Daniel Anker Caroline Fink · Marco Volken
DOM & TÄSCHHORN
KRONE DER MISCHABEL
Vorstellung: Ausschnitt aus dem «Panorama des Alpes, pris sur le Gornergrat près Zermatt au Canton du Valais» von J. R. Dill aus dem 19. Jahrhundert. Die vier Buchstaben stehen für die alten und neuen Namen der zwei Gipfel. Man stelle sich vor, wenn Dom & Täschhorn immer noch Grabenhorn & Lägerhorn heissen würden! Aufstellung: Das Gipfelkreuz auf dem Dom wurde am 12. September 1943 errichtet, nach einem Transport vom Kirchplatz in Saas-Fee über Mischabelhütte und Lenzspitze. Die Zeitschrift «L’Echo Illustré» brachte am 23. Oktober 1943 eine dreiseitige Reportage (neben dem Vorwort). Bereitstellung: Ein prachtvoller Tag kündigt sich auf dem Gipfel des Täschhorns an. Sein Kreuz stammt von 1980; im Sommer 2011 knickte es ein, zum Jubiläum von 150 Jahre Erstbesteigung des Täschhorns wird das renovierte Kreuz neu aufgestellt (oberhalb des Vorwortes).
www.as-verlag.ch © AS Verlag & Buchkonzept AG, Zürich 2012 Gestaltung: Urs Bolz, Heinz von Arx, Zürich, www.vonarxgrafik.ch Korrektorat: Adrian von Moos, Zürich Druck: B & K Offsetdruck GmbH, Ottersweier Einband: Josef Spinner Großbuchbinderei GmbH, Ottersweier ISBN 978-3-909111-94-7
DOM & TĂ„SCHHORN KRONE DER MISCHABEL Herausgegeben von Daniel Anker, Caroline Fink und Marco Volken Texte: Daniel Anker, Caroline Fink, Martin Rickenbacher, Marco Volken, Emil Zopfi Historische Texte: John Llewelyn Davies, Josef Imseng, Arnold Lunn, Mary Mummery, Geoffrey Winthrop Young Fotos: Marco Volken, Daniel Anker, Caroline Fink, Gabriel Voide und andere Illustrationen: Esther Angst
BERGMONOGRAFIE
17
Dem Himmel näher Täschhorn gibt es eines: der Berg oberhalb
Llewelyn Davies, ein Kleriker, und ein Träger,
des Dorfes und der Alp Täsch. Aber Dom?
Hieronymus Brantschen, wird später Priester.
Um Gottes Willen! Bei Google allein sind es
Bei der Erstbesteigung des Täschhorns vier
895 000 000 Ergebnisse. Da kommen wir nie
Jahre darauf sind wieder der Hauptführer Jo-
auf den Gipfel. Aber mit Wikipedia als Berg-
hann Zumtaugwald und Davies dabei, sowie
führer gewinnen wir den Überblick: 29 Bedeu-
drei andere Bergsteiger, die sich mit der Religi-
tungen für Dom sind aufgelistet, von einer her-
on beschäftigen: John Wheeler Hayward, Peter
ausragenden Kirche bis Deo Optimo Maximo,
Josef Summermatter und Stephan Zumtaug-
eine seit der Renaissance verbreitete Inschrift
wald. Das heisst: Von den sieben Personen,
im sakralen Raum. Mittendrin steht der
die an den beiden Erstbesteigungen beteiligt
«Dom (Berg), ein Berg in den Walliser Alpen».
waren, dienten fünf dem Herrgott. Wer zu ih-
Unser Gipfel. Der Nachbar des Täschhorns.
nen wie zu heiligen Bergen aufschaut, hat
Der höchste ganz in der Schweiz liegende
sein Domus, sein Haus, auf Fels und nicht auf
Berg. Und auch der höchste Dom hierzulande.
Sand gebaut. Übrigens: Im Slowenischen
Dom: ein guter Name. Kurz, prägnant, mehr-
bedeutet «dom» Heim, Zuhause – und Hütte.
deutig. Wer vom Dom aus Fels und Eis spricht,
Die Domhütte hiesse also Dom dom.
meint ihn, den Dom neben dem Täschhorn,
Dass auf Dom & Täschhorn je ein Gipfelkreuz
den Dom der Mischabel. Und doch schweift ein
steht, ist nur folgerichtig für so hochwürdige
Gedanke vom Gebirgsdom zum Gebäudedom
Berge. Es war Reverend Davies, der 1858
– Felsendom in Jerusalem, Petersdom in Rom,
erstmals an ein solches Kreuz dachte, als er
Kölner Dom, um nur drei wichtige Sakralbau-
über die Erstbesteigung des Doms schrieb;
ten der Welt zu nennen. Das ist auch gut so.
ein Bericht, den wir – wie andere auch in
Denn schliesslich hat ein Domherr den Dom so
diesem Buch – der alpinliteratischen Gruft
benannt, als er anno 1833 seine Höhe mass.
entrissen haben: «Bevor wir den Gipfel ver-
Die hohe Kuppel des erfassten Berges mag
liessen, rammten wir unseren Stecken fest
Josef Anton Berchtold dazu bewogen haben,
in den Schnee ein und wickelten eine blaue
ihm einen kirchlichen Namen zu geben.
Schürze um die abstehenden Zweige, was
Eine standesgemässe domherrliche Taufe,
ihm den Anschein eines Kreuzes verlieh.
sozusagen. Und eine Vorahnung des Ver-
Nachdem wir uns bemüht hatten, unser
messers in der Soutane?
Wahrzeichen so zu sichern, dass es ein paar
Jedenfalls ist von den vier Erstbesteigern des
Tage halten würde, richteten wir das Seil
Doms im Jahr 1858 der englische Gast, John
für unseren Abstieg.» Daniel Anker, Caroline Fink & Marco Volken
Inhalt
15 Dom & Täschhorn betrachten Der Ursprung der «Mischabel» und sechs weitere Ansichten Texte von Caroline Fink, Illustrationen von Esther Angst 31 Josef Anton Berchtold und seine Kathedralen Dom und Domherr Eine Recherche von Martin Rickenbacher 47 Die Erstbesteigungen Dom 1858, Täschhorn 1862 Eine Übersicht von Marco Volken 49 «Eine Besteigung eines der Mischabelhörner, genannt Dom» John Llewelyn Davies schildert die Erstbesteigung des Doms 61 «Some considerable difficulties» Vier Jahre später: das Täschhorn 63 Ein Herz für Benachteiligte – und für die Schweiz John Llewelyn Davies (1826–1916) 64 Die ersten Führer am Dom und Täschhorn 67 Die wichtigsten Routen durch die Wände und über die Grate Glückliche & gefahrvolle Stunden in Fels & Firn Eine Rundtour von Daniel Anker 79 «Mir passiert nie nix» Alexander Burgener (1845–1910) 82 «So schoss ich hilflos hinaus» Geoffrey Winthrop Young über die Erstdurchsteigung der Täschhorn-Südwestwand
Rot & Weiss, West & Ost: Die sehr farbig kolorierte Aufnahme von Dom & Täschhorn von 1900 zeigt ihre Zermatter Seite; die Ställe und Äcker gehören zum heute weltberühmten Dorf (linke Seite). Fast einfarbig gibt sich auf dieser Foto die Saaser Seite der MischabelZwillinge; die beiden Ostwände, früher noch oft durchstiegen, werden kaum noch besucht, im Gegensatz zum Gletscherskigebiet von Saas-Fee (folgende Doppelseite).
97 Erstmals im Winter, erstmals mit Ski Knubel, Kurz, Kagami & Co. Eine Spurensuche von Daniel Anker 102 «Eine Skispur zum Dach der Schweiz» Arnold Lunn über die erste Skibesteigung des Doms 105 Der kleine Josef war ein ganz Grosser Josef Knubel (1881–1961) 107 Die Frauen der Mischabel «Nous sommes au Paradis» Ein Überblick von Caroline Fink 112 Der wahre Test am Täschhorn Mary Mummery über die Erstbegehung des Teufelsgrats im Jahr 1887 118 Proud Mary Mary Mummery (1859–1947) 127 «Denken Sie heute mit einem Gebet an mich» Wie Charlotte Dion an der Mischabel verschwand 129 Täschhorn & Dom und noch viel mehr Über alle neun Berge Eine Gratwanderung mit Daniel Anker 135 «Vom Dom weg zählt uns die Glücksgöttin zu ihren Favoriten» Josef Imseng über die Traversierung der Mischabelgruppe 139 Berge überschreiten – und Grenzen Patrick Berhault (1957–2004) 141 Die Orte des Schlafens Felsnischen, Bruchsteinbauten und Alumodule Acht Geschichten von Marco Volken
162 168 169 170 172 172 173
Anhang Dom & Täschhorn – die Chronik Die Schutzengel vom Teufelsgrat Trips und Tipps Literaturverzeichnis Autoren Dank Bildnachweis
Dom & Täschhorn betrachten
Der Ursprung der «Mischabel» und sechs weitere Ansichten Texte von Caroline Fink, Illustrationen von Esther Angst
Die Geschichte wäre so schön: Die Sarazenen,
über. Die Walliser Zeitung «Gazette» schreibt
muslimische Berber aus dem Nordwesten Afrikas,
dazu, wie sich in der Deutschschweiz Experten –
zogen über den Monte-Moro-Pass ins Saastal und
oder vielleicht solche, die es sein wollten – über
erblickten Bergipfel, die wie eine weisse Krone
den Namen Mischabel stritten, und dies in ganz
leuchteten. Verzückt von der Schönheit der
besserwisserischer Manier: «Un grave – pour ne
Gipfel riefen sie das arabische Wort für Berg –
pas dire pédant – échange de correspondance,
«Dschebel!». Oder vielleicht auch «Muschbil!»,
de notes et de renseignements étymologiques
was so viel wie «Löwin mit ihren Jungen» bedeu-
dans la presse de la Suisse allemande vient
ten würde. Beides edle Wörter, die zum Namen
d’établir que le nom de ‹Mischabel› donné à
des Gebirgsmassivs wurden: Mischabel.
l’imposant massif alpestre compris entre les
Doch auch diese Geschichte wäre schön: Jüdische
vallées de Saas et de Saint-Nicolas (. . .) est une
Händler zogen durch das Saastal und sahen den
déformation couramment utilisée dans le Valais et
Gipfelkranz. Mit seinen Zacken erinnerte er sie
dans les Grisons, du mot allemand «Mistgabel»
an eine grosse Familie von Bergen. Kurzerhand
(fourche à fumier, trident), parce que l’ensemble
brachten sie den Saaser Bergbauern deshalb das
des points qui constituent le massif représente
hebräische Wort für Familie – «Mischpacha» –
assez bien une fourche à trois dents.»
bei, worauf die Saasini fortan von der Misch-
Doch trotz der mittlerweile fast zweihundertjähri-
pachel redeten.
gen, durchaus plausiblen Variante der Mistgabel
Aber nein – ganz profan sei es gewesen, erzählten
haben sich die Sarazenen bis heute noch nicht
die Einheimischen ihren neugierigen Besuchern
ganz verabschiedet. Noch immer tummelt
schon vor geraumer Zeit. Eine Mistgabel sei in
sich ihr «Dschebel» des Saastals in Foren und
manchen Walliser Dialekten ganz einfach eine
Texten. Zusammen mit dem «Ala-Ain» und dem
«Mischtgabla» oder im Walser Dialekt eine
«Al-Magell». Zu schön ist sie, die Geschichte der
«Mischabla». Und die Mischabel mit ihren Zacken
Araber, die unsere Lande benannten . . .
sehe von manchen Seiten betrachtet nun mal aus
Was die beiden Hauptgipfel, Dom und Täschhorn,
wie ein solches Gerät. So soll ein Saaser Berg-
angeht, ist die Sachlage zu deren Namen zum
führer schon 1822 dem Zürcher Regierungsrat
Glück etwas weniger verklärt. Spannend bleibt
und Alpinisten Hans Caspar Hirzel-Escher erklärt
sie dennoch: Im zweiten Kapitel (S. 31) begibt sich
haben, die Mischabel sei ergo nichts als eine Mist-
Martin Rickenbacher deshalb auf die Pirsch und
gabel, und selbst der berühmte Saaser Pfarrer
erzählt davon, warum diese Gipfel so lange un-
und Bergführer Johann Josef Imseng soll dem
bekannt blieben, wie das Festhorn zum Graben-
ebenso bekannten Bergpionier Gottlieb Studer
horn und später zum Dom wurde, was der Dom-
selbes dargelegt haben.
herr von Sitten damit zu tun hatte und wie aus der
Dennoch hält sich die Sarazenengeschichte lange
«DomStuffe», vielleicht dank einer Bleistiftnotiz,
Zeit. Im Jahr 1919 berichten gar die Medien dar-
das eigenständige Täschhorn entstand.
15
Josef Anton Berchtold und seine Kathedralen
Dom und Domherr Eine Recherche von Martin Rickenbacher
Stellen wir uns vor: Ein Domherr, in we-
Der Berg und sein Namensgeber: Dom, mit der Kamera angepeilt von der Belalp aus (linke Seite). Domherr Josef Anton Berchtold (1780–1859), gemalt von seinem Freund Lorenz Justin Ritz im Jahre 1847. Das Bild – es ist das dritte Porträt von Ritz – hängt im Rathaus von Sitten (oben).
hender Soutane, das Birett auf dem Kopf, steht auf einem Berg und misst mit einem Theodolit die Winkel zwischen den umliegenden Gipfeln. Welch‘ herrliches Bild! Kein Wunder also, dass Josef Anton Berchtolds Leben – um ihn handelt es sich beim Mann in der Soutane – denn auch schon gut dokumentiert ist. In erster Linie durch zahlreiche Beiträge des Historikers Anton Gattlen. Im Rhonetal ist die Erinnerung an diese ausserordentliche Persönlichkeit auch heute noch lebendig, wovon nicht zuletzt die Rue du Chanoine Berchtold in Sitten zeugt. Josef Anton Berchtold erblickte am 27. Juni 1780 als viertes Kind einer Bauernfamilie in
nach einem Theologiestudium an einer
Greich ob Mörel das Licht der Welt. Er muss
Universität blieb angesichts der Zeit-
ein aufgeweckter und intelligenter Junge
umstände unerfüllt. 1802 wurde die un-
gewesen sein. Als Zwölfjähriger konnte er
abhängige Republik Wallis ausgerufen,
ins Kollegium Brig eintreten. In den sechs
und Napoleons Ingenieur-Geographen ver-
Jahren seiner Briger Kollegiumszeit wurden
massen den ganzen Boden des Rhonetals
auch im Wallis die Folgen eines Ereignisses
von St-Gingolph bis Brig im Massstab
immer stärker spürbar, das ganz Europa in
1:5000, um auf dieser Grundlage den Bau
seinen Grundfesten erschütterte: die Fran-
der Simplonstrasse zu planen und auszu-
zösische Revolution von 1789.
Eine solch klare Sicht, wie auf der Foto der vorangehenden Doppelseite, hat Berchtold bei der Vermessung des Wallis jeweils sehr geschätzt: Blick vom Klein Matterhorn über den Rücken des Gornergrates (unten) hinweg auf die beiden hohen Zacken von Dom & Täschhorn. Rechts der flache Alphubel, links hinten das Aletschhorn.
führen. 1810 wurde das Wallis aus strategischen Gründen gar als Département
Karriere als Mann der Kirche
du Simplon in die République Française
In diesen politisch unruhigen und wirren
integriert. Nach dem Zusammenbruch des
Zeiten suchte Berchtold seine Zukunft im
Empire marschierten die Österreicher ins
Dienst der Kirche, jener Institution, die das
Wallis ein. Erst am 12. September 1814 trat
Wallis schon seit Jahrhunderten von Grund
dieser Kanton als 22. Stand der Schweize-
auf geprägt hatte. 1798 trat er ins Priester-
rischen Eidgenossenschaft bei.
seminar Sitten ein, wo er fünf Jahre später
Schon kurze Zeit nach seiner Weihe wurde
zum Priester geweiht wurde. Sein Wunsch
der junge Priester 1803 vom Bischof zum
31
Die Erstbesteigungen
Dom 1858, Täschhorn 1862 Eine Übersicht von Marco Volken
Aber was für einen Aussichtspunkt
So kommt es, dass am 11. September 1858
hatten wir erreicht!
ein Engländer und drei Einheimische –
Der Dom, der wäre doch was für Sie,
Johann Zumtaugwald als Hauptführer,
Herr Reverend. Es ist der höchste Berg,
Johann Kronig und Hieronymus Brantschen
der vollständig auf Schweizer Boden steht,
– kurz nach zwei Uhr morgens in Randa
ganze 14 941 Englische Fuss hoch. Und
aufbrechen, über die heute als Festigrat be-
noch niemand ist je zuoberst gewesen.
kannte Route aufsteigen und knapp neun
John Llewelyn Davies nickt. Ja, das wäre
Stunden später auf dem Dom stehen.
was. Schliesslich möchte er seinen Urlaub
«Leider lässt sich dort nirgends gemütlich
in Zermatt nach einigen leichteren Touren
sitzen. Es gibt keine Felsen, und obwohl
gerne mit einer schönen Erstbesteigung
es nicht an Platz mangelt, bläst der Wind
abrunden. Die über 3000 Höhenmeter bis
ungehindert über die Plattform aus Schnee.
zum Gipfel sind ihm bewusst, doch mit
Wir mussten also im Schnee stehen und
einem Biwak auf halber Strecke sollte sich
froren vor Kälte, die ausreichend intensiv
der Aufstieg gut in zwei Tagesetappen un-
war. Aber was für einen Aussichtspunkt
terteilen lassen. Selbst als ihm seine Führer
hatten wir erreicht!» Nichts also mit einer
mitteilen, dies sei unnötig, stimmt er der
gemütlichen Gipfelrast. Vom Wind vertrie-
Herausforderung sportlich zu.
ben, machen sie sich bald an den Abstieg –
Höchste Warte: Erstbesteiger John Llewelyn Davies erreichte sie über den schwach ausgeprägten Festigrat (oben in der Bildmitte) – und stieg über die weite Firnflanke links davon wieder ab. Laut Zweitbesteiger Leslie Stephen bietet der Dom die prächtigste Aussicht im ganzen Alpenraum. Von dort sieht man schön zum Monte Rosa, halb verdeckt vom heutigen Gipfelkreuz (linke Seite).
47
Skimedaillen mit der Silhouette des Täschhorns: 2. internationaler Langlauf Täschhorn-Kristall FIS 1976 (oben); internationale Rennen nordisch im Rahmen des internationalen AlpenCups von 1979 (unten).
100
von Kagami & Co. griffen auf jeden Fall
Zwei Winterpremieren am Dom
schlechter als die Carver der Gebrüder
Die Skierstbesteigungen der Mischabel-
Anthamatten heute. Das Täschhorn war noch
Zwillinge, die Wintererstbesteigung des
nie wirklich ein Skiberg, und trotzdem nah-
Täschhorns: Ihre Akteure kennen wir ein
men die drei Sommerskifahrer ihre winter-
wenig. Doch da fehlt doch noch was. Das
lichen Fortbewegungsmittel bis auf die Höhe
«Alpine Journal», die einflussreiche Zeit-
des Domjochs (4281 m) mit, nachdem sie die
schrift des Alpine Club, des ältesten Berg-
Festi-Kin-Lücke im Westgrat des Doms über-
sportverbandes, vermeldete in Band 17 aus
schritten und zum Kingletscher abgestiegen
den Jahren 1894/95: «The first midwinter
waren. Sieben Stunden nach Aufbruch in der
ascent of the Dom was effected on January
Domhütte um zwei Uhr standen Graven,
13 by Mr. Sydney Spencer.» Dabei sei er
Kagami und Perren auf dem Täschhorn. «The
begleitet gewesen von Christian Jossi aus
ski-ing was good on the return journey»,
Grindelwald und Adolf Schaller aus Zermatt,
hält Lunn im Jahresrückblick fest: «The snow
und sie hätten zweimal in der «Dom Club
was still hard and the party was making use
Hut» übernachtet. «The cold was hardly felt
of the Bilgeri side irons, which were extreme-
at all, owing to the entire absence of the
ly helpful on steep slopes of hard snow.»
wind.» Im Folgeband beschrieb Spencer –
Side irons sind Harscheisen; Oberst Bilgeri
an ihn erinnert das Couloir Spencer an der
führte sie in seinem kompletten Ausrüstungs-
Aiguille de Blaitière – ausführlich seine
angebot für Skitourengeher. Sie waren seit-
Januartouren von 1893 (Versuch an der Wel-
lich an den Ski angebracht (heute werden
lenkuppe) und von 1894 (Erfolg am Dom).
sie direkt in die Bindung eingeklinkt) und
Chronist Marcel Kurz nahm die erste Mitte-
verhindern ein seitliches Abrutschen – beim
winterbesteigung als erste Winterbestei-
Aufstieg. Aber mit den Harscheisen abfahren:
gung des Doms überhaupt in seine Zusam-
ich weiss nicht, Arnie . . .
menstellung der «ascensions hivernales»
Noch ein Wort zu T. Y. Kagami aus Tokyo:
von 1922 auf. Im «Ski» von 1928 musste
Mitglied des britischen Alpine Ski Club, Mit-
er sich korrigieren und veröffentlichte den
arbeiter bei der Royal Geographic Society
dreiseitigen Artikel «La première ascension
und Draufgänger. Im Januar 1929 wieder-
hivernale du Mischabel-Dom (4554 m.)».
holte er mit Frank S. Smythe die von Lunn
Was war passiert? Im September 1927
und Gefährten erstmals gemachte Skibe-
erfuhr Kurz bei einem Aufenthalt in Randa,
steigung des Eigers via Nördliches Eiger-
dass Einheimische den Dom schon am
joch, im folgenden Mai unternahm er mit
3. März 1891 bestiegen hatten. Im Laufe
Gottfried Perren Skitouren von der Rothorn-
seiner Recherchen erhielt er eine Kopie des
hütte ob Zermatt, am 31. August gelang
Briefes, den einer der Wintererstbesteiger
ihm mit den beiden Führern der Skierstbe-
gleich nach der Tour schrieb:
steigung des Täschhorns sowie mit Thomas
«Die schöne Witterung, die während dem
Graham Brown die erste Besteigung der
Monat Februar geherrscht, veranlasste eine
Punta Moore (3557 m) im Mont-Blanc-Mas-
Gesellschaft Bergführer von Randa, die
siv, und am 16. September kletterten er und
Besteigung des Domes vorzunehmen mit
Perren erstmals über den Südostsporn auf
Begleitung ihres Lehrers der englischen
den Mont Maudit; die Route nennt man
Sprache. Wir verliessen Randa am 2. März,
Voie Kagami. Anders gesagt: 1929 war kein
1 Uhr des Nachmitttags, in schöner Witte-
Krisenjahr für den japanischen Alpinisten.
rung nach der Domhütte. 3. März, 4 Uhr
morgens, traten wir die Partie nach dem
machte 1883 auch das Führerdiplom. Eine
Gipfel an. Leider wurde das Wetter schlecht,
interessante Figur. Genau so wie Adolf
aber mit dem Mut der wackeren Führer
Schaller, der drei Jahre später seinem Gast
wurde die schwierige Tour fortgesetzt und
Sydney Spencer die Winterbesteigung des
[wir] erreichten die Spitze um 12 Uhr im
Doms vorschlug, ohne zu erwähnen, dass er
Schneesturm. Die Reise zurück war sehr
in der kalten Jahreszeit schon mal oben ge-
schwierig; wir hatten den ganzen Weg mit
standen hatte. Er liess Spencer im Glauben,
Nebel und Schnee zu kämpfen und er-
er wäre der erste; und auch nach Tour, als
reichten die Hütte um 4 Uhr. Nach einer
die Dombesteiger in Randa zurück waren,
Stunde Ruhe kehrten wir nach Randa
erwähnten die anwesenden Führer mit
zurück. Diese Tour wurde gemacht von den
keinem Wort die wirkliche Wintererstbe-
Führern: Josef Truffer, Quirinus Schwarzen,
steigung des Doms. Nachdem Spencer vom
Adolf Schaller, Fridolin Perren, Friedrich
Artikel im «Ski» erfahren hatte, schrieb er
Summermatter, Johann Summermatter,
dem «Alpine Journal» eine Notiz und
Samuel Truffer, Peter Brantschen, Johann
schloss sie so: «Had I known of the previous
Kronig, Lehrer.»
So macht Skifahren Spass: Zwei Plakate der Agentur Brügger von Meiringen, 1974 für den Sommerskilauf in Saas-Fee, 1969 für die Wintersaison in Grächen.
ascent, I should certainly have attempted one of the other great peaks instead of the
Verfasst hat diesen Brief der «English
Dom.» Zum Beispiel Alphubel, Lenzspitze,
Teacher» John Kronig, wie er sich nannte; er
Nadelhorn. Oder gar das Weisshorn, das er
war in jungen Jahren nach Amerika ausge-
von der Domhütte am 14. Januar 1894 so
wandert, kam zurück, unterrichtete und
grossartig fotografierte.
101
«Eine Skispur zum Dach der Schweiz» Arnold Lunn über die erste Skibesteigung des Doms
Der Dom (4554 m) ist der höchste Berg, der ganz in der Schweiz liegt, denn der Gipfel des Monte Rosa liegt auf der Grenzlinie Schweiz-Italien, und der Mont Blanc, wie bekannt, teils auf französischem und teils auf italienischem Gebiet. Knubel und ich hatten oft gesprochen von dem Plan einer Ski-Erstbesteigung des Dom. Das müßte selbstverständlich im Frühling geschehen. Im Winter ist es schon schwierig, die Festihütte zu Fuß zu erreichen, und so gut wie unmöglich, mit Ski dahin zu kommen. Unterhalb der Hütte ist jedes Abfahren ausgeschlossen, also «Auf der Spitze des Doms»: Arnold Lunn fotografierte Josef Knubel am 18. Juni 1917 zuoberst auf dem Dom, mit Ski – of course. Das Jahrbuch des Schweizerischen Skiverbandes veröffentlichte 1919 die Foto.
102
In der Geschichte des Skialpinismus
war auch nichts damit zu gewinnen,
ist der 18. Juni 1917 ein wichtiger Tag:
daß man diese Tour versuchte, bevor der
Der Engländer Arnold Lunn und der
Weg zur Hütte schneefrei war.
Bergführer Josef Knubel aus St. Niklaus
Am 18. Juni 1917 brachen wir von der
fuhren mit Ski vom Gipfel des Doms
Festihütte aus auf. Das Wetter war aus-
ab. «From the Sattel downwards all
gezeichnet, und wir zogen unsere Spuren
was pure joy, wonderful ski-ing», hielt
ohne Zwischenfall über den Festigrat und
Lunn im ersten Jahrgang seines «British
dann die riesige Westwand unseres Berges
Ski Year Book» von 1920 fest; knapp
hinauf. Vom oberen Sattel weg, etwa sieb-
40 Minuten dauerte die Abfahrt über
zig Meter unterhalb des Gipfels, wird der
die Nordflanke und – nach der Über-
Hang plötzlich sehr steil; stellenweise er-
schreitung des Festijochs zu Fuss –
reicht er fünfundvierzig Grad, das heißt
über den Festigletscher zur alten Dom-
die äußerste Steile, auf der Schnee noch
hütte. Im Buch «The Mountains of
liegen bleibt. An jedem andern Gipfel
Youth» von 1925 beschreibt Lunn diese
hätten wir die Ski abgeschnallt und wären
Frühlingsfahrt mit Ski ausführlich; die
zu Fuß weitergegangen; aber wir hatten
deutsche Ausgabe «Die Berge meiner
es uns nun einmal in den Kopf gesetzt,
Jugend» erschien 1940, übersetzt von
eine Skispur bis zum höchsten Punkte des
Henry Hoek und verlegt von Walter
«Daches der Schweiz» zu legen, und wir
Amstutz – beide ebenfalls ganz grosse
überlegten uns hin und her, ob das wohl
Pioniere des Skibergsteigens.
ohne allzu große Gefahr möglich wäre.
Bei Hartschnee wäre der Hang viel zu
Schwung wagen, um den Schnee nicht
steil gewesen. Bei weichem Pulverschnee
unnötig zu stören. Alles ging gut, aber es
hätten wir die Lawinengefahr nicht ver-
war aufregend. Vom Sattel weg war dann
antworten können. Aber glücklicherweise
alles eitel Freude. Unsere wirkliche Fahr-
war der Schnee geradezu ideal für unsere
zeit vom Gipfel bis zur Festihütte – und
Absichten: Wir fanden «gesetzten Pulver-
das ist ein Höhenunterschied von mehr als
schnee» vor, das heißt Pulverschnee, des-
sechzehnhundert Meter! – belief sich auf
sen einzelne Flocken oder Körner durch
etwas weniger als vierzig Minuten.
den Winddruck einigermaßen miteinander
Versuchshalber hatte ich kurze Sommerski
verbunden waren. Unsere Ski sanken
mitgenommen, nur 1,60 Meter lang. Ich
nicht zu tief ein und die Schneedecke
war sehr mit ihnen zufrieden. Auf sehr
zeigte keine Tendenz zu rutschen. Und
steilen Hängen sind sie natürlich beque-
um halb zwölf Uhr hatten wir eine Skispur
mer; und auf mäßigen Neigungen, wenn
durch den höchsten Schneehang der
der Schnee wenigstens einigermaßen ge-
Schweiz gelegt.
setzt ist, sind sie beinahe so schnell wie
Wir verbrachten eine einzig schöne Viertel-
lange Ski. Sie sind naturgemäß nicht emp-
stunde in Windstille und Sonne auf dem
fehlenswert auf flachen Hängen mit tiefem
Gipfel und machten uns dann mit gemisch-
Schnee, und ebenso wenig auf Schnee
ten Gefühlen an die Abfahrt. Die obersten
von ständig wechselnder Struktur.
siebzig oder achtzig Meter mußten wir die
Von der Hütte aus kamen wir zunächst
Aufstiegsspur benützen und durften keinen
durch die Region der Anemonen und dann
«The steepest part was from the little saddle just below and to the right of the summit»: So kommentierte Lunn dieses Bild der Nordflanke des Doms in seinem Buch «Mountains of Youth» von 1925.
103