Ernst Reiss

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Mein Weg als Bergsteiger

E RNST R E I S S Erstbesteiger des Lhotse

Herausgegeben und Einf端hrung von Emil Zopfi


Wir danken allen Institutionen, die mit ihrer Unterstützung die Realisierung dieses Buches ermöglicht haben: Familien-Vontobel-Stiftung Naturfreunde Schweiz SAC Sektion Oberhasli Schweizerische Stiftung für Alpine Forschung


Mein Weg als Bergsteiger

Ernst Reiss Erstbesteiger des Lhotse Herausgegeben und Einf端hrung von Emil Zopfi

AS Verlag


Der Text folgt der Ausgabe von 1962 und wurde für die Neuausgabe geringfügig überarbeitet.

www.as-verlag.ch AS Verlag & Buchkonzept AG, Zürich 2013 Gestaltung: Urs Bolz, Zürich Korrektorat: Alfred Mathis, Willstätt Druck und Einband: Kösel GmbH & Co. KG, Altusried-Krugzell ISBN 978-3-906055-12-1


Inhalt

7 Einführung: «Vorbild einer ganzen Bergsteigergeneration» 35 Die hohe Treppe 41 Jugend, eine eigene Welt 49 Heimatberge 59 Der Drohfinger 67 Bergkameraden 77 Weihnachtliche Bergfahrten 93 Die drei Wetterhörner 109 Abenteuerliches Berufsleben 117 Der grosse Sommer 135 Ein Zwischenspiel 145 Engelhörner-Mosaik 163 Auf schmalen Skis 173 Alpine Episode 183 Vom Wilden Kaiser zum Montblanc 201 Rund um den Eiger 215 Meine grösste Wand 229 Im Nachmonsun am Everest 263 Von den Dolomiten zum Monte Rosa 281 Der Trabant (Lhotse, 8516 m) 315 Auf den Bergen der Inkas 343 Ausblick 347 Anhang: Ernst Reiss, biografische Daten


Ernst Reiss hat Alpingeschichte geschrieben: als Erstbesteiger des Lhotse und als Buchautor.


Einführung «Vorbild einer ganzen Bergsteigergeneration» Emil Zopfi

«Wie er erzählt, wie er schweigt, in die Tiefe hört und wie er urteilt, das ist der Mensch Ernst Reiss; sein durch nichts zu erschütternder Gleichmut, seine gewachsene, erduldete, wie selbstverständliche Verbundenheit mit dem Berg: das ist Ere, der Systembergsteiger, das Vorbild einer ganzen Bergsteigergeneration der Schweiz.»1 So beschreibt die österreichische Schriftstellerin Helma Schimke ihren Freund und gelegentlichen Seilgefährten. Ernst Reiss hat Alpingeschichte geschrieben – im eigentlichen Sinne des Wortes, aber noch mehr. Er war der erste Schweizer, der den Fuss auf den Gipfel eines Achttausenders setzte bei der Erstbesteigung des vierthöchsten Bergs der Erde. Ere, wie ihn Freunde nannten, war aber nicht nur ein brillanter Kletterer im Fels, im Eis und im gemischten Gelände, in den Alpen und in den Bergen der Welt. Er war auch ein Mann der Feder, der seine Abenteuer, Empfindungen und Einsichten in den höchsten Höhen und den tiefsten Abgründen in einer anschaulichen und spannenden Sprache zu Papier bringen konnte: in Berichten in der alpinen Presse, in noch immer unveröffentlichten Manuskripten und in der vorliegenden biografischen Erzählung seiner Entwicklung vom einfachen Bub aus den Bergen zum international geachteten Bergsteiger, Spitzensportler, Autor, Vortragsredner – und zum geschätzten Berufsmann, liebevollen Ehemann und Vater von drei Kindern. «Weil es uns freut» Sein Name war uns jungen Bergsteigern geläufig, sein Buch hatte ich gelesen. Jahre später kam es mir in einem Antiquariat in die Hände. 1 Helma Schimke: Über allem der Berg. Verlag Das Bergland-Buch, Salzburg 1964

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Daraufhin lernte ich Ernst Reiss zwei Jahre vor seinem Tod im August 2010 noch kennen, beeindruckt von seiner wachen und würdigen Persönlichkeit und der grossen Geduld, mit der er die Beschwerden des Alters ertrug. Die Begegnung hat mich bestärkt in der Absicht, sein Buch «Mein Weg als Bergsteiger»2 ein halbes Jahrhundert nach seinem Erscheinen neu aufzulegen. Nebst einer aussergewöhnlichen Lebensgeschichte ist es das Dokument einer Zeit, in der sich das moderne Bergsteigen in der Schweiz erst richtig entwickelte und internationales Niveau und Beachtung erreichte. Ernst Reiss war dabei einer der bedeutendsten Vorreiter dieser Entwicklung. Ausser der Erstbesteigung des Lhotse gelangen ihm um die zwanzig schwierige Erstbegehungen in den Alpen sowie Erstbesteigungen und Erstbegehungen in den Anden. Doch es sind nicht nur seine alpinistischen Erfolge, die ihn zum Vorbild einer ganzen Bergsteigergeneration und auch der heutigen Bergsteigerjugend machen. Es ist seine bescheidene und jeder Selbstüberschätzung abholde Persönlichkeit. Nach der Erstbesteigung des Lhotse notiert er in sein Tagebuch: «Wir fühlen uns nicht heroisch, aber dennoch glücklich.»3 Oft sagte er auch: «Bergsteiger sind keine Helden. Putzfrauen sind Helden.» Er suchte nicht den Ruhm, sondern das Glück in den Bergen. Auf die Frage, was ihn denn in die Berge treibe, gibt er die schlichte Antwort: «Wir gehen, weil es uns freut.» Aber da war auch noch etwas anderes: «Die Sehnsucht nach der Ferne.» Als Sohn eines Handwerksburschen aus der Gegend von Baden-Baden, der sich nach langer Wanderschaft in Davos niederliess und eine Familie gründete, schien ihm diese Sehnsucht in die Wiege gelegt. Ernst Reiss war ein Romantiker, von tiefer Liebe zur Natur in all ihren Erscheinungen geprägt. Seine Texte widerspiegeln diese Haltung, sind voller Ausdruckskraft und Poesie, oft auch überschwänglich und mit Adjektiven ausgeschmückt. 2 Ernst Reiss: Mein Weg als Bergsteiger. Verlag Huber & Co., Frauenfeld. Erste Auflage 1959, zweite Auflage ergänzt 1962. Alle Zitate ohne Referenz stammen aus dieser Auflage. 3 Tagebuch Ernst Reiss. In Familienbesitz

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«Der Weg eines Bergvagabunden» Als Ernst Reiss in den Dreissigerjahren des letzten Jahrhunderts zu klettern begann, war Bergsteigen stark geprägt von romantischen Vorstellungen, von einer unbestimmten Sehnsucht nach Abenteuern in unbekannten Gegenden der Welt. «Bergsteigen als romantische Lebensform» bezeichnete der deutsche Philosoph, Dichter und Bergsteiger Leo Maduschka dieses Lebensgefühl. Sein im Nachlass herausgegebenes Buch «Junger Mensch im Gebirg»4 gehörte zu den literarischen Favoriten von Reiss. Es war die Zeit der «Bergvagabunden», die oft arbeitslos und ohne festen Wohnsitz von Hütte zu Hütte zogen, von der Hand in den Mund lebten und die grossen Nordwände der Alpen belagerten. «Ich ahnte nicht, dass [...] mein Weg der eines Bergvagabunden werden sollte», erinnert sich Reiss. Allerdings endete die Wanderung nicht weniger dieser romantischen Bergvagabunden in den Reihen der aufkommenden nationalen und nazistischen Bewegungen. So liessen sich die Erstbegeher der Nordwände von Eiger und Matterhorn von den Nazis feiern und auszeichnen – teils aus Überzeugung, teils wider besseres Wissen. Auch Maduschkas Bergtod 1932 in der Civetta-Nordwestwand wurde von den Nationalsozialisten als Ausdruck des heldischen Zeitgeistes und der Tugend der opferbereiten Kameradschaft gepriesen. Reiss’ Heimat Davos war in jenen Jahren ein Zentrum nationalsozialistischer Umtriebe in der Schweiz, was schlagartig bekannt wurde durch das Attentat vom 4. Februar 1936 auf Wilhelm Gustloff, den in Davos residierenden Landesgruppenleiter der NSDAP in der Schweiz. Zu welchen Diskussionen und Ängsten diese Entwicklung in der Familie Reiss geführt hat, darüber finden sich in seinen Texten keine Erinnerungen. Sein Vater war Hüttenobmann bei den politisch links stehenden Naturfreunden, mit denen Ernst seit früher Jugend Touren unternahm. Seine Familie wusste mit Sicherheit, 4 Leo Maduschka: Junger Mensch im Gebirg. Leben, Schriften, Nachlass. Gesellschaft Alpiner Bücherfreunde, München 1936

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dass die Nazis die Naturfreunde in allen Ländern, die sie beherrschten, verboten und ihre Hütten und ihr Vermögen raubten. Nur in der Schweiz und in den USA überlebte die Organisation die Zeit der Naziherrschaft. «So gut und so schnell wurde bisher kaum geklettert» Während des Zweiten Weltkriegs standen die meisten Spitzenbergsteiger der kriegführenden Länder an der Front, nicht wenige kamen ums Leben. Es gab kaum Erstbegehungen oder Expeditionen. Ernst Reiss leistete als Mitrailleur Aktivdienst, als gelernter Schlosser arbeitete er auf dem Militärflugplatz Unterbach bei Meiringen am Fuss der Berner Hochalpen. Dort gelangen dem mittlerweile passionierten Kletterer und Eisgeher schon während der Kriegszeit einige Erstbegehungen in der Wetterhorngruppe. In den Nachkriegsjahren entwickelte er sich, zusammen mit starken Seilpartnern wie Dölf Reist, zu einem der hervorragendsten Alpinisten des Landes. Das Duo Reiss-Reist war in Bergsteigerkreisen legendär. «So gut und so schnell war bisher kaum geklettert worden», schreibt der Alpinist, Fotograf und spätere Nationalrat Herbert Mäder.5 Herausragende Leistungen von Reiss waren unter anderem die fünfte Begehung der Lauperroute in der Eiger-Nordostwand, die Erstbegehungen der direkten Gspaltenhorn-Nordostwand und der Wellhorn-Südostwand, einer für jene Zeit äusserst schwierigen Felsroute. Sie kletterten in einer Intensität wie heutige Profibergsteiger, arbeiteten daneben jedoch sechs Tage in der Woche im Beruf, hatten keine Sponsoren und nur wenig Geld, übernachteten im Freien oder in Heuschobern. Ihre Ausrüstung war sehr einfach. Hanfseil, ein paar Haken, Bergschuhe aus Leder mit Vibramsohle, Hosen aus Lodenstoff, Windjacken aus Segeltuch, Wollpullover. Ernst benutzte lange einen selbst geschmiedeten Pickel und selbst fabrizierte Felshaken. Auch Dölf Reist, Eres häufiger Seilgefährte in jener Zeit, war durch die Naturfreunde zum Bergsteigen gekommen, sein Lehrmeister war der bekannte Bergsteiger, Autor und Fotograf Willy Uttendoppler. Er 5 in: Dölf Reist: Traumberge der Welt

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«Sehnsucht nach der Ferne»: Um 1950 war Ernst Reiss einer der stärksten Alpinisten und Kletterer der Schweiz.

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Bergsteigen als Lebensform. Bei der Erstbegehung der direkten Nordostwand des Gspaltenhorns, Ernst Reiss’ grÜsster Wand.

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it offenen Augen sieht man die Welt, die Natur und das von Menschenhand Geschaffene. Schliesst man die Augen,

dann kann man träumen, dann lebt man in der Gedankenwelt, in den Erinnerungen. Einmal ganz ungeordnet, dann wieder in einzelnen Kontrasten hervortretend, liegt das Vergangene hinter uns; jeder Mensch erkennt darin Wegstrecken und gewisse Lebensabschnitte, die für ihn bedeutsam waren. Für einen Bergsteiger gilt dies ganz besonders; geht er seinen Weg doch gewollt und bewusst mit eigenen Schritten. Wir fragen uns gleich: Was treibt diese Menschen, den langen Pfad mit seinem steten Auf und Ab zu gehen? Wir erwarten eine verständliche Antwort. Vielleicht diese: «Wir gehen, weil es uns freut.» Diese einfachen Worte von Toni Schmid, dem Erstbegeher der Matterhorn-Nordwand, sagen wenig oder auch sehr viel. Was man im Leben jedoch aus Freude und Begeisterung tut, hat einen Sinn, hat seine bejahenden Werte. Auch ich will versuchen, meinen Bergsteigerweg nach dem Warum, nach seiner Zielsetzung zu ergründen, obwohl für mich das Bergsteigen geradezu zu einer Lebensform geworden ist. Ich denke an die naive Neugier eines Kindes, welches auf eine Anhöhe steigen will, um zu sehen, was sich wohl auf der andern Seite des Berges befindet. Es erhofft vielleicht irgendwo das Ende dieser Welt zu erblicken oder zumindest andere Berge, Täler, Seen, weite Flächen zu entdecken oder gar eines der Meere zu sehen. Alle Menschen haben das Bedürfnis, einmal oder öfters auf aussichtsreicher Höhe zu verweilen. Jeder geniesst mit einer gewissen Erregung den Aufstieg zu einer Theaterempore, zu einer Kirche oder auf eine hohe Warte. Dieser Aufstieg verlangt oft etwelche Überwindung, ist aber voller Spannung, Hoffnung und Sehnen. Er findet seinen Höhepunkt mit dem Erreichen des Ziels. Mit einem Mal stehen wir auf der höchsten Plattform über der langen Treppe; wir überblicken das Theater der Natur. Die Willenskraft, die eigenen körperlichen und seelischen Schwächen zu überbrücken, schenkt uns Genugtuung und Freude. Dazu gesellt sich das Erleben des grossen Schauens in einer noch nie oder nur selten gesehenen Umgebung, die Sehnsucht nach der Ferne. Die Zeit steht still, wir sind befreit von 36


den vielen alltäglichen Gedanken und Sorgen. Wir sind einsam, doch verbunden mit der Erde, dem Raum, der sich unendlich viel grösser als das eigene Ich vor uns ausbreitet. Diese Grösse, diese Schönheit bleibt uns ein ewiges Rätsel; wir können sie nur ahnen, niemals aber völlig erfassen. Die Tagwende, der nahende Abend mahnt uns zum Abstieg. Mit etwelcher Wehmut, doch mit übervollem Herzen steigen wir tiefer. Wir sind auf dem Weg nach Hause, zurück zu den wohnlichen Niederungen, aus welchen wir emporstrebten. Die Achtung vor der Grösse der Schöpfung begleitet unsere Schritte nach der Geborgenheit. In der Erinnerung bleibt das Erlebte bestehen. Vielleicht haben wir nun das Bedürfnis, unsere Gedanken niederzuschreiben oder weiterzugeben. Nur wenige Wanderer und Bergsteiger ringen sich dazu durch, alle aber hüten mit Stolz den Reichtum ihrer Erlebnisse. Dieser Vergleich mit dem Aufstieg über die Treppe zum Theater der Natur gibt mir die Ausdauer, um noch viele Seiten für ein Bergbuch zusammenzutragen. Ich sehe die grosse Arbeit, die mir nur schwerfällig vorangeht. Mit viel Hingabe hoffe ich jedoch, neben Beruf und Familie das Angefangene weiterzuführen. Das Bild mit der sonnigen, zuweilen von Schatten und Sturm heimgesuchten Treppe nach dem Berg und den Weltbergen wird mich kaum mehr loslassen. Ich finde darin zugleich Symbol und Rechtfertigung meines Lebens. Die alte Säumerhütte im einsamen Seitental meiner Heimat rückt erneut in meine Erinnerungen. Der nahe Passübergang verband ehemals unsere nördliche Talschaft mit dem Süden. Als neunjähriger Knabe trat ich von hier aus meine erste Hochtour an. Die Gefährten, mein Vater und seine Freunde, stehen noch heute so prägnant vor mir, als wäre das erst unlängst gewesen. Man erklärte mir auf halbem Weg zum Scalettapass, dass die hier verbliebenen Steinstufen vom Durchzug der Römer herrühren sollen. Das hinterliess bei mir einen tiefen Eindruck. Nicht dass ich damit einen Vergleich zu meinem Gehen und Streben zog, doch erinnere ich mich, wie ich nach der Rast auf dem höher gelegenen Gletscher dem Vater entwischte und fast allen Begleitern voraus den steilen Gneisgipfel des wilden Piz Gria37


letsch erklimmen durfte. Der grosse Wunsch, einmal einen besonders hohen Aussichtspunkt zu erreichen, war in Erfüllung gegangen. Alles unter mir schien versunken, und der Gedanke machte mich frei und glücklich, durch eine eigene Tat dieses Geschenk erhalten zu haben. Ohne etwas Tiefes zu ergründen, erlebte ich mit den nachrückenden Kameraden das Köstliche einer Gipfelrast über 3000 Meter. Berg reihte sich an Berg, und mächtige Wolkentürme wälzten sich träge wie ein fremdes Heer von Westen gegen den Alpenkamm. Giganten massen sich mit Giganten. Wir mussten den grossen Schauplatz bald verlassen. Die stets neuen Ausblicke im Abstieg über den Gletscher und die Moränen verliehen dem einfachen Weg viel Abwechslung. Zwischen blauen Bergseen und dürftigem Grün von Moos und Gletscherhahnenfuss empfing uns das neue Klubhaus von Grialetsch. Erfüllt von all diesem Erleben eilten meine Gedanken nochmals zurück. Die Erinnerung an die alten, zur Passhöhe strebenden Steinstufen schenken mir heute, nach mehr als 25 Jahren, eine Parallele zu einer ähnlichen Begebenheit. Es war im Sommer 1956. Tausend kleine und grössere Bergfahrten, ja sogar die erste Besteigung des vierthöchsten Weltberges lagen hinter mir, als ich die Treppe zu der grossartigen Akropolis emporsteigen durfte. Beim Gang hinauf zu dieser historischen, geweihten Stätte begleitete mich trotz meines ausgemergelten Körpers jene fast unaussprechliche, bejahende Fülle, wie sie der Bergsteiger als unbewussten, natürlichen Auftrieb auf seinem Weg zur Höhe empfindet. Voller Begeisterung, voller Erwartungen auf den grossen Augenblick der Rundsicht mit all ihren Eindrücken näherte ich mich den höchsten Stufen mit den Säulengängen zwischen dem Nike- und Poseidontempel. Hinter uns versinkt das halbverschüttete Amphitheater am Südfuss der Akropolis. In klassischer Form ragen die weissen Säulen in das wärmedurchflutete Tiefblau des südlichen Himmels. Vorwärtsdrängend erreicht man die leicht ansteigende Plattform, wo die grössten Säulen das frontale Joch des riesigen Parthenons tragen. Überwältigt von der Schönheit dieser altgriechischen Kulturstätte stand ich da. 38


Der Bergsteiger aber sucht bald weiter nach dem höchsten Aussichtspunkt, wo sich ihm die ganze Rundsicht öffnet und nichts mehr über ihm steht als die Unendlichkeit. Dort der Erechtheiontempel mit der Korenhalle! Unweit, vielleicht 150 Meter tiefer, die fächerartig ausgebreitete Stadt Athen. Im Osten erhebt sich auf einer noch grösseren pyramidenförmigen Anhöhe die weisse Lykabettoskapelle. Hinten im Dunst des Nachmittags entschwindet in weitem Streifen das blaue Mittelmeer. Erst jetzt wich die Spannung ein wenig. Es mag damals ähnlich gewesen sein, als ich nach dem Passieren der letzten Eisenbahngalerien vor Zermatt das Matterhorn sah, bis ich seine Form und Einmaligkeit in mir aufgenommen hatte. Aber auch hier, wo zwei Flugzeuge mit ihrem Motorengedröhn Richtung Heimat ziehen, wusste ich im tiefsten Herzen, dass mich immer wieder der eigene, selbsterkämpfte Weg zu den lichten Höhen führen wird, dass die Stunden abseits vom Getriebe und der Geschäftigkeit des Alltags meine besonderen Feierstunden bedeuten. Nur Tag und Nacht, Sonne und Wind bestimmen hier unser Tun. Der Rhythmus der Natur zieht klar seine vorgezeichneten Kreise weit über alles Denken und Lenken der Menschen. Diese Harmonie, diese Schönheit suchen wir Wanderer und Bergsteiger oft zu erfassen, doch keinem von uns können diese Stunden, diese Bilder Besitz bleiben. Es sind die Kontraste und Widersprüche, die wir immer wieder suchen. Wie eine Belohnung empfanden wir nach unsern Besteigungen im Himalaya den Besuch dieser grossartigen Stätte. Was hätte uns tiefere Freude bereiten können? Es sind die Stunden der Entspannung, welche nach dem Aufwand aller Kräfte des Körpers und des Geistes im Ringen um ein grosses Gipfelziel dem Bergsteiger immer wieder geschenkt werden. Es ist der Weg, der bald eilig, bald langsam im Aufstieg über die Treppe zur kleinen Anhöhe oder auf den gewaltigen Weltberg führt.

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Teilnehmer der Everest-Lhotse-Expedition 1956: sitzend vorne von links: Edi Leuthold, Wolfgang Diehl, Dölf Reist; dahinter Fritz Luchsinger, Expeditionsleiter Albert Eggler, Hans Grimm; stehend Ernst Schmied, Jürg Marmet, Hansrudolf von Gunten; hinter ihm Verbindungsoffizier Pradhan, Ernst Reiss. Nicht auf dem Bild: Fritz Müller.


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D ER T RABANT (L HOTSE , 8501 M )

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«Ein jeder Tag ist wie ein kleines Jahr – und jede Stunde Bergeinsamkeit ist Ewigkeit.» Weng Tscheng Ming

Der unendliche Gebirgszug der südamerikanischen Kordilleren ist die weitaus längste Bergkette der Welt. Sie erstreckt sich von Kolumbien über Ekuador, Peru, Bolivien, Chile und Argentinien bis nach den Inseln Feuerlands. Deren höchste Gipfel ragen mit dem Aconcagua an die 7000-Meter-Grenze. Die gewaltigsten Bergpyramiden der Erde befinden sich jedoch im Gebirgszug des Himalaya, zwischen Indien und der Hochebene Tibets. Nicht weniger als vierzehn Gipfel steigen dort über 8000 Meter empor, der höchste auf nahezu 9000 Meter, wobei drei bis vier weitere Trabanten zu den hohen Achttausendern zählen. Allein im Karakorum, dem sogenannten Transhimalaya, stehen fünf grosse «Herren». Die Riesenpyramiden des K 2 und des unnahbaren Nanga Parbat sind als Schicksalsberge in die Geschichte der Erschliessung der Weltberge eingegangen. Das über viele Jahre unzugängliche Hoheitsgebiet von Nepal «beherbergt» die meisten Hochgipfel dieses 2500 Kilometer langen Gebirgszuges. Weit im Osten, an der Sikkimgrenze, ragt der hoheitsvolle Doppelgipfel des Kangchendzönga in den Himmel. Alle Bilder dieser Berggestalten sind gegenwärtig in den Vorstellungen manchen Bergsteigers. Sie leben als bergsteigerische Ziele bei den Europäern, den Amerikanern, den Japanern und andern mehr viel wirklichkeitsnaher als im Glauben und Aberglauben jener Völker am Fusse des Himalaya. Auch mir lagen seit meiner Jugend, besonders jedoch seit der Herbst-Expedition am Everest diese Berge nur zu oft im Sinn. Ich liess mir keine Möglichkeit entgehen, welche meinen bescheidenen Mitteln eine Chance einräumen konnte, nochmals dorthin zu gelangen. Schon 1953 gelang den Briten durch Hillary und Tenzing die Besteigung des Mount Everest. Man wusste nur zu gut, dass Oberst Hunt mit seinem bestausgerüsteten, erfahrenen Team günstige Voraussetzungen auf seiner Seite hatte. Mit den letzten Reserven und den letz282


ten schönen Tagen vor dem gefürchteten Einbruch des Monsuns gelang ihnen die Eroberung des dritten Pols. Es ist schwer zu sagen, ob wir uns darüber freuen sollen oder ob nur allzu früh die Jugend nach uns um ein strahlendes Ziel ärmer geworden ist. Zweifellos muss man den Briten und im Besondern dem sehr tüchtigen Sirdar Tenzing Norgay diesen verdienten Erfolg gönnen. Man konnte es aber auch verstehen, dass das Streben nach den noch unbetretenen Achttausendern nur noch intensiver einsetzte. Schon einige Tage später erfuhr die Öffentlichkeit von dem aussergewöhnlichen Alleingang des hervorragendsten Alpinisten, Hermann Buhl, zum Gipfel des Nanga Parbat. Die kameradschaftliche Zusammenarbeit, das Wesentliche und Schönste eines solchen Unternehmens, liess bei dieser deutsch-österreichischen Expedition leider etwas zu wünschen übrig. Hermann Buhl, mit dem ich bekannt war, wurde einer der wenigen Menschen, die noch einen zweiten Achttausender erstbestiegen. Er fand, wie er es selbst geahnt hatte, den Bergsteigertod, und zwar wegen einer ausbrechenden Gipfelwächte an der Chogolisa. Die Initianten der Schweizerischen Stiftung für Alpine Forschungen berieten sich in dieser Zeit mit mir über die Möglichkeit, vielleicht doch noch eines der grossen Himalayaprojekte verwirklichen zu können. Meine Ausgangslage war leider dadurch gekennzeichnet, dass ich zur Finanzierung wenig oder nichts beitragen konnte. Mit der erfolgten Besteigung des K 2 und des Gasherbrum drängten sich die Möglichkeiten immer mehr zusammen. Noch ragten der Kangchendzönga, der Lhotse und der Makalu als unberührte Hochgipfel empor. Die Teleaufnahmen des Kantsch von Darjeeling aus, wie der Kangchendzönga in der «Fachsprache» genannt wird, fesselten meine ganze Aufmerksamkeit, und ich sah deutlich die Aufstiegsroute über die Jalungflanke auf diesen gewaltigen Berg führen. Während unseres Planens für das Jahr 1956 gelang Charles Evans und seinen tüchtigen Mannen dieser unerhört kühne Wurf. Weil ich mich mit meinen nächsten Seilkameraden schon auf dieses einzigartige Ziel ausgerichtet hatte, traf uns diese Nachricht wie ein schmerzvoller Schlag. Da 1955, während der Vormonsunzeit, durch eine französi283


sche Mannschaft der fünfthöchste Weltberg, Makalu, erstmals bestiegen wurde, blieb uns nur noch der Weg zum Lhotse und Everest offen. Der Name Lho-tse heisst in der einheimischen Sprache Süd-berg und nimmt als südlicher Nachbar auf die Göttin Mutter der Erde, den Everest, Bezug. Aber selbst der grosse Südberg wurde in diesen Monaten von der internationalen Expedition unter der Leitung von Norman Dyhrenfurth belagert. Die Schweizerische Stiftung für Alpine Forschungen bot uns trotzdem nochmals ihre unentbehrlichen Dienste an, und so begannen wir uns zu rüsten. Als Leiter standen einige namhafte Persönlichkeiten in Frage, wobei die Wahl auf den Mann mit der positivsten Einstellung fiel. Unser Freund, Albert Eggler aus Bern, Alpinist und erfahrener Gebirgsoffizier der Brigade 11, sollte sich in der folgenden ungewissen Zeitspanne bewähren. Dem vorausgegangenen Auftrag der Stiftung folgend, hatte ich in meinen Seilkameraden Dölf Reist von Interlaken und Fritz Luchsinger aus Thun die besten bergsteigerischen Stützen gefunden. Hansruedi von Gunten aus Bern hatte ich zwei Jahre vorher in Zusammenhang mit einer tragischen Unfallbergung in den Engelhörnern näher kennengelernt. Jenes Schlechtwetterbiwak neben dem schwer verletzten Emil Stierli auf dem Band des grossen Simelistocks liess keine Zweifel über Hansruedis besondere Eigenschaften als Expeditionsteilnehmer übrig. Zu ihm gesellte sich noch sein Schwager, der starke Alpinist Ernst Schmied. In dem erfahrenen Grönlandkenner Wolfgang Diehl vom Akademischen Alpenclub Bern sah Albert Eggler einen tüchtigen Partner. Aus Zürich stiessen noch der initiative Hans Grimm und der gebürtige Spiezer Jürg Marmet zu uns. Es würde viel Raum beanspruchen, eines jeden Herkunft und Weg als Bergsteiger zu erzählen. Nennenswert war jedoch die Beharrlichkeit jedes Einzelnen in all den Monaten der Verhandlungen, Spannungen und Ungewissheiten, ehe im letzten Moment durch namhafte persönliche Opfer die Expedition sichergestellt wurde. Die Armee gewährte uns die Möglichkeit zweier kurzer Trainingslager, zur Sommerszeit im Furka- und Bächligletschergebiet, im Winter in 284


Blick vom Südostgrat des Everest auf seinen südlichen Nachbarn, den «Trabanten» Lhotse. Gut sichtbar das Couloir, durch das Ernst Reiss und Fritz Luchsinger am 18. Mai 1956 den nach neueren Messungen 8516 Meter hohen Gipfel erreichten.

der Region Montana-Wildstrubel. Den schwierigen Lastentransport zum Fusse des Brandlammhorns, die folgenden Regentage und die beiden kleinen Unfälle meisterten wir so, wie man es von einem geschlossenen Team erwarten durfte. Als im Spätherbst 1955 unser Projekt zum Lhotse und Everest nochmals in Frage stand, sollte unser Wille zu einem gemeinsamen Ziel letztmals einer schwierigsten Probe unterstellt werden. Noch nie erlebte ich derart zerrissene Festtage, weil ich stets unter der Angst stand, von unserm Leiter nach all diesen Widerständen doch noch eine Absage zu erhalten. Unser «Tuchel», wie Albert seit vielen Jahren im engen Freundeskreis genannt wird, blieb jedoch unerschütterlich. Wir waren uns alle bewusst, dass der schweizerische Alpinismus voraussichtlich eine letzte Chance hatte, sich in das «Goldene Buch der Weltberge» einzutragen. Am 29. Januar 1956 sticht die «Asia» in Genua mit sechs Kameraden unserer Expedition sowie mit unserm umfangreichen Expeditionsgepäck in die offene See. Zwei Tage zuvor hatte ich mich im tiefen Winter von meinen Eltern in Davos verabschiedet. Als ich unsern 285


kleinen Sohn Markus, der für die Zeit meiner Abwesenheit mit meiner Frau in Davos weilen durfte, nochmals liebkoste, musste ich mich abwenden, damit mich niemand sah. – Am Vortage, an dem grauen Tag auf dem Bahnhof in Bern, hatte ich meiner Frau unsern letzten baren Fünfliber für die Heimreise in die Hand gedrückt. Aber wir beide zweifelten keinen Moment, dass uns Arbeit und Erfolg am Berg, aber auch der gute Wille und das Vertrauen der Stiftung wieder auf sichere Wege führen würde. Wie wir weit entfernt die Insel Elba und Korsika neben uns versinken sehen, ist es schon spät am Abend. Die Wellen schlagen immer heftiger an die Schiffsflanke, derweil die mächtigen Motoren unablässig ihren Rhythmus auf das ganze «Meerhotel» übertragen. Am andern Mittag legen wir im Hafen von Neapel an. An Land begegnen wir auf dem Titelblatt einer italienischen Zeitschrift wieder einmal der überlebensgrossen, sagenhaften Phantasiegestalt des Schneemenschen vom Himalaya. Die Sehenswürdigkeiten des von der Lava des Vesuvs verschütteten Pompeji machen uns aber einen wesentlich tieferen Eindruck. Mit der Nacht verlassen wir die grosse Bucht der Lichterstadt. Früh weckt uns Aschi Schmied, um den glühenden Lavastrom des Stromboli vom Schiff aus zu beobachten. Nach der Durchfahrt durch die Strasse von Messina wird das winterliche Mittelmeer immer stürmischer. Bald finden sich im Speisesaal nur mehr der geeichte Seemann Wolfgang Diehl und der unverwüstliche Dölf Reist ein, derweil wir andern mäuschenstill die Lager unserer Kabinen hüten. Der Schiffslautsprecher gibt bekannt, dass wir des Sturmes wegen den Kurs östlich der Insel Kreta nehmen. Die «Asia» änderte die Richtung um ganze 180 Grad, denn nicht allzu weit von uns entfernt muss ein Tanker von der Wucht des Wellenganges zerrissen worden sein. Zwölf Stunden dauert die Suchaktion, an der neun modern ausgerüstete Schiffe teilnehmen, ehe die dreiundzwanzig erschöpften Seeleute aus ihrem Rettungsboot durch ein englisches Motorschiff aufgenommen werden. Am 4. Februar laufen wir in der Morgendämmerung im Hafen von Port Said ein. Nach einer langwierigen Diskussion haben wir uns entschlossen, die Reise nach Kairo auf Vorschuss auszuführen, derweil 286


unsere «Asia» durch den Suezkanal geschleust wird. Müde von den reichen Eindrücken der Besichtigung des ägyptischen Nationalmuseums, der Pyramiden von Gizeh und einem abenteuerlichen Kamelritt kehren wir mitten in der Nacht in Suez auf unser schwimmendes Hotel zurück. Fritz Luchsinger und ich benützten noch die Gelegenheit, um die verwaisten Tischtennisplätze durch einen längeren Ballwechsel zu beleben. Das Rote Meer wird tags darauf so stürmisch, dass sich unser Aktionsradius erneut auf das Kabinenlager beschränkt. Um so grossartiger empfinden wir die windstillen Sonnentage auf dem Bugdeck inmitten des Arabischen Meeres, wo mittags nur spielende Delfine die grosse Wasserfläche zerfurchen. Das Kapitänsdinner mit der anschliessenden Ballnacht bildet einen einmaligen Höhepunkt im Leben auf dem Schiff. Am andern Abend gleiten wir in die tiefe Lichtschleuse der Bucht von Karatschi. Es ist vielleicht gut, dass dieses herrliche, zeitlose Leben in Bombay ein Ende nimmt, sonst hätten uns die asiatischen Schönheiten noch den Kopf verdreht. Zumindest schnitt uns der entfernte Sirenenton der «Asia» ins Herz, als sie einen Tag später ihre Anker für die Weiterfahrt nach Hongkong lichtete. Zum zweiten Mal erlebte ich die traumhaften Schönheiten des zeitlosen Indiens. Anmutige Menschen und einmalige, alte Baudenkmäler wechseln mit Bildern tiefster Armut. Ein Freiluft-Ballett in Bombay, begleitet von der mystischen Musik uralter indischer Instrumente, reisst uns für zwei Stunden in eine andere Welt. Die Türme des Schweigens, die von Scharen wartender Aasgeier umkreist werden, stellen uns wieder vor eine andere Wirklichkeit. Auf der Insel Elephanta machen wir Bekanntschaft mit den drei grössten der hundert indischen Götter: Shiwa, Brahma und Wishnu. Eine Woche später verlassen wir Bombay. Der indische Bummelzug führt uns und unser Gepäck in zweitausend Kilometer langer Fahrt durch das malerische Mittelhochland nach Lucknow. Gequält von Durst und Wüstenstaub erleben wir vieles, ehe wir von Fort Agra nach dem märchenhaften Garten des Lauris Hotels geführt werden. In tiefer Andacht stehen wir im Mondschein, zur Mitternachtszeit, 287


vor dem weissen Marmormausoleum Taj Mahal nahe dem heiligen Jamna. Hier gehen alle Menschen barfuss, und nur der Flöte Lied schwingt in die Stille der Parkanlagen unter der weiten Himmelsglocke. Die nicht allzu weit entfernte «tote Stadt» Fatepur Sikri des grossen Mogulherrschers König Akba ist ebenfalls ein Bauwerk von gigantischer Grösse, bereichert mit Werken edelster Kunst. Am 26. Februar treffen wir in der Regierungshauptstadt Delhi für eine Nacht mit unserm Leiter Albert Eggler und dem Wissenschafter Fritz Müller zusammen, die unterdessen per Flugzeug in Indien eingetroffen waren. Als besondere Überraschung darf ich von «Tuchel» das etwas verspätete Geburtstagsgeschenk meiner Frau entgegennehmen, und es wird zugleich unser Wiedersehen gefeiert. Ähnlich wie in Bombay sind auch hier noch viele Vorkehrungen zu treffen, bevor wir unsere lange Reise mit der Eisenbahn nach Benares fortsetzen. An den Ufern des heiligen Ganges erfahren wir einiges mehr vom kulturellen und religiösen Leben der Indus. Hier weilen Tausende von Menschen, baden und beten, und dazwischen liegen die Plätze der Leichenverbrennungen und ziehen verzückte Sadus und heilige Kühe vorbei. Wieder zwei Tage später erreichen wir um Mitternacht die jesuitische St. Xavier School in Patna, wo wir gute Aufnahme finden. Nach einem kurzen Flug gelangen wir am andern Tag mit einem elenden Bummelzug in der ersten Morgenstunde zur Grenzstation Jaynagar. Die Berner Kameraden, welche das Expeditionsgepäck ab Lucknow bis hieher begleiteten, erwarten uns mit den von Darjeeling eingetroffenen Sherpas am Bahnhof. Es ist ein freudiges Wiedersehen, obschon Jaynagar klimatisch wie auch in andern Beziehungen nicht gerade berühmt ist. Unsere Leute haben sich in einem alten Rasthaus so gut wie möglich installiert. Etwas nach zwei Uhr legen wir uns auf dem Steinboden zur verdienten Ruhe, denn der grosse Teil unseres Gepäcks bleibt noch plombiert. Dieser Nachtfrieden soll jedoch nicht lange währen, da uns die Hitze und die zahllosen Moskitos schlimm zusetzen. Der folgende arbeitsreiche Tag lässt uns die nächtlichen Ruhestörer jedoch rasch vergessen. Die acht Tonnen Gepäck werden auf zwei288


undzwanzig herbeigeführten Ochsenkarren verladen. Im aufflackernden Licht des Lagerfeuers finden die letzten Kisten und Säcke auf den Wagenbrücken zwischen den grossen Holzrädern ihren Platz. Diese Transportart ist viel wirtschaftlicher als das Tragen der Lasten. Aber schon nach drei Tagen werden wir an den Fuss der ersten Vorberge stossen. Im Einschlafen sehen wir uns im Geiste, gleich den stolzen Römern in Hannibals Zug, auf den Ochsenkarren diesen Bergen entgegenfahren. Nun, auch das sollte etwas anders kommen. Ein Marsch voller Abenteuer, Schweiss und Mühen wartete unser. Gleich versinken die paar indischen Ziegelsteinbauten, und der Weg leitet in eine wüstenähnliche, einsame Landschaft. Langsam und ächzend drehen sich die mächtigen Karrenräder in den beiden sandigen Fahrrinnen. Die kleinen, mageren Zugtiere werden unter dem holzverzapften Joch erbärmlich hin und her gerissen. Stockt ein Gefährt, so schlagen die «Driver» meist blindlings nach den armen Höckerochsen. Eine feine Sandstaubwolke wälzt sich mit der Kolonne in den mattblauen Himmel über der weiten Ebene. Besorgt um unser Expeditionsgepäck treten wir neben den Gespannen dieses hannibalischen Heerzuges den nach allen Seiten weichenden heissen Sand. Bald liegt uns die Zunge wie ein trockenes Stück Leder im Gaumen. In der Glut der Mittagssonne bleibt der ganze Tross wie gelähmt stehen. Glücklicherweise ist der seichte Flusslauf des Kamla Rivers nicht mehr sehr fern, so dass Mensch und Tier in dem lauwarmen Wasser etwas Erfrischung finden. Im frühen Nachmittag setzt sich die ganze Kolonne wieder in Bewegung. Ein stürzender Karren verschwindet buchstäblich in der durch ihn aufgeworfenen Sandwolke. Abladen, aufstellen, aufladen, und schon geht es weiter. Kurze Zeit darnach sind die Holzräder eines zu schwer beladenen Gefährts eingesunken. Wir alle reissen und zerren umsonst an diesem Karren. Es wiederholt sich das Abladen, Vorfahren und Aufladen. Einzelne Zugtiere sind vom rauen Holzjoch wund gerieben, aber unbarmherzig geht es weiter. Mit vereinten Kräften helfen wir den müden Tieren durch eine Wasserfurt und hinauf durch eine Sandbank, in der Räder und Füsse tief einsinken. Abends stellen wir in einem Stoppelfeld unweit des Weilers Lakazaria 289


erstmals eine Anzahl Zelte auf. Im Dunkel der Nacht hören wir noch lange die helle Signalglocke eines Elefanten. Es muss eine Jagdpartie sein, welche ihren Weg nach dem Eingang zu der wildreichen Terai nimmt. In den nächsten Morgenstunden kommen wir gut voran. Weit hinter den Ochsengespannen ziehe ich allein durch nette Siedlungen mit Bambushäusern. Bewegungslos ragen die Blattäste der Bananenbäume und Kokospalmen über die niedern Strohdächer. Gedankenverloren irre ich von der Marschrichtung ab und stelle das erst fest, als ich direkt gegen die Mittagssonne gehe. Sofort ändere ich meinen Kurs nach Nordosten. Ich eile, was mich die Beine tragen, durch kleine Dörfer, über Stoppelfelder und endlose Wüstenflächen. Weit in der Ebene draussen verschwindet in einer Wolke weissen Staubes die träge Kolonne. Mit letzter Anstrengung schleppe ich mich durch die Glut dieses Tages. Im Schatten eines Dornenbusches bleibe ich hastig atmend liegen. Aber bald muss die Verfolgung der Hauptmacht wieder aufgenommen werden. Bei einem tiefen Ziehbrunnen inmitten dreier Häuser haben meine Freunde zur Mittagsrast angehalten. Im Schattenrand einer Hausfront suche ich vor der steil über uns stehenden Sonne Schutz. Die tropische Hitze hat bei mir Durchfall und Schwäche ausgelöst und mich nahezu marschunfähig gemacht. Unser umsichtiger Leiter lässt deshalb drei Reittiere auftreiben. Als Sattel liegt ein Sack auf dem Rücken der mageren Halbponys, und als Halfter dient ein Strick. Es wird jedoch nichts passieren, denn die sengende Temperatur lähmt alle Kreatur. Selbst die braunen Kuttengeier schlagen wenige Meter vor uns mit ihren mächtigen Flügeln nur träge in den Dunst dieser Luft. Einzig der kleine Wüstenfuchs eilt mit leichtfüssiger Geschwindigkeit in die spärlichen Deckungen. Um den langsamen Gang der Ponys zu beschleunigen, rufen wir immer wieder: «ha, ha, ha», das indische Hüh, doch unsere Kehlen sind bald so ausgetrocknet, dass wir es vorziehen, zu schweigen. Vor einer kleinen verträumten Ortschaft, die Taklana heissen soll, steigen wir von den Reittieren und gehen wieder zu Fuss. Obwohl wir noch einige Kilometer weiter kommen wollten, macht die Kolonne bei diesem Dorf einfach Halt. 290


Verwundert sehen wir am folgenden Tag nach den ersten Schritten im Wüstensand unzählige Spurbilder von Reptilen und andern Kleintieren in alle Himmelsrichtungen laufen. In der Ferne erkennen wir die Vorberge, wo das schon lang ersehnte Chisapani liegen muss. «Ha, ha» und «Oh, oh» tönt es wieder, bis alle Ochsengespanne in Bewegung sind. Erneut haben wir eine Panne. Einer der Zweiradkarren hat ein Rad verloren. Als neue Radsplinte verwenden wir einen harten Bambussplitter. Darnach eilen wir der Kolonne voraus, um Chisapani, was zu Deutsch kaltes Wasser heisst, noch vor Mittag zu erreichen. Durch einen Waldgürtel und dann über eine letzte gelbweisse Sandbank kommen wir wieder zu dem vor vierundzwanzig Stunden verlassenen Kamla River. Ein Bad in dessen frischen Fluten macht uns zu neuen Menschen. Um vier Uhr nachmittags ist der letzte Karren unseres Zuges auf einer Waldlichtung eingetroffen. Wir beginnen mit dem Abladen und Verteilen der Lasten. Vor dem Nachtessen gibt es aber noch eine kleine Aufregung. Ein wütender Wasserbüffel verfolgt einen Treiber und saust wie ein Pfeil mit gesenktem Kopf mitten durch unser Lager. Die Lehre: Wasserbüffel werden wir in Zukunft mit vermehrter Vorsicht fotografieren. Gerne erinnere ich mich des 7. März 1956 als eines geruhsamen Tages im Wald am Ufer des Kamla. Im Fluss werfen die Fischer ihre Netze aus, Ochsenkarren und Kamelzüge kommen und gehen. Im nahen Wald kreischen die Papageien, und in den Lüften kreist der Aasgeier. Ernst Schmied sagt es richtig: «Wir leben hier im Land der fast vollkommenen Harmonie.» Die restlichen bestellten Kulis von Namche Bazar sind heute auch noch eingetroffen. Alte Sherpagesichter aus dem Solo Khumbu strahlen mir wieder entgegen: Ang Nurbu, Nuri, Kirken, Aila. Die Sherpani zetern und lachen an ihren Lagerplätzen. Rasch sinkt die Sonne. Tief violett färbt sich der Himmel, und gleich kommt die Nacht. Die vielen Lagerfeuer des Kulivolkes lodern wieder. In Gedanken sehe ich weit hinter dem Urwald, hinter rot leuchtenden Rhododendronwäldern und blühenden Kakteen die vielen braunen Terrassenfelder, die tief eingeschnittenen Flussläufe zwischen den Hügelzügen. Und aus 291


dem leichten Wolkendunst des Vorsommers leuchten ganz fern «Les Iles», die höchsten Ziele der Himalaya-Bergsteiger. Wir Kameraden verstehen uns gut, wir sind voller Tatendrang und guter Hoffnungen. Ganz besonders freut es uns, durch die Ankunft Edi Leutholds endlich einen Expeditionsarzt bei uns zu wissen. Der unternehmungslustige Ostschweizer hat in letzter Minute zugesagt und unseres Abenteuers wegen seine Dissertation unterbrochen. Es beginnen die Tage, von welchen John Hunt so treffend gesagt hat: «Es ist eine schöne, glückliche Zeit – der Weg zum Berg!» Anfangs führt die uns noch unbekannte Nord-Süd-Passage mehr oder weniger dem Flusslauf des Kamla Rivers entlang. Von dem grossen Marktflecken Amtai auf freiem Feld leitet ein ausgetrocknetes Bachbett nach dem tiefen Taltrichter von Basari. Beim Einnachten überfällt uns ein kurzes Gewitter, bei welchem sich die aufgeregten Kulis unserer verpackten Hochgebirgszelte bemächtigen wollen. Glücklicherweise endigt dieses kleine Intermezzo zu unsern Gunsten. Ein gewaltiger Aufstieg mit einem noch längeren Abstieg bringt uns an die grünen Fluten des breiten Sun Khosi, den wir vermittels zweier ausgehöhlter Einbäume mit der ganzen vierhundertköpfigen Schar an einem Nachmittag überqueren. Der lange Höhenzug von Manebhanjang zieht sich bis an den malerischen Bezirkshauptort Okhaldhunga. Während fast das ganze Dorf auf dem aussichtsreichen Bergkamm klebt, können wir unsere Zelte auf dem einzigen weiten Platz vor dem Regierungsgebäude aufschlagen. Ein noch heftigeres Hochgewitter will uns im Moment vor dem Einschlafen samt den farbigen Stoffhäusern von der Lagerplattform wegfegen. Unser neuer Trägerobmann, Pasang Dawa Lama, setzt sich in solchen Situationen nicht so ein, wie wir es von dem souveränen Sirdar Tenzing gewöhnt waren. Wir werden die Zügel gerade deshalb fest in Händen halten müssen. Blendender Schnee liegt am andern Morgen auf den umliegenden Bergen. Leuchtend rote, grosse Rhododendronblüten kontrastieren mit dem tiefblauen Himmel. Am 14. März nähern wir uns der kleinen Häusergruppe von Thare in mehr als 3000 Meter Höhe. Soeben haben die Bewohner einen Leckerbissen in Vorbereitung: ein frisch geschlachtetes halbwildes 292


Ferkel. Der im Herz des toten Tieres steckende Hartholzkeil verrät eine nach unsern Begriffen reichlich barbarische Methode des Schlachtens. Wir wenden uns rasch dem neuen Campplatz zu, und morgen hoffen wir von den freistehenden Höhenzügen aus den Kranz der gewaltigsten Berge zu sehen. Die fast endlose Schlange der Träger befindet sich schon im Abstieg, derweil wir hoch oben auf einer Kuppe neben einem Mani (buddhistisches Mahnmahl) unsere Aussichtswarte beziehen. Unsere Blicke schweifen vom breiten Gaurisankar nach den noch weit entfernten Achttausendern Cho Oyu, Everest und Lhotse bis zum Makalu hin. Ich denke an die Worte aus dem Sanskrit: «Die ersten Hügel im Tiefland sind erstiegen, es lichten sich die Nebel: Vor dir, in schier unabsehbaren Fernen, leuchten die Höhen vom Himavat. Öffne dein Auge göttlichem Lichte – du schaust wahrhaft – und zuschanden geworden ist alle irdische Weisheit.» Friedrich Arnd (1839–1911): Das hohe Ziel der Erkenntnis

Es steigt in mir der Wunsch hoch, dass jeder Bergsteiger, jeder Freund dieses Bild einmal sehen möchte. Unnahbar, wie eine Offenbarung, winkt in fast gelblichem Dunst der dritte Pol. Er lockt und ruft uns. Einige Gedanken formen sich wie ein Gebet. Bald überschreiten wir tief unten den Solo Khola, um bei Ringmo auf die alte West-Ost-Route zu stossen. Lagerplätze kommen und gehen wie die Zeit. Ein schmutziges Nepalkind schaut neugierig zu, wie wir den Zeltplatz räumen, und unser Albert Eggler, der als Letzter zum Rechten schaut, kann nicht umhin, dem kleinen Krauskopf mit seinem eigenen Taschentuch die nicht gerade appetitliche Stupsnase zu putzen. Es mag eine unwichtige Handlung sein, und doch symbolisiert nichts deutlicher den Geist unseres Leiters. 293


Am Mittag des 21. März stehen wir vor Namche Bazar, dem Heimatort der meisten Sherpas. Für uns ist es das Zermatt des Himalaya; und welch ein Wiedersehen ist es für mich, nachdem wir vor nahezu vier Jahren als «geschlagene» Ritter von hier den langen Heimweg antraten. Auf dem riesigen Granitblock vor dem Dorf, der mit Schriftzeichen in Sanskrit bedeckt ist, lasse ich mich nieder. Zu meinen Füssen an der klaren Quelle plappern die Gebetsmühlen ihr tausendfaches «Om mani padme hum» (was übersetzt ungefähr heisst: du grösstes Juwel bist die Blume Lotos). Auf den künstlichen Terrassen bestellen Sherpanifrauen ihre kleinen Felder. Trotz des etwas rauen Wetters scheint man in Namche Bazar bald den Frühling zu erwarten. An den in Reihen gestellten Steinhäusern stossen die braungebrannten Holzroste der Fensteröffnungen bis an das Schindeldach. Oben beim Kloster flattern die schmalen Gebetsfahnen an den langen Bambusstangen. Wenn diese buddhistischen Reliquien nicht wären, könnte man sich in einem Bündner oder Walliser Bergdorf wähnen. Einen halben Tagmarsch vor Namche Bazar, unweit der Gabelung des Dudh Khosi und Bhote Khola, lebt jedoch eine grosse Affenart im Nadelwald, und den Steilhängen entlang segeln die Aasgeier. Oben in der Mulde der Querkrete stellen wir in 3700 Meter Höhe unser Zeltlager auf. Voller Gastfreundschaft hat uns die Bevölkerung wieder empfangen. Der Tschang (Gerstenbier) und der Rakschi (Kartoffelschnaps) fliessen aus den primitiven Holzflaschen in die durstigen Kehlen, und eine fröhliche Gesellschaft sucht den Lagerplatz auf. Am Morgen des 22. März begrüsst uns die Landschaft im tiefen Winterkleid. Heute hat unser alpines «Universum» Dölf Reist Geburtstag. Ein Grund mehr, um nochmals die gefüllten, silberbeschlagenen Holzbecher in der Runde kreisen zu lassen. Es ist empfindlich kalt geworden. Der Frühling hat in Namche doch noch nicht Einzug gehalten. Am nächsten Tag beginnt sich das Himmelsgrau aufzureissen. Das fröhliche Kulivolk mit den warmen Schafwollkleidern und den hochschaftigen Mokassins aus Jakleder ist bereit, mit uns den Weg 294


Ernst Reiss war als Bergsteigerchef unter anderem verantwortlich für die Ausrüstung der Expedition von 1956, «ein militärisches schweizerisches Präzisionsunternehmen». Auslegeordnung in Pheriche, wo die Sherpas ihre Ausrüstung entgegennahmen.

nach dem Kloster Thyangboche zu gehen. An den Steilhängen läuft uns der Schnee durch die starke Sonnenstrahlung buchstäblich unter den Füssen weg. Genau um Mittag erreichen wir nach der Überquerung des tief liegenden Imja Khola den Höhenkamm mit dem Kloster. Es grüssen uns die freundlichen Lamas, der grösste Tschorten mit seinem goldenen Aufsatz und die gigantischen Berggestalten des Everestmassivs. Kleine, zottige Jaks tummeln sich im Schnee. Wir gehen gerne zum befreundeten Lama Mawang Gyurmi, der uns neben ein paar Bratkartoffeln und gesalzenem Tee auch seine warme Gaststube anbietet. Hundert farbige Buddhaskulpturen schmücken die Gumba und geben ihr das Gepräge eines Kultraumes. Wir ahnten nicht, dass derselbe Raum einen Tag später unserm an akuter Blinddarmentzündung leidenden Kameraden Fritz Luchsinger als Krankenstube dienen sollte. Unser Expeditionsarzt sieht sich plötzlich vor einer schwierigen Situation, denn mit Hilfe oder mit einem raschen Abtransport kann man hier niemals rechnen. Der Zustand unseres Kranken verschlechtert sich aber derart rasch, dass wir auf das Schlimmste gefasst 295


sein müssen. Da in der heiligen Gumba unseres guten Freundes, Mawang Gyurmi, kein Blut fliessen darf, wird für eine Notoperation ein anderes altes Wohngemach des Klosters in Betracht gezogen. Die mitgeführten Leichtmetall-Leitern werden als Operationstisch vorbereitet. Alle Hand- und Taschentücher kochen wir steril. Ein Eingriff ist aber nur im äussersten Notfall vorgesehen, denn nebst der Improvisation sprechen die 4000 Meter Höhe, die nächtlichen tiefen Temperaturen und vieles andere eher gegen ein solches Wagnis. Während all diesen Vorbereitungen und Überlegungen müht sich Edi Leuthold Tag und Nacht um unsern Seilgefährten Fritz Luchsinger. Angefangen mit der heissen Wärmeflasche, unzähligen Medikamenten und Injektionen bis zur künstlichen Ernährung wegen vorübergehendem Darmverschlusses des Patienten erfasst der Arzt jede Möglichkeit. Es herrscht eine besondere Bereitschaft und zugleich eine gedrückte Stimmung unter uns Expeditionskameraden. Glücklicherweise weiss der Erkrankte nicht um den vollen Ernst seiner Lage, denn wie sich Monate später herausstellte, war der Blinddarm unseres Freundes bereits geplatzt. In rührender Weise beten die buddhistischen Mönche unermüdlich für die Erhaltung des Lebens unseres Kameraden. Durch unsere ersten Ausflüge nach den umliegenden Fünftausendern beginnen wir uns an die Höhe zu gewöhnen. Gleichzeitig macht sich bei dem äusserst geschwächten Fritz eine Besserung bemerkbar, die zu einem Hoffnungsschimmer berechtigt. Das Schlimmste scheint überstanden zu sein. Für uns ist es das Signal, unsere Gedanken wieder vermehrt dem abweisenden Lhotse und dem Everest zuzuwenden. Im Abendsonnenlicht grüssen die Gipfel in fast überirdischer Pracht zu der idyllischen Klosterwiese herunter. Der notbedingte Aufenthalt auf dieser herrlichen Warte im Hochhimalaya geht seinem Ende entgegen. Die Expedition zieht weiter. Der Transport der annähernd 350 Lasten nach den Hochalpen von Pheriche und Phalongkarpo ist nahezu abgeschlossen. Wir befinden uns an der letzten Gabelung des Imja Khola. Hinter den höchstgelegenen Kartoffelfeldern des im Sommer bewohnten Dingboche auf 4500 Meter beginnen die riesigen Moränen. In fast geschlossener 296


Sherpas 端berqueren eine Spalte im Khumbu-Eisbruch mit einer Holzbr端cke. Drei Wochen dauerte die Sicherung des Wegs durch den zerrissenen Gletscher bis zum Fuss der Lhotseflanke.

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Ernst Reiss gelang im Mai 1956 mit Fritz Luchsinger die Erstbesteigung des Lhotse (8516 m), des vierthÜchsten Berges der Erde. Sie waren die ersten Schweizer auf einem Achttausender. Den Auf- und Abstieg durch das steile und vereiste Lhotse Couloir schafften die beiden in einem Tag und in einem Stil, der ihrer Zeit weit voraus war. Erst zwanzig Jahre später wurde die Route wiederholt. Die Erstbesteigung des Lhotse ist eine der bedeutendsten Leistungen von Schweizern bei der Erschliessung der Himalayaberge.

ISBN 978-3-906055-12-1


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