Im Schatten der Achttausender

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Franziska Horn

Im Schatten der Achttausender Das zweite Leben der Edurne Pasaban. Eine Biografie


Für meine Mutter Helga

Ohne die hochtechnische und innovative Ausrüstung wären die gefährlichen Expeditionen von Edurne Pasaban nicht möglich. Seit Jahren begleiten unsere GORE-TEX® Produkte Edurne bei ihren Herausforderungen bis ans Ende der Welt. Ihre Erfahrungen und Erkenntnisse sind für uns wertvolle Beiträge, um unsere Produkte noch besser und leistungsfähiger zu machen.


Franziska Horn

Im Schatten der Achttausender Das zweite Leben der Edurne Pasaban Eine Biografie

AS Verlag


ÂŤIt is not the mountain we conquer, but ourselvesÂť (Es ist nicht der Berg, den wir erobern, wir erobern uns selbst.) Edmund Hillary


Der Sinn des Sinnlosen Als ich mein Achttausender-Projekt beendet hatte, fragte ich mich, ob das Besteigen all dieser Berge überhaupt einen Sinn ergab, ob es mir zu irgendetwas nutzte. Wir alle kennen schließlich das berühmte Sprichwort von Lionel Terray, der einst sagte: «Bergsteiger sind die Eroberer des Nutzlosen». Die Wahrheit ist wohl, dass das Besteigen all meiner Achttausender nach außen hin ziemlich überflüssig wirken mag und ich glaube gern, dass einige Leser dieses Buches das vielleicht so empfinden werden. Aber mit der Zeit, die seit meinem 14x8000-Projekt vergangen ist, habe ich verstanden, dass wir manche Dinge deshalb tun, weil wir sie einfach tun müssen, weil sie uns persönlich viel bedeuten. Weil sie für uns selbst großen Wert haben. Wenn das Besteigen der vierzehn Achttausender mir bei etwas geholfen hat, dann vor allem dabei, meinen eigenen Lebensweg zu finden. Und dabei hat es mir enorm viel gebracht. Ich habe gelernt, dass ich es selbst bin, die den Dingen ihre Bedeutung gibt – und niemand sonst auf der Welt. Wir sollten die Dinge nicht deshalb tun, weil uns jemand anders vorgibt, was er für richtig hält. Wir sollten es allein für uns selbst tun. Wir sollten tun, woran wir persönlich glauben. Edurne Pasaban im August 2014


Umschlag Vorderseite: Edurne Pasaban auf dem International Mountain Summit (IMS) 2011. Umschlag Rückseite: Auf den letzten Metern zum Gipfel das K2 im Jahr 2004. Den Abstieg überlebt Edurne nur knapp, verliert durch Erfrierungen zwei Zehen.

www.as-verlag.ch © AS Verlag & Buchkonzept AG, Zürich 2014 Gestaltung und Herstellung: AS Verlag, Urs Bolz, Zürich Korrektorat: Alfred Mathis, Willstätt Druck und Einband: Kösel GmbH & Co. KG, Altusried-Krugzell ISBN 978-3-906055-28-2


Inhalt

9 Ein Alpinstar und ein Todessturz 23 Höhen und Tiefen 35 Aufbruch 49 Ganz oben 65 Die eigene Spur finden 77 Die Freischwimmerin 89 Neue Horizonte 113 Überleben 125 Im freien Fall 139 Dem Tod begegnen 151 Die Herausforderung 163 Königin des Himalaya 183 Die Leere 195 Metamorphosen 209 Die Wurzeln 219 Angekommen . . . in der Zukunft 233 Anhang 234 Edurne Pasaban – die Stationen 236 Bildnachweis 237 Quellenverzeichnis 238 Dank


Höhentrip mit Tiefenwirkung: Edurne mit Frauenseilschaft auf dem Gletscher des Pico de Aneto (Gore-Tex Experience Tour, Pyrenäen, 2011).


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E IN A LPINSTAR UND EIN T ODESSTURZ

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m Berg fallen die Fassaden schnell. Niemand schafft es dort oben lange, die Maske der Zivilisation zu wahren. Im Tal, in der

Stadt, im Alltag ist es leicht, ein glattes Gesicht zu zeigen. Man kann

eine Person jahrelang kennen, immer wieder nett essen gehen, ohne sie jemals wirklich zu treffen. Am Berg klappt das nicht. Da schmilzt die Schokoladenseite meist mit den ersten paar hundert Höhenmetern dahin. Je höher, je interessanter wird es, könnte man sagen – das bezieht sich nicht nur auf die Aus- und Tiefblicke auf steile Wände, es betrifft auch die Facetten der menschlichen Natur. Wie ein Mensch tickt, das zeigt sich am Berg sehr schnell. Genau das macht es so spannend. Geschichten über Berge sind vor allem Geschichten über Menschen. Wir sind fasziniert von steilen Wänden, denken wir. Im Grunde sind wir fasziniert davon, uns selbst zu begegnen. Oder den Kameraden im Seil. Oft genug wird das Abenteuer Berg zum Abenteuer Mensch – in seiner gesamten Bandbreite. Als Outdoor-Sportjournalistin erlebe ich das häufig. Der Berg wirft uns auf uns selbst zurück und bringt immer wieder Momente hervor, die zeigen, was hinter der Fassade steckt. Im Spätsommer 2011 schickt mir Claudia, eine ehemalige Kollegin, eine kurze Mail. Darin ein Link und dazu genau fünf Worte: «Wär doch was für Dich?». Der Link führte zur Ausschreibung einer mehrtägigen Hochgebirgstour in die spanischen Pyrenäen, für die sich ausschließlich weibliche Teilnehmerinnen bewerben konnten – eine Idee des internationalen Funktionsmaterialien-Herstellers Gore-Tex, der im Rahmen seiner «Experience Tour» seit 2010 regelmäßig Profi-Athleten mit Hobbysportlern auf die Reise schickt. Der Sinn dieser Outdoor-Trips liegt – neben dem Werbeeffekt – in eben diesen ungewöhnlichen Begegnungen zwischen echten SportCracks und ihren Outdoor-Fans aus aller Welt. So konnte man beispielsweise mit Stefan Glowacz in den Dolomiten klettern oder mit Hans Kammerlander durch die Ötztaler Alpen ziehen. Für junge Bergsportler war das also eine einmalige Gelegenheit, für ein paar Tage den großen Namen der Alpinszene in deren ureigenem Metier zu folgen. Das Ziel dieser neuen Experience Tour war der Pico de Aneto in den spanischen Pyrenäen, mit 3404 Metern der höchste 10


Gletschergipfel, den dieser wilde Gebirgszug zu bieten hat. Damit nicht genug: Gemäß der Experience-Tour-Philosophie sollte nicht irgendjemand die Seilschaft anführen, sondern die Baskin Edurne Pasaban – jene Alpinistin, die ein Jahr zuvor den letzten der 14 Achttausender in Himalaya und Karakorum bestiegen hatte, nach Oh Eun-sun und vor Gerlinde Kaltenbrunner. Außerhalb der Kletterszene wusste man wenig über die Baskin, die sich anscheinend einfach so die ‹himalayan crown›, die Himalaya-Krone mit den 14 berühmten Zacken, aufs Haupt setzte. Von Fotos her wollte diese große, schlanke Frau mit den langen schwarzen Haaren nicht so recht ins Bild einer Extremathletin passen. Aber in welche Schublade passt eine Frau, welche sich in dieser traditionell von Männern beherrschten Sportart bewegt? Was für ein Bild, welches Image hat eine erfolgreiche Höhenbergsteigerin zu haben? Recherchen über die Baskin ergaben ein vielfältiges Bild. Sie war jetzt 38 Jahre alt, Unternehmerstochter, hatte Maschinenbau studiert, in der Firma des Vaters gearbeitet, später ein Landhotel geleitet. Keine Kinder. Sie war – wenig überraschend – mehrfach dem Tod am Berg begegnet, beinahe auch dem eigenen, hatte Freunde und Fremde abstürzen, erfrieren, an Höhenkrankheit, in Lawinen sterben oder ganz einfach verschwinden sehen. Wer war diese Frau, die sich zwei Zehen am Berg erfror, in zahlreichen Film-Dokus agierte, zwischendurch über den roten Teppich spazierte und sogar für Hochglanzmagazine wie die spanische «Vogue» posierte? Ein Bibelzitat lautet: «Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um». Der deutsche Philosoph Ernst Bloch machte daraus: «Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um». Was frei interpretiert bedeutet: Es kann gefährlicher sein, einer Gefahr auszuweichen, als ihr zu begegnen. Daneben bietet ja auch der ganz normale Alltag ausreichend Gefahren, wenn man so möchte. Warum aber sucht jemand wiederholt diese Herausforderung an den Achttausendern, warum die Strapazen, das objektiv deutlich erhöhte Risiko, um schließlich nicht darin umzukommen? Können die Anerkennung für den gelungenen Gipfelerfolg oder die sicher beeindruckend positiven Momente einer 11


Gigant aus Fels und Eis – das Annapurnamassiv.


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KÖNIGIN

DES

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H IMALAYA

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uch für Edurne kommt der Tag des sogenannten «Gipfelsturms» auf den «Kantsch» näher. Der Meteorologe der Ex-

pedition, Vitor Baia, sagt für den 17. oder 18. Mai ein Schönwetter-

fenster an. Im Basecamp stimmen sich die Teams ab, alle möchten die Chance nutzen. Sie steigen auf Lager 3, wo Edurne mit Nives Meroi und Romano Benet spricht. Romano fühlt sich nicht wohl. Die beiden entscheiden, nicht weiter aufzusteigen, sondern ins Basecamp zurück kehren. Weil es Romano immer schlechter geht, fliegen sie schließlich zurück nach Italien. Dort zeigt sich, dass Romano ernsthaft krank ist und Nives, die ausschließlich mit ihrem Mann bergsteigt, gibt das Achttausenderprojekt auf. Als Edurne um Mitternacht starten will, ist es draußen immer noch zu windig. Sie warten ab, während Miss Go mit Flaschensauerstoff im Gepäck loszieht. Edurne ist nicht in bester Form, als es endlich losgeht. Sie hat eine leichte Erkältung, nimmt Ibuprofen, hustet häufig, fühlt sich aber ansonsten gut. Ihr Arzt, Jorge Egocheaga, diagnostiziert eine beginnende Bronchitis. Sie beginnen den Aufstieg. Als es dämmert, erreichen sie den Korridor, in welchem sie vor Tagen Miss Oh verschwinden sahen. Sie erreichen einen felsigen Abschnitt. Es ist bitter kalt. Weiter oben diskutieren Juanito und Asier, ob der Aufstieg Sinn macht. Die Bedingungen sind nicht optimal. Aber sie probieren es. Am Vormittag kommt ihnen Miss Go entgegen, sie hat den Gipfel geschafft. «Noch zweieinhalb Stunden bis zum Gipfel», sagt sie. Edurne denkt nicht mehr daran, dass Miss Go mit Flaschensauerstoff unterwegs ist, steigt weiter. Wie Schildkröten kommen sie voran. Dann begegnen sie Ferran, auch er kommt vom Gipfel zurück. «Es sind nur noch ein paar Minuten», sagt er. Schließlich sind sie kurz vor dem Gipfel, erkennen die beiden Sauerstoffflaschen mit der Nepal-Flagge. Weiter dürfen sie nicht, die Spitze des Berges ist heilig. Asier filmt auf den letzten Metern. Es ist der 18. Mai, fünf Uhr nachmittags. Und damit zu spät. Sie steigen sofort ab. «Wir waren weit über unseren Umkehrpunkt hinausgegangen, haben jedes Sicherheitslimit überschritten», sagt sie. Auch wenn sie in dieser Nacht Lager 4 sicher erreichen – sie treffen dort mit letzter Kraft um 23 Uhr ein. Keiner 164


von ihnen hat noch Energie, Schnee zu schmelzen, um trinken zu können. Es wäre elementar gewesen: Sie haben Durst, merken es nicht, legen sich sofort in den Schlafsack. Am nächsten Tag packen sie die Zelte ein, steigen ohne etwas zu essen sofort ab. Irgendwann zwischen Lager 4 und Lager 3 kommt die Sonne raus. Endlich Wärme. Edurne ist jetzt dehydriert und völlig erschöpft. Während Asier vorausgeht, steigt sie mit Álex und Ferran langsam hinterher. Plötzlich wechselt das Wetter. Eben noch knallte die Sonne herunter, jetzt zieht eisige Kälte über den Berg. Edurne bekommt plötzlich keine Luft mehr. Im Kopf ist sie ganz klar, doch sie kann ihren Körper nicht mehr koordinieren. Die anderen lotsen sie Schritt für Schritt weiter. Irgendwann setzt sie sich hin, bricht zusammen. Irgendwann sagt der Körper: kein Brennstoff, keine Kraft. «Lasst mich hier. Geht weiter! Ich schaff’s nicht mehr». Natürlich meint sie das nicht wirklich. Die Freunde lassen ihre Rucksäcke liegen, nehmen Edurne in die Mitte, bestellen per Walkie-Talkie aus Lager 3 einen Sherpa nach oben. Edurne weint und will alleingelassen werden. Doch ihr Kamerad Álex Chicón gibt nicht auf. Schließlich nehmen sie die Sherpas in Empfang. Um drei Uhr nachmittags erreichen sie endlich Lager 3. Für einen Abstieg von zwei Stunden haben sie acht Stunden gebraucht. Sie bleibt in Lager 3. Es geht ihr jetzt immer schlechter, sie spuckt Blut, zeigt die Symptome eines beginnenden Lungenödems. Álex erschrickt. Der Stoffwechsel ist schwach. Um ein Uhr nachts bringt ein Sherpa schließlich die Sauerstoffflasche. Jetzt erholt sie sich. Schläft etwas. Am nächsten Tag geht es ihr besser. Sie steigt allein ins Basecamp ab. Und muss eingestehen, dass sie knapp dem Tod entronnen ist. Es kommt ihr unwirklich vor. Zudem hat sie die anderen gefährdet, die sich wegen ihr länger in gefährlichen Zonen aufhalten mussten. In Camp 2 gibt es eine Überraschung: Der Koch hat Insalata Russa und Coca-Cola für sie hoch geschickt – das liebt sie. Sie spuckt immer noch ein bisschen Blut, kann nicht sprechen, fühlt, dass es knapp für sie war. Sie hat leichte Erfrierungen, die heilen werden. Im Basecamp kümmert sich ein Arzt um sie, dann holt sie ein Helikopter ab. Zwei Tage später ist sie bei 165


Doktor Arregui im MAZ, Saragossa. Dort bleibt sie ein paar Wochen. Ihr Fazit: «Ich war dem Tod ziemlich nah, beinahe so nahe wie damals auf dem K2». «Ein ehrlicher Berg, der Ruhe vermittelt. Ein aristokratischer Berg ohne große Überraschungen, mit fünf Gipfeln. Schön und eindrucksvoll», sagt sie später über den Kantsch. Sie erholt sich in den USA und beginnt dort, einen weiteren Aufstieg am Shishapangma zu planen. Den 14. und letzten Gipfel, den Annapurna, möchte sie erst im kommenden Jahr, also 2010, besteigen. Miss Oh fehlt nun nur noch der Annapurna, nachdem sie den Dhaulagiri geschafft hat. Dann kommen Nachrichten vom Nanga Parbat: Am 11. Juli stürzt Miss Go im Alter von 41 Jahren über eine Flanke 1000 Meter in die Tiefe. Sie hatte den Gipfel erreicht. Sie ist sofort tot. Der Nanga Parbat ist ihr 11. Achttausender. Nichtsdestotrotz stellt Edurne für den Herbst ihre Mannschaft für den Shishapangma zusammen: Mit Asier, Ferran und Álex will sie den Shishapangma im Alpinstil über die Südseite besteigen. Im Basecamp trifft sie auf den bekannten Schweizer Alpinisten Jean Troillet. Er bestieg zehn der Achttausender und war 1997 der Erste, der die Nordseite des Mount Everest mit dem Snowboard abfuhr. Während langer Gespräche im Basecamp lernt sie Troillet besser kennen, er ermutigt sie bei ihrem Projekt. Denn noch immer hängt sie in ihrem alten, persönlichen Dilemma fest: Soll sie sich vollends für die Berge entscheiden oder doch lieber häuslich werden, ein Leben in der Normalität suchen, ohne das Abenteuer? Es ist immer wieder der Kopf, der ihr einen Streich spielt, wenn sie es am wenigsten braucht. Am Ende ist es Jean Troillet, der zu ihr sagt: «Du musst das machen, was Dir wirklich gefällt. Ich selbst bin erst mit 60 Vater geworden und nicht, als die Gesellschaft es erwartete. Wir Alpinisten kämpfen dafür, dass wir tun können, was wir lieben: auf Berge steigen. Ich denke, in den Bergen bist Du in Deinem Element. Bleib Du selbst, Edurne, und versuch nicht, jemand anders zu sein!», berichtet Edurne in ihrer Biografie. Sie ist dankbar für die Bestätigung, über die sie sagt, dass sie ihr psychologisch sehr geholfen hat: «Es waren Worte, die ja nicht von irgendjemand stammten, sondern von einer 166


Autorität der Welt der Berge, einem Mythos, den ich nie vorher getroffen hatte. Ich bin sicher, dass Jean Troillet eine jener Personen ist, die mir am meisten geholfen haben in diesen letzten Jahren.» Edurne ist jetzt 36, doch noch immer schwankt sie zwischen Wollen und Sollen, zwischen den Erwartungen von außen und dem, was sie selbst tun möchte. Einmal mehr ist das Wetter schlecht, als sie sich an den Aufstieg machen. Sie schaffen es bis kurz vor das sogenannte Scott-Biwak, wo sie bereits ein Lager eingerichtet haben. Nur ein Tag trennt sie noch vom Ziel. Doch als sie das Biwak erreichen, trauen sie ihren Augen kaum: Alles ist weg. Der Wind hat sämtliche Zelte, Säcke und Dinge vom Platz gefegt. Hier können sie nicht bleiben, sie müssen ins Tal. Das Gefühl der Ohnmacht und Leere ist riesig. Edurne kann sich beim Absteigen kaum zusammenreißen. Ihre Kameraden wollen sie aufmuntern. Doch für sie ist es vorbei: «Nein, wenn der Berg spricht, muss man auf ihn hören. Daran habe ich immer geglaubt und ihr kennt mich jetzt gut genug: Wir fahren nach Hause!» Im Basecamp hören sie, dass tags zuvor ein italienischer Bergsteiger, Roby Piantoni, ganz in der Nähe abgestürzt ist. Seine Gefährten haben seine Leiche in einer Gletscherspalte versenkt. Edurne reicht es jetzt endgültig. Doch die Familie von Piantoni möchte, dass sie seine Leiche nach Europa bringen. Also holen sie den Körper aus der Spalte, tragen ihn praktisch auf den Schultern bis zur Grenze von Nepal, da die chinesischen Behörden keine Hubschrauberflüge ins Basecamp gestatten. In Kathmandu wird die Leiche auf Wunsch der Mutter im Krematorium verbrannt. Im Glauben, dass Miss Oh inzwischen mit dem Annapurna die 14 vollendet hat, steigen sie ins Flugzug – und hören, dass Miss Ohs Versuch ebenfalls fehlschlug. Ausgerechnet der niedrigste der höchsten Berge zeigt sich besonders widerspenstig. Zwei 8000er fehlen Edurne jetzt noch, die sie beide 2010 in Angriff nehmen will. «Realistisch, aber nicht einfach», so schätzt sie die Lage ein. Der Annapurna ist wegen seiner fast durchgängig heiklen Lawinenhänge äußerst riskant. Inzwischen gesteht sie sich ein, dass sie sich ganz klar vom Wettkampf um die Achttausender hat anstecken lassen: «Bisher wollte ich das Projekt nur be167


enden, aber jetzt will ich außerdem Erste sein!», sagt sie. Auf ihr eingespieltes Team ist Verlass. Sie wittert die Chance, gewinnen zu können. Sie will es probieren und «in der letzten Kurve Gas geben», wie sie es formuliert. Sie muss jetzt taktieren. Welchen der beiden Gipfel zuerst angehen? Zuerst den Shishapangma zum Akklimatisieren, dann den schweren Annapurna? Von Miss Oh spricht sie inzwischen als von der «koreanischen Gegnerin, der jetzt nur noch ein Gipfel fehlt». Wird es auf einen Wettlauf am selben Berg hinauslaufen, Seite an Seite? Der Annapurna als Arena der Extrembergsteigerinnen? Sie will es zuerst am Shishapangma versuchen, doch sie bekommt kein Permit. «Will die verfluchte Bürokratie mir mein Programm verderben?», fragt sie sich. Sie will es trotzdem riskieren, obwohl das Basecamp von einem chinesischen Soldaten bewacht wird. Also zieht sie den Annapurna vor, um zuletzt den Shisha zu «attackieren» – ein Wort aus der Kriegssprache. Um das Trekking abzukürzen, fliegen sie zeitsparend ins Basecamp. Große Erwartungen stehen im Raum. In den ersten Tagen verletzt sich Ferran am Knie und fällt aus. Das Team hat jetzt einen eigenen Sportmediziner dabei, von dessen Gegenwart Edurne sich viel verspricht. Pablo Diaz Munio stellt einen Plan zur Ernährung auf. Als Erstes verbannt er das Popcorn, da es zuviel Salz enthält und den Körper dehydriert. Auch Cola und Bier sind tabu. Edurne protestiert. Doch der Arzt bleibt hart, er verlangt, dass sie sich professionell vorbereiten. Daneben müssen sie trainieren, laufen und stretchen. Der Doktor kontrolliert sie auch im Aufstieg und fragt via Walkie-Talkie nach, ob sie genügend trinken. Dass die beiden letzten Expeditionen so gut laufen, führt Edurne auch auf den strengen Doktor Munio zurück. Vom Basecamp aus beginnen sie, sich an das schwierigste Stück der Route heranzuarbeiten, das unter einer riesigen Eiswand vor Lager 3 liegt. Von hier aus muss ein Riss überwunden werden, um Lager 4 zu erreichen. Starker Wind fesselt sie ein paar Tage ans Basislager. Sie nutzen die Zeit, um Fotos des Berges zu studieren, Alternativen zu diesem Riss zu suchen. Dann kommt ein großer Zufall zu Hilfe: An jener Stelle, an der sie 2007 umdrehen mussten, ist ein Sérac eingestürzt und machte damit die Passage frei. Sie können es erst glauben, 168

(Fortsetzung auf Seite 178)


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Als erste Frau besteigt Edurne Pasaban 2010 den letzten der vierzehn Achttausender – ein Meilenstein in der Geschichte des Alpinismus. Damit eröffnete die Baskin dem Frauenbergsteigen neue Horizonte. Noch eindrucksvoller ist jedoch der persönliche Weg der Bergsteigerin, die nach Depressionen und einem Versuch, sich das Leben zu nehmen, einen ganz eigenen Weg für ihr Leben fand.

ISBN 978-3-906055-28-2


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