Klettern für Freiheit

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V E R

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KLETTERN FÜR

FREIHEIT Bernadette McDonald

Gewinner des «Boardman Tasker Prize» und der «Banff Mountain Book Competition»



Bernadette McDonald

Klettern f端r Freiheit Aus dem Englischen 端bersetzt von Robert Steiner

AS Verlag


Die Originalausgabe ist 2011 in englischer Sprache unter dem Titel «Freedom Climbers» von Bernadette McDonald bei Rocky Mountain Books, Kanada, erschienen. Copyright © 2011 Bernadette McDonald

www.as-verlag.ch Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe: AS Verlag & Buchkonzept AG, Zürich 2013 Gestaltung: Urs Bolz, Zürich Lektorat: Rainer Rettner, Rimpar Korrektorat: Alfred Mathis, Willstätt Druck und Einband: Kösel GmbH & Co. KG, Altusried-Krugzell ISBN 978-3-906055-11-4


Inhalt

7 Prolog 15 Von Kr체cken zu Steigeisen 39 Kletterpolitik 67 Bergsteiger ohne Grenzen 83 Die Haxe 95 Hattrick am Everest 121 Solidarit채t und Kriegsrecht 151 Gemeinsam oder allein 179 Der dritte Mann 191 Die Kunst des Leidens 215 Der Berg des Leids 251 Aus Stahl geschmiedet 265 Der Himalaya-Rosenkranz 283 Der Absturz eines Idols 299 Die Karawane der Tr채ume 321 Letzter Aufstieg 333 Die einsamste Krone 345 Epilog Anhang 355 Dank 358 Chronologie 364 Anmerkungen 365 Bildnachweis 366 Literatur- und Quellennachweis


Wanda Rutkiewicz findet ihre wahre Heimat in den Bergen.


P ROLOG

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S

ie stand mit einem Bier in der Hand an der Bar. Was mir sofort auffiel, war ihre Wärme. Sie war von Fans umgeben, die sie anhim-

melten, und erzählte irgendetwas – übers Bergsteigen, wie ich annahm. Sie unterstrich ihre Rede mit ihren wettergegerbten Händen, aber wer eigentlich erzählte, war ihr Gesicht. Ihre tiefen, kaffeebraunen Augen waren von jener Sorte von Linien umkränzt, die vom Lachen und von den Höhenwinden kommen. Ihre hohe Stirn wurde vom schwer zu zügelnden, nussbraunen Haar verdeckt. Und dazu ein Lächeln, so breit, dass es die starken polnischen Kieferknochen gleichsam zerfließen ließ. Als ich zur Bar kam, schaute sie herüber. «Hi. Komm her. Nimm dir ein Bier. Ich bin Wanda.» Natürlich wusste ich das. Wanda Rutkiewicz zu treffen war einer der Gründe, weshalb ich um die halbe Welt zu diesem Bergfilmfestival an der Französischen Riviera gereist war. Antibes ist ein schöner Ort, aber nicht gerade im Dezember. Wir schwänzten das Filmprogramm an diesem Abend. Stattdessen standen wir an der Bar in der Lobby des Theaters, redeten, lachten, tauschten Geschichten über gemeinsame Bekannte aus. Sie sprach von Jerzy Kukuczka, dem führenden Alpinisten Polens, der zwei Jahre zuvor an der Lhotse-Südwand gestorben war. Dieser sanfte Riese von einem Mann war einer der besten Freunde Wandas gewesen. Ich hatte ihn ein paarmal getroffen, einmal in Kathmandu, er kam von der ersten Winterbesteigung des Kangchendzönga zurück, und noch einmal in Norditalien, wo wir das Vergnügen hatten, drei Stunden lang zusammen zu Mittag zu essen. Wir sprachen über andere: Kurtyka, Diemberger, Curran. Viele Geschichten. Viel zu lachen. Viel Bier. Als ich neben Wanda stand, war ich erstaunt, wie leicht gebaut sie war. Es war schwierig, sich vorzustellen, wie sie einen schweren Rucksack einen Berg hochschleppte. Sie war schlank, fast zierlich. Wenn man von den Backenknochen absah, und natürlich den Händen, die muskulös und rau waren. Ich war auch erstaunt darüber, wie sie angezogen war. Ich hatte mir von diesem polnischen Star einen ausgeprägten Stil erwartet: retro, runtergekommen, elegant. Ich war nicht sicher, welchen Stil genau, 8


aber irgendeinen. Stattdessen trug sie eine völlig gewöhnliche Mischung aus Fleece und Baumwolle. Aber natürlich war sie gerade von einer Expedition zum Dhaulagiri zurückgekommen und hatte kaum Zeit gehabt, durchzuatmen, geschweige denn, sich für eine Party anzuziehen. Als der Abend vorangeschritten war, gab ich mein großes Ziel preis: Ich wollte sie dafür gewinnen, die Eröffnungsrede beim Banff Mountain Film Festival zu halten. Das war Teil meiner Arbeit als Direktorin. Sie willigte mit Begeisterung ein. Dann schauten wir rüber zu Marion Feik, ihrer fürsorglichen Managerin, die sich ganz in der Nähe aufhielt. Wir drei besprachen uns und kamen überein, dass Wanda im November 1992 nach Kanada reisen sollte. Ein paar Stunden später, das Publikum strömte aus dem Theater, standen wir immer noch an der Bar. Wir ließen die Gläser noch einmal auffüllen und ließen uns in die abgenutzten Ledersessel in der jetzt leeren Lobby fallen. «So, Bernadette. Ich möchte dir von meinem Plan erzählen», sagte Wanda. «Ich nenne ihn die Karawane der Träume.» «Hört sich interessant an.» «Ich möchte die erste Frau werden, die auf alle 14 Achttausender klettert. Du weißt, dass ich schon acht bestiegen habe. Ich möchte auch die restlichen . . .» «Wenn jemand das schafft, dann du.» «. . . in 18 Monaten machen.» «Was? Meinst du das ernst? Wirklich ernst? Ich glaube nicht, dass das möglich ist.» «Ja, ja, es ist möglich, weil ich so die Akklimatisation halten kann, verstehst du? Es ist viel besser, schnell von einem Berg zum anderen zu gehen.» Ich setzte das Glas ab und lehnte mich nach vorne. «Wanda, jetzt im Ernst, das schaffst du nicht – es ist ein gefährlicher Plan. Hast du irgendjemandem davon erzählt? Anderen Bergsteigern? Was sagen die dazu?» Ich protestierte so laut ich konnte. Ich war mir sicher, dass ihr Plan unvernünftig war, obwohl ich noch nie auf einen Achttausender gestiegen war. Niemand hatte so etwas zuvor getan. Als Bergsteiger 9


brauchte man Jahre, um alle Achttausender zu sammeln, und nur Reinhold Messner und Jerzy Kukuczka waren auf allen 14 gewesen. Warum war sie in solcher Eile?, fragte ich. Was war mit dem Faktor Müdigkeit? Marion warf mir einen mitleidigen Blick zu. Sie hatte diese Einwände schon vorher gehört. Oftmals. Ich sah an ihrem Gesichtsausdruck, dass sie mir zustimmte. Aber es war nicht Marion, die diese Agenda aufgestellt hatte. Es war Wandas Plan, und Wanda war in Eile. «Ich bin fast 50», sagte sie und strich sich die Haare aus dem Gesicht. «Ich werde langsamer. Ich akklimatisiere mich nicht mehr so schnell wie früher. Deswegen muss ich strategisch denken und die Berge gruppieren. Ich schaffe das, das weiß ich. Ich brauche nur Glück mit dem Wetter.» Ich hörte auf zu protestieren. Es machte überhaupt keinen Sinn, mit Wanda zu streiten. Wir einigten uns, in den nächsten Monaten, zwischen ihren Expeditionen, in Kontakt zu bleiben. Sie würde mich auf dem Laufenden halten und ich würde mit der Öffentlichkeitsarbeit beginnen, um ihren Auftritt in Kanada ins Rampenlicht zu rücken. Wanda schickte mir im nächsten Frühjahr einen Luftpostbrief aus Kathmandu, es war 1992, sie war kurz davor, zum Kangchendzönga aufzubrechen. Er sollte ihr neunter Achttausender werden. Sie schien zuversichtlich, entschlossen, sie brannte darauf, es mit ihm aufzunehmen. Ich wünschte ihr Glück. Wanda kam nie mehr zurück. Zwei Jahre später war ich in Katowice, dem Industriezentrum Polens, wo ich ein Filmfestival organisieren half. Es war ein voller Erfolg, Hunderte begeisterter Zuschauer liefen herum, schauten sich Filme an und trafen alte Freunde wieder. Die Atmosphäre im Publikum war ansteckend, trotz des düsteren polnischen Winters. Die Größe der Bergsteigerszene in dieser kalten Industriewüste überraschte mich; die Kletterer wirkten abgehärtet, kantig, stark – ich war fasziniert. Am Ende des Festivals lud mich eine Gruppe von Kletterern in ein örtliches Klubhaus des Polnischen Alpenvereins ein. Wieder eines dieser feuchten, schmuddeligen Gebäude, die Fenster waren vom Ruß 10


Skulptur von Jerzy Kukuczka in Reinhold Messners Mountain Museum in Italien.

der nahen Schornsteine verschmiert, aber innen drin waren Wärme, Licht, viel Wodka und ein Energieniveau wie bei einem Rockkonzert. Viele der noch lebenden großen Himalayakletterer waren da: Zawada, Wielicki, Hajzer, Lwow, Majer, Pawlowski und viele andere. Ich kannte ihre Geschichten und hatte den Eindruck, dass diese Alpinisten außergewöhnlich, ja fast visionär waren. Ich konnte es an ihren Augen erkennen. Sie hatten keine Angst, neue Routen an den riesigen Bergen des Himalaya zu erschließen, und sie schienen gleichgültig gegenüber den Leiden, die man in Kauf nehmen muss, wenn man versucht (und es oft auch schafft), gnadenlos harte Winterbegehungen an den höchsten Bergen der Erde zu verwirklichen. Es war aber eine Trauer im Raum spürbar. Ich konnte es nicht ignorieren, dass die Rede immer wieder von jenen war, die ihr Leben für die geliebten Berge geopfert hatten. Jerzy Kukuczka war einer von ihnen. Wanda ebenso. Ich drückte meine Bewunderung gegenüber beiden aus, und das Glück, dass ich beide kennengelernt hatte, obschon nur kurz. Lächelndes Nicken folgte, aber auch beunruhigende Geschichten, speziell über Wanda. «Sie hat dich in ihren Bann gezogen», sagte einer von ihnen. «Sie hatte auch eine andere, harte Seite. Sie war berechnend. Sie konnte hartnäckig sein wie ein Bulle.» 11


Ich protestierte. Natürlich hatte sie hartnäckig sein müssen, sonst hätte sie ihren Lebensstil nicht überlebt. «Ja, das stimmt», fügte ein anderer Bergsteiger hinzu, der an seinem eindrucksvollen Schnurrbart zog. «Sie war zu hart zu sich. Kämpfte immer. Schwierig. Ehrgeizig. Wir mochten sie, aber sie schien das nicht wahrzunehmen. Sie dachte immer, sie sei alleine. Sie stieß uns auf die Seite. Aber wir mochten Wanda.» «Wie war Kukuczka?», fragte ich. «War er auch so ein Kämpfer?» «Nein, nein, Jerzy hatte keine Zeit zu kämpfen. Er war vollauf damit beschäftigt, bergzusteigen. Eine Zeit lang wurde er abgelenkt – du weißt ja, der Wettlauf mit Reinhold Messner. Beide wollten die ersten sein, die alle 14 Achttausender bestiegen hatten. Aber er kam zurück – als er damit fertig war. Er kam zurück zum echten Bergsteigen – den großen Wänden.» «Und die haben ihn das Leben gekostet», entgegnete ich. «Ja, das stimmt. Aber er war ein echter Bergsteiger – Polens bester.» Sie sprachen von den Zeiten, die sich geändert hatten, von den verrückten, aber dennoch guten alten Zeiten im Kommunismus, als die Zentralregierung die Wünsche der Bergsteiger verstand und unterstützte – zumindest die der besten. Sie sprachen mit Stolz von der Geschäftstüchtigkeit, die sie entwickelt hatten, um ihr Tun im Himalaya zu ermöglichen. Die Bergsteiger hatten ihr Leben nicht nur in den Bergen aufs Spiel gesetzt, sondern auch in ihren Jobs, wenn sie auf die rutschigen, unsicheren Fabrikschornsteine stiegen, welche die Skyline von Katowice durchsetzten, um sie zu putzen und neu anzustreichen. Die Arbeit war gefährlich, nicht nur weil sie riskierten, abzustürzen, sondern auch, weil sie sich einer giftigen, verschmutzten Umwelt aussetzten. Sie flüsterten, deuteten an, dass es Schmuggel gegeben hatte – und wie einträglich er gewesen war. Aber die Zeiten hatten sich geändert, und nun fühlten sie sich von Polens freier Marktwirtschaft auf die Seite gedrängt. Es war drei Uhr morgens, als wir schließlich das Vereinshaus verließen. Wir liefen durch die feuchten, unbeleuchteten Straßen, aber die Wärme der Party blieb in mir, trotz der klirrend kalten Dunkelheit. Wieder in Kanada, dachte ich oft über diese Nacht in Katowice nach. Ich bewahrte die Erinnerung an Geschichten von großen, ge12


glückten Besteigungen, Zukunftsplänen und verlorenen Kameraden. Ich rätselte über die widersprüchlichen Aussagen über Wanda und die anderen. Manche dieser Kletter-Idole waren wohl komplizierter, als ich gedacht hatte. Speziell bei Wanda war es schwierig, die Wärme, die ich empfunden hatte, mit dem zwiespältigen Bild in Einklang zu bringen, das sich da herauskristallisiert hatte. Mit der Zeit konnte ich mich des Gefühls nicht erwehren, dass ich an einer Art Totenwache teilgenommen hatte – einer nostalgischen, bittersüßen Zelebration von etwas Einzigartigem: der goldenen Zeit des polnischen Alpinismus, einer Ära, die nun schon der Vergangenheit angehörte. Ich grübelte über die grimmige jüngere Geschichte Polens nach. Sechzig Jahre, die von abscheulicher Gewalt und Unterdrückung, Massenunruhen und einer wunderbaren Wiedergeburt geprägt waren. Die Fähigkeit dieser zusammengeschweißten Bergsteigergemeinschaft, mit dieser desperaten politischen Realität koexistieren zu können und dabei die besten Himalayabergsteiger der Welt hervorzubringen, war etwas Rätselhaftes. Hatten die harten Zeiten ihren Ehrgeiz angefeuert oder waren sie dadurch nur abgehärtet, in stoischer Ruhe trainiert worden? Und jetzt rollten wieder massive Veränderungen über Polen hinweg, anscheinend in eine positive Richtung. Ich fragte mich, wie die Bergsteiger Polens darauf reagieren würden. Würde ein leichteres Leben ihre Stärke in den Bergen festigen oder sie einfach ablenken? Diese Fragen verfolgten mich noch lange nach dieser Nacht in Katowice. Schließlich beschloss ich, tiefer zu graben – in die Geschichte Polens, die mit ein Grund für die Dominanz im Himalayabergsteigen war, und in die menschlichen Widersprüche der großen Bergsteiger dieser Ära. Wer war die echte Wanda? Konnte sie mir helfen, mich in die Herzen und Gedanken dieser unglaublichen Gruppe von Menschen zu führen, die, wenngleich von ihrem Land geformt, nicht in ihm zurückgehalten werden konnten? Dies ist die Geschichte ihrer erstaunlichen Reise, ihres Aufstiegs in die Freiheit.

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Voytek Kurtyka, Jerzy Kukuczka und Alex MacIntyre am Makalu, 1981.


K A P I T E L

S OLIDARITÄT

UND

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K RIEGSRECHT

«Der Preis eines Gegenstandes aber wird mit einem größeren oder kleineren Bruchteil unseres Lebens sofort oder allmählich bezahlt.» Henry David Thoreau, Walden

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I

m Sommer 1980 geriet Polen an den Rand des Chaos. Als die Partei die Preise für Nahrungsmittel erhöhte, kam es in Fabriken

im ganzen Land zu einer Serie von Streiks. Selbstverständlich waren die Streiks illegal und die Partei versuchte, sie mit der üblichen Kombination von Bestechung und Drohungen zu unterdrücken. Diese Strategie hatte sich in der Vergangenheit bewährt. Aber diesmal nicht. Mit einem derart hartnäckigen Individuum wie Lech Wałe¸sa hatte niemand gerechnet. Der Elektriker von den Schiffswerften in Gdan ´ sk, der im selben Jahr geboren war wie Wanda, war schon dutzende Male wegen seiner Untergrundaktivitäten im Kittchen gesessen. Als der Streik auch in der Lenin-Werft begann, sprang Wałe¸sa über die rückseitige Mauer und übernahm die Leitung des Streikkomitees. Zwanzigtausend Arbeiter waren hinter den Mauern eingeschlossen, und Tausende weitere waren außerhalb der Tore und feuerten sie an. Die Augen nicht nur Polens, sondern der ganzen Welt richteten sich auf die Lenin-Werft. Während der nächsten Tage handelte Wałe¸sas Team ein Abkommen aus, das für Streiks im ganzen Land gültig war. Eine Vereinbarung von dieser Tragweite war bisher noch nie in Angriff genommen worden. Sie gab den Anlass für den Namen «Solidarität» und den Schlachtruf «Arbeiter aller Unternehmen, vereingt euch.» Die Geburt der freien Gewerkschaft war Polens erster Schritt auf dem langen Weg zur Demokratie. Trotz all dieser Aufregung nahm das alltägliche Leben seinen entbehrungsreichen Lauf. Frauen standen stundenlang Schlange, um ihre enttäuschend kleinen Rationen einzukaufen. Die Männer mussten sich mit ähnlichen Schlangen an den Tankstellen abfinden. Das einzig Positive an all diesem Herumstehen war, dass die gewöhnlichen Bürger viel Zeit zum Reden hatten. Und sie nützten diese Zeit zum Reden: über den Krieg, ihre Familien, die regierende Partei, die Solidarität und natürlich über ihre Hoffnungen und Träume. Dies stärkte die gefühlsmäßige Bindung zwischen ihnen, gleichzeitig aber auch ihre Entschlossenheit, einen Wandel herbeizuführen. Im Laufe der Zeit begann das kommunistisch-sozialistische Regime zu erkennen, wie schwierig es war, die Traditionen und Träume der zähen 122


polnischen Bevölkerung zu zerstören. Unterdessen erlebte der Optimismus der Polen einen weiteren Höhenflug, als ihr Landsmann, der Schriftsteller Czesław Miłosz, 1980 den Nobelpreis für Literatur erhielt. Wieder waren die Augen der Welt auf Polen gerichtet. Zuerst der Papst und nun dieser Nobelpreis. Während das Land ein erneuertes Gefühl der Zuversicht genoss, sonnten sich die frischgebackenen Himalayahelden im Glorienschein ihres Erfolges. Aber bei allem Hochgefühl und ihrem glänzenden, neuen, vom Everest-Erfolg geprägten Ansehen war Wandas Privatleben ein Chaos. Ruhm ist kein Attribut, das von selbst entsteht; er kommt von außen, aus einer speziellen öffentlichen Wahrnehmung. Wandas Ruhm blühte auf, aber gleichzeitig geriet sie im Kreis der polnischen Bergsteiger immer mehr in Isolation. Wanda schrieb das kühle Verhältnis der Eifersucht zu. Andere gaben ihrer streitbaren feministischen Haltung die Schuld. Gleichzeitig waren einige der Alpinistinnen, die sie gefördert und ermutigt hatte, sehr bekannt und von der Bergsteigergemeinde besser akzeptiert worden. Anna Czerwin ´ ska und Krystyna Palmowska hatten sich zu einer leistungsstarken Seilschaft entwickelt und schon eine Reihe von Himalayariesen ins Visier genommen. Wandas Vision von einem starken polnischen Himalaya-Frauenteam schien Wirklichkeit zu werden, aber sie war nicht mit dabei. Obwohl sie nun berühmt war, stand es um ihre persönlichen Finanzen sehr schlecht und sie übersiedelte häufig von einer tristen Wohnung in die nächste. Sie lebte allein und schien trotz ihrer zahlreichen flüchtigen Bekanntschaften zu irgendeiner Art ernsthafter emotionaler Bindung nicht fähig zu sein. Wie eine Nomadin schleppte sie ihre Kleider, die wichtigen Fotos und ihre Kletterausrüstung herum, alles im ständigen Zustand der Unordnung. In dieser chaotischen Atmosphäre verlor sie die Fähigkeit, klar zu denken, und allmählich geriet sie in eine Art Panik. Nachts schlief sie unruhig, von Sorgen und Zweifeln geplagt. Die Tage, an denen sie verzweifelt versuchte, sich zu erinnern, was sie wem versprochen hatte, blieben unproduktiv. Sie war eine müde, mitgenommene, dünne und unglückliche junge Frau. Aber immer noch wollten Journalisten mit ihr 123


sprechen. Wie war es auf dem Gipfel des Everest? Welche Pläne hatte sie? Was würde die berühmte Wanda als Nächstes in Angriff nehmen? «Indem ich immer wieder dieselbe Geschichte erzählte, klang alles plötzlich so fremd für mich», sagte sie, «als ob ich nicht von meinen eigenen Erlebnissen berichten würde.»19 Wegen ihrer Berühmtheit sprach sie im Spätjahr 1978 ein Verleger an und schlug ihr vor, ihre Autobiografie zu schreiben. Ahnungslos, mit welchem Aufwand dies verbunden sein würde, sagte sie zu. Deadlines kamen und gingen. Für den Verleger sah es so aus, als würde sie sich nicht bemühen, aber die einfache Erklärung war, dass Wanda keine Schriftstellerin war. Sie hatte keine Ahnung, welch harte Arbeit es bedeuten würde und wie viel Zeit sie brauchen würde, ihre Geschichte zu schreiben. Schließlich gewann der frustrierte Verleger die anerkannte Journalistin Ewa Matuszewska dafür, ihr zu helfen. Ewa war von der Welt des Bergsteigens fasziniert und sie war geschmeichelt, mit einer so berühmten Frau zu arbeiten. «Sie war eine elegante Dame», erinnerte sie sich. «Sie mochte Luxus, zum Beispiel Parfüm oder hübsche Kleider.» Sie begannen sich täglich zu treffen: Mittagessen, Tee, lange Spaziergänge, Interviews und Tonbandaufzeichnungen. Auf diese Weise wurden sie zu Freundinnen, aber die Arbeit ging so langsam voran, dass der Verleger die Geduld verlor und damit drohte, das Ganze abzublasen. Ewa schlug eine zweiwöchige, intensive Arbeitsphase an einem abgeschiedenen Ort, weit weg von allen Ablenkungen, vor. Wanda war einverstanden und nützte ihre guten Verbindungen zu den höheren Kreisen aus, um Zugang zu einem regierungseigenen militärischen Erholungsort an der Ostsee zu erhalten. Abmachungen mussten immer noch «arrangiert» werden, trotz der Fortschritte der Solidaritätsbewegung, und für alles brauchte man Gutscheine: für Gas, Hotels, Essen. Der Erholungsort war am Ufer der düsteren, schieferfarbenen Ostsee gelegen, und die beiden Frauen verbrachten ihre Tage damit, an den kahlen, verlassenen Strandstrecken entlang zu laufen. Sie redeten über die Berge, über Klettern, Schreiben, Beziehungen. Ewa nahm jeden Satz auf. Während die beiden sich bemühten, das Buch-Projekt zu retten, bemerkte Wanda, dass ihre Euphorie für das Bergsteigen verblasst war. 124


Sie kam zu dem Schluss, dass die einzige Lösung für sie darin bestand, das Bergsteigen ganz aufzugeben. Der Everest schien ihr ein logischer Abschluss ihrer Karriere, so kurz sie auch war. Aber sie hatte keinen Plan für ihr neues Leben; bisher hatte das Bergsteigen sie definiert. Nicht nur definiert, es hatte ihr Leben ausgefüllt. Nun war da nur noch Leere. Wanda war an Aufregung und Gefahr gewöhnt. Sie brauchte regelmäßige Adrenalinschübe, die ihre Motivation aufrechterhielten. Sie beschloss daher, dass sie einen Ersatz für das Bergsteigen finden musste. Wie viele andere Kletterer schloss sie sich der Solidaritätsbewegung an. Sie fing wieder an, zeitgenössische Musik mit ihren harten, reinen Klängen zu hören. Das waren zwar interessante, aber keine aufregende Tätigkeiten. Sie war eine begeisterte und aggressive Autofahrerin und verwendete das Geld, das sie mit einem Film verdient hatte, um im nächsten Jahr mit dem Rennfahren anzufangen. Für den amerikanischen Schriftsteller Ernest Hemingway gab es nur drei Sportarten, die ernstzunehmen waren: Autorennen, Bergsteigen und Stierkampf. Alles, was Wanda nun noch fehlte, war der Stierkampf. An einem Nachmittag, als sie gerade einige Freunde besuchte, fiel ihr ein, dass sie einen Satz Spezialreifen für ihr Auto benötigte, und so etwas zu kaufen war damals fast unmöglich. Aber Wanda war es gewohnt zu bekommen, was sie wollte, und so fragte sie nach einem Telefonbuch und rief Polens führenden Reifenhersteller an. Sie brauchte nur ihren Namen zu erwähnen, und schon war sie mit dem Direktor verbunden, der begeistert war, mit Wanda zu sprechen, und ließ ihr sofort einen kompletten Satz neuer Reifen zukommen. Sie wusste ihren Namen zu gebrauchen, wenn es nötig war, und er hatte für die nächsten Wochen eine Story für die Cocktail-Partys. Ihre Freunde lachten verblüfft, als sie sahen, welchen Einfluss sie immer noch ausübte. Es dauerte aber nicht lange, da verlor das Autorennen seinen Glanz und Wanda begann – wie vorauszusehen war – wieder zu klettern. Von dieser Leidenschaft war sie seit ihren Teenagerjahren besessen gewesen und es war viel zu schwierig, sie aus ihrem Leben zu verbannen. Ihre ersten Streifzüge führten sie nur in die Hohe Tatra. 1981 begann sie dann, eine äußerst ehrgeizige Frauenexpedition zum K2 zu organisieren, der Pakistans höchster Gipfel und der zweitgrößte 125


Berg der Welt ist. Für dieses Projekt erhielt sie eine verblüffende und mysteriöse Unterstützung. Am 4. Februar 1981 kamen einige Freunde in Wandas Wohnung zusammen, um ihren Geburtstag zu feiern. Nach ein paar Stunden des Essens und Trinkens läutete die Türglocke. Draußen stand ein junger, höflicher Mann, den niemand von ihnen kannte, und fragte nach Wanda. Als sie an die Tür kam, übergab er ihr einen versiegelten Umschlag. Sie nahm ihn vorsichtig und öffnete das Siegel mit dem Daumennagel. Es war eine große Geldsumme – von einem anonymen Spender! Wanda und ihre Freunde verbrachten den Rest des Abends damit, dahinterzukommen, wer der Spender sein könnte, und einigten sich schließlich auf eine gewisse wohlhabende Frau aus Zakopane, die großes Interesse für Wandas Bergsteigerkarriere gezeigt hatte. Dieser Umschlag mit Geld lieferte das Startkapital für ihre erste K2Expedition. In diesem Frühjahr schloss sie sich einer internationalen Alpinistengruppe zu einer Trainingstour auf den Elbrus im Kaukasus an. Sie wurde vom Sowjetischen Alpenverein organisiert, die Gruppe bestand aus Alpinisten aus allen sozialistischen Staaten des Sowjetblocks: Tschechoslowakei, Bulgarien, Ostdeutschland, Russland und Polen. Absurde Reglementierungen und ein ausgeprägter sowjetischer Stil prägten das Lager, das mehr einer militärischen Einrichtung als einem Zeltplatz für Bergsteiger glich. Jeden Morgen nahmen die Bergsteiger ihre «Kletterbefehle» für den Tag entgegen. Jeden Abend trugen sie ihre Fortschritte sorgfältig in das Trainings-Tagebuch ein. Seit die Solidarität-Bewegung sich in Polen explosionsartig ausgebreitet hatte, war es Mode geworden, eine kleine Solidarität-Anstecknadel auf seinem Jackenaufschlag zu tragen. Alle polnischen Bergsteiger trugen sie mit Stolz. Die Russen liebten das Tragen von kleinen Abzeichen über alles und schlugen einen Nadel-Handel vor. Die Polen waren über diese Anfrage ein bisschen belustigt und fragten, ob die Russen wüssten, was die Solidarität-Nadeln bedeuteten. Ja, flüsterten sie, sie wüssten es. Nach dem offiziellen Begrüßungsempfang, bei dem sehr feiner ungarischer Cognac getrunken wurde, ließen sich die Polen einen sehr boshaften Plan einfallen: Die Russen konnten die Nadeln haben, aber 126


erst, nachdem sie auf eine ungarische Ausrüstungstonne geklettert waren und dreimal laut gerufen hatten: «Breschnew, hau ab!» Die meisten Russen – besonders die Georgier – kamen dem mit Vergnügen nach. Nach jeder Darbietung steckte Wanda, die berühmteste Alpinistin der ganzen Bande, die Solidarität-Nadel am Revers an. Aber ein Alpinist weigerte sich, mitzumachen. Es stellte sich heraus, dass er der Direktor der Sportkommission war – ein offizieller Vertreter der Regierung. Aber insgeheim wollte der arme Kerl unbedingt eine dieser so schwer erhältlichen Nadeln haben. Was sollte er tun? Er und Wanda steckten ein paar Minuten lang die Köpfe zusammen und schienen dann auf eine Lösung gekommen zu sein. Wanda begleitete ihn zu einem anderen Raum. Alle warteten schweigend. Als sie wieder auftauchten, verkündete Wanda, es sei alles nach Protokoll abgewickelt worden und sie habe ihm die Nadel zuerkannt. Niemand wusste genau, was da drinnen abgelaufen war, aber der Russe lächelte und an seinem Revers befand sich eine Solidarität-Nadel. Ein paar Tage später fanden Gelächter und Spiele ein abruptes Ende. Als sie kletterten, fiel ein Teammitglied und traf Wanda von oben, wodurch sie 200 Meter den Hang hinunter geschleudert wurde. Sie wusste sofort, dass es eine ernste Sache war; ihr Oberschenkelknochen war zersplittert. Eine Rettungsmannschaft brachte sie vom Berg herunter. Man legte sie in einen Krankenwagen und brachte sie eilends zu einem nahegelegenen Krankenhaus. Ärzte öffneten ihr Bein, brachten eine Metallklammer an und richteten den gebrochenen Knochen ein. Sobald sie aus der Narkose erwachte, fühlte Wanda, dass es mit der Art, wie der Knochen eingerichtet worden war, ein Problem gab. Sie bat die Ärzte, alles nochmals zu überprüfen und falls nötig den Knochen sogar nochmals einzurichten. Sie widersprachen ihrer Einschätzung und weigerten sich. Aber Wanda hatte recht gehabt, und es dauerte nicht lange, bis sie erfuhr, dass der Knochen nochmals gebrochen und dann richtig eingerichtet werden musste. Sie aber wollte das Krankenhaus unter allen Umständen verlassen und erreichte ihr Ziel schließlich mit einem Hungerstreik. Als ihr Bruder Michael sie nach dem Unfall zum ersten Mal sah, war er schockiert. Er sah eine müde Frau mit einem grauen Gesicht, die 127


mit einem blutbefleckten Trainingsanzug bekleidet war. Sie war offensichtlich verängstigt und überzeugt, dass sie nie wieder in die Berge zurückkehren würde. Schlimmer noch, sie könnte durch ihre Verletzungen zum Krüppel werden. Michael und alle, die Wanda kannten, waren sich darüber im Klaren, dass dies mit Sicherheit ihr Ende bedeuten würde. In krassem Gegensatz zu Wandas verheerender Situation stand Voytek eine halbe Welt entfernt am Fuße der Makalu-Westwand. Die Solidaritätsbewegung hatte seinem Import-Export-Handel keinen Abbruch getan, er setzte sein Leben als internationaler Bergsteiger wie bisher fort. Aber momentan benötigte er einen Partner. Er war schon seit Langem vom Modell der großen Expeditionen abgerückt und bevorzugte stattdessen kleine Teams. So war man sehr flexibel: Er konnte den Makalu in Angriff nehmen oder aber woanders hingehen. Es spielte wirklich keine Rolle. Wichtig war nur zu klettern. Jurek trieb sich gerade im Garten seines Landhauses herum und bewunderte das frühlingshafte Sprießen, als ein Brief aus Nepal ankam. «Jurek! Komm herüber. Ich bin mit Alex und einigen anderen unter der Westwand des Makalu. Bisher hat es nicht so recht funktioniert, wir kamen nur auf 6700 Meter. Aber ich bin mir sicher, dass sie machbar ist. Oder vielleicht die Südwand des Lhotse? . . . Ich rechne mit dir! – Voytek.» Jurek grinste. Er war nur zu leicht zu überzeugen. Er lieh sich etwas Geld vom Verein in Katowice und stellte sich für die Gutscheine an, die er benötigte, um Vorräte einzukaufen, die das normale monatliche Kontingent von zwei Kilogramm Fleisch und einem Kilo Zucker bei weitem übertrafen. Dann ging er einkaufen, aber die Geschäfte waren leer. Daraufhin versuchte er es bei den Lagerhallen, die waren gerammelt voll. Er fragte verblüfft, wofür all diese Sachen wären. Der Lagerverwalter erklärte: «Das sind Reserven der Regierung.» In Wirklichkeit meinte er damit, dass sie für wichtige Funktionäre der Regierung reserviert waren. Aber mit seinen magischen Gutscheinen war Jurek auch mit im Geschäft. Als er mit seinem Wagen voll Fleischkonserven aus dem Lagerhaus herauskam, quatschte ihn ein aggressiver Passant an. «Verkaufst du 128

(Fortsetzung auf Seite 138)


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Jerzy Kukuczka feiert seinen 14ten 8000er: die Shishapangma.


K A P I T E L

D ER A BSTURZ

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EINES I DOLS

«Der Gipfel des Berges, der Donner des Himmels, der Rhythmus der See sprechen zu mir . . . Und mein Herz schwingt sich empor.» Chief Dan George, My Heart Soars

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K

rzysztof hatte die überwältigende Südwand des Lhotse schon

zweimal versucht, bevor er den Berg am letzten Tag des Jahres 1988

auf der Normalroute bestieg. Tatsächlich war die Südwand so etwas wie ein «polnisches Problem» geworden, genauso, wie es der Everest für die

Briten und der Nanga Parbat für die Deutschen gewesen war. Schon 1985 hatte Krzysztof die Wand gemeinsam mit Mirosław «Falco» Da¸sal, Walenty Fiut und Artur Hajzer bis hinauf auf 8250 Meter durchklettert, bevor sie umkehren mussten. Zwei Jahre später kamen er und Artur ein Stück höher, auf etwa 8300 Meter. Sie verbrachten eine Nacht in einer Schneehöhle, flohen dann aber vor den Stürmen, die sie umtosten, und seilten sich drei lange, mühsame Kilometer über die Wand ab. Als Krzysztof 1988 wieder zum Lhotse kam, war er durch einen Kletterunfall auf dem Bhagirathi in der Garhwal-Region in Indien stark gehandicapt. Der ärztliche Befund war eindeutig: Lungentrauma mit Stauchung des achten Brustwirbels, eine Situation, bei der der Patient ruhig gestellt werden muss, um weitere Rückenmarkverletzungen zu vermeiden. Bergsteigen kam nicht in Frage. Der Doktor kannte seinen Patienten schlecht. Als Krzysztof eine Einladung erhielt, den Lhotse im Winter zu besteigen, sagte er zu und zwängte sich dann in ein Spezialkorsett, um sein Rückgrat steif zu halten. Die Einladung kam von einem belgischen Team, dem seine enge Freundin Ingrid Bayens angehörte. Die Belgier wussten vom Talent der Polen für Winterbesteigungen, deshalb luden sie Krzysztof, Andrzej Zawada und Leszek Cichy ein, ihnen bei ihrer Aufgabe zu helfen. Vier Alpinisten stiegen Ende Dezember auf und erreichten 6400 Meter Höhe im Tal des Schweigens, zwischen Lhotse und Everest. Alle fielen wegen Krankheit aus – außer einem: Krzysztof. Die einzige Chance, den Gipfel zu erreichen, war alleine zu gehen, und so schnürte er am Tag vor Silvester sein Korsett zusammen und machte sich auf den Weg. Lager III war ein paar Wochen lang nicht besetzt gewesen und die heulenden Winterstürme hatten die Zelte zerstört. Er kauerte sich in einer der Zeltruinen zusammen und wartete das Ende der Nacht ab. Am nächsten Morgen setzte er den Aufstieg auf der Normalroute fort und erreichte den Gipfel. Es war die erste Winterbesteigung des Lhotse, und es war eine Solobesteigung. 284


Mirosław «Falco» Da¸sal an der Gitarre und Artur Hajzer an der Harmonika. Im Basislager unter der Lhotse-Südwand.

Hinunter zu gehen war viel schwerer als aufzusteigen. Das Absteigen verschlimmerte seine Rückenverletzung, die nun unerträglich schmerzte. Zwanzig Schritte hintereinander waren alles, was er fertigbrachte. Dann legte er sich jedesmal an den Hang, um den Schmerz zu lindern, ein gefährliches Manöver, denn das Terrain war steil und vereist. Und was noch schlimmer war, er schlief immer wieder ein. Wenn er sich später an seine Aktionen am Lhotse erinnerte, schüttelte Krzysztof ungläubig den Kopf. «Vier Monate nach meinem Unfall. Allein, im Winter, und in einem Korsett! Aber ich hab es geschafft.» Als der Arzt den Bericht über die Besteigung in der Zeitung las, erklärte er Krzysztof für «dumm». Krzysztof war geneigt, ihm zuzustimmern. Krzysztof und Artur kamen 1989 noch einmal zur Südwand des Lhotse. Reinhold Messner hatte ein internationales Dreamteam für den Versuch zusammengestellt, aber der Expedition fehlte das geschlossene Vorgehen. Jeder wollte die Trophäe für sich selbst in Anspruch nehmen, die Alpinisten verschmolzen nie zu einem Team. Die Expedition verfehlte ihr Ziel. Zur gleichen Zeit spielte sich am Westgrat des Everest eine schwerwiegende Tragödie ab. Eine achtzehnköpfige internationale Expedi285


tion unter der Leitung von Genek Chrobak aus Polen brachte zwei Polen auf den Gipfel, aber von den zehn Polen, die unterwegs waren, kamen nur fünf zurück. Jedes Jahr hatten die Berge polnische Alpinisten das Leben gekostet, aber meistens nur einem oder zweien auf einmal. Diesmal war es nicht so. Elizabeth Hawleys Herbstbericht fasste es zusammen: «Zu viele Polen sind gestorben.» Als Jurek alle 14 Achttausender beisammen hatte, war Celina erleichtert. Sie bezweifelte, dass er das Expeditionsleben ganz aufgeben würde, aber vielleicht würde er jetzt eine Pause machen, wenigstens für einige Zeit. Das Olympische Komitee hatte ihm eine Ehrenmedaille verliehen, die nun ihren Platz neben all den anderen Goldmedaillen der polnischen Regierung hatte. Er war in Polen zum «Mann des Jahres» gekürt worden, und die meisten Leute glaubten, Jurek würde sich vom Himalayabergsteigen zurückziehen. Aber für Jurek war das Rennen eben nur ein solches gewesen – ein Rennen. Es hatte seine Liebe zu den hohen Bergen oder seine hochgesteckten Ambitionen für interessante und herausfordernde Routen nicht zerstört. Für eine Route hegte er ein ganz besonderes Interesse. Jurek verzehrte sich für seine Nemesis – die Südwand des Lhotse. Einige Alpinisten nannten sie die bedeutendste Wand im Himalaya. Nach seinem Misserfolg in der Wand erklärte Messner, dass man sie im 20. Jahrhundert nicht werde besteigen können – vielleicht im 21. Jurek war anderer Meinung. Er hatte immer an diese Wand gedacht, seit er vor zwölf Jahren zum ersten Mal eine Fotografie von ihr in einem Kalender gesehen hatte. Dass sie einmal ein Kletterziel sein könnte, war für ihn damals undenkbar gewesen. Aber 1981 hatte Voytek sie vorgeschlagen, und Jurek hatte zugestimmt, dass es möglich sein könnte; er vertraute auf Voyteks Urteil. Sie gingen aber dann zum Makalu. Jurek hatte schon ein paar ernsthafte Versuche unternommen, als er aber hörte, dass Messner aufgegeben hatte, wurde er aufgeregt. Sein kämpferischer Geist war immer noch sehr ausgeprägt. Er bewarb sich umgehend um ein Permit und war zuversichtlich, dass es kein Problem sein würde, gute Alpinisten für sein Team zu finden. 286


1987: Polnische Route an der Lhotse-Südwand mit Hochlagern und dem höchsten erreichten Punkt kurz unterhalb des Gipfels.

Jurek war in Italien und packte in der Wohnung eines Freundes in der Nähe von Rom gerade seine Kleider zusammen, als die Hauswirtin ihn ans Telefon rief. Die Nachricht war niederschmetternd. Fünf der besten Alpinisten Polens tot am Everest. «Alles änderte sich in diesem Moment», sagte er. «Die Gesichter meiner Partner tauchten vor mir auf. Ein ganz eigenartiges Gefühl überfiel mich, so, als wollte ich einen Schritt zurück tun, alles ungeschehen machen. Unbegründeterweise fühlte ich mich verantwortlich. Ich wollte mich verstecken, allein sein.»51 Er nahm den nächsten Zug nach Norditalien, schloss die Tür seines Abteils, ließ sich auf den Sitz fallen und nahm seinen Kopf zwischen die Hände. Sein Team gab es nicht mehr. Seine Freunde waren tot. Als er über die Situation nachgrübelte, drängte ihn die rationale Seite seines Verstandes, sich zu beruhigen. Nicht aufregen. Leg eine Pause ein. In den nächsten zwei Wochen führte er eine Debatte mit 287


Chronologie der wichtigsten polnischen Himalaya-Expeditionen (1971–1996) Jahr

Ziel

Leiter & Mitglieder

Leistung

1971

Karakorum, Kunyang Chhish (7852 m)

Andrzej Zawada 13 Mitglieder

Kunyang Chhish Erstbesteigung: Zygmunt A. Heinrich, Jan Stryczynski, Ryszard Szafirski, Andrzej Zawada, 26.8.1971

1972

Hindukusch, Noshaq (7492 m)

Janusz Kurczab 11 Mitglieder

Noshaq Südwestwand Erstdurchsteigung: Jan Holnicki-Szulc, Janusz Kurczab, Krzysztof Zdzitowiecki, 20.–22.8.1972

1972

Hindukusch, ˇ agh Akher C (7017 m) Koh-e-Tez (7015 m)

Ryszard Koziol 10 Mitglieder

ˇ agh Nordostwand ErstdurchAkher C steigung: Piotr Jasin ´ ski, Marek Kowalczyk, Voytek Kurtyka, 3.–5.9.1972; Koh-e-Tez Nordgrat Erstbegehung: Alicja Bednarz, Ryszard Koziol, Voytek Kurtyka, 25.8.1972

1973

Hindukusch, Noshaq (7492 m)

Andrzej Zawada 10 Mitglieder

Noshaq erste Winterbesteigung: Andrzej Zawada, Tadeusz Piotrowski, 13.2.1973.

1974

Nepal Himalaya, Kangbachen (7902 m)

Piotr Młotecki 15 Mitglieder

Kangbachen Erstbesteigung: Wojciech Branski, Wiesław Klaput, Marek Malatyn ´ ski, Kazimierz Olech, Zbigniew Rubinowski, 26.5.1974

1974

Karakorum, Shispare Sar (7611 m)

Polnischdeutsche Expedition Janusz Kurczab 14 Mitglieder

Shispare Sar Erstbesteigung: Hubert Bleicher (DE), Leszek Cichy, Marek Grochowski, Jan HolnickiSzulc, Andrzej Młynarczyk, Herbert Oberhofer (DE), Jacek Poreba, 21.7.1974 Ghenta Sar (7090 m) Erstbesteigung: Janusz Kurczab, 21.7.1974

1975

Karakorum, Janusz Feren ´ ski Broad Peak Central 15 Mitglieder (8051 m)

Broad Peak Zentralgipfel Erstbesteigung: Kazimierz Głazek, Marek Ke˛sicki, Janusz Kulis ´, Bogdan Nowaczyk, Andrzej Sikorski, 28.7.1975

1975

Karakorum, Gasherbrum III (7952 m) Gasherbrum II (8034 m)

Gasherbrum III Erstbesteigung: Alison Chadwick-Onyszkiewicz, Wanda Rutkiewicz, Janusz Onyszkiewicz, Krzysztof Zdzitowiecki, 11.8.1975 Gasherbrum II Nordwestwand Erstdurchsteigung (oberer Teil): Leszek Cichy, Janusz Onyszkiewicz, Krzysztof Zdzitowiecki, 1.8.1975 Gasherbrum II erste Frauenbesteigung: Halina Krüger-Syrokomska, Anna Okopin ´ ska, 12.8.1975

358

Wanda Rutkiewicz 15 Mitglieder


Jahr

Ziel

Leiter & Mitglieder

Leistung

1976

Karakorum, K2 (8611 m)

Janusz Kurczab 19 Mitglieder

K2 Nordostgrat (neue Route bis 8400 m): Genek Chrobak, Wojciech Wróz˙ .

1977

Hindukusch, Koh-e-Bandaka (6843 m) Koh-e-Mandaras (6631 m)

Polnisch-britische Expedition Andrzej Zawada 9 Mitglieder

Koh-e-Bandaka Nordostwand Erstdurchsteigung: Voytek Kurtyka, John Porter (GB), Alex MacIntyre (GB), 9.–14.8.1977 Koh-e-Mandaras Nordwand Erstdurchsteigung: Piotr Jasin ´ ski, Terry King (GB), Marek Kowalczyk, Andrzej Zawada, 10.–14.8.1977

1978

Nepal Himalaya, Kangchendzönga Südgipfel (8476 m), Kangchendzönga Zentralgipfel (8473 m)

Piotr Młotecki 25 Mitglieder

Kangchendzönga Südgipfel Erstbesteigung: Genek Chrobak, Wojciech Wróz˙ , 19.5.1978 Kangchendzönga Zentralgipfel Erstbesteigung: Wojciech Bran ´ ski, Zygmunt A. Heinrich, Kazimierz Olech, 23.5.1978

1978

Garhwal Himalaya, Polnisch-britische Changabang Expedition (6864 m) Voytek Kurtyka 5 Mitglieder

Changabang Südwand Erstdurchsteigung: Voytek Kurtyka, Alex MacIntyre (GB), John Porter (GB), Krzysztof Z˙ urek, 20.–27.9.1978

1978

Hindukusch, Tirich Mir Ost (7692 m)

Stanisław Rudzin ´ ski Polnisch– jugoslavische Expedition 15 Mitglieder

Tirich Mir Ost Erstbesteigung: Jerzy Kukuczka, Tadeusz Piotrowski, 10.8.1978; zweite Besteigung: Michał Wroczyn ´ ski, Miro Stebe (Yug) Matjaz ´ Veselko (Yug), 11.8.1978; dritte Besteigung: Vinko Berc ´ ic ´, Janez ´Sus ´ ers ´ ic ´ , Jerzy Oz˙óg, 13.8.1978.

1978

Nepal Himalaya, Mt. Everest (8848 m)

Karl M. Herrligkoffer Deutsch–französische Expedition 1 polnisches Mitglied

Mt. Everest (13 Mitglieder am Gipfel) Erstbesteigung durch eine europäische Frau, Erstbesteigung durch einen Polen und dritte Besteigung durch eine Frau: Wanda Rutkiewicz, 16.10.1978.

1979 Nepal Himalaya, Ngadi Chuli (7835 m)

Ryszard Szafirski 6 Mitglieder

Ngadi Chuli Erstbesteigung: Ryszard Gajewski, Maciej Pawlikowski, 8.5.1979

1979 Karakorum, Rakaposhi (7788 m)

Sher Khan Ryszard Kowalewski 7 polnische Mitglieder 5 pakistanische Mitglieder

Rakaposhi zweite Besteigung auf neuer Route von Norden: Ryszard Kowalewski, Tadeusz Piotrowski, Sher Khan, 1.7.1979; dritte Besteigung: Andrzej Bielun ´ , Jacek Gronczewski, Jerzy Tillak, 2.7.1979; vierte Besteigung: Anna Czerwin ´ska, Krystyna Palmowska, 5.7.1979.

359


Polens Bergsteiger sind legendär. Ihre unglaubliche Härte, ihre Besessenheit, der Glaube an das Ziel machten sie in den 1980er-Jahren zu den erfolgreichsten Himalayabergsteigern der Welt. Bernadette McDonald kannte die meisten von ihnen persönlich. Ihr vielfach preisgekröntes Buch nähert sich diesen Menschen, wie es nie zuvor in einem Bergbuch geschah: einfühlsam, packend, bestens recherchiert.

ISBN 978-3-906055-11-4


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