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Beat Stutzer
AS Verlag
J A H R E
A LOIS C ARIGIET: Z WISCHEN B ERUF
UND
B ERUF UNG
Alois Carigiet ist einer der bekanntesten und
vanni Segantini und Turo Pedretti oder das Churer
Selbstporträt, aus
populärsten Schweizer Künstler des zwanzigsten
Rheintal mit Leonhard Meisser zusammen.
Skizzenbuch, 1921
Jahrhunderts. Seine Kunst wird stark mit Grau-
Bei Alois Carigiet fiel die Besinnung auf das
bünden und noch enger mit dem Bündner Ober-
Land seiner Herkunft mit dem 1939 getroffenen
land in Verbindung gebracht. Im Laufe der Zeit
Entscheid zusammen, den Brotberuf des Grafikers
prägte er die Vorstellung dieser alpinen Land-
an den Nagel zu hängen und der Stadt Zürich den
schaft derart entscheidend, dass heute ungezählte
Rücken zu kehren, um fortan in den Bündner Ber-
Kunst- und Heimatfreunde das Bündnerland ge-
gen ein «freies» Künstlerdasein zu führen. Mit dem
wissermassen mit den Augen Carigiets sehen:
Bekenntnis zur engeren Heimat hielt er wie viele
«Braune Holzhäuser am Hang, hoch gegen den
Schweizer Künstler seiner Generation künftig das
Horizont gestossen, Bergwald und Firnenkette als
Vertraute und Geläufige der «eigenen» Landschaft
beruhigende Krönung. Dann einzelne Häuser,
und ihrer Bewohner unermüdlich in Gemälden,
Schuppen, von Ziegen und Pferdegespannen um-
Zeichnungen und Druckgrafiken fest. So avancier-
geben. Menschen mit dem leuchtenden Farbfleck
te Carigiet bald zum grossen Interpreten und
ihrer Kleidung – lauter Illustrationen zu Geschich-
Deuter des Bündner Oberlandes und wurde mit der
ten.»
1
Welt der Bergbauern und Hirten identifiziert.
Mit seiner Haltung, sich der Schilderung des
Es geht im Folgenden auch darum, das Schaf-
Naheliegenden und Ländlichen gleichsam schick-
fen von Alois Carigiet, das bislang meistens mono-
salhaft hinzugeben, blieb Alois Carigiet keines-
grafisch gesehen und interpretiert wurde, da und
wegs allein. Es scheint sogar, als habe während der
dort in den weiteren Zusammenhang der zeitglei-
Vierziger- und Fünfzigerjahre beinahe jede schwei-
chen Schweizer Kunst zu stellen – nicht zuletzt
zerische Talschaft und jeder Landstrich einen
deshalb, um den überregionalen Stellenwert sei-
Künstler hervorgebracht, der im Rückzug auf das
nes Œuvres zu würdigen. In seinem viel zitierten
Regionale und Überschaubare des intimen Lebens-
«Diskurs in der Enge» propagierte Paul Nizon 1970
kreises die Darstellung des Eingängigen und das
eine Polarisierung der Schweizer Kunst in den
Aufspüren des «Eigenen» zum künstlerischen Cre-
«Lokalkünstler» und den «Kunstreisläufer». Der
do erhob. Wir denken dabei, um nur ein paar Bei-
Schweizer sei «naturgemäss ein Lokalkünstler»,
spiele zu nennen, an Albert Schnyder und den
der in Ermangelung eines Zentrums gezwungen
Jura, an Max Buri und die Gegend um den Brienzer-
sei, nach lokalen Ehren zu streben.2 Auch Alois
see, an Arnold Brügger und das Berner Oberland,
Carigiet wurde von der Rezeption immer wieder
an Cuno Amiet, Fred Stauffer oder Viktor Surbek
fatalistisch mit dem Etikett «Bündner Künstler»
und das Bernbiet, an René Auberjonois, Edmond
behaftet. So warf man ihn dermassen auf sein Ur-
Bille oder Edouard Vallet und das Wallis, an Pietro
sprungsland und sein unmittelbares Tätigkeitsfeld
Chiesa und das Tessin oder an Heinrich Danioth
zurück, dass seine Kunst zumeist vor dem Hinter-
und Uri. In Graubünden bringen wir das Bergell
grund des engeren Kulturraumes des Bündner
mit Giovanni Giacometti, das Engadin mit Gio-
Oberlandes gesehen wurde.
7
Memphis erfüllt
P LAKATE
Weihnachts-Wünsche!, 50 x 35 cm Die Schweiz grüsst, 1938, 121 x 84 cm
Otto Morach, Augusto Giacometti, Viktor Surbek, Über Alois Carigiet als Gebrauchsgrafiker gibt der
Max Gubler oder Niklaus Stoecklin möglich ist.10
gehaltvolle Beitrag von Therese Bhattacharya-
Unabhängig von der Aufgabe, ob er für ein
Stettler in der Carigiet-Monografie von 1992 Aus-
Konsumgut oder für den Tourismus, für politische
9
10
zahlreichen anderen Gestalter und Künstler wie
kunft. Sie untersucht treffend die charakteristi-
Botschaften oder für kulturelle Veranstaltungen
sche Bildsprache und die Mechanismen der
werben sollte, verfolgte Carigiet seinen individuel-
herausragendsten Plakate. Mit seinen besten Affi-
len Plakatstil. Allerdings wich die anfänglich er-
chen, die dank ihrer Prägnanz und originellen
zählerische Detailfreudigkeit und Sachlichkeit
Bildidee zu eigentlichen Markenzeichen wurden
zunehmend einer stimmungshaften, malerischen
und teilweise noch heute gegenwärtig sind, leistete
Ausdrucksweise, die zugleich plakativ direkt war
Carigiet einen erheblichen Beitrag zum weltweiten
und dem frappanten Sujet besondere Aufmerk-
Ruf der Schweizer Werbegrafik. Carigiets Leistung
samkeit widmete. Die Meisterwerke wie etwa die
und Eigenwilligkeit wird stets dann augenfällig,
Plakate Die Schweiz grüsst, Tuchfabrik Truns oder
wenn der direkte Vergleich mit den Arbeiten der
Fein-Kaller zeichnen sich durch sprühenden Esprit
Tuchfabrik Truns, 47,5 x 34 cm Ch. Fein-Kaller, 1936, 127 x 90 cm
11
Beginn das «Platenga Hüttenbuch» nannte35: eine Art Tagebuch, in das er in unregelmässigen Abständen36 seine Erlebnisse, Beobachtungen und Gedanken eintrug und das er hin und wieder mit Skizzen illustrierte. «Diese erste Chronik meines Lebens ist also das Produkt einsamer Tage und von einsamen Abendstunden», notierte er am 17. Februar 1940. Die Aufzeichnungen vermitteln eine genaue Vorstellung der damaligen Lebens- und Arbeitsumstände und der vielfältigen Arbeiten, die es täglich zu verrichten galt. In langen, wiederkehrenden Passagen hielt Carigiet seine Wettereindrücke fest und schilderte seine häufigen Wanderungen und Skitouren, besonders jedoch die Erlebnisse beim Beobachten der Wildtiere, was ihn jedes Mal von neuem tief beglückte. Die Entdeckung eines noch nie gesehenen Vogels oder das erste Eintreffen von Zugvögeln war ihm stets einen Vermerk wert. «Auf Streife gehen» nannte er das Aufspüren von Schneehuhn, Birkhahn, Adler, Fuchs oder Eichelhäher, denen er ausdauernd mit dem 18fach vergrössernden Feldstecher zuschauen konnte. Während der ersten Jahre, als Carigiet das kleine Haus noch allein bewohnte und die einsamen «Das Hüs am Bach
D IE JAHRE
VON
P LATENGA
am 9. Aug. 1944 vom Quelltrog
Mahlzeiten am Herd zubereitete (Risotto, Milchreis mit Schlagrahm, Sardinen und Schalenkartof-
Nach dem Erlebnis der Frühjahrswanderung sah
feln, Polenta), fand er sich mit den engen Raum-
(aus der Platenga-
sich Alois Carigiet nach einer geeigneten Wohn-
verhältnissen noch einigermassen zurecht. Von
Chronik)
statt um. Es gelang ihm bald, das kleine bäuerliche
Zeit zu Zeit baute er dies und jenes um und richtete
Heimwesen «Hüs am Bach» zu mieten. Er bezog es
die innere und äussere Stube immer wieder neu
am 10. Oktober 1939. Carigiet richtete sich nun
ein, um den knappen Raum zum Wohnen und Ar-
fest in Platenga ein, dem auf 1350 Meter Höhe ge-
beiten optimal zu nutzen. Mühsam gestaltete sich
legenen Weiler der deutschsprachigen Gemeinde
jeweils das Herbeischaffen des Proviantes, den er
Obersaxen. Am Tage seines Einzuges begann er
nicht selten zu Fuss von Ilanz im Rucksack oder auf
mit der so genannten Platenga-Chronik, die er zu
einem eigens gezimmerten Trageräf nach Platenga
aus gezeichnet»
24
hinaufzutragen hatte. Im «Hüs am Bach» gab es keine Elektrizität; eine Petrollampe hatte in den Abendstunden das Licht zu spenden. Es gab kein fliessendes Wasser; dieses war mit Eimern von einem nahen Quellentrog herbeizuschaffen, und die Wäsche musste im Bachtrog gespült werden. Den Sorgen um das lebensnotwendige Wasser gab Carigiet immer wieder in seiner Chronik Ausdruck. So notierte er am 3. April 1944: «Wir haben seit 2 Monaten nur Wasser vom Bach gehabt, da die Quelle fast völlig versiegt war. Jetzt kann man den Kessel wieder am Quellentrog unterstellen.» Hauptsächlich während der strengen Winter war das Leben im Haus nicht einfach. Es musste täglich zwei- bis dreimal geheizt werden, um eine gewisse Behaglichkeit zu schaffen. Davon ausgenommen blieb die Küche, in der wegen der meinen, dass die Rationen recht klein sind, ich
Alois Carigiet beim
Kesseln» einfriert. Während der mageren Kriegs-
habe aber das Gefühl, dass diese noch nicht auf
Malen im Freien
jahre blieb das Essen zwar knapp, aber man hatte
dem Tiefstand angekommen sein dürften.»38 Den
vor dem «Hüs am
nie Hunger zu leiden. «Dies ist eine ganze Lebens-
kargen Speisezettel besserte man im Herbst mit
mittelkarte für eine Person und einen Monat. Wir
Pilzen aus den nahen Wäldern auf. Zudem fertigte
«grossen Kälte [. . .] fast täglich das Wasser in den 37
Carigiet einfaches Werkzeug, mit dem er den im Boden versteckten Schnecken nachstellen konnte,
Bach» in Platenga Alois und Zarli Carigiet mit einem Besucher vor dem «Hüs am Bach»
wie er es während seiner Bubenzeit in Trun kennen gelernt hatte. Es bedeutete schon etwas Ausserordentliches, wenn eine Nachbarin «mit einem goldenen Stück Butter auf einem Teller» kam: «Ja, das ist heute reines Gold.»39 Am 11. April 1943 nahm die Einsamkeit in Platenga für Alois Carigiet ein Ende: «Gestern [. . .] bin ich mit [. . .] meiner Braut von Ilanz heraufgekommen. Was das bedeutet, ist nur mir klar, der ich weiss, wie lange ich den Himmel bestürmt habe, mir eine Gefährtin für’s Leben zu geben.»40 Nur rund einen Monat später, am 20. Mai 1943,
25
St. Moritz, Plakatentwurf, 1931, Gouache, 127 x 90 cm 58
St. Moritz, Plakatentwurf, 1934, Gouache, 127 x 90 cm
St. Moritz, Plakatentwurf, 1934, Gouache, 128 x 90 cm
59
72
«Schellen-Ursli», Originalentwürfe, 1942/45, Tusche und Aquarell, je 34,2 x 40 cm
«Schellen-Ursli», Originalentwurf, 1942/45, Aquarell und Tusche, 32,2 x 40 cm
73
74
«Schellen-Ursli», Originalentwurf, 1942/45, Tusche und Aquarell, 34,2 x 40 cm
«Schellen-Ursli», Originalentwurf, 1942/45, Aquarell und Tusche, 34,2 x 40 cm
75
102 Winterlandschaft in Platenga, 1940, テ僕, 61 x 91 cm
Winterlandschaft mit Holzarbeitern, um 1942/45, テ僕 auf Holz, 55,5 x 74 cm 103
116 Blick aus dem Fenster auf Mann und Pferd, 1944, テ僕 auf Leinwand, 41 x 46 cm
Landschaft mit Schlitten, 1944, テ僕 auf Holz, 48 x 59 cm 117
142 Bauer und Pferd im Winter, 1947/48, テ僕 auf Leinwand, 74 x 90 cm
Holzfテ、ller, 1948, テ僕, 73 x 60 cm 143
Der Bündner Maler Alois Carigiet (1902–1985) wurde durch seine Figur des «Schellen-Ursli» weit über die Schweiz hinaus berühmt. Doch im Gegensatz zum späteren Schaffen ist sein Frühwerk noch relativ wenig bekannt. Zum hundertsten Geburtstag des Künstlers werden die frühen Landschaften, Stillleben und Genreszenen erstmals einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht – zusammen mit bisher unveröffentlichten Fotos und Tagebuchauszügen.
ISBN 3-905111-73-X