Mario Casella
Schwarz Weiss Schwarz Eine abenteuerliche Reise durch das Gebirge und die Geschichte des Kaukasus
Wann wird das Blut aufhören in den Bergen zu fließen? Das wird an dem Tag geschehen, an dem das Zuckerrohr im Schnee wachsen wird . . . Kaukasisches Sprichwort
Die wertvollste Reise ist für mich die Reisereportage. Eine ethnografische oder anthropologische Reise, die unternommen wird, um die Geschichte und die Veränderungen, die in der Welt vor sich gehen, besser kennen zu lernen, um am Ende die Erkenntnisse, die man sich angeeignet hat, an andere zu vermitteln. Diese Reisen verlangen Aufmerksamkeit und Konzentration, aber sie erlauben uns, die Welt und ihre Gesetze zu verstehen. Ryszard Kapus´cin ´ski, Autoritratto di un reporter, Feltrinelli, Mailand 2006
Mario Casella
Schwarz Weiss Schwarz Eine abenteuerliche Reise durch das Gebirge und die Geschichte des Kaukasus
Ăœbersetzung Christjan Ladurner
AS Verlag
In Erinnerung an Natalja Estemirowa* und all denen gewidmet, die weiterhin im Kaukasus mit Mut für die Freiheit und für die Menschenrechte kämpfen. * Der Autor lernte Natalja Estemirowa während einer Reise durch Tschetschenien kennen. Natalja wurde im Sommer 2009 entführt und in Grosny wegen ihres Einsatzes für die Menschenrechte ermordet.
Die Originalausgabe ist 2011 in italienischer Sprache unter dem Titel «Nero-bianco-nero» erschienen. © 2011 Gabriele Capelli Editore, Mendrisio, Schweiz © 2011 Mario Casella
www.as-verlag.ch © AS Verlag & Buchkonzept AG, Zürich 2016 Gestaltung und Herstellung: AS Verlag, Urs Bolz, Zürich Übersetzung aus dem Italienischen: Christjan Ladurner, Vöran Lektorat und Korrektorat: Carla Ritter-Just, Müllheim; Daniel Anker, Bern Druck und Einband: Kösel GmbH & Co. KG, Altusried-Krugzell ISBN 978-3-906055-44-2
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Die Flutlichter der Olympischen Winterspiele in Sotschi sind schon vor einiger Zeit verloschen, und ein paar Jahre sind seit dem in diesem Buch erzählten Abenteuer vergangen. Die Möglichkeit, diese Geschichte auch mit einer deutschsprachigen Leserschaft zu teilen, ließ jedoch Zweifel an der Aktualität dieser Seiten aufkommen. Nachdem ich das Buch nochmals durchlas, bevor ich es an den Übersetzer schickte, und als ich dem Kaukasus erst kürzlich wieder einmal einen Besuch abstattete, ist mir bewusst geworden, dass diese Berge immer noch dieselben sind, besiedelt mit einer ihrem Dasein überlassenen Bevölkerung, die von einer erdrückenden Geschichte und den Spannungen der Gegenwart geprägt ist. Aus diesem Grund habe ich der italienischen Version nur diese paar Zeilen hinzugefügt und das Kapitel über die Olympischen Spiele aktualisiert. Die Spiele waren während meiner Skidurchquerung ein pharaonisches Projekt in Ausarbeitung. Heute, einige Jahre nach dem Ende der Wettkämpfe in Sotschi, sind die Olympischen Winterspiele nur mehr ein vages Gewirr von Emotionen und sportlichen Erinnerungen. Der olympische Sturm hat sich verzogen, doch die Gipfel und Täler des Kaukasus sind geblieben. Es sind immer noch dieselben, von denen ich vor einigen Jahren in diesem Buch erzählt habe. Mario Casella, im Dezember 2015
Russische Föderation Region Stawropol
Kaspisches Meer
Tscherkessk Sotschi
Naltschik Elbrus Wladikawkas
Schwarzes Meer
Georgien
Grosny
Machatschkala
Dagestan
Derbent
Armenien Aserbaidschan Türkei
Auf dieser idealen Linie von Derbent nach Sotschi hätte die Skidurchquerung des Kaukasus im Frühjahr 2009 eigentlich verlaufen soll. Aber bürokratische und meteorologische Hindernisse und Schwierigkeiten führten dazu, dass Mario Casella und Alexej Shustrov mit ihren wechselnden Gefährten immer wieder nordwärts ausweichen mussten.
Grafik Studio Jannuzzi Smith, Lugano-London
Region Krasnodar
Baku
Inhalt
8 Einleitung 13 Anfang ohne Grenzen 19 Baku: weiße, schwarze und rote Stadt 33 Moskau – Machatschkala: eine Grenze weniger 39 Notizen und Schüsse 51 Große Mauer und kleine Funktionäre 61 Schamil – der Löwe von Dagestan 73 Pilger ohne Schnee 81 Die Reisenden mit dem Federhalter 89 Das Land der Berge 99 Der forschende Alpinismus des DWF 109 Der Linienbus ohne Linie 117 Coca – ein Regenbogen in grauer Zone 127 Im Schnee versunken 137 1888: Erfolg und Tragödie 145 Nordossetien: Krieg, Schnee und Uran 163 Der Kaukasus in Schwarz und Weiß 171 Bezengi: die Mauer der Fünftausender 185 Das Unternehmen Edelweiß 191 Der Elbrus kommt näher 201 Nach dem Krieg folgt die Strafe 207 Elbrus: auf dem Dach Europas 217 Roter Alpinismus und Goldmedaillen 225 Dombai – die Schneebisons 239 Der «weiße Fuchs» 247 Schnecken auf Stelzen: Richtung Arkhyz zur Reserveolympiade 267 Abchasien: ein Pulverlager 273 Von der Biosphäre zu den Herren der Ringe 291 Sotschi: die olympische Wette Nachwort . 298 Literaturnachweis . 300 Dank . 302
Kein Schnee in Dagestan.
KAPITEL 7
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ohne
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24./25. März 2009
E
ine wackelige Treppe bringt uns aus dem dunklen Bauch der Nacht zurück ins Licht. Nachdem wir uns die Schuhe ausgezo-
gen haben, versinken wir zuerst in einem großen Teppich, bevor uns ein Diwan und ein Paar an der Wand stehende Polstersessel verschlucken. Die zwei Brüder und Hausherren laufen hin und her. Noch bevor sie sich vorstellen oder unsere Hände schütteln, überhäufen sie wie Hubschrauber außer Kontrolle den Tisch mit Fladenbrot, einer
riesigen Bierflasche und einem Teller mit einem fransigen Knäuel. Getrocknete Streifen Fleisch vom Steinbock, erklärt uns Nawruz Ali. Ein großartiges Exemplar, das er im Frühjahr zusammen mit dem älteren Bruder Zeinal auf den Felshängen oberhalb des Dorfes erlegt hat. Nach den ersten Bissen und nachdem Alexej unsere Situation erklärt hat, wendet sich das Gespräch anderen Dingen zu, wobei man sich ganz plötzlich der einheimischen Sprache bedient. Ein Dialekt, der unseren Fahrer Zainaddin mit unseren Gastgebern verbindet. Sie gehören der lesginischen Minderheit an, die 385 000 Hirten und Jäger umfasst, die die Täler von Dagestan an der Grenze zu Aserbaidschan bevölkern. Während wir das schmackhafte gesalzene Steinbockfleisch kauen, erhalten wir auch einen ersten Geschmack vom unlogischen ethnolinguistischen Mosaik, die das sowjetische Regime dem Kaukasus vererbt hat. Der Grenzfluss Samur und die ersten Bergreliefs trennen die dagestanischen Lesginen von ihren Brüdern in Aserbaidschan. 385 000 Lesginen, die seit dem Mittelalter mit ihresgleichen die Weiden teilen, leben heute durch eine brisante Grenze hermetisch voneinander getrennt. Um die eigenen, ein paar Kilometer entfernt lebenden Verwandten besuchen zu können, müssen die Bewohner dieser Region zuerst zu den weit entfernten Grenzposten reisen, wo sie sich mit umfangreichem Papierkram ausstatten und zudem mit viel Geduld wappnen müssen. Auch Alexej, mein treuer und mehrsprachiger Übersetzer, kann dem gutturalen Trillern des Dialektes mit seinem dem Französischen ähnelnden «R» nicht folgen. Der Fahrer Zainaddin erzählt in 75
einem unaufhaltsamen Redeschwall alles, was er von uns und unseren Plänen weiß. Es nähert sich der heilige Moment jeder Begegnung. Auf dem Tisch erscheint eine Flasche Wodka; die Gläser hebend erleben wir die flexible Auslegung der islamischen Gesetze in diesen entlegenen Tälern. Hier hat der fanatische islamische Integralismus nie Fuß gefasst. Der Respekt für den Gast überwindet jegliche religiöse Vorschrift. Ein den Umständen entsprechender Trinkspruch ist eine Zeremonie, und keiner hat das Recht, sie auszuschlagen. Weder der verwirrte, halb schlafende Fremde, noch sein Gastgeber. Die zwei Brüder erklären, bevor sie in einem Zug das Glas «wahren Mineralwassers des Kaukasus leeren», dass außergewöhnliche Anlässe eine außerordentliche Übertretung der Korangesetze gestatten würden. Dieses konstante Aufeinandertreffen eines Dogmas der Lokaltradition mit der Gastfreundschaft und dem Übernatürlichen findet man überall im Kaukasus. Die Auslegung der göttlichen Bedeutung ändert sich von Tal zu Tal, wenngleich auch Allah vorherrscht. Die Erzählung vom fast schon wahnsinnig anmutenden Abend in den Büros des FSB, die Jagderinnerungen der Brüder und die Details der geografischen Verteilung der Lesginen versinken im Schlaf und im Alkoholdampf. Ich lege die Burka, einen Mantel mit breiten, rechteckigen Schultern aus Filz des Bergschafes, den ich als Zeichen der Freundschaft von Nawruz bekommen habe, auf den Stuhl und breite erschöpft den Schlafsack auf dem Teppich aus. Während ich in mein Nest aus Federn krieche, macht der unermüdliche Jäger unserem Freund Alexej einen Vorschlag: «Ihr seid bis hierher gereist, um den Bazardüzü zu besteigen, und nun wollt ihr abfahren, ohne ihn überhaupt gesehen zu haben? Seid ihr bereit, um vier Uhr aufzustehen?» Alexej, der sich am zähen dagestanischen Steinbock einen Zahn beschädigt hat und den der Schmerz weckt, übersetzt im Detail die Idee von Nawruz. Das Tal von Kurusch, für das wir keine Reisegenehmigung erhielten, schwingt sich nach oben bis hin unter den Gipfel des Schalbus-Dag, ein 4141 Meter hoher Berg am Rande der verbotenen Zone. 76
Die Kaukasus-Bergkette von Norden w채hrend der Busreise fotografiert.
K A P I T E L 11
D er L inienbus
ohne
L inie
27./28. März 2009
D
u drückst ein paar Knöpfe, während du an der Küste des Kaspischen Meeres entlangfährst, und jemand, Hunderte von Kilo-
metern entfernt, bereitet sich auf deine bevorstehende Ankunft vor.
Ein unsichtbares Signal aus telematischem Rauch überquert blitzschnell Berge und Täler, die normalerweise von einem Labyrinth aus Grenzen überzogen sind. Mit dem Drücken weniger Tasten wird man sich der rasanten Entwicklung bewusst, die das Mobiltelefon in diesen entlegenen Regionen ausgelöst hat. Alle, vom Wilderer bis zur alleinstehenden alten Frau in der gottverlassensten kaukasischen Ortschaft, haben sich diese technische Revolution zunutze gemacht. Ladegeräte, Telefonkarten und SMS-Mitteilungen gehören inzwischen zum täglichen Leben des einfachsten Hirten. Auch in den abgelegensten Dörfern gibt es ein Telefonnetz. Dieses wird von den neuen Antennen, die auf den höchsten Erhebungen von profitsuchenden russischen Firmen errichtet wurden, garantiert. Im siebten Stockwerk eines Gebäudes an der Peripherie von Machatschkala läutet ein Mobiltelefon. Es ist das von Piotr. Um den Anruf von seinem Freund Alexej zu beantworten, unterbricht der Präsident der Alpinistenvereinigung von Dagestan seine Renovierungsarbeiten in der Wohnung, die er vor ein paar Jahren mit viel Mühe im Trabantenviertel der Stadt erworben hat. Die Alpinistenlobby, die auch in den entlegensten Winkeln des Imperiums die Implosion der Sowjetunion überlebte, setzt sich in Bewegung. Weitere Mobiltelefone läuten in der Hauptstadt Dagestans. Das telefonische Tamtam setzt in Minutenschnelle die Freunde der Freunde in Bewegung. Und so eilen wir, nach der unvermeidlichen Ration Wodka und Gurken, die wir in Piotrs Küche verschlingen, sowie nach der Erneuerung meiner verfallenen Registrazia, zum Busbahnhof. Im Linienbus, der bei Sonnenuntergang nach Wladikawkas, der Hauptstadt von Nordossetien, losfährt, sind zwei Plätze für uns reserviert. Der Bus gehört zu einer Firma, die von einem Kletterkollegen von Piotr verwaltet wird. 111
Das alte Teil ist mindestens aus vierter Hand und kommt aus deutscher Produktion. Die «Mafia der Berge», wie wir die Alpinistenvereinigung taufen, hat uns die besten Plätze im Reisebus besorgt: zwei gegenüberliegende Sitze mit einem praktischen Tischchen in der Mitte. Eine äußerst angenehme Regelung für die vor uns liegende, dutzende Stunden dauernde Reise. Wir sind nach Westen unterwegs. Eigentlich wollten wir über den Schnee gleiten und uns so fortbewegen, aber wir dürfen nicht. So nehmen wir die Straße. Um unsere Absichten umzusetzen, müssen wir jedoch vorerst Norden anpeilen. Die Himmelsrichtungen werden im Angesicht der Geschichte und der Kriege unbedeutend. Der Bus fährt durch die Finsternis Richtung Norden, aber unsere Gedanken wandern andauernd ins Abendland. Es ist nicht die Sehnsucht nach dem alten Europa. Es ist vielmehr die Anziehung der freien und schneebedeckten Berge. Für eine Nacht tragen wir in unseren Träumen die Kleidung der nordamerikanischen Pioniere während ihres Wettlaufs in den wilden Westen. «Die Zukunft liegt für mich dort, denn dort scheint die Erde reicher und unerschöpflicher zu sein», vermerkte der Schriftsteller und Philosoph Henry David Thoreau. Von der Anziehung des Westens in der Mitte des 19. Jahrhunderts infiziert, kommt er zu folgendem Schluss: «Nach Osten hin gehe ich nur mit Gewalt, in den Westen gehe ich aus eigenem Willen.» Wir wissen, dass wir im Westen viel freiere Berge und mit den Skiern bislang unerforschte Weiten vorfinden werden. Größere Anziehungskraft übt jedoch etwas anderes aus. Wir fiebern nach einem Gold, das in Pulverform auf den Hängen liegt, die uns erwarten: der Schnee. Unser weißes Gold! Einen Moment lang riskiert mein Denken eine mutige Parallele zwischen dem Schicksal der highlander, wie die Angelsachsen die Bewohner des Kaukasus nennen, und den Indianern Amerikas. Zwischen den goldsuchenden Cowboys auf der einen Seite sowie den Kosaken und den russischen Siedlern auf der anderen. In Amerika ist das Gold gelb, hier ist es auch heute noch schwarz. Wir hingegen, die unvorhergesehenen Variablen in diesem geopolitischen Spiel, suchen das weiße Gold. 112
Die Gedanken verschwinden in einem Gewirr aus den von der Straße hervorgerufenen Erschütterungen, der Müdigkeit und dem Dunkel, das den nach Norden fahrenden Bus umgibt. Alles ist wie ein Sprung in die Finsternis und in den Widersinn. Das Dunkel ist das der Nacht und des Halbschlafes, in dem wir versinken, während wir die Straßenkilometer verschlingen. Die Monotonie wird nur durch die Kontrollstellen unterbrochen. Ein paar Mal geht der Hilfsfahrer die Reihen entlang, um die Reisepässe einzusammeln. Dann wiederum macht der Fahrer, nachdem er die lustlosen Gesichter der Soldaten an der Schranke kontrolliert hat, einen Witz, lacht einmal kurz und garantiert den Wachen, dass alle Passagiere «sauber» wären, und man fährt weiter, ohne kontrolliert zu werden. Der komplette Widersinn steckt jedoch in den Bildern und der Schießerei, die aus dem kleinen Bildschirm kommen, der oberhalb der Fahrerkabine angebracht ist. Zwischen einem Sekundenschlaf und dem anderen bestaune ich ungläubig einen Kriegsfilm, der in Tschetschenien spielt. Gewalt, Tod und Blut überschwemmen den Bus. Ich schaue mir die Gesichter der anderen Reisenden an, darauf vorbereitet, sie alle schlafend zu sehen, doch zu meinem Erstaunen sehe ich ein äußerst aufmerksames Publikum. Weit geöffnete, durch die Gewalt hypnotisierte Augen, gerade so, als ob der Film ihre eben durchlebte Tragödie verschwinden ließe. Es passiert mir nicht erste Mal, bei so einer oder einer ähnlichen Szene dabei zu sein. Die persönlich erlebte Realität auf einem großen Bildschirm zu sehen, verbreitet über eine Fernsehröhre, erzeugt eine erlösende Wirkung auf denjenigen, der diese Realität täglich erlebt. Die Bilder und Töne eines Films rütteln außergewöhnlich stark an der Apathie, in die sich der Mensch zurückzieht, wenn er unter konstanter Bedrohung leben muss. Es ist jedoch das erste Mal, dass ich dieses Aufrütteln persönlich miterlebe, während wir das Theater der Gewalt durchqueren, von dem im Film erzählt wird. Eingehüllt in die Dunkelheit fahren wir an der äußeren Grenze zu Tschetschenien und Inguschetien entlang, den zwei Republiken, die noch immer von Terror und Gewalt 113
erschüttert werden. Außerhalb des Busfensters liegt der wirkliche Tod; vom Bildschirm wird er mittels einer DVD fast wie ein Zauber wiedergegeben, und die Passagiere scheinen das Drama zu verstehen, das wir an Bord eines Busses durchqueren. Der Fahrer ist gerade dabei, die DVD zu wechseln, als wir wieder auf eine Kontrollstelle stoßen. Zwischen zwei Barrieren erhebt sich eine große, beleuchtete und von Menschen völlig überfüllte Überdachung. Von diesem Ameisenhaufen entfernen sich zwei sich andauernd bewegende Menschenschlangen. Eine ist auf dem Weg zu den Toiletten, die andere bewegt sich auf die Theke des Restaurants zu. Ich komme gerade von der Toilette und will mich in die andere Schlange einreihen, als mich ein uniformierter Polizist anhält. Er will meinen Reisepass sehen. Der Blick auf den Umschlag des Schweizer Passes löst eine ganze Reihe von Fragen aus. Als ich mich schon in einer neuen Lawine von Komplikationen versunken sehe, legt ein junger Mann in Jeans und T-Shirt dem Polizisten eine Hand auf die Schulter und spricht mit ihm über ein Geschäft, dass die beiden Männer an einem abgeschiedenen Ort abzuwickeln hätten. Mir bleibt nicht einmal Zeit, dem Polizisten meine bescheidenen Russischkenntnisse vorzuführen, so schnell haben die beiden der Überdachung den Rücken gekehrt. Sie gehen eingehakt und um ihr geheimes Geschäft besorgt davon, den stotternden Fremden einfach missachtend. Ich kann aufatmen und in Ruhe zum Restaurant zurückkehren, wo ich Alexej treffe, der für mich einen Salat mit Brot und Käse sowie ein Bier bestellt. Hinter der Theke sind ordentlich die mit frischen und geräucherten Speisen angehäuften Teller aufgereiht. Der andauernde Verkauf garantiert Qualität und ermutigt auch die Skeptiker, während der Pause wenigstens einen Teller Suppe zu verschlingen. Ich entdecke, dass wir uns in Kizlar befinden, einem historischen russischen Vorposten im Kaukasus am Fluss Terek, im nordöstlichen Winkel der tschetschenischen Grenze. Die Kosaken errichteten an dieser Stelle schon im 16. Jahrhundert eine Schlüsselfestung, die der Expansion des Imperiums gegen Süden hin diente. 114
Der Journalist und Bergführer Mario Casella durchquerte auf Skiern und in Begleitung des russischen Alpinisten Alexej Shustrov die über 1000 Kilometer lange kaukasische Bergkette von Osten nach Westen. Dieser Schmelztiegel von Ethnien ist gekennzeichnet durch eine gefährliche politische Instabilität. Das Tagebuch eines außergewöhnlichen Abenteuers.
ISBN: 978-3-906055-44-2