Hugo Koblet – Ikarus auf Rädern

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DANIEL SPRECHER

HUGO KOBLET Ikarus auf R채dern


Für Cornelia, Anne-Lucille, Vital Fortunat, Alice und Elisabeth Sprecher

Der Autor dankt dem Präsidialdepartement der Stadt Zürich, die mit ihrer Unterstützung die Realisierung dieses Buches ermöglicht hat.

www.as-verlag.ch © AS Verlag & Buchkonzept AG, Zürich 2012 Gestaltung: Urs Bolz, Zürich Druck und Einband: Kösel GmbH & Co. KG, Altusried-Krugzell ISBN 978-3-906055-04-6


Daniel Sprecher

HUGO KOBLET Ikarus auf Rädern Beflügelt auf dem Rennrad – überfordert im realen Leben

AS Verlag


Tour de Suisse 1950, 6. Etappe Luzern–Bellinzona: Hugo Koblet trifft mit fast 3 Minuten Vorsprung als Solosieger im Stadio comunale ein und ßbernimmt das Goldtrikot von Jean Goldschmit.


Inhalt

7 Vorwort 15 Bäckerei-Patisserie Koblet, Hildastrasse 3, Zürich-Aussersihl 21 Rasche Hinwendung zum Radsport unter Lehrmeister Leo Amberg 31 1950: Kometenhafter Aufstieg zur Weltspitze 57 Absolutes Erfolgsjahr 1951: Legendärer Husarenritt Brive-la-Gaillarde–Agen und Gesamtsieg an der Tour de France 95 Im Kreis der Radsporttitanen – die einmaligen KK-Glanzzeiten 137 Früher sportlicher Kulminationspunkt: Die Dramen des Mexikoabenteuers 1951 und der Tour-de-Suisse-Etappe Monthey–Crans 1952 151 1953–1958: Die Jahre der sportlichen Nivellierung 152 · Das Jahr 1953 192 · Das Jahr 1954 256 · Das Jahr 1955 291 · Das Jahr 1956 307 · Das Jahr 1957 319 · Das Jahr 1958: Letzte Einsätze und Abschied vom Rennsport 327 Training, Jahresplanung, Ernährung, Doping 339 «Il était si beau, le bel Hugo …» – Hugo Koblet und die Frauen 353 Schwieriger Schritt vom Glanz des Renngeschehens ins reale Leben 369 Venezuela – Der Schritt ins Ausland 377 Ein letztes Aufbäumen 387 «… denn ich lebe ohnehin nicht lange»: Die verhängnisvolle Fahrt von Esslingen nach Mönchaltorf 403 Was bleibt vom «Ikarus auf Rädern»? 409 Der «Pédaleur de charme» im Spiegel seiner Zeitgenossen

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Anhang Palmarès der Aktivkarriere 1943–1958 Quellenverzeichnis Bildnachweis Dank

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Teenager Hugo Koblet mit sonnigem L채cheln.


VORWORT

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m 21. März 2010 hätte Hugo Koblet seinen 85. Geburtstag feiern können, er wäre wohl in ähnlichem Masse geachtet und geehrt worden wie der zweite Schweizer Radsporttitan der fünfziger Jahre, die 1919 geborene, quicklebendige Legende Ferdinand «Ferdy National» Kübler. Schon seinen 40. Geburtstag am 21. März 1965 erlebte Koblet nicht mehr: Angesichts der Scherben seiner Ehe im höchsten Masse verzweifelt und verstrickt im Netz seiner fahrlässig-unökonomischen Lebensweise, beschritt er am Vormittag des 2. November 1964 den gegen sich selbst gerichteten Weg der Gewalt. Mit Autobahngeschwindigkeit zerschellte der blütenweisse Alfa Romeo Giulia mit seinem einzigen Insassen an einem hochstämmigen Birnbaum eingangs Mönchaltorf, ohne geringste Bremsspuren zu hinterlassen. Erst Jahrzehnte später wurde die nur am Rande gehegte und kaum ausgesprochene Vermutung zur Gewissheit: Nicht ein tragischer Unfall, sondern planvolle Absicht hatte das rasende Gefährt dem festen Hindernis zugeführt. Koblet war fraglos einer der wenigen Weltstars schweizerischer Provenienz. Geboren in der ökonomisch schwierigen Zwischenkriegszeit und gesegnet mit einem Übermass an Talent sowie sportspezifisch idealen Körpermassen, erreichte er Anfang der fünfziger Jahre, zu einem Zeitpunkt, in dem sich die arbeitende Bevölkerung hauptsächlich per Fahrrad fortbewegte, seinen sportlichen Leistungszenit. Der attraktivste und schnellste Radsportler seiner Zeit wirkte für die Masse der Bevölkerung mit ihrer Hoffnung auf Frieden und ökonomisches Wohlergehen als willkommene Projektionsfläche. Die Aura der frühen, aus dem Nichts gegen die Weltelite erzielten Siege an grossen und prestigereichen Etappenrennen, sein gewaltiges Charisma, dem sich beide Geschlechter nicht entziehen konnten, und seine frappante, landesuntypische Leichtigkeit und Eleganz, mit der er sich sowohl auf dem schmalen Rennsattel als auch auf dem gesellschaftlichen Parkett bewegte, bildeten zentrale Mosaiksteine einer grossen schweizerischen Persönlichkeit des öffentlichen Lebens – auch wenn der Radsport in den fünfziger Jahren, ähnlich der Massensportart Fussball, von den meinungsbildenden Schichten lange mit pejorativem Blick betrachtet wurde. Als Einziger vermochte sich Koblet dem eher proletarischen BlutSchweiss-und-Tränen-Image des professionellen Radrennsports, wie es etwa sein langjähriger Rivale Ferdinand «Ferdy National» Kübler aus8


strahlte, zu entziehen. Er zelebrierte seinen Sport als elegant und scheinbar mühelos inszenierte Darbietung auf der Freilichtbühne der Strasse und integrierte pionierhaft Elemente wie etwa die rasch legendär gewordene Gesichtsreinigung und die Kamm-Szene vor der Siegerehrung. (Heute ist es selbstverständlich, dass die Sieger frisch wie die Rosen vor die Kameras treten.) Der intellektuelle Anspruch Koblets wurde unterstrichen durch mehrsprachig erteilte Interviews und einen für ihn typischen kosmopolitischen Lebensstil. Die Persönlichkeit Koblets – in Bezug auf den tragischen Verlauf seiner kurzen Vita ein «Ikarus auf Rädern» – vereinte durchaus auch mehr oder weniger stark widersprüchliche Elemente: Er liebte Mahlzeiten der qualitativ gehobenen Art in gediegenem Rahmen, am selben Tag konnte er jedoch auch ein gieriges Verlangen nach beträchtlichen Mengen an Weisswürsten und kühlem Gerstensaft verspüren. Jazz – vorzugsweise Oscar Petersen, Erroll Garner –, Kunst, Literatur, elegante Kleider, die jeweils neuesten Modelle der amerikanischen Automobiledelschmiede Studebaker sowie das Erforschen des unergründlichen Magnetismus weiblicher Reize bildeten weitere Vorlieben des entschiedenen Ästheten. Aber: Sein kurzes Leben lang fehlten ihm, dem explosionsartig zu sportlichem Erfolg, zu Ruhm, Glanz und Ehre Gelangten, ein persönlicher Lebensentwurf, ein Mindestmass an Selbstdisziplin, ein ökonomisch vernünftiges Gebaren und vor allem ein geordnetes Umfeld: eine Frau, die ihm rigoros ökonomische Rahmenbedingungen gesetzt, eine Familie, die ihm Geborgenheit geschenkt hätte, Kinder, die eine Deszendenz verkörpert hätten, ein Coach im sportlichen Bereich und ein ökonomischer Berater von Format, echte Freunde, die ihm in schwierigen Momenten mit Rat und Tat zur Seite gestanden wären. Der ebenso frühe wie durchschlagende Erfolg trug zu einer ausgeprägten Unbekümmertheit um soziale und ökonomische Tabus, Rahmenbedingungen und Regeln bei, was einen existenzzerstörerischen Zug freilegte. Während es in Zeiten des überbordenden sportlichen Erfolgs gelang, alle möglichen Normen zu missachten, wurde er allerspätestens nach dem Rücktritt vom aktiven Sport von der harten Realität in der Form von aufdringlichen Gläubigern, dem Steueramt oder ökonomischen Gesetzen eingeholt. Koblet stand sich oft auch selbst im Weg: Übereinstimmend berichten ehemalige Rennfahrerkollegen, er habe die erteilten Ratschläge in 9


der Regel in den Wind geschlagen und sich wenig um die Konsequenzen des eigenen Handelns gekümmert, das heisst, ungeachtet aller Fehlschläge das bisherige Verhalten verfolgt. «Eigentlich», sagen unabhängig voneinander die beiden Brüder Armin («Vas-y») und Oscar («Föhn») von Büren, «hat Hugo Koblet nichts ernst genommen.» Sein chronischer Geldmangel wurde entscheidend genährt durch seinen ruinösen Umgang mit einer parasitären Gruppe von angeblichen Freunden, Schulterklopfern, Glücksrittern und sportwagenfahrenden Müssiggängern, die ihrem gutgläubig-naiven Helden Kredite, die Zurverfügungstellung seiner Autos und Investitionen abschwatzten. Das Übermass an Talent, das ihm eine unerhörte Leichtigkeit und Eleganz zur Bewältigung der sportlichen Aufgaben verlieh, führte dazu, dass Koblet nie richtig den durch Lebensernst geprägten Status des Erwachsenseins erreichte und auch in seinen letzten Jahren – mittlerweile rundlich geworden und mit schütterem Haupthaar – der attraktive, liebenswürdige, sensible Träumer mit einer Neigung zur Melancholie blieb. Person, Leben und Lebensleistung gerieten – auch dank dem nach wie vor grossen Stamm von eingefleischten Koblet-Bewunderern im Inund Ausland – in den Jahrzehnten nach seinem Tod nie in Vergessenheit. Immer wieder wurde zurückgeblendet: Mit einer gewissen Regelmässigkeit erschienen Zeitungs- und Zeitschriftenartikel über den sensiblen Radspitzensportler und sein Palmarès. Erst knapp drei Jahrzehnte nach Koblets Tod, 1993, publizierte der französische Sportreporter Jean-Paul Ollivier ein mit grossem Engagement in französischer Sprache geschriebenes Buch, das vor allem durch das eindrückliche Bildmaterial besticht: «Le pédaleur de charme. Hugo Koblet. La Véridique Histoire». Insbesondere bringt Ollivier Klarheit in den Ablauf der fatalen Fahrt Koblets vom 2. November 1964. Im Jahre 1997 wurde im Schweizer Fernsehen eine einstündige Dokumentationssendung zur sportlichen Laufbahn Koblets ausgestrahlt, das engagierte Werk der beiden Tessiner TV-Journalisten Renato De Lorenzi und Claudio Nembrini. Ende der neunziger Jahre schrieben der Zürcher Journalist Walter Bretscher und die Walliserin Christine Madsen-Julen, beide von der Lichtgestalt Koblet sei je fasziniert, ein Filmdrehbuch über dessen Leben und Lebensleistung. Entstehen sollte keine Dokumentation, sondern eine «Interpretation» des Lebens Koblets, ein Versuch, «sein Cha10


Hugo Koblet am Vorabend des Starts zum «Grand Prix de L’Europe» in Rom: Elegant gekleidet, inszeniert er die Plombierung der Rennräder als öffentlichen Auftritt.

risma zu deuten». Nachdem das 6-Millionen-Projekt nicht zustande gekommen war, arbeitete Bretscher in einem verzweifelten Wettlauf gegen seine schwere Krankheit die jahrelang in einem grossen Kreis von Zeitzeugen gesammelten Informationen zu einem Theaterstück mit dem Titel «Pédaleur de charme» um. (Der Koblet verliehene Ehrentitel stammt entgegen zahlreicher Zitate nicht vom Tour-Papst Jacques Goddet, sondern vom französischen Chansonnier und Kabarettisten Jacques Grello.) Am 15. Oktober 2004 verstarb Bretscher. Sein betriebsbereiter Laptop zeigte bei seinem letzten Atemzug die Seite 47 des Drehbuchs an; die Bühnendarstellung der kurzen Vita Koblets bleibt mithin Fragment. Im September 2005 publizierten die Sportjournalisten Sepp Renggli und Martin Born zusammen mit dem Publizisten Hans-Peter Born im AS Verlag einen Fotoband zum Thema, wobei das biografische Element aber weitgehend ausgeklammert blieb. Das Werk besticht durch zahlreiche meisterhafte Rennsportaufnahmen in Schwarz-Weiss, einen Teil davon aus dem tiefen Fundus von «L’Equipe». 11


Der in Zürich lebende Dramatiker Gerhard Meister schrieb ein Stück mit dem Titel «Hugos schöner Schatten», das im Frühling 2009 im Berner Stadttheater aufgeführt wurde. Es geht darin um die beiden herausragenden Protagonisten des Schweizer Radsports der fünfziger Jahre, Ferdy Kübler und Hugo Koblet, um zwei Leben auf und neben dem Rennsattel, wie sie nicht unterschiedlicher hätten verlaufen können. Die Gegensätzlichkeit der beiden K wird als Duell zwischen Askese und Sinnesfreude ausgetragen: Der Asket Kübler, der sich aus kleinsten Verhältnissen mit eiserner Selbstdisziplin an die Spitze pedalte und sich danach eine solide bürgerliche Existenz aufbaute, gegenüber dem radsportlich hochbegabten Ästheten Koblet, dem die Annehmlichkeiten dieser Welt wie von Zauberhand bewegt zuflogen und der gleichzeitig auf tragische Art und Weise scheiterte. Hugo Koblet wird auf und neben der Rennbahn als gejagter «Pédaleur de charme» auf der Überholspur sowie als Projektionsfigur für die Jugend der fünfziger Jahre, als Symbol für Aufbruch und Erfolg dargestellt. Im Verlaufe des Abstiegs zerbrechen Psyche und Herz des früh Gealterten. Im Jahr 2010 gelangte der Filmer Daniel von Aarburg mit seinem Film «Hugo Koblet. Pédaleur de charme. Aufstieg und Fall des James Dean des Radsports» an die Öffentlichkeit. Dokumentarische Passagen wechseln mit nachgestellten Szenen ab. Ein letztes Mal werden die Höhen und Tiefen des kurzen Lebens von Hugo Koblet filmisch dargestellt. Das Schweizer Fernsehen strahlte diesen Film 2011 in einer DOK-Sendung aus, auch ist er als DVD im Handel erhältlich. Weshalb nach dem Bildband, der sich mit seinen grossformatigen und meisterhaften Schwarz-Weiss-Fotos vor allem an die Koblet- und die Tour-de-France-Fans richtet, und dem Koblet-Film (noch) eine Biografie? Weder der Bildband noch der Film beleuchten Vita und Lebensleistung Koblets präziser. Der Lebenslauf Koblets tangiert eine zentrale Problematik des Spitzensports: Zahlreiche ehemalige Grössen inner- und ausserhalb des Radsports bekundeten und bekunden beim Wechsel vom Spitzensport zum realen Leben grosse Mühe, nicht wenige scheiterten und bezahlten mit dem sozialen und ökonomischen Abstieg einen hohen Preis.

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Auch enthält das kurze Leben Koblets viele Elemente der klassischen Tragödie: die Aufstieg-Fall-Problematik, das Verhältnis zwischen Gut und Böse (das heisst das Verhältnis zwischen dem überaus gutmütiggrosszügigen Koblet und seinem ausbeuterisch, auf persönlichen Profit ausgerichteten Umfeld), das Element des Hochbegabten, der von böswilliger Seite um einen erheblichen Teil seines sportlichen Potenzials gebracht wird. Die Verstricktheit Koblets in den beiden Welten des Radsports, wo er sich vertraut fühlt, und der realen des Privat- und Wirtschaftslebens, wo er die herrschenden Regeln, Normen und Usanzen nie akzeptieren will und deshalb scheitern muss. In seinen letzten Lebensjahren begibt sich Koblet, einer der wenigen Weltstars, welche die Schweiz je hatte, traurig, einsam und füllig geworden, auf die Suche nach seiner einstigen Grösse, dem schmerzlich vermissten Jubel und Beifall, und findet diese Form der Zuneigung weder in der Heimat noch im lateinamerikanischen Venezuela. Der Ausweg aus seinem persönlichen Dilemma: die gewaltsame Konfrontation mit einem isoliert stehenden Birnen-Hochstämmer bei Mönchaltorf.

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Hildastrasse 3: B채ckerei-Patisserie Koblet im Erdgeschoss, die Wohnung im 1. Stock.


B ÄCKEREI -PATISSERIE KOBLET H ILDASTRASSE 3 Z ÜRICH -A USSERSIHL

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as rote Backsteingebäude an der Hildastrasse, erbaut um die Jahrhundertwende und 2011 im Zuge der Renovierung verputzt, die Fassade aufgewertet durch ein filigranes Balkongeländer, bildet einen spitzen Winkel zur breiten Sihlfeldstrasse, die in der Vergangenheit erheblich unter dem massiven Transitverkehr gelitten hat. Neben der Hausnummer 3 führt eine schmale Treppe vom Trottoir zur ehemaligen Bäckerei-Patisserie Koblet. (Der Familienname Koblet leitet sich vom Begriff Kobold her und entspricht einem alten, seit 1452 in Seen-Winterthur bezeugten Geschlecht.) Geschäft und Familie werden durch die resolute Bündnerin Helene Koblet, geborene Gross, geführt. Ihr Mann, Adolf Koblet, kämpft seit Jahren mit seiner Neigung zu scharfen Getränken, dementsprechend schwer ist seine Gesundheit angeschlagen. Zwei Söhne entspringen dieser Ehe: Adolf junior und der am 21. März 1925 im Sternzeichen des Widders geborene Hugo. Besondere Talente scheinen ihm nicht in die Wiege gelegt zu sein. Er ist von schmächtiger Statur und von still-träumerischer, eher scheuer Wesensart, weshalb ihn seine Mutter häufig in ihre Bündner Heimat mitnimmt, um eine allmähliche Kräftigung des Knaben zu erreichen. Nach jahrelanger Krankheit verstirbt der Vater 1934. Beide Söhne haben ihn nur als Kranken und Abwesenden gekannt – beiden sollte als wichtiges Mosaikstück ihres Lebensweges die leitende Hand eines engagierten Vaters fehlen. Es sind sogenannt kleine, nicht aber ärmliche Verhältnisse, in die Hugo Koblet hineingeboren wird. Aber eben die einfachen Verhältnisse bilden in ihrer Kargheit und Beschränktheit oft die Rahmenbedingungen für den unbedingten Aufstiegswillen zahlreicher junger Talente im Radsport oder im Fussball – eigentliche Volkssportarten ohne unüberwindbare materielle Einstiegshürden. Die Zwischenkriegszeit bringt schwierige weltwirtschaftliche Verhältnisse. Die grossen europäischen Nationen erholen sich mühsam von den Folgen des von ihnen leichtfertig entfesselten selbstzerstörerischen Ersten Weltkriegs, die Alte Welt und insbesondere die Schweiz ist mit Flüchtlingen, unter ihnen Mitglieder entthronter Herrscherhäuser, reichlich versorgt. Die siegreichen Truppen der USA sind in die Heimat zurückgekehrt, der Taumel der Siegesparade über die New Yorker Fifth Avenue ist der Besorgnis um die kränkelnde Volkswirtschaft gewichen. Der Börsenkrach vom Herbst 1929 bahnt sich scheinbar lautlos an. 16


Hugo Koblet im 3. Rang des Amateurrennens «Grand Prix Vuichard» von Fribourg – tatsächlich ein «Sunny-boy».

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Hugo Koblet, zeitlebens von schlanker und feingliedriger Gestalt, wird von den ersten Schultagen an eingespannt in den elterlichen Betrieb: Nach der Schule gilt es, mit dem Fahrrad Backwaren zur Kundschaft zu bringen. Nach der Verträgertätigkeit erledigen die beiden Brüder im ersten Stock ihrer Wohnung gemeinsam die Schulaufgaben. Ehemalige Schulkollegen von Hugo Koblet erinnern sich an einen ruhigen Mitschüler. Sehr früh tritt mit der Qualität seiner Zeichnungen seine künstlerische Begabung zutage. Auffallenderweise erledigt der Knabe ausnahmslos alle KommisHugo Koblet, aufgrund des Verdikts des Aushebungsoffiziers («Damit Sie sionen mit seinem Fahrrad. Obmarschieren lernen!») bei den Gebirgswohl der Milchladen kaum zwantruppen; später wegen Rückenwirbelzig Schritte von der elterlichen problemen aus der Schweizer Armee Bäckerei entfernt liegt, besorgt er entlassen. den täglichen Transport von acht bis zehn Litern Milch zur Bäckerei jahrelang per Velo, und zwar unfallfrei. Bereits im jugendlichen Alter erleidet er andauernd Reifendefekte; da das Geld für neue Reifen fehlt, näht er seine Collés eigenhändig wieder zusammen. Während der Ausbildung zum Kunstschlosser und Fabrikspengler in der Unternehmung Belmag meldet sich Koblet öfters krank, um ungestört seiner Leidenschaft zu frönen. Als ein Werkmeister ihm einen Krankenbesuch abstatten will, fliegt die Sache auf. Schwierigkeiten bereiten auch seine Schiessübungen mit einem Flobertgewehr. Als andauernd Fensterscheiben in Brüche gehen und schliesslich ein verirrtes Geschoss den Finger der Metzgerstochter trifft, setzt der ältere Bruder Adolf dieser Tätigkeit ein Ende. Die Mutter sträubt sich anfänglich stark gegen das «ewige Velofahren». Weder erscheint es ihr als seriöse Berufstätigkeit, noch traut sie einem Radprofessional ein hinreichendes Einkommen zu. Erst als der 18


Hugo Koblet, kurz geschoren, stĂśsst mit den Kameraden auf den Abschied vom Zivilleben an.

Name ihres Sohnes vermehrt in den Sportmeldungen der Zeitungen erscheint und er immer häufiger Preisgelder nach Hause bringt, beginnt sie an seinem Erfolg teilzunehmen.

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