Emil Zopfi
FelsenFest
Noch schรถner als Fliegen . 50 Kurzgeschichten
Emil Zopfi
FelsenFest Noch schรถner als Fliegen 50 Kurzgeschichten
AS Verlag
Wir danken folgenden Institutionen, die mit ihrer Unterstützung die Realisierung dieses Buches ermöglicht haben: Swisslos / Kulturförderung, Kanton Graubünden Kulturkommission Kanton Schwyz
www.as-verlag.ch AS Verlag & Buchkonzept AG, Zürich 2016 Gestaltung und Herstellung: AS Grafik, Urs Bolz, Zürich Lektorat und Korrektorat: Pablo Egger, Speicher Druck und Einband: Kösel GmbH & Co. KG, Altusried-Krugzell ISBN 978-3-906055-46-6
Inhalt
Sehnsucht
10 Mettmen: Noch schöner als fliegen
13 Bockmattli: Das orange Seil
16 Galerie: Fels für Süchtige
20 Battert: Sehnsuchtsort im Schwarzwald
23 Salbitschijen: Auf schwankendem Steg
Plaisir
28 Ponte Brolla: Mekka für Plaisirkletterer
31 Brüggler: Spitzentanz auf Kalkplatten
34 Namenlose Kante: Muniringe und Erinnerungen
37 Paklenica: Karstfels, Kletterzoo
40 Scogliera di Salinella: Sizilianischer Hard Rock
und Meeresfrüchte
Kraft
46 Kraftraum: Mit Training in die Ehrgeizkurve
49 Kletterhalle: Drei Männer an der Wand
53 Üetliberg: Der legendäre KCÜ
56 Sint Janskerk: Höhenrausch im Flachland
59 Rocca di Corno: Wende im Kletterleben
Spuren
64 Bitschji: Im Freiluft-Computermuseum
67 Salbitschijen Südgrat: Wiedersehen nach fünfzig Jahren
71 Tofana di Rozes: Der letzte Holzkeil
74 Schijenflue: Das Wandbuch
77 Wasserschlossfluh: Old Boys
80 Sulzfluh: Die alten Haken noch
84 Aiguille du Midi: Auf höchster Ebene
Literatur 90 Altmann: Melodie der Berge
93 Arcegno: Nackttänzer Hesse
96 Grosser Aubrig: Max Frischs Schicksalsberg
99 Mürtschen: Alle Jahre wieder
102 Tempio del Vento: Das wird mal ein Buch!
105 Schartenflue: Bei den Wilden im Westen
Trauer 110 Monte Cucco: Staub zu Staub
113 Piz Badile: Der liebe Marcel
116 Gabchopf: Spuren von FZ
119 Bockmattli Ostturm: Fragen ohne Antwort
122 Matterhorn: Unglück im Glück
Melancholie
128 Dürrspitz: Versunkenes Jugendland
131 Kärpf: Vaters Berg
134 Rütistein: Der letzte Hang
137 Wendenstöcke: Die Gämsen tanzen
140 Grosse Zinne: Tränen nach der Nordwand
143 Balladrum: Der sonderbare Berg
Glück
148 Oltre Finale: Ökonomie des Glücks
152 Galerie: Klettern im Tangotakt
155 Bockmattli: Freetrip und Supertramp
159 Grosser Mythen: Das sagenhafte Nollenbrünneli
162 Rotchnubel: Wie im Paradies
165 Galerie: Griff und Tritt
Träume
170 Vrenelisgärtli: Der Kleine Fuchs
173 Falesia del Silenzio: Die goldene Lady
176 Donautal: Der Weg des Kaisers
179 Sciora: Poesie in Granit
182 Villigerpfeiler: Der letzte Traum
188 Glossar
SEHNSUCHT «Senkrechte Nordwände, bis vierhundert Meter hoch, Kanten, Pfeiler, Risse, Überhänge, also alles, was ein junges Kletterherz begehrte. Das Sehnsuchtsland meiner Jugend war mit dem Velo erreichbar, übernachten konnten wir im Heu auf der Schwarzenegg beim guten Älpler Röbi.»
Mettmen: Noch schöner als fliegen
Jeden Frühsommer ergreift mich diese unfassbare Sehnsucht – nein, nicht nach dem Land, wo die Zitronen blühn. Am heftigsten packte sie mich vor Jahren in London, wo ich einige Monate verbrachte. Ich hatte mich mit meinem Freund Alan im Westway Climbing Center verabredet. Ein bemerkenswerter Ort, direkt unter einem Autobahnkreisel in einer ziemlich rauen Nachbarschaft. Autowracks und zerdrückte Bierbüchsen lagen an der Strasse zum Eingang. Neben den Pfeilern der Autobahn ragten die seltsamen Betonkuben eines Outdoor-Klettergartens in die Höhe, gespickt mit farbigen Plastikgriffen, einige der Betonelemente so hoch, dass man bis unter die Plattform des Autobahnkreisels klettern konnte. Wir seilten an, ich kletterte los und erreichte schon bald
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die Umlenkung, zwei Meter unter dem Betondach. Über mir dröhnte vielspurig der Londoner Abendverkehr gegen Westen, und in den Fenstern der heruntergekommenen Wohntürme in der Nachbarschaft spiegelte sich die tief stehende Sonne. Ich habe durchaus Sinn für urbane Romantik, aber in jenem Augenblick, als ich in die Tiefe schaute auf die Betonblöcke unter mir, da erfasste sie mich heftig, die Sehnsucht. Zurück am Boden sagte ich zu Alan, der mich gesichert hatte: «Wenn du mal in die Schweiz kommst, gehn wir an einem Ort klettern, da hat es auch solche haushohen Blöcke, aber aus richtigem Fels, mit rauen Griffen und guten Sicherungshaken, und gegenüber siehst du Berge mit Gletschern und einen kleinen Stausee und ein blaues Tal und Wälder und manchmal weiden Kühe auf der Alpweide rundum, ihre Glocken klingen und die Kletterei ist genial.» «Great», sagte Alan, blickte mit seinen verträumten Augen in die Ferne, also bis zum nächsten Wohnblock, aber ich wusste schon, er würde nie kommen. Wie gerne hätte ich dem Freund meinen Sehnsuchtsort gezeigt: Mettmenalp! Den Klettergarten Widerstein! Die Felsbrocken aus Urgestein, die auf der Alpweide liegen, als hätte sie ein Riese vor Millionen Jahren da hingeworfen. Seit Jahrzehnten wird an den Wänden und Kanten und Platten aus grauem, grünlichem oder gelbbraunem Quarzporphyr geklettert. An schönen Frühsommeroder Herbsttagen sind sie belagert von Familien mit Kindern und Hunden, von bleichen Kletternovizen, die sich mal aus der Halle an die frische Luft wagen, von Alpen-Club-Jugendgruppen, Kinderbergsteigerlagern, aber auch von erfahrenen Cracks, die ihre Muskeln und Kletterkünste gern zur Schau stellen. Kurz: ein sozialer Kraftort, ein Fest des Klettersports. Seit der Glarner Kletterer und Künstler Felix Ortlieb die Felsen professionell und kreativ mit Bohrhaken ausgerüstet und dazu
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Büchlein mit Routenskizzen verfasst hat, ist der Widerstein ein Wallfahrtsort für Felssüchtige geworden. «Nur Fliegen ist schöner», hat Felix eine der schönsten Routen getauft – nach dem Werbeslogan für den Opel GT, der 1968 auf den Markt kam. Ein «must» für einen kletternden Alt-Achtundsechziger mit einer unstillbaren Sehnsucht. Er trippelt auf den Spitzen der Kletterfinken einer Kante entlang, weit hinaus ins Leere über einem Überhang, der unter den Füssen abbricht und ein Gefühl vermittelt, als sei der Abgrund tausend Meter tief – aber eigentlich liegt der Abhang mit den Alpenrosen und Kuhfladen nur etwa zehn Meter unter ihm. Doch das genügt, denn im Rausch des Kletterns verschieben sich die Grenzen, der Horizont kippt, die Sonne gleisst, der letzte Klimmzug ist weit, die Sekunden dehnen sich, man möchte, dass die Wand nie endet. Nein, Fliegen ist nicht schöner, kann niemals schöner sein. Dann Stand und Umlenkhaken, und die Welt schwappt wieder ins Gleichgewicht. Ach Alan, was hast du verpasst! Vielleicht kommst du doch einmal hierher, irgendwann, wenn am Fuss dieser Felsen meine Asche verstreut ist, so weiss wie das Magnesiapulver, das zu unserem Rausch gehört, weil es die Haftreibung der Finger am Fels verbessert.
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Bockmattli: Das orange Seil
Mein erstes Kletterseil war orange, eines der damals neuen Kernmantelseile aus Nylonfasern, hergestellt in einer kleinen Seilwarenfabrik in Lenzburg. Es nannte sich Mammut, was Stärke und Sicherheit versprach, und wurde zum Kernprodukt des Unternehmens, das sich heute ebenso nennt und dessen Signet Bergsteiger und Wanderer und sogar Politiker in aller Welt auf ihrer Sportbekleidung zur Schau stellen. Das Seil hatte ich geschenkt bekommen, weil der Mantel auf einigen Metern beschädigt war. Der Freund, dem es gehört hatte, war auf einer Klettertour schwer gestürzt, das Seil hatte sich an einer Felszacke verfangen, was ihm das Leben gerettet und mir mein erstes Seil beschert hatte. Heute würde sich kein Mensch mehr
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mit einem so übel zugerichteten Seil auf eine Klettertour wagen, aber ich war Lehrling und lebte von nichts und der Liebe zu den Bergen. Mein Budget für ein Wochenende betrug ein bis zwei Franken, während der Woche bestand meine Mittagsmahlzeit aus einem Cervelat mit Brot und einer Zimtschnecke. Ein eigenes Seil? Ein Traum. Aber nun besass ich eines, und Träume hatte ich unendlich viele, wobei sich alle um Felsen, Klettern und wilde Abenteuer in den Bergen drehten. Unerreichbar fern im Dunst glitzerten ihre Gletscherkämme. Doch vor den hohen Bergen ragten drei Felsspitzen aus hellem Kalk über den Alpweiden des Wägitals in die Höhe: die Bockmattlitürme! Ein grandioses Klettergebiet – auch heute noch: senkrechte Nordwände, bis vierhundert Meter hoch, Kanten, Pfeiler, Risse, Überhänge, also alles, was ein junges Kletterherz begehrte. Das Sehnsuchtsland meiner Jugend war mit dem Velo erreichbar, übernachten konnten wir im Heu auf der Schwarzenegg beim guten Älpler Röbi. Unvergessliche Stunden in seiner Stube bei Spaghetti, Tee und Schokoladencreme aus der Büchse. Frühmorgens dann ab in die Felsen. Kletterseile waren damals vierzig Meter lang, meines wegen der Beschädigung um einiges kürzer, aber das hinderte Freund Peter und mich nicht, den schwierigen Westpfeiler anzupacken. Das Seil reichte an der Schlüsselstelle bis zu einem wackligen Haken, an dem wir Stand machen mussten. Bei einem Sturz wäre der bestimmt ausgerissen und wir wären, samt unserem Mammutseil, im Abgrund gelandet. Also gut, wir haben’s überlebt. Das Seil konnte ich bald darauf einem Gletscherwanderer verkaufen. Fürs Vrenelisgärtli oder den Claridenstock reichte es allemal noch. Mit dem Erlös konnte ich mir ein paar Wochenenden in den Bergen leisten, auch mal per Autostopp
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ins Gotthardgebiet oder ins Rätikon. Allerdings verbrachte ich nach einer besonders schweren und langen Kletterei die Ostertage im Unispital in Zürich, von Vitaminmangel oder Mangelernährung war die Rede. Anschliessend verbot mir mein Lehrmeister das Klettern, doch das kümmerte mich nicht. Es war etwa so, wie wenn man einem Junkie verboten hätte, sich Stoff zu beschaffen. Ich war süchtig nach den magischen Kalkfelsen des Bockmattli, nach dem Geruch der Grasbüschel und der schwarzen Erde in den Felsritzen, nach dem Blick aufs Nebelmeer über dem Land und die Alpweiden und den Stausee in der Tiefe. Den Westpfeiler habe ich noch oft geklettert in jenen Jahren, die Nordwand des Grossen Turms ein Dutzend Mal auf allen möglichen Routen, auch auf modernen mit so schönen Namen wie «Supertramp», «Free trip» oder «Dreimal kurz gelacht». Bald konnte ich mir auch Seile leisten, rote, weisse, blaue, die Farben wechselten von Saison zu Saison. In bleibender Erinnerung geblieben ist mir nur das erste, das orange Mammut mit dem zerfetzten Mantel.
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Emil Zopfi hat die Geschichte des Bergsteigens der vergangenen fünfzig Jahre aktiv miterlebt, vom Holzkeil zum Bohrhaken, vom Extremklettern mit schweren Schuhen und Strickleitern zum Sportklettern mit leichten Kletterfinken und Magnesia an den Fingerspitzen, das «noch schöner als Fliegen» sein kann. Die fünfzig Texte erzählen von der grossen Sehnsucht, die an Sucht grenzt, wenn der «Stoff» fehlt: der Fels!
ISBN 978-3-906055-28-2 ISBN: 978-3-906055-46-6