Alpingeschichte(n)

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Stefan KĂśnig

Alpingeschichte(n) Von den Anfängen bis auf den Mount Everest


«Wenn Mensch und Berg sich begegnen, ereignen sich große Dinge, die sich im Gedränge der Straßen nicht verwirklichen lassen.» William Blake, englischer Dichter und Maler des 18. und 19. Jahrhunderts

«Die Berge sind nicht tot. Sie leben.» Franz Hohler Schweizer Schriftsteller

«Getting to the top is nothing – the way you do it is everything.» Royal Robbins Kletterer


Stefan König

Alpingeschichte(n) Von den Anfängen bis auf den Mount Everest

Illustrationen von Kathrin König

AS Verlag


Bildnachweis Titelseite oben: Christoph Knoch, Eres-Stiftung unter Verwendung zweier Arbeiten und mit freundlicher Genehmigung von Prof. Stephan Huber Titelseite unten: Archiv Edurne Pasaban Umschlagrückseite: Archiv AS Verlag

www.as-verlag.ch © AS Verlag & Buchkonzept AG, Zürich 2015 Gestaltung und Herstellung: AS Verlag, Urs Bolz, Zürich Korrektorat: Carla Ritter-Just, Müllheim Druck und Einband: Kösel GmbH & Co. KG, Altusried-Krugzell ISBN 978-3-906055-39-8


Inhalt

9 Eine geschichtslose Zeit? In der heutigen Zeit jagen sich die alpinistischen Sensationen. Wie sind Speed-Begehungen großer Wände und gewagte Solo-Touren geschichtlich einzuordnen? Am besten noch gar nicht . . .

21 Der Berg war Lebensfeind und Sitz der Götter Spiritualität, Geborgenheit, Flucht aus schweren Zeiten – warum sich die Menschen überhaupt in den Gebirgen niederließen.

31 Frühe Reisende in den Alpen Dichter, Denker, Maler verändern den Blick auf die Berge. Ein Spaziergang durch ein imaginäres Museum.

43 Die Erstbesteigung des Montblanc 1786 Der Naturforscher de Saussure war der erste Sponsor in der Alpingeschichte. Der Arzt Paccard und der Kristallsucher Balmat waren die Helden von 1786.

57 Forschen, entdecken, Berge besteigen Während seiner fünfjährigen Südamerikareise hätte der Universalgelehrte Alexander von Humboldt beinahe den Chimborazo (6267 m) erstbestiegen.

65 Der Berg der Berge Die Besteigung des Matterhorns 1865 und das Ende des «Goldenen Zeitalters».

81 Die Alpenwanderer Schreibende und zeichnende Alpenwanderer brachten das Gebirge im 18. Jahrhundert in Mode. Kleine Porträts von Conrad Escher von der Linth, Joseph Kyselak und Heinrich Noë.

95 Afrika Die Erstbesteigung des Kilimandscharo war Nebenaspekt der fürchterlichen Kolonialzeit auf dem «Schwarzen Kontinent».

103 Als der Himalaya noch ein weißer Fleck auf der Landkarte war Wie sich Forschung, Abenteuerlust und alpine Idee miteinander verbanden: von den Brüdern Schlagintweit bis Heinrich Harrer.


113 Ski Eine kleine Entwicklungsgeschichte des alpinen Skisports. Und im Blickpunkt dabei die erste Skibesteigung eines Alpengipfels: 1890 am oberbayerischen Heimgarten.

123 Frei denken. Frei sein. Freiklettern. Die sportliche Entwicklung des Kletterns im frühen 20. Jahrhundert – Freiklettern wie Preuß oder mit technischen Kniffen, wie Dülfer sie erfand?

133 Krieg! Die Berge als Barrieren, Festungen, Todesfallen. Von Kriegen der Frühzeit über Andreas Hofer bis zur «Front in Fels und Eis». Eine Never-ending-Story?

141 Film Ein Bergfilmabend . . . Ein filmischer Querschnitt von 1901 bis heute. Arnold Fanck, Luis Trenker und die «Huberbuam» inklusive.

155 Heilige Berge In allen Religionen gibt es Berge von besonderer Bedeutung: Sinai, Kailash, Fujiyama. Das alpin Spirituelle beginnt mit den Schalensteinen und endet vorerst bei den Bergfeuern.

163 Berghütten & Bergbahnen Sie waren technische Innovationen und schufen Infrastrukturen in den Bergen. Zugleich lösten sie den Massenansturm auf die Alpen aus. Ein Blick mit einem lachenden und einem weinenden Auge.

175 Frauen Der Alpinismus ist keine Männerdomäne (mehr) . . . Doch es hat 250 Jahre gedauert, bis sich die Frauen ihren Platz endgültig erkämpft und gegen den männlichen Widerstand erklettert hatten.

187 Die Eiger-Nordwand – und andere tolle Kühnheiten Die Erstbegehungen von Eiger-Nordwand, MatterhornNordwand und Walkerpfeiler fielen in das faschistische Zeitalter. «Durchkommen oder umkommen war die Devise . . .»


201 Annapurna Die erste Achttausender-Besteigung im Jahr 1950 durch eine französische Expedition. Ein großer Gipfelerfolg und ein schmerzvoller, dramatischer Weg zurück ins Leben.

215 Himalaya 53 Ein Eispickel erzählt von den Erstbesteigungen des Nanga Parbat und des Mount Everest, den beiden berühmtesten Achttausendern.

227 Bonattipfeiler Mit seinem Alleingang am Petit Dru erlangte Walter Bonatti Kultstatus. Er war der große Einzelgänger des Bergsteigens und einer der bedeutendsten Alpinisten aller Zeiten.

237 Direttissima Klettereien entlang der Gipfelfalllinie; höchste klettersportliche Anforderungen gepaart mit großem technischen Einsatz. Ein Weg in die sportliche Sackgasse?

247 El Capitan Große Touren, starke Typen: die Erschließung des gigantischen Monolithen im Yosemite, Symbol für den amerikanischen Klettersport schlechthin.

259 Der siebte Grad Reinhard Karl und Helmut Kiene eröffnen 1977 mit den «Pumprissen» im Wilden Kaiser die erste anerkannte Alpenroute im VII. Grad. Ein Meilenstein im Klettersport. Der Beginn moderner Zeiten.

269 Everest 78 Reinhold Messner und Peter Habeler gelingt die erste Besteigung des höchsten Berges der Erde ohne Verwendung künstlichen Sauerstoffs. Geschichtlich so bedeutsam wie das Erreichen der Pole oder der erste Flug zum Mond.

281 Anhang Weiterlesen . 282 Dank . 287



KAPITEL 4

F orschen , entdecken , B erge besteigen Der Mensch muss das Große und Gute wollen, so lautete der Leitsatz Alexander von Humboldts, als er 1799 zu seiner fünfjährigen Reise durch Lateinamerika und die Amazonasgebiete aufbrach. Der Naturforscher und Geograf «entdeckte» und erforschte eine exotische Welt – und beinahe hätte er auch noch den 6267 Meter hohen Chimborazo erstbestiegen. Das geschah zu einer Zeit, in der nicht die Berggipfel das Wichtigste waren, sondern die Kunde von fernen Regionen. Forschung und Abenteuer gingen Hand in Hand.


D

as Bergsteigen war keine Freizeitangelegenheit. Freizeit ist ein Begriff des 20. Jahrhunderts. Auf Berge wurden wegen der Jagd

gestiegen oder aus Gründen der Götterverehrung. Berge wurde überschritten, weil man von hier nach dort wollte oder musste. Doch sie wurden nicht etwa bestiegen, weil es schön war dort droben, weil die

Aussicht so verlockend oder das Gefühl des Gipfelsieges so befriedigend gewesen wäre. Noch bis ins zweite Viertel des 19. Jahrhunderts wohnte dem Bergbesteigen kein sportlicher Aspekt inne – wer sich in große Höhen begab, tat dies, um zu forschen, um neue Kenntnisse zu erlangen (oder er tat es als Einheimischer, der solche Forscher als Führer leitete und begleitete). Das Paradebeispiel dieser Kombination aus Wissensdurst und Bergsteigen erbrachte kein Geringerer als der deutsche Naturforscher Alexander von Humboldt, geboren am 14. September 1769 in Berlin, wo er hochbetagt am 6. Mai 1859 verstarb. Im Juni 1799 brach Humboldt an der spanischen Nordwestküste zu einer Reise auf, die fünf Jahre dauern und als «Humboldts große Amerikareise» in die Geschichte eingehen sollte – und dies gleich in verschiedener Hinsicht: in die Geschichte der Forschung, in die Geschichte des Reisens und der Abenteuer und nicht zuletzt in die Geschichte des Bergsteigens. Die Reise unterteilt sich in drei Abschnitte. Da sind die ersten eineinhalb Jahre in Venezuela und auf dem Orinokostrom. Humboldt und sein Begleiter, der französische Botaniker Aimé Goujaud Bonpland, waren knapp zweieinhalb Monate auf dem viertgrößten Fluss der Welt und seinen Nebenflüssen unterwegs – sie fuhren in einer von vier Indianern und einem Steuermann betriebenen Piroge – und sie lebten im dichten Dschungel, der die Flussläufe begleitete. Der feinsinnige Naturforscher, der daheim als gesundheitlich eher anfällig galt, stand hier ohne nennenswerte Probleme die größten Strapazen durch. In einem Brief, den er nach dem Orinoko-Abenteuer schrieb, vermerkte er stolz: «Meine Gesundheit und Fröhlichkeit hat, trotz des ewigen Wechsels von Nässe, Hitze und Gebirgskälte, seitdem ich Spanien verließ, sichtbar zugenommen. Die Tropenwelt ist mein Element, und ich bin nie so ununterbrochen gesund gewesen als in den letzten zwei Jahren . . .» 58


Und das trotz oder gerade wegen der außergewöhnlichen Anforderungen, denen der Organismus bei dieser Reise ausgesetzt war: «Vier Monate hindurch schliefen wir in Wäldern, umgeben von Krokodilen, Boas und Tigern . . ., nichts genießend als Reis, Ameisen, Manioc, Pisang, Orenocowasser und bisweilen Affen . . . In der Guayana, wo man wegen der Mosquiten, die die Luft verfinstern, Kopf und Hände stets verdeckt haben muss, ist es fast unmöglich, am Tageslicht zu schreiben; man kann die Feder nicht ruhig halten, so wüthend schmerzt das Gift der Insekten . . .» Ausrüstung, Ernährung, medizinische Versorgung waren Ende des 18., zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf einem Niveau, von dem wir Heutige, ach so Outdoor- und Abenteuerbegeisterte uns gar keine Vorstellung mehr machen können. «In Higuerote gräbt man sich nachts in den Sand, sodaß bloß der Kopf hervorragt und der ganze Leib mit 3–4 Zoll Erde bedeckt bleibt», schildert Humboldt den unablässigen Kampf gegen die Stechmücken. «Man hält es für eine Fabel, wenn man es nicht sieht.» Und man würde es für Abenteurerlatein halten, käme die Schilderung nicht von einem der bedeutendsten Wissenschaftler seiner Zeit, der mit seinen Erkenntnissen die Welt bewegt hat. Auf Humboldts ersten Reiseabschnitt folgten zwei Jahre auf Kuba, in Kolumbien und Ekuador, bevor er sich im dritten, wieder etwa eineinhalb Jahre dauernden Reiseabschnitt vor allem Mexiko widmete. Für diese «Alpingeschichte(n)» ist der mittlere Teil, sind Kolumbien und Ekuador, die damals noch als Nueva Granada einen Staat bildeten, von besonderem Interesse: Hier hat Humboldt mehrere Berge bestiegen, Höhenmessungen durchgeführt, geologische Untersuchungen angestellt, Pflanzen der Anden bestimmt, die menschliche Physiologie betreffende Aufzeichnungen gemacht – und sich schließlich jenem Berg zugewandt, der mit 6267 Metern Höhe als der höchste der Erde galt, dem Chimborazo. Dieser höchste Berg war noch unbestiegen. Für Humboldt, der auch schon die beiden Vulkangipfel des Pichincha bei Quito erstiegen hatte sowie an den Vulkanriesen Antisana (5704 m) und Cotopaxi (5897 m) unterwegs gewesen war, wurde der Chimborazo nicht nur zur wissenschaftlichen Herausforderung, 59



KAPITEL 9

S ki Das Thema Ski ist breit aufgefächert: Pistenskirummel, Langlauf, Telemark, Freeriden, Snowboarden, Rennsport usw. Hier soll einzig vom Skibergsteigen die Rede sein – und das anhand eines konkreten Ereignisses: der ersten bergsteigerischen Skitour im Alpenraum, ausgeführt im Jahr 1890 am Heimgarten in den Bayerischen Voralpen. Hinaus in den Schnee, hinein in die Einsamkeit . . .


I

mmer fällt mir der alte Bergsteiger ein, der am Stadtrand von München ein winziges Häuschen bewohnt hat und mit dem ich

mich angefreundet habe, ein halbes Leben ist das nun her. In seiner holz­ofenwarmen Stube stellte er mir Tee auf den Tisch und mindestens einen Schnaps dazu, über achtzig war er damals und ich hätte

gut sein Enkel sein können. Übers Bergsteigen sprachen wir, in unserer Alpenvereinssektion war er Ehrenmitglied und ich einer der jungen Wilden. Von Touren im Karwendel und in den Dolomiten, vom Klettern, von Gletschertouren und vom Skifahren war ausgiebig die Rede. Immer muss ich an ihn denken, wenn ich etwas über die Geschichte des Skibergsteigens zu erzählen habe. Ich rieche das Holz im Ofen, den Schnaps im Tee und sehe das alte und doch so schöne Gesicht des Mannes vor mir. Sein Blick schien von den vielen freudvollen Tagen zu erzählen, die er erlebt hatte. Die vielen schlechten spielten anscheinend keine Rolle mehr. «Wir haben uns Tannenzweigerl an die Ski gebunden», sagte er. «Mit Lederriemen. So sind wir aufgestiegen. Ein paar Mal haben wir diese ‹Steighilfen› erneuern müssen. Aber es war eine Mordsgaudi. Und dann sind wir abgefahren. Einmal. Das war’s. Herrlich war’s.» Was er da aus längst vergangener Zeit erzählte, hatte nichts vom Früher-war-alles-besser, unpathetisch und kitschfrei kam es daher, dafür aber mit einer ungeheuren Begeisterung und Lebensfreude. Es wäre wohl ein wundervolles Erlebnis gewesen, damals mit ihm unterwegs sein zu können. Mit Tannenzweigerln unter den Ski. Achttausender sind mit Ski befahren worden. In Alpenwänden, die im Sommer nur fels- und eiskletternd bewältigt werden können, haben Skibefahrungen stattgefunden – Fehler verboten; jeder Sturz hätte Absturz bedeutet. Auch wurden die Alpen längst in ihrer gesamten Ausdehnung von Wien bis Nizza mit Ski überschritten. Walter Bonatti, über den an anderer Stelle noch ausführlich berichtet wird, war 1955 der Erste. Die Alpengipfel sind Skitourenziele, viele von ihnen in den Wintern stark frequentiert. Das Skifahren im ganz Allgemeinen ist Breiten­ 114


sport, aber auch das Skitourengehen im Besonderen boomt mehr von Jahr zu Jahr. Dazu das Freeriden, atemberaubende Linien im extrem steilen, hochalpinen Gelände: felsdurchsetzte Rinnen, Geländekanten, 40-Grad-Flanken. Freiheit und Abenteuer gehen dabei mit höchstem Risiko Hand in Hand. Die Natur bietet kolossale Bedingungen! Angefangen hat wohl alles im Jahr 1890 an einem Berg der Bayerischen Voralpen. Der Heimgarten ist mit 1790 Metern kein hoher Berg, er ist nicht schwierig, bietet im Sommer aber reizvolle Wege für Wanderer. Er erhebt sich am Nordrand der Alpen, gut 50 Kilometer südlich von München und nicht mehr weit entfernt von Garmisch-Partenkirchen, also jener Region, wo die «richtigen Berge» anfangen. Der Ausblick vom Gipfel ist trotz der relativ geringen Höhe grandios. Da rückt das Wettersteingebirge mit dem wuchtigen Zugspitz-Alpspitz-Massiv in den Blick. Das Karwendelgebirge streckt sich weit nach Osten. Nach hüben wie drüben reihen sich die Vorberge dem Heimgarten an, nicht hoch, nicht spitz, nicht spektakulär, und doch geliebt von den Menschen, die hier leben und von denen, die in zunehmendem Maße hierher kommen, der Erholung und Erbauung wegen. Das ganz Außergewöhnliche freilich ist, dass der Ausblick nicht allein von Bergen bestimmt ist, sondern dass sich auch die teils sanft wellige, teils flache, voralpine Landschaft vor dem Betrachter ausbreitet: Wiesen, Felder und Moore. Die Ortschaften mit ihren zwiebeltürmigen Kirchen. Die im grünen Land verstreuten Weiler und Höfe, verbunden durch Straßen und Wege, auf denen Pferdefuhrwerke unterwegs sind. Um letztere zu sehen, muss man aber schon ganz genau schauen . . . Karl Otto ist in jener Zeit Verwalter des Remonte-Gestüts Schwaiganger, wo junge Pferde fürs Militär gezüchtet und ausgebildet werden und das unmittelbar am Fuß des waldreichen Berges liegt. Er ist ein Mann, der von der Natur begeistert ist, von den Pferden, mit denen er tagein, tagaus zu tun hat, im ganz Besonderen, aber auch von 115



KAPITEL 21

E l C apitan Kein anderer Berg auf der Welt steht ähnlich markant für den modernen Klettersport. In seiner 1000-Meter-Wand und an seiner Südkante ist Bergsportgeschichte geschrieben worden – und das wird wohl auch weiterhin der Fall sein. Der El Capitan ist das Wahrzeichen des kalifornischen Yosemite Valley und er ist das Wahrzeichen des amerikanischen Klettersports. Kult und Mythos für bereits mehrere Generationen. Kult und Mythos auch in Zukunft.


N

icht Namen, nicht Zahlen, nicht Fakten, nicht große Taten und nicht schlimme Unfälle – am Anfang steht einfach nur

ein Bild: schwarzweiß, hart in den Kontrasten, silbern glänzend dort, wohin Licht fällt, dunkelgrau hingegen, fast sogar schwarz in den verschatteten Bereichen. Im Vordergrund Nadelgehölz, von einem Lichtstreifen zum Leuchten gebracht. Dahinter, tiefer liegend, ein dicht bewaldetes Tal, über dem sich rechter- und linkerhand Felsber-

ge erheben. Am Talschluss steigt das Gelände an und kulminiert in der Bogenform des Half Dome, einem der berühmtesten Berge Nordamerikas. Schwer lehnen sich Wolken auf seinen Gipfel, gerade so, als wollten sie jenen Song verhöhnen, der evergreenig besagt «It never rains in California». Doch diese gesamte landschaftliche Szenerie, die an sich schon überaus eindrucksvoll ist, wird dominiert und im ästhetischen Sinn übertroffen von der Felsgestalt des El Capitan, seiner tausend Meter hohen Südwand und seiner Südkante, die scharf geschnitten und fast senkrecht nach oben zieht. «The Nose» ist sie von den Kletterern benannt, die hier in vieltägiger Unternehmung einen schwierigen, dabei idealen Anstieg fanden auf den gut 2300 Meter hohen Berg, der, anders als es dieses grandiose Schwarzweißfoto vermuten ließe, auf langem, aber unproblematischem Steig auch zu erwandern wäre. Ansel Adams’ Schwarzweißbilder waren Kult Ansel Adams war nicht der erste, der die Yosemite-Region fotografisch erkundet hat. Doch anders als die ebenfalls grandiosen Abzüge seiner Vorgänger Charles Weed, Carleton Watkins und Eadweard Muybridge, wurden Adams’ Arbeiten zu Kult- und Kunstobjekten und gehörten bald zur populären Kultur. Das Besondere an Adams’ Fotografien sind nicht allein die Standorte und die Perspektiven, das Licht und die Schatten, das Schwarz und das Weiß, sondern vor allem ist es der Anspruch, Landschaften, die sich vor dem Kameraobjektiv auftun, immer so zu zeigen, als wäre zuvor nie ein Mensch hier gewesen. Als Adams vierzehnjährig erstmals hierherkam, es war im Jahr 1916, war das Yosemite Valley zwar längst bekannt und bei Besuchern aus den Städten an Amerikas Westküste beliebt, doch anders als heute strahlte 248


es noch weit mehr von der Unberührtheit aus, die der Junge später auf seinen Bildern einfangen sollte. «Schon als ich das erste Mal das Yosemite erlebte», schrieb er in seiner Autobiografie, «erkannte ich mein Schicksal.» Sein Schicksal war, über Jahrzehnte wieder und wieder ins Yosemite zu kommen, diese Welt so zu fotografieren, wie sie noch von den Indianern erlebt worden war und wie er sie sehen mochte: als Naturparadies, das schützenswert und für die Nachwelt zu erhalten war. Sein Schicksal war aber auch, dass er mit seinen Bildern, denen der naturschützerische Gedanke immer innewohnt, ganz erheblich zum Ansturm auf sein kalifornisches Bergparadies beitrug. Erst kamen die Kletterer aus dem Umland, dann immer mehr aus der ganzen Welt, schließlich die Touristen, die auf ihren Reisen durch Amerikas Westen auch durchs «Valley» fahren und unterm El Capitan die Köpfe in den Nacken legen – es sollen mittlerweile Jahr für Jahr mehrere Millionen sein. Adams’ Bilder avancierten von den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts an zur populären Kultur, wurden im Original unbezahlbar, schmückten als Poster aber unzählige Wohnungen oder zeigten als Coffee-Table-Books den guten Geschmack ihrer Besitzer und deren Wertschätzung für die Natur. Ansel Adams und «sein Bild» vom Yosemite stehen stellvertretend für die Diskrepanz von Naturschutz und Naturnutz, einer Diskrepanz, der die wohlmeinendsten Menschen und die hehrsten Anliegen unterworfen sind: Bilder und Worte, erst einmal gedruckt (früher) oder im Netz (heute), sind nicht mehr kontrollierbar und nie mehr zurückzuholen. Das Bild eines Naturparadieses, aufgenommen, um den Menschen zu zeigen, wie wertvoll und erhaltenswert es ist, wird unweigerlich zu dessen Veränderung und vielleicht auch zu dessen Zerstörung führen. Und damit ist nicht nur Adams gemeint. Nein, jede Veröffentlichung, auch das vorliegende Buch, trägt bei zum Run auf die Berge und die Natur. Andererseits . . . Royal Robbins und Warren Harding Andererseits geht es hier um die Geschichte des Bergsteigens. Nicht die ganze Geschichte natürlich, nicht um all ihre Facetten. Nur um einige Aspekte, ein paar markante und weithin sichtbare Meilensteine. Und 249


Der Bogen ist weit gespannt: wie die Frühzeitmenschen vor tausenden von Jahren die Berge wahrnahmen – und wie Reinhold Messner und Peter Habeler die Berge sahen, als sie 1978 ohne Sauerstoffmaske den Gipfel des Mount Everest erreichten. Keine aus unzähligen Daten bestehende Alpingeschichte, sondern mitreißende, faszinierende und höchst unterhaltsame «Alpingeschichte(n)». Geschichten vom Leben im Gebirge – und Geschichten vom Erleben und vom Überleben in den Bergen . . .

ISBN 978-3-906055-28-2 ISBN: 978-3-906055-39-8


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