sie gab mir Küchenpapier. «Keine Angst, ich habe kein Aids», sagte ich. Das Blut war jetzt überall. Ich wollte bloß zeigen, dass ich keinen Gehirnschaden hatte, aber meine Aussage hatte genau die gegenteilige Wirkung. «Ist der Hund gesund?», fragte ich. Ich konnte meinen Hals nicht drehen. «Mach dir keine Sorgen um den Hund», sagte eine andere Stimme. Hörte sich ja nicht gerade gut an. «Ich habe die Rettung gerufen», sagte jemand dazwischen. «Mir geht es gut», sagte ich und stand aufgrund des Gedankens, in einen Rettungswagen steigen zu müssen, auf. Ich nahm mein Fahrrad. «Ich muss nach Hause zu meinen Kindern.» Ich versuchte, normal auszusehen, schwang mich in den Sattel und wollte ganz mir nichts, dir nichts wegfahren. Stattdessen 92


blieb ich auf der Stelle stehen, trat wie ein Clown vor mich hin, bis ich merkte, dass die Kette gerissen war. «Ich denke, es ist besser, wenn du wartest, Junge. Du warst bewusstlos», sagte die alte Frau und schnappte sich meinen Arm. «Oder zumindest läufst.» «Mir geht es gut», sagte ich und humpelte winkend weg. «Danke für das Küchenpapier.» Und das war alles, an was ich mich erinnerte. Irgendwann später erschien ich blutüberströmt zu Hause, erzählte Jean, dass ich wahrscheinlich einen Fahrradunfall mit einem Hund hatte, aber ich war nicht sicher. Ella fing an zu heulen, sie dachte, ich würde sterben. Mein Erscheinungsbild passte nicht zu ihrer notorischen Angst vor Blut. «Ist nicht so schlimm, wie es aussieht», sagte ich. Ich hatte mich noch nicht im Spiegel gesehen, sonst hätte ich mich davon überzeugen müssen, dass man kaum schlimmer aussehen konnte. «Geh nach Hause, Jean», sagte ich und versuchte, ruhig auszusehen. «Ich glaube, ich bleib lieber da, bis Mandy kommt», antwortete sie. Als das Telefon läutete, ich abnahm und dann wieder auflegte, hatte ich keinen blassen Schimmer, was ich gesagt und mit wem ich gesprochen hatte. Das Telefon läutete wieder. «Alles in Ordnung mit dir, Andy?», sagte eine Stimme am anderen Ende. «Ich habe gerade ein ziemlich seltsames Gespräch mit dir gehabt.» «Tschuldigung, ich hatte nicht die Absicht, unhöflich zu sein. Aber ich hatte gerade einen Fahrradunfall und bin auf den Kopf geflogen. Vielleicht habe ich einen Gehirnschaden.» «Ich fiel vom Fahrrad und landete auf dem Kopf», erzähle ich dem Doktor, der meinen Schädel betastet. «Sieht schlimm aus», antwortet er. «Es wird schwierig werden, die Wunde zu nähen, deswegen lassen wir sie einfach so. Wie ist es denn passiert?» «Ich fuhr in einen schwarzen Hund.»

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«Ein schwarzer Hund? Ich dachte, schwarze Katzen, die einem über den Weg laufen, brächten Unglück, aber nicht schwarze Hunde.» «Wenn er mir nicht über den Weg gelaufen wäre, wäre ich jetzt nicht hier.» «Da haben Sie recht.» «Ich trage immer einen Helm, bloß heute nicht», sage ich. Damit will ich zeigen, wie ernst ich es mit der Sicherheit nehme. «Und gerade heute rennt Ihnen ein schwarzer Hund über den Weg.» «Ja, so was Komisches. Genau heute.» «In der Tat», sagt er. Er öffnet eine Schublade und holt eine Broschüre raus – Kopfverletzungen – Was man darüber wissen sollte. «Lesen Sie das durch, und sollten Sie irgendwelche Symptome haben – akutes Kopfweh, Benommenheit, klare Flüssigkeit in den Ohren, so was – dann kommen Sie zurück. Okay?» Ich nehme die Broschüre. «Ich nehme an, Ihr Beruf bringt viele Unfälle mit sich?», fragt er unerwartet. «Wie meinen Sie das?», antworte ich. Ich weiß nicht, über was er spricht. «Auf Berge zu klettern», antwortet er grinsend. Bleibt nichts übrig, als davon auszugehen, dass er selbst Kletterer ist. «Nein. Ich lege Wert auf Sicherheit», sage ich. «Das denken alle.» Ich verlasse das Zimmer mit der Broschüre in der Hand. Meine Behandlung hat nicht länger als eine Minute gedauert. Der Arzt folgt mir zum Wartezimmer, das Klemmbrett in der Hand, froh darüber, den nächsten Namen aufrufen zu können. Vielleicht reicht es für ein Nickerchen, bis der nächste Schub um zwei Uhr morgens ankommt. «Passen Sie auf diese schwarzen Hunde auf, Mr. Kirkpatrick», ruft er mir hinterher. Dann sieht er sich im Zimmer um. «Mr. Bardwell?»

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Legenden zu den Farbtafeln

1 Auf dem Weg zum Diamond im

9 Ian Parnell steigt vorsichtig dem

Winter – ein ziemlich kalter Ort für

Gipfel des Longs Peak entgegen.

einen Urlaub. Foto: Andy Kirkpatrick.

Foto: Andy Kirkpatrick

2 Großartige Kletterei am zweiten Tag

10 Ella und Ewen. Foto: Andy

in der Lesueur-Route, das Schlechtwetter

Kirkpatrick

zieht ab. Foto: Andy Kirkpatrick

11 Paul, geplagt von Rückenschmerzen

3 Auf der Suche nach einem Biwakplatz

und einem Virus, während unserer

in der Lesueur – ein Tritt ist das Beste,

ungemütlichen Biwaks im Kamin an den

was es gibt. Foto: Andy Kirkpatrick

Droites. Foto: Andy Kirkpatrick

4 Paul Ramsden, gerade nachdem

12 Ella nach unserer geheimen

er mir gesagt hat, dass es mit der Erst-

Skiabfahrt von der Bergstation

begehung am Troll aus ist.

Les Houches. Foto: Andy Kirkpatrick

Foto: Andy Kirkpatrick 5 Im unbestiegenen Terrain der berüchtigten Trollwand. Foto: Andy Kirkpatrick 6 Ian Parnell endlich auf dickem Eis, unter dem Diamond. Foto: Andy Kirkpatrick

13 Robert Steiner – ein Mann für schwere Zeiten. Foto: Andy Kirkpatrick 14 Paul Ramsden quert hinüber zum Lagarde-Couloir. Foto: Andy Kirkpatrick 15 So sieht die Welt vermutlich aus, wenn man LSD nimmt. Das Film-Set für Charlie (man beachte die Figuren zur

7 Paul Ramsden in der Nordwand der

Linken zum Größenvergleich).

Droites. Foto: Andy Kirkpatrick

Foto: Andy Kirkpatrick

8 Ian Parnell greift an. Diamond. Foto: Andy Kirkpatrick

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D AS M AGISCHE

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Januar 2005

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eit ich in den Alpen klettere, träume ich davon, eine ganze Wintersaison in Chamonix zu verbringen, wie viele meiner Freunde,

einfach hingehen und nicht wieder zurückfahren, wenn auch nur für einen Monat oder zwei. Wenn ich mehr als drei Wochen dort war, konnte ich in einer schwierigen Route fit werden und dann, fit, wie ich war, gleich in noch etwas Schwierigeres einsteigen, statt wieder nach Hause zu fahren. So etwas hatte ich schon oft bei guten Bergsteigern gesehen, sie machten einen Gipfel nach dem anderen, ohne in die echte Welt dort unten absteigen zu müssen. Für die meisten von uns bleibt es ein Traum, eine ganze Saison zu klettern, man muss entweder genügend Geld haben, um ein paar Monate nicht zu arbeiten und sich ein Zimmer im Tal mieten zu können, oder man ist arm genug, dass einem alles egal ist, dann schläft man auf Fußböden und wenn das Ersparte ausgeht, schlägt man sich mit Kellnerjobs durch oder leert Mülleimer. Ich hatte immer Bergsteiger beneidet, die eine ganze Saison unterwegs waren. Wenn ich in den Bergen ankam, ging ich zur Ferienwohnung meiner Bekannten, um nach den Verhältnissen zu fragen. Jeder Quadratzentimeter war an Kletterer vermietet, um die Miete möglichst billig zu machen. Ihre Gesichter waren von der Sonne gebräunt, vom Wind gegerbt, mit Panda-Augen von den Ski- und Sonnenbrillen. Sie sahen aus wie Ski-Freaks, schon müde vom ununterbrochenen Spaß, aber so fit, wie man es nur sein konnte. Oft kamen sie als Kletterer an, mit dem Ehrgeiz, lange und harte Routen zu machen, aber dann wurden sie schwach und fingen an, Ski zu fahren. Bevor man es sich versah, war man ein Skifahrer geworden und die Kletterambitionen beschränkten sich auf Tagestouren, die dem Spaß auf den Pisten keinen Abbruch taten. Statt Erzählungen 382


von krassen Biwaks an den Grandes Jorasses oder verrückten SoloEskapaden hörte ich dann Geschichten vom «besten Pulverschnee aller Zeiten» oder Freeride-Abenteuern, großen Sprüngen und Abfahrten durch den Wald. All das verstimmte mich. Einer der wichtigsten Gründe im Niedergang des britischen Alpinismus ist die Metamorphose von Bergsteigern, die kaum Ski fahren können, zu Skifahrern, die kaum bergsteigen. Zum Teil waren daran die Bergsteiger schuld, die Bergführer werden wollten, denn für die Ausbildung brauchte man ein hohes Können im Skifahren, und im Handumdrehen wurden aus ihnen Skifahrer. Und doch war etwas Magisches dabei, dem normalen Leben den Rücken zuzukehren und den ganzen Winter an einem Ort in den Alpen zu verbringen. Jetzt war ich an der Reihe. Den ganzen Sommer über hatte ich an die Alpen gedacht. Der Ruf des Winters half mir, die Tatsache zu ignorieren, dass ich nicht klettern konnte und ein stinknormales Leben führte. Ich hatte das mulmige Gefühl immer im Hinterkopf, dass mir die Zeit durch die Finger rann, und sagte mir, wenn der Winter kam, würde ich meine Sachen packen und endlich wieder etwas Gescheites klettern. Was mich in Charlie und die Schokoladenfabrik durchhalten ließ, war der Gedanke, dass ich genügend Geld verdient hatte, um mir sechs Wochen in den Alpen zu leisten. Den ganzen Sommer über machte ich Pläne, fand eine winzige, günstige Wohnung gerade außerhalb des Tales von Chamonix und suchte nach Kletterpartnern. Sechs Wochen weg von der Familie zu sein war zu lange, deswegen planten Mandy und die Kinder, die Hälfte der Zeit da zu sein. Es schien ein perfekter Plan – aber wie immer machte die Realität einen Strich durch die Rechnung. Mandy entschied, dass wir umziehen sollten, unser Haus war ihr zu klein. Sie beschwerte sich, dass wir keinen Garten hatten, was mich überhaupt nicht störte, denn meiner Erfahrung nach waren Gärten bei Leuten wie uns, die weder das Geld noch die Zeit hatten, um sich darum zu kümmern, einfach nur von Dschungel über383


wucherte Flächen. Ich bin in Hochhäusern aufgewachsen, wo nur Flechten und Moos auf den Balkonen wuchsen, und der Sinn eines Gartens erschloss sich mir überhaupt nicht. Mandy war jedoch felsenfest entschlossen und so machte ich mit, und es machte mir überhaupt nichts aus, als ich herausfand, dass unser Umzugstag in der Mitte meines geplanten Trips in die Alpen stattfinden sollte. Es war nicht weit vom alten Haus ins neue, nur ein paar hundert Meter die Straße runter, aber ich wusste, dass ich dabei sein musste. Ich war zu selbstsüchtig, zu sehr mit meinem Traum beschäftigt, und ich überließ es Mandys Freunden, ihr beim Umzug zu helfen. Ich merkte meine Selbstsüchtigkeit nicht mal, so sehr war ich auf das fokussiert, was ich wollte. Manchmal ist es beschämend, wenn man merkt, dass man sich nichts in den Weg stellen lassen lässt. Ich packte das Auto mit allem, was ich für jede erdenkliche Nordwandroute, egal ob Alpinstil oder Bigwall, brauchte, küsste die Familie zum Abschied und fuhr auf die Fähre, die lange Fahrt zu den Alpen begann. Ich erreichte Frankreich am Abend und fuhr die Nacht durch. Mit der Morgendämmerung fielen die Temperaturen, ich fuhr hoch in die Berge. Ich wusste, dass ich vor meiner Familie wegrannte, in ein anderes Leben flüchtete. Ich dachte oft darüber nach, über das Wegrennen. Wenn die Leute Geschichten über Väter erzählten, die nur kurz in ein Geschäft wollten, um Kekse zu kaufen, und nicht zurückkamen, verstand ich das voll und ganz. Die Idee, auf einem Berg zu verschwinden, schien ein wenig vornehmer, aber der Unterschied zwischen beiden war denkbar gering. Es war außergewöhnlich, im eigenen Auto nach Chamonix zu fahren, als ob ich endlich damit rechnete, eine ganze Weile dort zu bleiben, als ob ein Wort sich zum anderen gesellte, mein Zeug, mein Auto, meine Familie; die Barriere zwischen beiden Welten brach endlich zusammen. Durch die schmutzige Frontscheibe sah ich hoch zu den Drus und den Aiguilles, Schneefahnen hingen am sonnenbeschienenen Gipfel des Montblanc, ein Hochdruckgebiet näherte sich. Es würde unglaublich werden. 384


Ich fand meine Wohnung in der winzigen Ortschaft Servoz, zog ein, sortierte im warmen Sonnenschein mein Material auf der Veranda. In einer Woche wollte Paul mit dem Flugzeug nachkommen, und bevor er ankam, wollte ich den Walkerpfeiler an den Grandes Jorasses im Alleingang geklettert haben, deswegen packte ich am Nachmittag alles dafür zusammen, mein Kopf war voll von spannenden Gedanken, ich wählte das Sicherungsmaterial aus, ölte meine Klemmgeräte, damit sie in der Kälte nicht zu schwerfällig wurden. Ich fuhr in die Stadt und machte eine Kopie des Topos, kaufte einen Berg von Essen und meldete dem Rettungsdienst, wo ich war, wenn ich nicht zurückkam, Selbstvertrauen durchströmte mich, als ich durch die Straßen von Chamonix lief, und ich wusste, nichts konnte mich aufhalten. Eine Woche später hatte ich nichts gemacht, außer im Bett zu liegen. Ein Virus war schon den ganzen Winter im Tal von Chamonix herumgegangen, und gleich nachdem ich ankam, entdeckte es mich, es fing mit meinem Hals an, breitete sich im ganzen Körper aus, schlug mich k.o. und zerschmetterte meine Pläne. Ein paar Tage lag ich im Schlafzimmer, mit heruntergezogenen Vorhängen, tat mir selbst leid, nur mit äußerster Anstrengung schaffte ich es ins Wohnzimmer. Dort saß ich, sah das französische Fernsehen an, sah sehnsüchtig zu meinem fertig gepackten Material in der Ecke, das nur darauf wartete, zum Einsatz zu kommen. Mein einziger Trost war, dass ich Zeit hatte, viel Zeit, und dass ich bald wieder gesund war. Dann fing es an zu schneien – und zu schneien. Und zu schneien. Vier Tage gingen vorüber, dann riss ich mich zusammen und machte einen Spaziergang hinauf durch den Wald, bis zu den Knien im Schnee, ich fühlte mich schwach. Ich betete, dass ich wieder fit sein würde, wenn Paul ankam, und dass das Wetter besser würde. Der Schnee bedeckte alles. Ich dachte, wie es wäre, wenn ich jetzt oben an den Grandes Jorasses wäre. Wahrscheinlich wäre ich jetzt irgendwo in Gipfelnähe, wenn ich es geschafft hätte einzusteigen. 385


Ich hatte damit gerechnet, dass ein Sturm kommen konnte, aber einfach nur gedacht, dass ich schon damit zurechtkommen würde, wenn es soweit war, ich wollte mich nicht abbringen lassen. Ich habe schon viele Stürme erlebt. Im Kopf wüten sie immer am schlimmsten. Ein Wind blies durch die Baumkronen, Schneeflocken rieselten auf mich herunter, große weiße Flecken auf meiner roten Jacke. Ich stellte mir vor, ich sei hoch oben am Walker, ein schneidend kalter Wind, der Schnee glitt unter meinen Füßen vorbei. Es gab dort nichts zum Biwakieren. Der Wind blies stärker, die Bäume ächzten, große Schneeklumpen fielen auf den Boden. Ich wünschte, die Kinder wären da gewesen. Ich traf Paul am Flughafen in Genf, freute mich, nach einer Woche in Einzelhaft sein Hundegesicht zu sehen. Wir beide hatten schon so viele Fehlschläge auf unserer Rechnung, und ich hoffte, dass wir dieses Mal ein wenig Glück hatten. Als wir nach Servoz fuhren, gab Paul zu, dass er sich unfit und fett fühlte, er hatte zu viel gearbeitet. Da er viele Übungen nach Pilates betrieb, war sein Rücken besser geworden, nur ab und zu stach es noch. Die Pilates-Übungen waren so was wie New Age für Paul. Ich sagte ihm, dass es mich auch erwischt hatte, dass ich aber am nächsten Tag fit genug zum Bergsteigen sein würde. «Wir müssen endlich mal was klettern, egal was», sagte Paul. «Egal was», wiederholte ich. Wir wollten etwas Anspruchsvolles machen, aber nichts allzu Extremes, schließlich waren wir unfit, hatten Jobs und Kinder. Wir wählten die Messner-Route an der Nordostwand der Droites, eine Mixedroute, die selten im Winter gemacht wurde, in der wir langsam und sicher das machen konnten, worin wir gut waren: schottisches Mixedklettern, leiden und biwakieren. Ich hatte die Nordwand schon zweimal durchstiegen, zuzüglich einer Handvoll fruchtloser Versuche, ich kannte den Abstieg, es war Zeit, was Neues zu probieren. 386


Die Wand war breit, wurde vom Nordostpfeiler in zwei Hälften geteilt, jeweils zwölfhundert Meter lang, die Wände auf beiden Seiten waren einen Kilometer hoch und meist sechzig Grad steil, die Steilstufen nicht einberechnet. Wir packten am Morgen, hielten uns auf der sicheren Seite und nahmen Essen für vier Tage und ein kleines Biwakzelt mit. Die Messner-Route bestand hauptsächlich aus einem Felspfeiler, was bedeutete, dass wir, einmal auf Route, zum Gipfel klettern konnten, egal, wie langsam wir waren. Der altbekannte Zustieg von der Grands-Montets-Seilbahn war schnell vorbei, der Schnee war hart, der Pulver in den letzten Tagen weggeblasen worden. Statt über den Gletscher hinüber zur Argentière-Hütte zu gehen, wo es einen klammen Winterraum gab, wählten wir einen Biwakplatz am Fuß der Wand aus, die Route war vor unserer Haustüre. Wir liefen die flachen Hänge hoch, bis wir ein paar hundert Meter vom Bergschrund einen flachen Platz fanden, meine Beine schienen aus Blei. Ich war immer noch schwach, das Virus war noch nicht ganz überwunden. Wir hackten mit den Eisgeräten eine Plattform aus dem Schnee, machten Pause, studierten die Route vor uns. Sie begann mit moderater Eiskletterei, führte auf ein Schneefeld, dann begann ein steiler Granitpfeiler. «Sieht nach einer Route mit allem Drum und Dran aus», sagte Paul, während er das Zeltgestänge ineinandersteckte. «Das Wetter sieht auch gut aus», antwortete ich, der Abendhimmel war frei von Wolken. «Vielleicht haben wir diesmal Glück», sagte Paul und steckte das Gestänge ins gelbe Zelt. Wir schlüpften hinein, die Nacht brach an, wir machten es uns in unseren dicken Schlafsäcken bequem. «Wie hat das mit dem Virus eigentlich angefangen?», fragte Paul nach einer Weile. «Ich hatte Schmerzen im Hals und Fieber», antwortete ich. «Warum?» «Entweder ist dieser Schlafsack wärmer, als ich gedacht habe, oder ich bekomme gerade Fieber», sagte er.

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Ich lag im Dunkeln, selbst noch nicht ganz erholt, und wusste, dass wir am nächsten Morgen wieder absteigen würden. Wir wachten auf, bevor der Weckalarm losging, das Kling-Kling von vorbeilaufenden Kletterern war zu hören, Rufe auf Französisch hallten von der Wand wider, während sie den Bergschrund überwanden und zu klettern begannen. Ich nahm an, dass sie in die parallel zu unserer Route verlaufende Koenig-Suhubiette einstiegen, kam mir schuldig und faul vor, so herumzuliegen, während andere wach waren und kletterten. Wahrscheinlich war es erst drei Uhr morgens. Sie hatten vor, die Wand an einem Tag zu machen. Ich lag in meinem warmen Schlafsack im Zelt, es tat gut, langsam zu machen, im Fluss zu liegen, auf die Flut zu warten, unsicher, ob die Dürre noch anhielt. «Bist du wach, Paul?», flüsterte ich. «Ja», flüsterte er zurück, als ob wir nicht wollten, dass die Franzosen um unsere Existenz wussten. «Wie fühlst du dich?» «Nicht schlecht», sagte er, was in der Sprache der Leute aus Yorkshire bedeutete, dass es ihm schrecklich ging. Der Wecker ging um fünf Uhr los und ich lag einen Moment da, wartete darauf, dass Paul unsere Pläne absagte, was zur frühen Morgenstunde noch am besten zu verkraften war. Er aber öffnete seinen Schlafsack, stützte sich auf den Ellbogen auf und zündete den Kocher an. «Wie fühlst du dich?», fragte ich, immer noch auf dem Rücken liegend. «Ich habe Kopfweh. Mir geht es ein kleines bisschen beschissen», sagte er, was sich nicht allzu gut anhörte. «Bist du fit genug zum Klettern?», fragte ich, besorgt darüber, ob er sich mir zuliebe in Lebensgefahr brachte. «Ich probiere es mal.» Wir hatten in den letzten Jahren so viele Enttäuschungen erlebt, dass er, so vermutete ich, sich nichts mehr in den Weg stellen lassen wollte.

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Als wir das Zelt zusammengepackt und den Bergschrund überwunden hatten, kam die Morgendämmerung. Die ersten paar Seillängen waren steil, aber nicht zu steil, wir stiegen langsam, machten oft Halt. Als das Sonnenlicht auf den Gletscher traf, konnten wir das französische Team ausmachen, das ebenso langsam vorankam, ein paar hundert Meter zu unserer Rechten, das Echo ihrer Rufe hallte hin und her, und die Atmosphäre der Isolation ließ von der Wand ab. Die einzige bemerkenswerte Seillänge war eine steile Rippe aus Schnee und Eis, die über eine glatte Granitplatte führte, eine jener Seillängen ohne jede Sicherung, aber mit verlässlichem Eis. Hier musste man sich selbst unter Kontrolle haben, der einzige Feind war die Angst. Während ich vorstieg, überlegte ich, wann ich das letzte Mal eine Eisseillänge vorgestiegen war, wahrscheinlich war es in der LesueurRoute vor einem Jahr gewesen. Die Seillänge schüchterte mich ein, der Rucksack drückte auf meinen Rücken, ich hatte den Eindruck, meine Steigeisen könnten jeden Moment durch den Schnee rutschen, worauf ich allein an den Geräten hängen würde. Ich drängte das Gefühl zurück, sagte mir selbst, dass ich schon viel härtere Seillängen vorgestiegen war, und zwar ohne Erfahrung, und jetzt hatte ich viele zehntausend Meter mehr auf dem Buckel als der Neuling, der ich damals war, und konnte so etwas leicht klettern. Es war wie Fahrrad fahren, nur den Berg runter und über eine von Schlaglöchern übersäte Straße. Ich musste mich nur auf die positive Aktion konzentrieren, nicht auf negative Emotionen. Das Eis wurde dünner, nur etwa zehn Zentimeter, dick genug für Eis, aber dünn für Schnee-Eis, das die Konsistenz von überfrorener Eiscreme hatte. Ich stieß die Steigeisen fest hinein, so viel Metall und Schuh wie möglich sollte im Eis sein, mein ganzes Gewicht lastete darauf, jeder Schritt war ein kleiner Akt des Vertrauens. Meine Haue traf den Fels und federte zurück, und sofort spürte ich, dass ich nur auf den Füßen balancierte. Der Rucksack war schwer, zog mich zurück. 389


Meine Aufmerksamkeit war plötzlich bei den Füßen, ich meinte zu spüren, wie sie rutschten. «Ein bisschen dünn hier, Paul. Pass auf.» Ich atmete ein und aus und konzentrierte mich darauf. Ein und aus. Ein und aus. Ich versuchte es mit dem Eisgerät etwas höher, es war die einzige Chance weiterzukommen. Es sprang wieder zurück. Ich setzte es neben das andere Eisgerät, meine Arme wurden langsam müde, meine Waden brannten. Ein und aus. Ein und aus. Ich hackte das Eis vor meinem Gesicht weg, um einen kleinen Absatz zu schaffen, der Fels darunter war blank, dann drehte ich mein Eisgerät um neunzig Grad, damit die ganze Länge der Haue darauf hookte. Dann trat ich fest ins Eis, zuerst links, dann rechts, stieg höher, stützte mich auf dem Absatz, den ich gehackt hatte, ab. Ich versuchte es mit dem anderen Eisgerät höher, es war nur ein ganz schwacher Schlag, ich hatte Sorge, dass ich flog, wenn das Eisgerät wieder zurücksprang. Das Gerät drang ein paar Zentimeter ein. Ich stieß die Steigeisen wieder ins Eis, beide Eisgeräte hielt ich ganz ruhig dort, wo sie waren, zuerst links, dann rechts, dann stieg ich höher. «Wenn irgendwas nicht hält, dann fliege ich runter», dachte ich. Wie oft war ich schon in solchen Situationen gewesen? Irgendwann mal würde etwas nicht halten. Ich setzte die andere Haue ein bisschen höher und schlug etwas fester zu, sie drang ein paar Zentimeter tiefer ein. Ich setzte meinen Fuß auf den Absatz, den ich geschlagen hatte, betete zu Gott und stieg höher. «Wie geht es?», fragte Paul fröhlich.

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Der Tag ging schnell vorbei, und die Dunkelheit überraschte uns, während wir das große Schneefeld unter dem Felspfeiler hochstiegen. Wir hatten vielleicht ein Drittel der Route geschafft, alles Schwierige war noch vor uns. Das Glück war mit uns, denn wir stießen auf einen kleinen Felsaufschwung, der etwa die Größe eines kleinen Schuppens hatte. Unter ihm konnten wir übernachten, wenn es uns gelang, einen guten Absatz zum Biwakieren zu graben, die Sicherungen waren in Ordnung. An ein paar Klemmkeilen hängend, hackten wir mit unseren Geräten herum, hielten immer wieder an und machten Pause, beide hätten wir alles für einen Schluck zu Trinken gegeben. «Ich bin im Arsch», sagte Paul, hielt an und stützte seinen Kopf am Fels ab. Als Schnee und Eis weggehauen waren, hatten wir einen Absatz, groß genug für das Zelt, das wir gleich aufstellten und am Fels festmachten. Es war fast wie auf dem Campingplatz. Paul kletterte ins Zelt, ich reichte ihm das Biwakzeug, ich hörte den Echos der Franzosen zu, ihnen war die Zeit ausgegangen, sie seilten wieder über die Route ab, ihre Stirnlampen schienen hoch und runter. Im Zelt konnten wir vergessen, dass wir in einer steilen Wand waren, zumindest solange man sich nicht von der bergzugewandten Seite fortbewegte, denn sonst spürte man plötzlich die Leere unter einem. Weil Paul krank war, bekam er den Platz am Berg, und ich versuchte zu verinnerlichen, dass ich mich in der Nacht nicht in die falsche Richtung wälzen durfte. Der Kocher surrte, Paul lag auf seinem Rücken und starrte die an der Zeltdecke wachsenden Eiskristalle an. Es war offensichtlich, dass es ihm nicht gut ging. Aber mir ging es auch nicht viel besser. Mein Herz klopfte sehr stark und sehr schnell. Ich war nicht sicher, ob die Höhe die Ursache war, öffnete deswegen den Zelteingang ein paar Zentimeter, nur falls der Kocher zu viel Sauerstoff verbrauchte. Mein Herz raste immer noch. 391


«Hier, für dich, Paul», sagte ich und reichte ihm eine Tasse Nudeln. Dann hörte ich, zwischen den pochenden Schlägen meines Herzens, wie ein Hubschrauber unter uns im Dunkeln auftauchte. Es war ungewöhnlich, dass ein Hubschrauber in der Nacht herumflog, deswegen steckte ich meinen Kopf aus dem Zelt und sah, wie das blitzende rote Licht über den Gletscher unter uns schwebte. Der Strahl eines großen Scheinwerfers erschien, der Hubschrauber wurde zu einem großen UFO, das glücklose Kletterer aufsaugte. Das weiße Licht fegte über das Eis, bis es den Bergschrund traf, dann kroch es die Wand unter uns hoch, entlang unserer Spuren. «Was macht der bloß?», fragte Paul und schluckte seine Nudeln runter. «Ich denke mal, die suchen uns?» Der Hubschrauber stieg höher und höher, bis der große Scheinwerfer das Zelt beleuchtete, was für eine kleine Überraschung gesorgt haben muss, ein Zelt mitten in dieser Wand, das der Schwerkraft zu trotzen schien, wie eine Klette am Rumpf des Berges. Der Hubschrauber blieb einen Moment so stehen, beobachtete uns, und ich winkte, um zu mitzuteilen, dass es uns gut ging, ich fragte mich, ob es ein Signal gab, das hieß «Wir campen hier». Wahrscheinlich hatte jemand unsere Lichter in der Wand gesehen und geglaubt, wir hätten ein ernstes Problem. «Frag mal, ob sie Paracetamol haben», sagte Paul. Mit einem großen Brausen glitt der Hubschrauber davon, hinunter zum Gletscher, das Licht wurde kleiner, es verschwand unten im Tal. Wir waren wieder mit unseren Nudeln alleine. Es war schon helllichter Tag, als wir unsere Sachen zusammengepackt hatten. Alles ging wie in Zeitlupe vor sich. Paul sah aus, als ob er Schmerzen hätte. Wir packten die Sachen in unsere Rucksäcke, und ich fühlte mich seltsamer als in der Nacht zuvor, mein Herz pochte immer noch. Wir mussten dringend abseilen, das wussten wir beide. «Wir könnten von hier aus rüber ins Lagarde Couloir queren», sagte Paul und zeigte nach links in die Wand. Die Lagarde-Route war einfacher, sie führte über den östlichen Teil der Wand hoch und bestand 392


aus einem großen Gully. «Die Route ist einfach, wir könnten es heute bis zum Gipfel schaffen.» Paul würde nicht aufgeben. «Guter Plan», sagte ich, und wir stiegen los. Nach einer Reihe von Quergängen kamen wir im Lagarde Couloir an und begannen an der Seite hochzuklettern. Wir legten mehr Sicherungen als üblich, unsere Verfassung war nicht die beste. Jede Seillänge schien eine Ewigkeit zu dauern. Mein Herz verhielt sich immer komischer, es schlug sehr fest, dann plötzlich setzte es für einen Schlag aus, Bu-bum, Bu-bum, Bubum, dann für einen Schlag Stille, danach erholte es sich mit einem schwachen Bum-bum, bis es wieder normal weitermachte, als ob es verschnaufte. Es war beängstigend, so ein Herz zu haben, ich hatte das Gefühl, dass es jeden Moment stehen bleiben konnte. Sehr beängstigend. Ein vernünftiger Mensch wäre sofort abgestiegen und hätte den Doktor aufgesucht. Ich tat weder das eine noch das andere. Ich machte weiter, auch wenn ich überzeugt war, dass ich jeden Moment tot herunterfallen konnte. Wir kletterten gerade die nächste Seillänge, als etwas auf der Seitenwand meine Aufmerksamkeit erregte. Zuerst hielt ich es für Eis, dann realisierte ich, dass es ein faustgroßer Kristall war, ein großer Klumpen schöner Quarz. Ich kletterte hin, zog meinen Handschuh aus und strich mit den Fingern darüber, er war perfekt, glatt und geometrisch. Das letzte Mal, als ich einen solchen Kristall gesehen hatte, war am Poincenot in Patagonien gewesen. Ich war damals auf einen kleinen, mit Steinen gefüllten Hohlraum gestoßen, so wie diesen hier. Instinktiv wollte ich einen Kristall mit meinem Eisgerät herausschlagen und mitnehmen, aber als ich den Hammer hob, hielt ich plötzlich ein und glaubte, wenn ich ihn stahl, würde mich der Berg bestrafen. Derselbe Gedanke erschien nun wieder in meinem Kopf, als ich an den Les Droites stand: Der Berg würde mich bestrafen. Es machte dem Berg etwas aus. Ich hob den Hammer und schlug den Kristall heraus und steckte ihn in meinen Rucksack. 393


Wir wechselten uns beim Vorsteigen ab, bis fast in die Nacht, wir glaubten, es zum Gipfel schaffen zu können, und wussten doch, dass es wahrscheinlich nicht klappte. Der Gully lief aus, wir verließen ihn durch einen weiten Kamin, suchten nach einem Platz zum Schlafen. «Ich glaube, ich habe was gefunden», krächzte Paul, und ich kletterte zu ihm hoch, um ihn auf einem großen, verklemmten Felsblock vom Umfang einer umgefallenen Mülltonne mit Rädern sitzen zu sehen. Der Block war groß genug, damit wir beide dort sitzen konnten, aber schon nach einer Minute nahm der Wind zu und überschüttete uns mit Spindrift aus den Hängen unterhalb des Gipfels. «Schauen wir mal, ob wir das Zelt irgendwie draufgestellt bekommen», schlug Paul vor. Er sah im Stirnlampenlicht bleich aus, als ob er jeden Moment tot umfallen könnte. Wir arbeiteten schwer, schlugen Eis weg und steckten das gefrorene Gestänge ineinander, bis das Zelt halb auf dem kleinen Absatz stand, halb in der Luft hing. Wieder mal hatten wir einen unmöglichen Zeltplatz gefunden. Wir quetschten uns hinein, jeder auf seiner Seite, und hatten ganz schön damit zu schaffen, irgendwas Solides für unsere Schultern und Ärsche zu finden, der Rest hing sowieso im Leeren. Spindrifts kamen jetzt in Strömen herunter, drückten auf das Zelt, Schnee häufte sich auf, stieß uns aus unserem kleinen Nest, bis wir ihn wegräumten. «Ziemlich heftig», sagte Paul, was aus dem Munde eines Meisters der harten Biwaks eindeutig war. «Könnte schlimmer sein», antwortete ich, eine Beruhigung war es freilich nicht. Mit großer Sorgfalt stiegen wir in die Schlafsäcke. Dann holte Paul den Kocher heraus und zündete ihn an. Aber mit dem ersten Funken schoss eine dreißig Zentimeter lange Flamme heraus. «Schüttel den Kocher nicht, Paul», keuchte ich panisch, ich ging davon aus, dass das Zelt in Flammen aufging. «Mach ich doch nicht», sagte Paul, ein weiterer Feuerball wurde vom Kocher ausgestoßen. «Doch, verdammt noch mal, das machst du», sagte ich und zuckte zusammen. «Bewege den Kocher nicht.» 394


«Ich bewege den verdammten Kocher überhaupt nicht, irgendwas ist mit ihm nicht in Ordnung», sagte er. Er versuchte, sein Gesicht vor der raketenähnlichen Flamme in Deckung zu bringen. «Gib mir den Kocher, du hältst ihn zu wackelig», sagte ich, nahm den Kocher und zeigte ihm, wie man ihn halten musste. Der Kocher stieß wieder große Flammen aus, die fast die Zeltbahn berührten. «Hab ich doch gesagt», sagte Paul und sah zufrieden aus. Schnee rieselte in großen Mengen auf das Zelt. Endlich beruhigte sich der Kocher, und nach dem ersten Getränk und den Nudeln versuchten wir, es uns gemütlich zu machen, was in unserer verkrampften Lage nicht einfach war. Das Geräusch des herunterprasselnden Spindrifts, das Pochen meines Herzens und Pauls Ächzen waren dem Schlaf alles andere als zuträglich. Halb lagen wir auf dem Klemmblock, halb in der Luft. Ich fühlte mich nicht in der Lage, mich einen Zentimeter zu bewegen, als ob die kleinste Änderung meiner Position dazu führen würde, dass ich über die Kante in den Abgrund glitt, im Zelt gefangen, bis die Nähte rissen. Meine Füße waren bei Pauls Gesicht, seine bei meinem. Unser Biwak hatte den Komfort einer von zwei Leuten geteilten Parkbank. Es war eine der Nächte, in denen man nach dem Seil griff und sicherstellte, dass man noch eingebunden war, indem man daran zog und das Schlappseil überprüfte, damit man nicht zu weit fiel. Der Schnee rieselte weiter auf uns und wir begriffen, dass der Kamin der natürliche Weg des Schnees war und wir mitten im Strom campierten, das Zelt war wie ein verklemmter Baumstamm, der sich unter dem Angriff des Wassers bog. So schnell man den Schnee mit Fäusten und Ellbogen beseitigen konnte, so schnell war er auch wieder da. Ich machte mir Sorgen, ob das Gestänge nicht brach oder ob der Spindrift uns vom Block drückte, und den größten Teil der Nacht verbrachte ich wach. «Das ist wirklich heftig», murmelte Paul, seine Stimme war gedämpft und schien von weiter Ferne zu kommen. Ich knipste meine Lampe an und sah, dass sein Kopf unter der eingedrückten Zeltplane 395


eingeklemmt war. Es sah aus, als ob irgendjemand, der besonders groß und fett war, sein Hinterteil auf dem Zelt geparkt hatte. «Ich stimme dir zu», sagte ich. Und das tat ich. Wir hatten am nächsten Morgen nicht das Bedürfnis, uns noch lange dort aufzuhalten. Sobald die Dämmerung da war, entstiegen wir dem Kamin und kletterten über die letzten Hänge zum Ostgipfel der Droites. Wir kletterten gleichzeitig, es wehte ein leichter Wind, die Sonne spielte im Schnee, der vom Gipfelgrat geblasen wurde. Wir beeilten uns auf den letzten Metern, wir wollten, dass es vorbei war. Am Gipfel setzten wir uns hin uns schüttelten uns die Hände. Das gesamte Bergmassiv breitete sich um uns aus. Ich kannte es schon. Es dauerte zwei Tage, bis wir wieder im Tal waren. Je tiefer wir stiegen, desto mehr beruhigte sich mein Herz, aber Paul wurde immer kränker, und als ich ihn zum Flughafen fuhr, sah er aus, als ob er eigentlich in die Notaufnahme müsste. Ein paar Tage später fuhr ich wieder zum Flughafen, ich holte Mandy und die Kinder ab. Mein Herz machte einen großen, diesmal anders gearteten Hüpfer, als ich sie durch den Zoll kommen sah. Die Kinder rannten zur Glasabsperrung und winkten wie verrückt. Das war es, jetzt trafen sich die beiden Seiten meines Lebens. Ella und Ewen hatten in ihrem Leben noch nie so viel Schnee gesehen, und sie machten dieselben komischen Fehler wie alle anderen Kinder, so formten sie etwa Schneebälle mit bloßen Händen oder vergaßen, ihre Schneeanzüge zuzumachen, bevor sie die Hänge hinunterrutschten. Die Folge waren heiß prickelnde Schmerzen; verblüfft und mit Tränen in den Augen streckten sie ihre Hände aus, die Kleider waren vom schmelzenden Schnee durchnässt. Aber sie lernten schnell und bald war es so, dass sie die Hände in die Luft streckten, wenn sie ohne Handschuhe in den Schnee fielen. «Ihr müsst euch einfach vorstellen, der Schnee ist radioaktiver Müll», erzählte ich ihnen. «Man darf ihn nur berühren, wenn es gar nicht anders geht.»

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Eine Woche konnte ich nicht klettern, deswegen lebten wir ein Familienleben, mein Training bestand darin, die Kinder im Schlitten herumzuziehen, was gut war, nach den Droites fühlte sich mein Körper stärker. Mandy hatte Lust aufs Skifahren, deswegen fuhren wir zum Kinderskilift nach Argentière. Ich konnte selbst kaum fahren, gab Mandy und den Kindern aber trotz limitierter Kenntnisse Unterricht, wir fuhren mit geliehenen Skiern auf den flachen Hängen herum und liefen dann zu Fuß wieder hinauf. Es war die übliche britische Ski-Katastrophe, die Kinder fielen im Schlepplift um und heulten oder fuhren im Schuss in den Wald, ohne bremsen zu können. Da ich für alles verantwortlich war, wurde ich notwendigerweise schnell selbst besser und bald fuhr ich mit Ewen und Ella zwischen den Beinen hinunter, ihre Ski zwischen meine eingeklemmt. Ich hatte begriffen, dass ich besonders gut darin war, komplexe Aufgaben in einfache zu zerlegen und zu verstehen, wie alles funktionierte. So lernte ich das Klettern, das Schreiben, das Fotografieren. Dasselbe Prinzip wendete ich nun auch auf das Skifahren an, vieles schaute ich mir von den Franzosen ab. Wahrscheinlich nennt man so etwas kopieren. Wir fanden, es stünde einer Mittelklasse-Familie gut zu Gesicht, wenn alle Ski fahren konnten, deswegen meldeten wir Ella in einer Skischule an und auch Mandy nahm Unterricht, ich blieb bei Ewen. Da er erst drei war, war es einfach für ihn, mit mir zu fahren, seine Ski waren zwischen meinen, ich hob ihn hoch, wenn eine Kurve zu fahren war, und nur sehr selten fielen wir hin, weil seine Ski sich zwischen meinen verfingen. Er hatte ohnehin einen Helm an. Aus meinem heißersehnten Kletterurlaub wurde ein Familien-Skiurlaub: Schokocroissants und heiße Schokolade zum Frühstück, das Ausleihen der Ski, das Anstehen in der Schlange, Ski fahren, wieder heiße Schokolade, dann nach Hause. Den ganzen Tag sah ich Ella in einer langen Schlange von Kindern vorbeifahren und die Grundlagen lernen. Der französische Skilehrer nannte sie die ganze Zeit über Ellek, was mich verwirrte. Erst am letzten Tag – ihr neues silbernes 397


Schneeflockenabzeichen am roten Skianzug kündete von ihrer Meisterschaft im Schneepflügen – fragte ich ihn, warum er sie Ellek nannte. Er sagte uns, das sei der Name, den wir auf die Ski geschrieben hatten: Elle K. Nach ihrer ersten Unterrichtseinheit fuhren wir eine lange grüne Piste, Ewen war zwischen meinen Beinen und Ella rutschte vorsichtig hinter mir her, ich redete ihnen bei jedem steileren Abschnitt gut zu. «Fahr einfach drauflos, Ella, sei mutig», sagte ich ihr. «Versuche es einfach und entspanne dich, genieße es, hab keine Angst.» Wir erreichten das Ende der Piste, wo eine lange Schlange am Schlepplift anstand. Die Kinder watschelten neben mir her wie Pinguine. «Ihr dürft hier nicht weiter», sagte der Liftler und hob seine Hand. «Die da sind zu jung, ihr müsst den Hang hochlaufen.» Er hatte offensichtlich keine Kinder, dachte ich mir, ansonsten hätte er gewusst, wie gut das funktionieren würde. «Oder ihr könnt die blaue Piste dort drüben runter und den Sessellift nehmen», sagte er und zeigte zu einer Piste, die durch den Wald führte. Das Sicherste wäre gewesen, den ganzen Weg nach unten zu laufen, aber spannender war es natürlich, die blaue Piste zu probieren. Wenn wir es nicht schafften, konnten wir immer noch hinunterlaufen. Außerdem war ich selbst noch nie auf einer blauen Piste gefahren. Sobald wir losgefahren waren, erkannte ich, dass es einen großen Unterschied zwischen einer grünen und einer blauen Piste gibt. Sie war eng wie eine Straße, führte im Zickzack durch den dichten Wald, und es gab stellenweise ziemlich steile Abschnitte. Es war sofort klar, dass Ellas Schneepflugkünste nicht ausreichten, deswegen blieb nichts anderes übrig, als ihre Hand zu halten und sie ständig zu führen, mit der anderen packte ich Ewen am Kragen, der zwischen meinen Beinen hin und her schwankte. Es war eine kleine Herausforderung, wenn nicht mehr, die Kinder dort runterzubringen und dabei keine anderen Skifahrer, Bäume oder Markierungen an- oder umzufahren. Zumindest, wenn man selbst das erste Mal auf einer blauen Piste fuhr. Zum Glück blieben die 398


Kinder ruhig und vertrauten mir, selbst wenn ich mir selbst nicht vertraute. So rasten wir runter. Als wir den letzten Hang erreichten, ich endlich Ella loslassen konnte und auch Ewen von meinem Todesgriff befreit wurde, war ich am Rande eines Nervenzusammenbruchs. «Machen wir das noch einmal?», sagte Ella strahlend. Wir saßen auf dem Sessellift, schwebten langsam zwischen den Bäumen hinauf, die Kinder drängten sich aus Angst von beiden Seiten an mich, die Ski vor- und zurückschwenkend, als mir klar wurde, dass wir drei uns vielleicht eines Tages in ein richtiges Abenteuer stürzen würden. Obwohl es schon ein Abenteuer für sich war, Vater zu sein. Nach einer Woche war es wieder Zeit zu klettern. Diesmal war mein Partner ein Deutscher namens Robert Steiner, ein Mann, den ich noch nie getroffen, von dem ich aber schon viel von anderen Bergsteigern gehört hatte. Er war für ein Drama an den Grandes Jorasses bekannt, wo er fünfzig Meter am Ende der Colton-MacIntyre-Route gefallen war und den halben Stand herausgerissen hatte. Er hatte sich unter anderem das Sprunggelenk zertrümmert und konnte nicht mehr weiterklettern. Seine Partner ließen ihn auf einem Schneefleck zurück – es war mitten im Winter – und stiegen zum Gipfel, um Hilfe zu holen. Es dauerte zwei Tage, bis sie es nach Italien geschafft hatten, wo sie die Bergwacht alarmierten. Robert war mit schrecklichen Schmerzen hängen geblieben, ohne Essen und Wasser, und wartete auf die Rettung. Am zweiten Tag war hatte er so fürchterlichen Durst, dass er seinen eigenen Urin trank. Doch so dehydriert, wie er war, brannte seine Kehle nur davon. Am dritten Tag sah Robert, wie ein Sturm kam, und er wusste, wenn dieser auf die Jorasses traf, war eine Rettung unmöglich. Er hatte durchgehalten, aber jetzt lief seine Zeit aus. Als die ersten Schneeflocken zu fallen begannen, hörte er das Rattern eines Hubschraubers und sah die winzige rote Maschine im aufziehenden Schlechtwetter auf den Berg zufliegen. Die Crew hatte nur eine Chance, Robert zu retten. Der Retter schwebte an der Seilwinde zu 399


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