57 Menschen – 57 Geschichten

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MENSCHEN GESCHICHTEN Jahrhundertbauwerk Gotthard-Basistunnel


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Herausgeberin

Projektleitung: Romina Puricelli

www.as-verlag.ch © AS Verlag & Buchkonzept AG, Zürich 2016 Gestaltung und Herstellung: AS Verlag, Urs Bolz, Zürich Bildbearbeitung: Bilderbub, Christian Spirig, Zürich Übersetzung: SBB Sprachdienst Korrektorat: Ellen Elfriede Schneider, Pratteln Druck: B & K Offsetdruck GmbH, Ottersweier Einband: Grossbuchbinderei Josef Spinner GmbH, Ottersweier ISBN 978-3-906055-50-3


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MENSCHEN GESCHICHTEN Jahrhundertbauwerk Gotthard-Basistunnel

Fotos Markus B체hler-Rasom

Texte Raffaella Castagnola Lisbeth Epp-Huwyler Martin Jenni Peter Krebs Margrith Raguth Daniel S채gesser Mirella Wepf Claudio Zemp

AS Verlag


Hinter jeder Pionierleistung stehen Menschen.


«Die Gotthardbahn führt uns ins Herz der Schweiz», schrieb Carl Spitteler vor mehr als 100 Jahren in einem Reiseführer nach der Eröffnung des ersten Eisenbahntunnels. Der Schweizer Schriftsteller spielte damit auf die historischen Stätten wie das Rütli und die Hohle Gasse an, die man im Zug nunmehr rasch am Fenster vorbeiziehen sah. Dank dem neuen Verkehrsmittel seien künftig «Blitzbesuche» möglich, schwärmte er weiter, man könne übers Wochenende schnell nach Mailand fahren und so in kürzester Zeit Länder und Völker durchfliegen. Solche Ausflüge sind heute in der Tat alltäglich geworden – und werden künftig noch einfacher: Mit dem Gotthard-Basistunnel schaffen wir eine schnellere Verbindung durch die Schweizer Alpen. Die Reisezeit zwischen Nord und Süd verkürzt sich damit weiter. Sobald auch der CeneriTunnel fertig ist, dauert eine Fahrt von Zürich nach Mailand nur noch drei Stunden. Damit rücken die Regionen, damit rücken die Menschen noch näher zusammen. Es ist daher sehr verdienstvoll, dass in diesem Buch Menschen im Vordergrund stehen: Es sind Menschen, die entlang der Gotthardachse leben, es sind Menschen, die an der Erstellung des Tunnels mitgewirkt haben, und es sind Menschen, für die der Gotthard aus persönlichen Gründen eine ganz besondere Bedeutung hat. Ob Lokführer oder Streckenwärter, ob Rottenköchin oder «Madame Fahrplan», ob Architekt oder Fotograf, ob Schriftstellerin oder Planerin – sie alle haben einen speziellen Bezug zum

Gotthard. Die Porträts erzählen, was sie mit dem Gotthard verbindet und wie sie vom Gotthard geprägt wurden. Wir lernen so zum Beispiel den letzten Kommandanten der Reduitfestung Sasso da Pigna oder einen Urner Steinmetz kennen, dessen Urgrossvater aus Italien eingewandert war und im 19. Jahrhundert am Bau der ersten Gotthardbahn mitgearbeitet hatte. Oder wir erfahren, wie ein Tessiner die Eröffnung des neuen Gotthard-Basistunnels nutzen will, um den «Confederati» jenseits der Alpen seinen Heimatkanton näherzubringen. Entstanden sind 57 spannende Porträts – für jeden Tunnelkilometer eines. Sie erinnern uns daran, dass hinter jeder Pionierleistung engagierte Menschen stehen. Der Gotthard-Basistunnel ist ein technisches Meisterwerk. Aber es sind Menschen, die ihn geplant und gebaut haben. «Das scheinbar Unmögliche möglich zu machen, das ist zeitgemässer Kurzweil im Jahrhundert der Eisenbahnen», freute sich Carl Spitteler über die Fortschritte, die der erste Bahntunnel der Schweizer Bevölkerung brachte. Der Gotthard-Basistunnel eröffnet uns nun nochmals neue Möglichkeiten. Nutzen wir sie! Mit dem neuen Tunnel stärken wir eine der wichtigsten Verkehrsachsen Europas. Das bietet enorme Chancen. Wir dürfen stolz sein auf unser Jahrhundertwerk, wir dürfen stolz sein auf das Erreichte. Aber blicken wir auch nach vorn – und wahren wir uns den Pioniergeist, der unser Land stark gemacht hat!

Doris Leuthard, Bundesrätin Vorsteherin des Eidgenössischen Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK)

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«Die Natur ist prinzipiell stärker als wir. Aber der Gotthard-Basistunnel ist eine Meisterleistung.» Jakob Calcagni (78) EHEMALIGER STEINMETZ, ANTONINI I WASSEN

Befürworter des Gotthard-Basistunnels. Den Autotunnel lehnt er hingegen ab: «Im Urnerland glauben wir alle nicht mehr an den Klapperstorch. Wer an eine ungenutzte zweite Gotthardröhre glaubt, der weiss, dass der Nikolaus aus dem Schwarzwald kommt. Der Transitverkehr gehört auf die Bahn. Und für diesen Verkehr haben wir ja jetzt den Basistunnel», sagt er, der an schönen Tagen viel auf Wanderschaft geht. «Den Meiggelenstock habe ich bis anhin 776 Mal bestiegen. 800 Berggänge sollen es in meinem Leben aber schon noch werden», schmunzelt er. Übrigens: Sein Lieblingsplatz auf dem Gotthard ist das Gebiet rund um den Lago di Lucendro. Ein Stausee, an dem sein Götti mitgearbeitet hat: «In den Mauern steckt ein Stück Familiengeschichte.» In seinen Tätigkeiten als Mitarbeiter bei der Post, auf dem Bauamt und als Einsatzleiter bei der Feuerwehr hat Jakob Calcagni nie seine geliebten Berge aus den Augen verloren. «Die Züge fahren mitten-, ich gehe obendurch». So war es ihm ein Anliegen, auf seinem Hausberg Meiggelenstock ein Kreuz zu platzieren. Nicht irgendein Kreuzchen, sondern ein kleines Monument, das er mit Freunden vor Jahren auf den Berg hievte – natürlich zerlegt. Aber bis das Kreuz hinaufgeschleppt und oben zusammengebaut war und im richtigen Winkel und am perfekten Platz stand, war viel Arbeit und Enthusiasmus erforderlich. In der Höhe misst es 5,2 Meter und in der Breite 2,5 Meter. Seine kräftigen Arme, die sich Steinmetze bei ihrem Beruf zwangsläufig erarbeiten, sind ihm geblieben. Und erst recht die Freude, an einem einzigartigen Ort ein Kreuz aufgestellt zu haben. Wenn Jakob Calcagni nicht zu Berg geht, dann geht er in der Saison in die Pilze. Er ist berühmt für sein Pilzrisotto und falls er für einmal kein Pilzglück hat, gehts mit seiner Frau Claire schon auch mal auswärts ins nahe «A Pro» in Seedorf oder kurzerhand in den Süden in die Leventina für ein Glas Merlot und mehr. Heute ist Jakob Calcagni nicht nur ein Verfechter des Gotthard-Basistunnels, nein, er wirbt auch kräftig für seinen alten Steinbruch, das heutige Freilichtmuseum. «Wissen Sie, dass die weltberühmte Hafenanlage von Malta mit Granit von Wassen gebaut wurde. Nein? Und wissen Sie, dass der Sockel und der Obelisk des Denkmals für den philippinischen Freiheitshelden José Rizal in Manila auch von hier stammen? Sehen sie! Zeit, Martin Jenni uns zu besuchen.»

Jakob Calcagni war der letzte Steinmetzlehrling im Steinbruch Antonini in Wassen. Dort, wo die Steine einst direkt auf die Waggons der Züge geladen und in die Schweiz, nach Europa und nach Übersee transportiert wurden. Klingt romantisch und verbirgt harte Arbeit am Granitstein. Sowieso, der Steinbruch ist im Kanton Uri ein einzigartiger Zeitzeuge. Jakob Calcagni weiss noch einiges aus der Blütezeit der Urner Steinbrüche zu erzählen. «Der abgebaute Gotthardgranit ist ein widerstandsfähiger Stein. Er trotzt allen Unwettern und ist unverwüstlich.» So verwundert es nicht, dass der Stein sehr beliebt war und sich die Urner vor Grossaufträgen nicht retten konnten. Damals. Und von damals zeugt auch die Mittlere Rheinbrücke in Basel. «Alleine für das Vermauern der berühmten Brücke benötigten die Erbauer 7700 Kubikmeter Granitquader», sagt Calcagni, der zugleich auf das heutige Freilichtmuseum Steinbruch Antonini am Gotthardwanderweg in Wassen hinweist. «Ein Besuch lohnt sich auf alle Fälle», sagt er. «Warum nicht als interessanter und kurzweiliger Zwischenhalt auf dem Weg in den Süden?». Ja, der Süden. Noch heute lassen sich die Stammbäume diverser Urner Familien bis zu den südländischen Steinmetzen zurückführen. «Mein Urgrossvater ist aus Italien eingewandert und hat am Gotthardbahnbau von 1879 bis 1882 mitgearbeitet», sagt Calcagni, dessen Wurzeln nahe zum Tessin in der Region der italienischen Stadt Varese liegen. Sein Name mag ihn noch mit Italien verbinden, aber wenn es um politische Fragen geht, ist er Schweizer durch und durch. So ist er ein vehementer Verfechter der Natur und somit auch ein

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«Es ist lässig, gemeinsam auf das gleiche Ziel hinzuarbeiten: den Gotthard in Betrieb zu nehmen.» Denise Werffeli (32) LEITERIN KOMMANDORAUM BETRIEBSZENTRALE SÜD, SBB I POLLEGIO

trotzdem durch die Fenster nach unten, räumt Denise Werffeli ein. Das sei etwa der Fall gewesen, als ein extralanger Güterzug zu Testzwecken in den Basistunnel geschickt wurde. Die Betriebszentrale Süd ist in einem markanten, eigenwillig gestalteten Betonbau in der Ebene von Pollegio untergebracht. Die hohen Fenster der Westfassade gewähren eine schöne Sicht auf einen kleinen Ausschnitt des Schienennetzes: auf den südlichen Portalbereich des Basistunnels. Denise Werffeli arbeitet seit fünf Jahren im Tessin, wo sie ursprünglich nur für einen Sprachaufenthalt bleiben wollte. «Für mich ist es keine Arbeit wie jede andere», sagt sie, «ich habe ein richtiges Bähnlerherz.» Sie führt das auf die Ausbildung zurück. Die Zürcherin begann die Lehre 1999. Sie zählte zum letzten Jahrgang von Lernenden, die nach klassischem Muster als Bahnbetriebsdisponenten geschult wurden. So habe sie einen vertieften Einblick in alle Bereiche erhalten. Im Hinblick auf die Eröffnung der NEAT machte sie zusammen mit Angestellten aus allen Divisionen der SBB an mehreren Projekten mit: «Es ist lässig, gemeinsam auf das gleiche Ziel hinzuarbeiten: den Gotthard in Betrieb zu nehmen.» Sie sei auch stolz, an der Eröffnung dieses einmaligen Bauwerks mitzuwirken, merkt sie in ihrer freundlichen und zurückhaltenden Art an. Es sei für sie ausserdem eine Chance. Denn dank des Basistunnels und seiner neuartigen Systeme könne sie Peter Krebs sich beruflich weiterbilden.

Denise Werffeli ist Leiterin Kommandoraum in der Betriebszentrale Süd in Pollegio. Von hier aus steuern und überwachen rund 160 Mitarbeitende den Zugverkehr zwischen Arth-Goldau und Chiasso inklusive der beiden Gotthardstrecken, der alten und der neuen. «Unsere Arbeit ist vergleichbar mit jener von Fluglotsen, nur eben für die Bahn», umschreibt Denise Werffeli die Hauptaufgabe der Betriebszentrale. Als eine von vier Leiterinnen Kommandoraum hat sie die fachliche Führung für die jeweilige Schicht. «Ich bin vor allem bei Störungsfällen sehr aktiv», sagt sie. Bei Verspätungen oder Zugausfällen gelte es, die Arbeit zu koordinieren. Manchmal muss Denise Werffeli dann kurzfristig Zugverkehrsleiter vom einen in den anderen der beiden Sektoren umdisponieren, in die die Betriebszentrale unterteilt ist. Falls nötig organisiert sie Bahnersatzbusse. Meistens arbeitet Denise Werffeli wie die Zugverkehrsleiter am Bildschirm. Die hochmodernen elektronischen Überwachungssysteme sind eine Art Auge auf den Bahnbetrieb. Sie bilden die aktuelle Lage auf dem Schienennetz ab und geben Aufschluss über den Standort der Züge, über allfällige Abweichungen vom Fahrplan, aber auch über Pannen an Weichen und Signalen. So ist der direkte Blick auf die Bahngleise gar nicht nötig. Bei ausserordentlichen Zugdurchfahrten schaue sie hin und wieder aber

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«Dieser Tunnel beweist unser fortschrittliches Denken, unsere Kompetenz und unseren Pioniergeist.» Bernhard Russi (67) HOCHBAUZEICHNER, SKIRENNFAHRER, PISTENARCHITEKT UND MEHR I ANDERMATT

seiner Stammbeiz, sondern stets dort, wo er sich gerade befindet. Und als zuvorkommender Mensch erfüllt er Autogrammwünsche und beantwortet höflich neugierige Fragen. Kurz, er ist ein Sympathieträger, dem seine Heimat stets wichtig geblieben ist. «Ich liebe die Schönheiten meiner Region – die Berge, die Weitsicht, den Schnee und den Granit –, unterschätze aber auch nicht die damit verbundenen Gefahren wie Schnee- oder Steinlawinen und Überschwemmungen», sagt er. Trotzdem geniesse er täglich seine Heimat. Ob bei Sturm oder Sonnenschein spiele ihm dabei keine Rolle. «Ich rieche den Granit und den kalten Schnee förmlich. Diese zwei Elemente scheinen in meinen Adern zu fliessen.» Sein Lieblingsplatz seien die Wilden Matten im Unteralptal, die etwa 1500 Meter über dem Gotthard-Basistunnel liegen, was ihm ein gutes Gefühl gebe, wie er schmunzelnd erwähnt. «Egoistisch gedacht brauche ich diesen Tunnel ja nicht, da ich weder im Norden noch im Süden Anlauf hole, um auf die andere Seite zu gelangen. Aber durch diese wichtige Verbindung steigt der paradiesische Wert von alledem, was darüberliegt.» Apropos Süden und Norden: Uri und der Gotthard bedeuten für Bernhard Russi Verbindungen. Ob als Achse, in den Sprachen oder in den Kulturen. «Als Urner bin ich sozusagen ein Teil der Geschichte», sagt er. Oder anders formuliert: Der Kanton Uri ist für Bernhard Russi wie ein ungeschliffener Diamant – voller Überraschungen. «Jedes Seitental birgt eindrückliche Naturerlebnisse. Die Ruhe, die reine Luft, das frische Wasser, mit dem das gute ‹Stiär Biär› gebraut wird, die Tier- und Blumenwelten sowie zahlreiche unberührte, abgeschiedene Plätze», sagt der temporäre Werbebotschafter seines Heimatkantons. «Uri und vor allem das Urserental bieten zahlreiche Sportmöglichkeiten und verfügen über moderne Skianlagen, die bis ins Bündnerland reichen. Hinzu kommen Golfplätze, Wanderwege und Bikerpisten», ergänzt er. Wenn das keine Martin Jenni Ansage für den Kanton Uri ist!

Mit einem kurzen Wink zeigt Bernhard Russi zum Gotthard. «Hier sind meine Wurzeln. Hier wurde ich geprägt. Hier habe ich die Natur kennen und schätzen gelernt», sagt der gelernte Hochbauzeichner, ehemalige Skirennfahrer und heutige technische Berater, Pistenarchitekt (FIS), Werbebotschafter, Kolumnist, Skiexperte und Co-Kommentator fürs Schweizer Fernsehen. Langweilig wird es der weltberühmten Schweizer Skilegende im Pensionsalter auch heute noch nicht, kommen doch noch zwei Verwaltungsratsmandate bei der Andermatt Swiss Alps AG und der Andermatt Sedrun Sportbahnen AG zu seinen vielseitigen Tätigkeiten hinzu. Umso erstaunlicher ist es, dass eine so erfolgreiche Persönlichkeit nicht mit steifer Oberlippe durchs Leben geht. Doch Urner scheinen eh geerdet auf die Welt zu kommen. Auch ein Bernhard Russi, der bei all seinen Erfolgen nie die Bodenhaftung verloren hat. Ausser dann, wenn er als Skirennfahrer am Lauberhornrennen elegant zum Sprung am Hundschopf abhob. Doch bei all seinem Tun ist er sich gegenüber stets ehrlich geblieben. Das spürt heute der TV-Zuschauer, der ihn bei einem Skirennen mit Sportreporter Matthias Hüppi kommentieren hört oder ihn als Werbebotschafter zwischen Tagesschau und Spielfilm über den Bildschirm lachen sieht, genauso wie der Passant, der ihm zufällig auf der Strasse begegnet. Bernhard Russi weckt bei den Menschen immer noch Emotionen. Auch Jahrzehnte nach seinen Titeln an der Weltmeisterschaft in Gröden und den Olympischen Spielen in Sapporo. Nicht nur in

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«Schienenverkehr und hochmoderne Technik haben Zukunft. Und mit dem Gotthard-Basistunnel setzen wir ein starkes Zeichen für den Alpenschutz.» Sabine Dahinden (47) FERNSEHMODERATORIN UND REDAKTORIN, SRF I BERN

Da spüre ich meine Wurzeln», sagt sie. In Altdorf ist sie aufgewachsen, in einem alten Haus mit einem verwunschenen, grossen Garten. Vor über 100 Jahren zog ihr Grossvater von Weggis nach Altdorf, um Strom in den Kanton Uri zu bringen, und so hat er auf dem Arni den Stausee gebaut. «Dieser kleine See ist ein Heimwehort meines Vaters. Als Bub war er oft hier in den Ferien in einem der Häuschen am See. Später hat er uns Kinder immer wieder auf den Arni mitgenommen. Zu dem verwunschenen Tannenwald und dem sattgrünen Moos», sagt Sabine Dahinden. Es ist aber nicht nur die Natur, welche die TV-Moderatorin an Uri bindet. «Unsere Eltern haben uns Kindern gezeigt, was der Kanton alles zu bieten hat.» So durfte sie bei den Tellspielen auftreten und auch sonst Theater spielen, musizieren und eine kreative Mittelschule besuchen, die sie später zum Phil.-I-Studium und Sekundarlehrerabschluss führte. «Das alles macht mich sehr dankbar. Die Urner Wurzeln stärken einen fürs Leben. Ja, als Bergler ist man jedem Föhnsturm gewachsen. Na ja, fast jedem.» Dass Uri vom Rest der Schweiz oft unterschätzt wird, stachelt sie manchmal an, zur sympathischen Fürsprecherin des Kantons zu werden. «Uri war, seit die ersten Bauern und Säumer über den Klausen und Gotthard zogen, stets weltoffen. Es kommen noch heute Gäste von überall her und schon immer reisten die Urner in die Welt hinaus. Uri hat steile Wände und eine gewisse Enge, die immer wieder neu bezwungen werden muss, aber auch eine gewisse Weite in der Art des Denkens. Man sollte uns also nicht unterschätzen!» Auch die seit einigen Jahren in Bern lebende Urnerin zieht es immer wieder in ihre alte Heimat zurück. Alleine des guten Alp- und Bergkäses wegen. Oder wenn die Zeit nicht reicht, lässt sie sich zumindest «Änisürischtiärli» in die Bundeshauptstadt schicken. Ein Anisgebäck, an dem sie gerne knabbert, manchmal sogar mit «emene Schwarze», einem Kaffee mit Schnaps, im Glas eingeschenkt. Und sonst? Mit dem Gotthard-Basistunnel fühlt sie sich eng verbunden, hat sie doch den Durchschlag tief im Bergesinnern erlebt, was für Sabine Dahinden ein grandioses Erlebnis war. «Hinter all dem steckt grossartige Ingenieurskunst, die erahnen lässt, wie schwer einst die Arbeit für die Erbauer des ersten Gotthardtunnels war. Und auch der Basistunnel ist Symbol für die Durchlässigkeit des Gotthardmassivs, das uns nicht im Weg steht, sondern den Weg zwischen dem Norden und Süden freimacht. Martin Jenni Dies seit Jahrhunderten.»

Es sind nicht wenige Eidgenossen, die für Sabine Dahinden schwärmen. Wer sie als charmante Moderatorin oder neugierige Reporterin im Schweizer Fernsehen erlebt, vergleicht sie manchmal auch mit einem Cocktail aus einer Prise Feenhaftem und einem Schuss Lausbübischem. Dass sie aber auch kräftig fluchen kann, ja das wissen eigentlich nur ihre Familienmitglieder. Gut, die letzte grosse Schimpftirade ging ihr mitten auf dem Gotthard über die Lippen. «Unsere Mutter stachelte uns Kinder zu einer Velotour über den Gotthard ins Tessin an. Zu Beginn fand ich das noch grossartig, war doch ein neues orangefarbenes Cilo-Dreigang-Velo mein ganzer Stolz, mit dem ich gerne dick angab. Beim Passerklimmen, das im Veloschieben endete, leuchtete nicht nur das Zweirad orange, sondern es leuchtete auch mein hochroter Kopf. Oben endlich angekommen, fluchte und schimpfte ich grauenhaft. Sogar der Tyfel hätte sich vor mir gefürchtet!» Als sie sich nach einer längeren Pause wieder auf den Sattel hievte und die Tremola hinabsauste, fand sie dieses Abenteuer dann doch noch grossartig. Selbst das harte Kopfsteinpflaster der Strasse konnte ihr die Freude nicht nehmen. Für Sabine Dahinden ist der Gotthard bis heute ein gewaltiger Berg im Rücken, der wildromantisch ein Hort der Sagen ist und von dem das Wasser ins Tal braust. «Ich identifiziere mich stark mit der wilden Natur, dem Wasser, das zwischen den dunklen Felsbrocken tost, dem Föhn, der mit den Menschen Schabernack treibt und zeigt, dass man nicht alles im Leben zu schwer nehmen darf. Aber auch der Schnee beeindruckt mich, der am Gotthard zuweilen unerbittlich zeigt, wer der Stärkere ist.

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«Ich lösche in der Werkstätte das Licht, schliesse die Tore und drehe den Schlüssel.» Engelbert Baumann (61) LEITER WERKSTÄTTE, SBB CARGO I ERSTFELD

Darauf ist er stolz. 2013 erhält der Tag der definitiven Schliessung ein Datum. Damit verlassen von den 15 Mitarbeitern einer nach dem anderen die Werkstätte. Mit dem sukzessiven Weggang der Spezialisten gestaltet sich die operative Arbeit schwierig. Heute zählt die Belegschaft noch neun Mitarbeiter. Sie kümmern sich um die Unterhaltsarbeiten der Lokomotiven Re 6/6 und Re 4/4 sowie der Rangier- und Baufahrzeuge. Der Ehrgeiz besteht nach wie vor, nebst den alltäglichen Aufgaben wie Unterhalt, Kontrollen und Schleifen von Bandagen auch anspruchsvolle Arbeiten wie Störungsbehebungen an den Sicherheitssystemen zu leisten. Im Vergleich zur Sorge um seine Leute kümmert sich Engelbert Baumann geradezu pragmatisch ums Aufräumen. Seit dem Spatenstich des Erhaltungs- und Interventionszentrums vor gut zwei Jahren herrscht ein tägliches Seilziehen um Zufahrten, Gleisanschlüsse, Stromversorgung und sonstige Selbstverständlichkeiten. Er streckt seinen Arm aus, tippt aus der Ferne auf die einzelnen Bauten. «Teile sind abgerissen, andere in den Neubau integriert, jene beabsichtigt SBB Historic zu übernehmen.» Die Platzverhältnisse werden enger. Zum Schluss wird die mechanische Werkstätte mitsamt den Drehbänken, Fräsen, Stanzen, Hobelmaschinen und Gerätschaften aufgelöst. «Dann», sagt Engelbert Baumann, «dann wird es endgültig Zeit, an meine Zukunft zu denken.» Noch weiss er nicht, wo sein definitiver Platz sein wird. «Für die Pensionierung bin ich zu jung», sagt der 61-Jährige. Es gibt Tage, da pendeln seine Gefühle zwischen Bangen und Aufbruchsstimmung hin und her. Letztlich bleibt er optimistisch. «Ich bin überzeugt, ich finde eine spannende Aufgabe innerhalb des Unternehmens.» Gewiss ist sein finaler Arbeitseinsatz im Depot Erstfeld: «Ich lösche in der Werkstätte das Licht, schliesse Lisbeth Epp-Huwyler die Tore und drehe den Schlüssel.»

«Mein berufliches Zuhause. Seit 37 Jahren», sagt Engelbert Baumann und blickt von seinem Bürofenster aus über das Areal des Bahnhofs Erstfeld. Hier startete er 1979 seine Laufbahn als Spezialhandwerker. Zu dieser Zeit arbeitete er zusammen mit 51 Kollegen. Heute leitet er die Werkstätte von SBB Cargo. Ende 2016 geht diese Ära vorbei. Mit dem Gotthard-Basistunnel wechselt die Bedeutung des Platzes. Der Unterhaltsstandort wird aufgehoben. Das Eisenbahnerdorf erhält einen neuen Schwerpunkt. Das Erhaltungs- und Interventionszentrum nimmt seine Arbeit auf. Es garantiert die Sicherheit und den Unterhalt des Gotthard-Basistunnels. «Das sind andere Aufträge als jene, die wir leisten.» Er zeigt auf die markante Remise. Die säulenfreie Stahlkonstruktion mit den sechs mächtigen Toren dient seit 1922 dem gleichen Zweck: In dieser Halle werden Lokomotiven gewartet. Damit ist Schluss. Diese Aufgaben übernehmen die Serviceanlagen und Stützpunkte von SBB Cargo in Basel, am Rangierbahnhof Limmattal, in Chiasso und Brig. Für den Leiter der Werkstätte bedeutet dies, ein Kapitel Bahngeschichte geordnet abzuschliessen. Der Chef steckt sich als oberstes Ziel, alle seine Mitarbeiter an einem neuen Arbeitsplatz zu wissen. Besonders liegt ihm die Zukunft der älteren Kollegen am Herzen. «Erst dann bin ich zufrieden.» Klar ist für ihn: «Ich gehe zuletzt.» Sie seien eine motivierte Truppe gewesen. Seit dem Millenniumswechsel laufe die Abteilung «auf der Kante». Umstrukturierungspläne begleiten sie seit Jahren. «Dieser Druck hat zwar an den Kräften gezehrt, uns im Gegenzug aber auch zu Höchstleistungen angetrieben.» Sein Team hat die Funkfernsteuerung auf den Lokomotiven des Typs Re 460 eingebaut.

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Der 57 Kilometer lange Gotthard-Basistunnel r체ckt Norden und S체den n채her zusammen. Wir erz채hlen die Geschichten von 57 Menschen und ihrem Bezug zum Jahrhundertbauwerk.

ISBN 978-3-906055-50-3


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