MATTERHORN
Daniel Anker
BERG DER BERGE
Bergmonografien 1 Jungfrau – Zauberberg der Männer 2 Finsteraarhorn – Die einsame Spitze 3 Eiger – Die vertikale Arena 4 Piz Bernina – König der Ostalpen 5 Tödi – Sehnsucht und Traum 6 Watzmann – Mythos und wilder Berg 7 Titlis – Spielplatz der Schweiz 8 Mönch – Mittelpunkt im Dreigestirn 9 Glärnisch – Rosen auf Vrenelis Gärtli 10 Wilder Kaiser – Klettergeschichte. Geschichten vom Klettern 11 Piz Palü – Dreiklang in Fels und Eis 12 Bietschhorn – Erbe der Alpinisten 13 Badile – Kathedrale aus Granit 14 Churfirsten – Über die sieben Berge 15 Monte Rosa – Königin der Alpen 16 Weisshorn – Der Diamant des Wallis 17 Dom & Täschhorn – Krone der Mischabel 18 Die Mythen – Im Herzen der Schweiz 19 Matterhorn – Berg der Berge
«Sein letztes Wort war ‹impossible›, und mit einem furchtbaren Schrei stürzte er den andern in die grausige Tiefe nach - - - » Theodor Wundt: Das Matterhorn und seine Geschichte, 1896.
«Question 35. – Etait-il possible de retenir les 4 hommes après la rupture de la corde? Réponse. – Impossible. Erstes Verhör von Peter Taugwalder Vater am 21. Juli 1865 im Hotel Mont Cervin in Zermatt. Zitiert nach Charles Gos: Le Cervin, 1948.
«It was all over in a moment and we were so taken by surprise that precise knowledge of the occurrence became almost impossible.» Zweites Verhör von Peter Taugwalder Vater am 23. Juli 1865. Zitiert nach Alan Lyall: The First Descent of the Matterhorn. A bibliographical guide to the 1865 accident and its aftermath, 1997.
«Caro Quintino, – Ieri fu una cattiva giornata, e Whymper finì per spuntarla contro l’infelice Carrel. Whymper adunque (. . .) tentò il colpo dal lato di Zermatt. Tutti qui ritenevano impossibile assolutamente la salita da quella parte, e Carrel per primo.» Brief von Felice Giordano an Quintino Sella, geschrieben am 15. Juli 1865 in Breuil. Zitiert nach Guido Rey, Il Monte Cervino, 1904.
«Unersteiglich»: Das heisst es im Blatt «Aosta» von Joseph Edmund Woerls Atlas «Südwest-Deutschland u. dem Alpenlande» von 1835/36. 30 Jahre später ist das «Matterhorn od. gr. Mt. Cervin» zweimal bestiegen worden. Neben dem Vorwort: Unbegreiflich: Das Plakat von Arnaldo Musati für Cervinia aus dem Jahre 1953 ist die sinnlichste und bekannteste Annäherung, den Cervino zu begreifen. Aber lässt sich dieser Berg überhaupt fassen? Der Versuch sei gewagt. Über dem Vorwort: Unbeschreiblich: «Le Cervin africain» von Martial Leiter, in einer Épreuve d’artiste, die er 2001 Daniel Anker schenkte. Geologisch hat das Matterhorn tatsächlich afrikanische Wurzeln, und gleichzeitig schält es sich – als Werbesujet für Fremdes und als Marke seiner selbst – den Betrachtern entgegen, auf der ganzen Welt. Neben dem Inhaltsverzeichnis: Unvergleichlich: Zuhinterst in zwei Alpentälern und auf der Grenze Schweiz–Italien thront diese Pyramide und stellt alle andern Gipfel in den Schatten. Ihr zu Füssen liegen Breuil-Cervinia und Zermatt (Bild).
www.as-verlag.ch © AS Verlag & Buchkonzept AG, Zürich 2015 Gestaltung und Herstellung: AS Verlag, Urs Bolz, Zürich Korrektorat: Pablo Egger, Speicher Druck: B & K Offsetdruck GmbH, Ottersweier Einband: Josef Spinner Großbuchbinderei GmbH, Ottersweier ISBN 978-3-906055-30-5
MATTERHORN BERG DER BERGE Herausgegeben von Daniel Anker Texte: Daniel Anker, Enrico Camanni, Pietro Crivellaro, Hans-Uli Feldmann, Caroline Fink, Wilfried Haeberli, Andrea Hungerbühler, Stefan König, Gus Morton, Jeanette Nötzli, Rainer Rettner, Heinz Schild, Sarah Springman, Karin Steinbach Tarnutzer, Luzius Theler, Gieri Venzin, Emil Zopfi Historische Texte: Enzo Benedetti, Amé Gorret, Fritz Herrmann, Giuseppe Mazzotti, Albert Frederick Mummery, Guido Rey, Franz Schmid, Edward Whymper Fotos: Robert Bösch
BERGMONOGRAFIE
19
Hautnah & weltweit Zu meinem 12. Geburtstag schenkte mir der
Erfolge und Niederlagen: Die Geschichten
Vater ein Tourenbuch. Die Einträge hatte er noch
sollen nochmals erzählt werden, mit unbekann-
selbst geschrieben: 1963 die ersten zu Zermatt,
ten Perspektiven und scheinbar bekannten
wo wir jahrelang en famille die Sommerferien
Passagen. Was und wer versteckt sich hinter
verbrachten, stets drei Wochen im Chalet
der Moseleyplatte, der Scala Jordan, dem
«Bergrast» mit freiem Blick aufs Matterhorn.
Col Felicité, also jener Lücke im Liongrat,
Im Juli 1964 wanderten wir gleich zweimal
die zu Ehren der Tochter von Jean-Baptiste
zur Hörnlihütte hinauf – mein erster direkter
Carrel so genannt wurde? Wann und wie be-
Kontakt mit dem Berg. Wenn das Foto nicht
gingen die Gebrüder Anthamatten erstmals
täuscht, schaffte ich es bis zum Einstieg des
ihre Nordwand-Route sowie Papà e Figlio
Hörnligrates.
Barmasse ihre Südwand-Rinne?
Viele Jahre und Tourenbücher später stieg ich
Familienangelegenheiten? Am Matterhorn
mit meiner Frau Eva Feller und unseren Töchtern
Alltag. Die drei Gebrüder Parker unternahmen
Anna (5) und Andrea (noch im Bauch der Mama)
als erste Touristen den ersten Besteigungsver-
auf den Pizzo d’Uccello, den Cervino della
such auf dem heutigen Normalweg von Zermatt.
Toscana, drei Tage nach meinem 43. Geburtstag.
Vater und Sohn Taugwalder waren mit Edward
Vielleicht war es kein Zufall, dass ich am
Whymper die Einzigen, die von der Erstbestei-
13. Juli 1990, einen Tag vor dem 125. Jahrestag
gung lebend zurückkehrten. Franz und Toni
der Erstbesteigung, auf dem 4478 Meter
Schmid kletterten erstmals durch die Nordwand.
hohen Gipfel stand. Und dass ich nun, zum
Die Matterhorn-Family erstreckt sich aber weit
150. «Geburtstag» des Matterhorns, dieses
über diesen vierwandigen Grenzgipfel zwischen
Buch herausgebe.
Italien und der Schweiz hinaus. 238 natürliche
Am 14. Juli 1865 führte der 19. Versuch, diesen
und künstliche Kopien finden sich über die
für unersteiglich gehaltenen Berg bis zuoberst
ganze Erde verteilt. Dazu gesellen sich all die
zu erklettern, zum ersehnten Triumph – und
Restaurants und Hotels, Reklamen und Produkte
zu einer doppelten Tragödie. Auf der Zermatter
im Namen des Matterhorns. Kein anderer Berg
Seite stürzten beim Abstieg vier der sieben
hat so viele Verwandte und so viele Freunde.
Erstbesteiger ab, auf der Seite von Breuil sahen
Die 19. Bergmonografie des AS Verlages zeigt
vier Männer, dass sie nicht mehr als erste
zum 150. Geburtstag der Erstbesteigung diesen
Alpinisten auf dem Cervino stehen konnten.
Weltberg von allen Seiten und zu allen Zeiten. Daniel Anker
Inhalt
21
Die Erstbesteigung 1865
153
Der Berg
22 Der lange Weg zur Erst- und Zweitbesteigung 1857 bis 1865
154 Eine Reise zum Markenhorn
36 «Das Seil wurde geschnitten – nach dem Absturz.» Interview mit Gieri Venzin, Regisseur des Films «Tatort Matterhorn»
187
48 «Ich spürte, dass über mir ein Mann stand.» Ein Gespräch mit Edward Whymper 58 La battaglia del Cervino 68 Als Partner und Rivalen gegen einen «heimtückischen Gegner» Jean-Antoine Carrel (1829–1890) vs. Edward Whymper (1840–1911)
Die vier Wände
189 Westwand 190 Den Berg erzählen: das Matterhorn in der schönen Literatur 204 Filmstar Matterhorn 206 Der Kleinste war der Grösste Luigi Carrel (1901–1983) 209 Nordwand 210 Die Schattenwand, alpinistisch
73 Hörnligrat
232 Erstbegehungen als Antrieb – heute wie vor hundert Jahren Kaspar Mooser (1885–1964) & Simon Anthamatten (geb. 1983)
71
Die vier Grate
74 Den Berg angehen: Rummelplatz Hörnlihütte
235 Südwand
84 Der Grat – Jubiläumsbegehung 1990
236 Die Sonnenwand, alpinistisch
86 Ein dreifaches Hurra für . . . Miss Walker! Meta Brevoort (1825–1876) vs. Lucy Walker (1836–1916)
256 «Der Cervino gehört zu unserer Familie» Marco Barmasse (geb. 1949) & Hervé Barmasse (geb. 1977)
89 Liongrat
259 Ostwand
90 Den Berg zähmen: Seile und Ketten, Leitern und Hütten
260 Am Berg führen: die Bergführer von Zermatt und Cervinia
108 Eine Frage des Stils . . . und des Seils William Oxnard Moseley (1848–1879) vs. William Leighton Jordan (1836–1922)
274 Stille Helden Jean-Baptiste Bich, genannt Bardolet (1822–1903 ) & Maurizio Bich (1895–1936)
111 Zmuttgrat 112 Am Berg sterben: «Am edelsten Viertausender sein Bergsteigerleben verloren»
277
Die Matterhörner
278 Das Matterhorn steht auf der ganzen Welt
124 Die Retter am Matterhorn 126 «Wir müssen, Herr Mommerie, sonst sind wir beide kaputt!» Albert Frederick Mummery (1855–1895) vs. William Penhall (1858–1882) 129 Furggengrat 130 Den Berg erobern: 123 Jahre Bergbahnprojekte 150 Die Neben-Viertausender am blauen Horizont John Tyndall (1820–1893) & Italo Muzio (1906–1982)
293 Die Zukunft 294 Matterhorn «for ever»? 303 Anhang 304 Matterhorn – die Chronik 322 Von M. Servino und Matter Dioldin h zu Cervino und Matterhorn 323 Trips und Tipps 325 Literaturverzeichnis 330 Bildnachweis 331 Biografien der Autorinnen und Autoren 333 Dank
DIE ERST- UND ZWEITBESTEIGUNG 1865
Der lange Weg zur Erst- und Zweitbesteigung 1857 bis 1865 Daniel Anker
Vorangehende Doppelseite: Für das Jubiläum «150 Jahre Erstbesteigung Matterhorn» zeichnen Mammut und Zermatter Bergführer mit einer Lichterkette die Route der Erstbesteiger über den Hörnligrat nach. Unten: Auf der Südseite, also von Breuil, wurden ab 1857 die ersten – und meisten – Besteigungsversuche gemacht. «Mont Cervin; (from above Breuil,) Sunrise» aus «A Lady’s Tour round Monte Rosa» von Eliza Robinson Warwick Cole, 1859.
22
Am 14. Juli 1865 standen sieben Männer
zusammen mit Jean-Baptiste Bich, von
ganz zuoberst auf dem umworbenen
Breuil aus den Cervino. Wie bei Whymper
Matterhorn: die Briten Edward Whymper,
glückte seine Besteigung im neunten
Francis Douglas, Douglas Hadow und
Anlauf. Hier nun ein Überblick vom ersten
Charles Hudson sowie die Bergführer
Versuch bis zur zweiten Besteigung.
Michel-Auguste Croz aus Chamonix, Peter Taugwalder Vater und Sohn aus Zermatt.
1. Versuch. Von Breuil, im Juli 1857
Über den Hörnligrat waren sie aufgestie-
Jean-Antoine Carrel, Jean-Jacques
gen, stundenlang hoffend, dass die Be-
Carrel und Amé Gorret bis auf die
steigung dieses gewaltigen Obelisken auf
Testa del Leone, 3715 m.
dem schweizerisch-italienischen Grenz-
1. Versuch von Carrel.
kamm endlich gelingen möge, nach den
«Ohne das Ziel unseres Unternehmens
18 Versuchen, die seit 1857 auf beiden
genauer angeben zu wagen, brachen wir
Seiten des Berges stattgefunden hatten.
eines Tages vom Chalet d’Avouil auf, mit
Buchstäblich das Nachsehen hatte am
einer kleinen Axt, um Stufen ins Eis zu
14. Juli 1865 der Italiener Jean-Antoine
schlagen, mit einem Stück Schwarzbrot in
Carrel, einst Führer und Seilgefährte von
der Tasche und etwas Schnaps. Wir kletter-
Whymper: Er sah seinen Rivalen auf dem
ten durch den Cou du Monthabert und ge-
Gipfel des Matterhorns (4478 m) stehen.
langten auf die Tête du Lion», erinnert sich
Drei Tage später erreichte aber auch er,
der Priester und Alpinist Gorret (1838–
1907) in seinem Bericht der ersten Matter-
war er ein Albdruck. Jedes Jahr brachte
hornersteigung von der italienischen
neue Versuche, jeder Versuch endete mit
Seite am 16. und 17. Juli 1865. Der erste
einer neuen Niederlage, jede Niederlage
Versuch im Juli 1857 wurde angeregt von
war eine neue Herausforderung.»
Domherr Georges Carrel von Aosta. JeanJacques Carrel seinerseits war ein Jäger
2. Versuch. Von Breuil, im Juli 1857.
und Schmuggler aus dem Valtournenche.
Victor Carrel und Gabriel Maquignaz
Das Porträt von Jean-Antoine Carrel ist
bis zum Kamin unterhalb des Colle
auf S. 68 zu lesen. Nochmals Gorret zum
del Leone, ca. 3450 m.
Aufenthalt auf der Testa del Leone, die
Dieser Versuch wird oft vergessen, so
die drei Alpinisten als erste erreichten:
beispielsweise auf http://en.wikipedia.org/
«Wir unterhielten uns einige Stunden
wiki/Timeline_of_climbing_the_Matter-
damit, Steine in die Abgründe, die uns
horn (angeschaut am 27. März 2015).
umgaben, zu rollen, und, ohne selbst die
Nicht aber hier: «Tableau schématique
Pyramide des Matterhorns zu berühren,
des tentatives de 1857 à 1865» zu Beginn
stiegen wir auf dem gleichen Wege ab,
des ersten Bandes von Charles Gos’
den man seither zum Aufstieg benutzt.
«Le Cervin» (1948), «I 15 tentativi sul
Von diesem Tage an wurde die Besteigung
versante italiano» in Alfonso Bernardis
des Matterhorns für uns zur fixen Idee.
«Il Gran Cervino» (1963) sowie
Carrel hatte sein Matterhorn im Kopf, ich
«I 18 Tentativi Storici che Precedettero
dachte an den Berg während des Tages,
la Conquista» in Mario Fantins «Uomini
ich träumte von ihm in der Nacht, für mich
del Cervino» (2003).
Gefährten und Gegner: Jean-Antoine Carrel aus dem Valtournenche (links), Edward Whymper aus London. Den Pickel in der Hand und nur ein Ziel vor Augen. Wenigstens bis sie oben waren, je beim neunten Versuch. Aber nicht zusammen.
23
Liongrat Um 10 Uhr hatten wir den Pic Tyndall hinter uns.
gefahrlos war. Wir prüften die Stelle genau und sahen,
Wir nahmen Tyndalls Stock mit, um unsere Fahne dar-
dass man sieben oder acht Meter weiter unten den
an zu befestigen. Wir ruhten uns einen Moment aus
Grat und das Ziel erreichen konnte. «Seilen wir ab!»
auf einem Fels neben dem trennenden Einschnitt
Ja, aber wo? Wir hatten nicht einmal Zeit, einen Eisen-
zwischen der Schulter und dem Gipfel. Nun werden
ring im Fels anzubringen. Sonst aber kommen wir
wir auf unbekanntes Gebiet vordringen. Keiner von
hier nicht weiter, und doch sind es nur noch einige
uns war je weitergegangen. (. . .)
Schritte. Das ist das letzte Hindernis. Wir beratschla-
Wir krochen an den Fels geschmiegt, und wir waren
gen. Ich war der schwerste und stärkste, wenn man
schon fast in der Hälfte der Flanke des Matterhorns,
mich mit Gold aufgewogen hätte, so würde ich nicht
die in das Zmuttal niederblickt, als Eisschollen und
nachgegeben haben, aber hier handelte es sich um
Felsstücke, die aus der Richtung des Gipfels kamen,
ein Opfer, und ich brachte es. Ich verstemmte meine
uns erschreckten. Dann sahen wir auch keinen Ausweg
Absätze über dem Abgrund, lehnte den Rücken an
mehr. Wir klommen also wieder aufwärts durch den
den Fels und presste die Hände über der Brust zusam-
senkrechten Fels. Auf dieser Strecke opferten wir am
men, so seilte ich zwei meiner Gefährten ab. Der
meisten Zeit und Mühe. Endlich gelangten wir an den
dritte wollte bei mir bleiben, ich war glücklich.
Fuss des letzten Kopfes, der ein wenig überhängend
Einige Minuten später waren meine Begleiter ausser
ist. (. . .) Wir klammerten die Hände an die obere Fels-
Gefahr, auf einem leichten Weg. Sie rannten. Mein
partie und schlichen dieser Galerie entlang. «Nichts zu
Opfer lastete auf mir. Rittlings sass ich auf dem Grat,
machen», schrie Carrel an der Spitze der Bande. (. . .)
schaute ihnen zu und ermutigte sie. Mit den Absätzen
Ein bisher ungesehenes, einige Meter breites Couloir
schlug ich auf das Matterhorn ein, wie um es fühlen zu
trennte uns vom Grate, von wo aus der Weg leicht und
lassen, dass es besiegt sei: «Jetzt haben wir dich.»
Amé Gorret: Bericht der ersten Matterhornersteigung von der italienischen Seite am 16. und 17. Juli 1865, in: Die Alpen SAC, 1935. Originaltext: Ascension du Mont-Cervin, in: Feuille d’Aoste, Nr. 41, 43 und 44, 10. 24. und 31. Oktober 1865. Drei Tage nach der Erstbesteigung beginnen Jean-Antoine Carrel, Jean-Baptiste Bich, Jean-Augustin Meynet und Amé Gorret unter dem Gipfelkopf des Liongrates die Westwand zum Zmuttgrat hinüber zu traversieren; vor einer senkrechten Passage bleiben die zwei Letztgenannten zurück, um den beiden Gipfelstürmern mit Seilhilfe die Rückkehr zu ermöglichen.
Der leicht geschwungene Liongrat zum Vorgipfel Pic Tyndall: links die meist schattige Westwand, rechts die sonnige Südwestwand des Pic Tyndall,
die rechts von der Cresta De Amicis begrenzt wird. In dieser Wand oben das nach rechts geneigte Schneeband der Cravatta.
89
Den Berg zähmen: Seile und Ketten, Leitern und Hütten Daniel Anker
Gletscherfahrten in den Alpen», der 1871 erstmals herauskam. «Seil und Haken hatten gute Dienste geleistet und mir über alle Schwierigkeiten hinweggeholfen. Im Schornstein konnte ich mich freilich nur so hinunterlassen, dass ich eine Knotenschlinge machte und das Seil dann abschnitt. Dieses Stück musste ich zurücklassen.» Es hängt noch immer dort. Nicht das Seilstück von Whymper. Aber ein anderes fixes Seil. «Man erreicht den Fuss einer offenen, senkrechten Verschneidung von ca. 12 m Höhe, la Cheminée genannt», heisst es im Alpinführer «Matterhorn/Dent Blanche/Weisshorn» des Schweizer Alpen-Club (SAC) von 2010 zum italienischen Normalweg über den Liongrat: «Ein Fixseil erleichtert der mühsamen Aufstieg.» Das ist es: Den Aufstieg und den Abstieg erleichtern. Und sicherer machen – das auch. Sich halten am fest installierten Seil, wie Whymper und alle seine Nachkletterer. Nur dass diese dann nicht, auf festem Bitte festhalten! Zeichnung von Whymper, wie er 1861 in der Cheminée an einem fixierten Seil absteigt (oben). Neben Seilen helfen seit Langem auch Ketten, wie am Hörnligrat (rechte Seite).
90
Edward Whymper war der Erste. Nicht nur
Stand stehend, das fixierte Seil mit ausge-
auf dem Gipfel des Matterhorns am 14. Juli
streckten Armen abschneiden müssen.
1865 um 13.45 Uhr. Der Engländer war auch der Erste, der ein Seil am Berg befes-
Whympers mobile Unterkunft
tigte, um sich daran zu halten – und es
Whymper installierte als Erster noch eine
dann auch dort hängen liess. Es geschah
zweite Erleichterung zur Besteigung des
am 19. Juli 1862 bei seinem vierten Anlauf,
Matterhorns: die Übernachtungs- und
das Matterhorn zu erobern. «Um 5 Uhr
Schutzmöglichkeit in einem Bau. Zuerst in
nachmittags verließ ich das Zelt wieder
einem temporären, nämlich einem Zelt.
und glaubte schon in Breuil zu sein»,
Was beim allerersten Versuch in der Nacht
schreibt er im Kapitel «Neue Versuche am
vom 29. zum 30. August 1861 auf dem Col
Matterhorn» seines Klassikers «Berg- und
du Lion (3580 m) nicht klappen wollte, weil
Zwischenverpflegung
Das Matterhorn muss für vieles herhalten, aber selten stimmen Form (pyramidenförmiger Berg) und Inhalt (SchokoladeDreiecke) so süss überein wie bei der Toblerone. Beide werden in über 120 Ländern verkauft. Allerdings: Bis 1970 warben abwechslungsweise Adler und Bär für das 1908 lancierte Produkt, und 1987 ersetzte ein mit einer weissen Spitze verziertes, blaues Dreieck das Matterhorn auf der Verpackung. Diese Annäherung an den Fuji, den höchsten Berg Japans, ist zum Glück schon lange gegessen. Nun steht unser Berg wieder da, wo ihn Suchard schon 1906 platziert hat und wo ihn andere Hersteller haben, mit oder ohne Biscuit zum Anknabbern, mit oder ohne Barry zum Angucken. In Zermatt können Schoggimatterhörnli gekauft werden – ein herrliches Picknick-Dessert wie hier an Neujahr 2015 auf Grand Coeurie im Neuenburger Jura, der Schweizer Uhrenregion.
164
165
Die Jahrhundert-Tour am Matterhorn: Walter Bonattis Durchsteigung der Nordwand auf einer neuen Route, allein und im Winter. Auf einer Foto zeichnete er Linie und Biwakplätze inklusive Datum ein – und signierte das Dokument (links). Am 22. Februar 1965 erreicht er um 15.12 Uhr das Gipfelkreuz: «Ich sinke in die Knie und weine.»
angelegenheit: Am 13./14. Juli 1965 durch-
den Tropfens. Walter Bonatti, wohl der er-
stiegen die drei souverän die Schmid-Rou-
folgreichste und bekannteste Bergsteiger
te. Lediglich die Nacht in der Wand war
der vorherigen 15 Jahre, setzte sich daher
lang und unangenehm, nachdem dem
im Winter 1965 die Matterhorn-Nordwand
Ehepaar der Biwaksack hinabgefallen war.
zum Ziel. Er wollte endlich das kühne Vor-
Für Yvette war es der schönste Erfolg ihrer
haben von Mooser und Imboden aus dem
bemerkenswerten Laufbahn. Und hinter-
Jahr 1928 vollenden. Bonatti erging es zu-
her? «Ich erinnere mich, bevor wir in die
erst nicht besser als den beiden Täscher
Nordwand sind, hatten sie mich gefragt,
Bergführern. Am 10. Februar brach er mit
was ich mir wünsche, wenn ich vom
Gigi Panei und Alberto Tassotti auf. Am
Matterhorn nach Zermatt zurückkomme.
12. Februar, nach dem sogenannten Quer-
Und ich hatte gesagt, zum Friseur gehen
gang der Engel, nagelte sie ein fürchterli-
und einen großen grünen Salat essen. Wie-
cher Sturm während zwei Nächten und
der in Zermatt unten, bekam ich also einen
einem Tag fest, dann flüchteten sie absei-
Gutschein beim Friseur, und der Wirt hat
lend in die Tiefe. Darauf entschloss sich der
mir einen Salat gemacht. Une grande
Italiener zu einem Soloversuch – und kam
salade verte», erzählte die Genferin 2001
durch. Vom 19. bis zum 22. Februar setzte
schmunzelnd.
er im Jubiläumsjahr des Matterhorns Massstäbe: Eine schwere Neuroute im Winter im
Bonatti klettert seinen
218
Alleingang bezwungen. Bonatti kletterte in
letzten Klassiker
Selbstsicherung, sodass er die Wand prak-
Seit Ende der 1950er-Jahre legte die Elite
tisch zweimal im Aufstieg und einmal im
der Alpinisten ihr Augenmerk verstärkt auf
Abstieg (um die Sicherungshaken wieder
Neurouten in den grossen Wänden. Und
zu entfernen und für den weiteren Anstieg
nicht nur das: Möglichst direkt sollte es
zu verwenden) durchstieg. Etwas unterhalb
zum Gipfel gehen, in der Linie des fallen-
des italienischen Gipfels erreichte er den
Eine Ikone des Alpinismus: Walter Bonatti im Biwak in der Nordwand des Matterhorns. Ganz alleine – nur Zizì begleitet ihn. «Seit gestern trage ich das Bärchen im Rucksack und habe es recht gern», schreibt er in seinem zweiten Buch «I giorni grandi» von 1971. Den kleinen beigen Stoffbär, gut auf dem Cover des «Paris Match» vom 15. März 1965 zu sehen, erhielt er vom jüngsten Sohn des Hoteliers Pannatier vom «Alpenblick» in Zermatt. Dort logierte «le vainqueur du Cervin» vor 50 Jahren. Zizì ist nun im Matterhorn Museum Zermatlantis in Zermatt zu sehen, es lächelt immer noch «mit seinen großen gelben Glasaugen.»
Zmuttgrat. «Le plus grand alpiniste du
führung, umgingen dabei aber mit dem
monde», bejubelte der «Paris Match» den
Quergang der Engel die berühmte Schlüs-
Italiener in einer 26-seitigen Exklusivrepor-
selstelle des Originalanstiegs.
tage. Mit dieser Tour setzte Bonatti seiner
1969 gab es etwas völlig Neues auf der
Karriere die Krone auf, um sich gleich
Nordseite des berühmtesten Schweizer Ber-
danach im Alter von 35 Jahren völlig über-
ges. Dieses Mal entdeckten die beiden Ita-
raschend vom Spitzenalpinismus zu ver-
liener Alessandro Gogna und Leo Cerruti
abschieden. Eine echte Direttissima war
eine neue Route im rechten Teil der Nord-
Bonatti nach Ansicht Toni Hiebelers jedoch
wand, in der Zmuttnase, wo die Nordwand
nicht gelungen, was jedoch allenfalls als
zur Nordwestwand wird. Gogna war ein
Schönheitsfehler zu bezeichnen ist. Anläss-
Star der Szene, unter anderem war ihm
lich der 5. Begehung der Route (1967) be-
1968 der erste Alleingang am Walkerpfeiler
gradigten die beiden Tschechen Valentin
der Grandes Jorasses gelungen. Die beiden
Kanyar und Milan Vacik Bonattis Linien-
Alpinisten benötigen im Juli vier Tage, um
219
Vorangehende Doppelseite: Allein auf weiter und steiler, brüchiger und unbekannter Flur – Hervé Barmasse im April 2011 am Picco Muzio. Sein Kommentar: «Stürzen verboten!» Rechte Seite: Aufbruch zu einem neuen SüdwandAbenteuer: Marco (orangegelbe Jacke) und Hervé Barmasse beim Anmarsch am 17. März 2010 zum Couloir, das zur l’Enjambée im Liongrat hinaufzieht. So wollten Vater und Sohn diese eiskalte Rinne nennen, doch hat sich die Bezeichnung «Couloir Barmasse» durchgesetzt (oben und unten links). Hervé Barmasse am Picco Muzio – am Ende des Seils befindet sich nicht etwa der Seilpartner, sondern zwei Säcke mit Ausrüstung, Nahrung und Biwakmaterial (unten rechts).
254
bevor sich die Rinne links der Südwand-
selber verzichtete er auf diese. Die Kletterei
Direttissima zur Enjambée hochzieht. Die
war eine ständige Belastungsprobe für die
Italiener trafen überraschend wenig Eis im
Nerven, so schlecht war die Felsqualität.
Couloir an. Die Route war schwer abzu-
Hervé benötigte für seine neue Route vier
sichern, was dazu führte, dass sich der vor-
Tage und drei Biwaks, bevor er am 9. April
an kletternde Hervé oft bis zu 20 Metern
den Gipfel des Picco Muzio erreichte. Sein
über dem letzten Sicherungspunkt befand.
Vater Marco nahm ihn oben erleichtert in
«Papà, faccio sosta», hören wir Hervé in
Empfang. Die beiden biwakierten nochmals
einem kurzen Film auf YouTube rufen. Be-
und stiegen dann gemeinsam über den
merkenswerterweise kletterte der jüngere
Furggengrat ab. «Als ich den Picco Muzio
Barmasse die meiste Zeit trotz grosser Käl-
erreichte, waren der ganze Stress und die
te ohne Handschuhe. Für beide war es ein
Angst, es nicht zu schaffen oder bei einem
phantastischer Moment, als sie aus der
Steinschlag umzukommen, plötzlich wie
Route ausstiegen, besonders aber für den
weggeweht. Was blieb, waren reine Freude
61-jährigen Marco Barmasse, dessen gros-
und eine tiefe innere Ruhe. Mir war klar,
ser Wunsch sich gemeinsam mit Hervé er-
dass ich etwas Schwieriges und Einzigarti-
füllte. Die beiden Bergführer stiegen wegen
ges geschafft hatte. Ich war einfach nur
der grossen Kälte und einbrechender Dun-
unendlich glücklich, nicht mehr über diese
kelheit nicht mehr zum Gipfel weiter und
Bröckelfelsen klettern zu müssen», resü-
erreichten schliesslich um ein Uhr morgens
mierte Barmasse in seinem Blog. Tatsächlich
die Carrel-Hütte.
hielt er die Route für so gefährlich, dass er sie anderen Kletterern nicht zur Wieder-
Nerven wie Drahtseile:
holung empfehlen wollte. Mehr als beein-
Hervé Barmasse
druckend ist sie trotzdem – die insgesamt
Am 6. April 2011 stand Hervé Barmasse
14. Route durch die Südseite des Matter-
wieder unter der Südseite des Matterhorns.
horns, wobei die Varianten an der Cresta
Fast 105 Jahre waren vergangen, seit Ugo
De Amicis und auf der Benedetti-Route
De Amicis und Arrigo Frusta die erste Route
nicht mitgezählt wurden. Hervé Barmasses
in der Südwand des Matterhorns fanden.
Solo am Picco Muzio erinnert in Idee
Der 33-jährige Bergführer sollte nun für den
und Ausführung an dasjenige von Walter
vorläufigen Schlusspunkt ihrer Erschlies-
Bonatti in der Nordwand – und verweist
sungsgeschichte sorgen. Sein Plan: Ein Solo
zugleich auf den Sommeranfang 1865,
an der Südostwand des Picco Muzio, rechts
als der Matterhorn-verrückte Engländer
der Ragni-Route, mit Ausstieg direkt auf
mit seinen Bergführern durch die
den Gipfel des Felsgendarms. Der 400 Me-
Sonnenwand die Erstbesteigung er-
ter lange Zustieg erfolgte wie immer durch
zwingen wollte.
das Unheil drohende Furggencouloir unter
Festzustellen bleibt: Bis auf die slowenische
der Wand. Selbst im Spätwinter war die im-
Route von 1983 und Patrick Gabarrous
mense Steinschlaggefahr ein Risikofaktor.
Beteiligung an «Padre Pio prega per tutti»
Über dem Couloir: 700 Meter senkrechter
wurden alle anderen Routen an der Süd-
bis überhängender Fels. Barmasse kletterte
wand von Italienern eröffnet. Somit ist sie
mit Seilsicherung – jeder Standplatz wurde
nicht nur von der Lage her ganz klar die
mit Bohrhaken versehen, in den Seillängen
italienische Wand am Cervino.
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«Um Viertel vor 2 Uhr lag die Welt zu unseren Füssen, und das Matterhorn war besiegt. Hurra! Nicht ein Fussstapfen unserer italienischen Nebenbuhler war zu sehen.» Edward Whymper, 14. Juli 1865.
Matterhorn forever! Das grosse Buch zum Jubiläum. 336 Seiten voller Geschichte und Geschichten, voller Facts und Figures, voller Fotos und Reklamen. Matterhorn oder Cervino: Wahrzeichen von Zermatt und Cervinia, Symbol der Schweiz und Italiens, Traumberg der Alpinisten und Touristen. Alles, was Sie wissen möchten zum berühmtesten Berg der Welt. Und noch ein paar Seillängen mehr. «Mit den Absätzen schlug ich auf den Cervino ein, wie um ihn fühlen zu lassen, dass er besiegt sei: ‹Jetzt haben wir dich.›» Amé Gorret, 17. Juli 1865.
ISBN: 978-3-906055-30-5
Mit Fotos von Robert Bösch