Nicole Niquille

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Nicole Niquille, geboren 1956 in Freiburg, ist eine ehemalige Schweizer Bergführerin (1986 Patent als erste weibliche Kandidatin brevetiert). Gemeinsam mit Erhard Loretan Expeditionen im Himalaya, so 1985 zum K2, wo sie über 8000 m erreicht; ein Jahr darauf zum Mount Everest, an dem sie knapp scheitert. 1994 wird sie beim Pilzesammeln von einem Stein getroffen; der Unfall lässt sie gelähmt zurück. Nach der Fachprüfung als Wirtin führt Nicole Niquille während 14 Jahren ein Bergrestaurant in den Walliser Alpen. 2005 nimmt das auf ihre Initiative hin gegründete Spital Pasang Lhamu im nepalesischen Himalaya-Vorgebirge den Betrieb auf.

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Emil Zopfi Dichter am Berg Alpine Literatur aus der Schweiz 376 Seiten, 21 Abb. 13,5 x 21,5 cm Hardcover mit SU ISBN 978-3-909111-67-1

P. Werner Lange Traumberg Kilimandscharo Vom Regenwald zum tropischen Eis. Ein Reisebericht 304 Seiten, 67 Abb. 13,5 x 21,5 cm Hardcover mit SU ISBN 978-3-909111-51-0

Nicole Niquille, die erste Schweizer Frau mit Bergführerdiplom, kennt die Höhen und Tiefen des Lebens. Sie, die über zahlreiche Gipfel im Himalaya und den Alpen triumphierte, erleidet einen beinahe tödlichen Unfall . . . beim Pilzesammeln. Obwohl in Zukunft an den Rollstuhl gefesselt, stellt sie sich ihrer grössten Herausforderung: der Gründung eines Spitals in den Bergen ihres geliebten Nepal.

ISBN 978-3-906055-10-7

Und plötzlich . . . am Himmel ein Berg

Andy Kirkpatrick Kalte Kriege – Der schmale Grat zwischen Risiko und Realität 432 Seiten, 48 Abb. 13,5 x 21,5 cm Hardcover mit SU ISBN 978-3-906055-01-5 CHF 39.80

Niquille

Alpinliteratur im AS Verlag

Nicole Niquille

Und plötzlich . . . am Himmel ein Berg Schicksal einer Unbeugsamen

Für Nicole Niquille, die junge Bergsteigerin aus dem freiburgischen Greyerzerland, scheint es keine Grenzen zu geben. Packend und amüsant zeichnet ihr Bericht die Lebensstationen einer Besessenen nach: erste Klettererfahrungen in den heimischen Gastlosen, die Partnerschaft mit dem Ausnahmetalent Erhard Loretan, die sie von den «grossen» Alpengipfeln bis zu den Achttausendern des Himalaya führt, der von zahlreichen Hindernissen gesäumte Weg zum Bergführerdiplom, das sie 1986 als erste Schweizer Frau schafft. Ihrer Unternehmungslust scheint alles möglich. Flaue Saisons füllt sie als Fassadenkletterin für eine Reinigungsfirma; sie gründet eine Sportmodekette und führt Reisegruppen durch den indischen Dschungel . . . Dann trifft sie auf eine Herausforderung, die steiler aufragt als die Hänge des Everest. Bei einem Ausflug wird sie von einem aus grosser Höhe stürzenden nussgrossen Kiesel getroffen – und bleibt für den Rest ihres Lebens auf den Rollstuhl angewiesen. Aber mit unzähmbarer Energie und Lebensmut erschliesst sich die Spitzensportlerin neue Horizonte. Sie erwirbt das Wirtepatent und macht aus einem verlassenen Bergrestaurant am Lac de Taney in den Walliser Bergen innert kürzester Zeit ein populäres Ausflugsziel. Aber die Erinnerung an die Höhenzüge Nepals und ihre liebenswerte Bevölkerung lässt sie nicht los. Zusammen mit ihrem Ehemann Marco Vuadens gründet sie eine Stiftung zum Bau eines Bergspitals am Fuss des Himalaya. Dank enthusiastischer Unterstützung aus den weitesten Kreisen – Alpinisten, Politiker und grosse Teile der Bevölkerung – wird das Hôpital Pasang Lhamu & Nicole Niquille in Lukla Wirklichkeit. Ihr Lebensbericht schildert voller Fröhlichkeit, ja geradezu geniesserisch, die schwindelerregende Zeit der Eroberungen und die Zeit danach – ohne Bitterkeit, ohne Bedauern.


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Geschrieben in Zusammenarbeit mit Aimé Corbaz. Die Originalausgabe ist 2009 in französischer Sprache unter dem Titel «Et soudain, une montagne dans le ciel. . .» von Nicole Niquille bei Editions FAVRE SA, 2009 Lausanne, Suisse, erschienen.

www.as-verlag.ch Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe: AS Verlag & Buchkonzept AG, Zürich 2013 Gestaltung: Urs Bolz, Zürich Lektorat: Caroline Fink, Zürich Korrektorat: Alfred Mathis, Willstätt Druck und Einband: Kösel GmbH & Co. KG, Altusried-Krugzell ISBN 978-3-906055-10-7

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Und plötzlich . . . am Himmel ein Berg Aus dem Französischen übersetzt von Hans Peter Treichler

AS Verlag


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Ganz herzlich danke ich allen professionellen Fotografen, die zur Bebilderung dieser Biografie beigetragen haben. In alphabetischer Reihenfolge sind dies: Klaus Brenning Danielle Duchoud Claude Gluntz, L’illustré Rob Lewis Fredy Minder François Perraudin Jean-François Robert Didier Varrin, L’illustré

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07 Vorwort: Eine Frau in Bewegung 11 Nur wer vorausgeht, bahnt sich einen Weg 21 Richtige Lausemädchen! 33 Ein Adler am Himmel 47 Vogelschau 53 Wenn du fällst, bist du geliefert! 61 Frau und Bergführerin . . . eine Premiere 83 Frauen, meine Heldinnen! 91 Das Abenteuer «Chouette» 99 Dank an den Berg – aus tiefstem Herzen 109 «Magic Moments» in der Wüste 119 Mein Dschungelbuch 127 Der K2 oder Der Einklang von Herz und Verstand 149 Das düstere Gesicht des Himalaya 163 Wenn Nicole die Akrobatin spielt 181 Schädel-Rehabilitationszentrum Basel 193 Mit Marco gibt es jeden Tag etwas zu lachen 209 Das Glück liegt in allem, was man gerade tut 221 Eine Welt voller Dankeschön 233 Einfach ist das Rezept zum Glück

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Vorwort Eine Frau in Bewegung Jean-Philippe Rapp

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ch erinnere mich: Dezember 1999. Wir stehen am Vorabend des neuen Jahrtausends. Zwei grosse Medienunternehmen haben

eine Idee ausgeheckt: Fernsehzuschauer respektive Leserschaft sollen den grössten Sportler bzw. die grösste Sportlerin des ausgehenden Jahrhunderts wählen. So, als liesse sich alles mit allem vergleichen: Epochen, Bedingungen, Sportarten. Etwas Absurdes haftete dieser Ausschreibung an, und die Sportverantwortlichen der verschiedenen Sparten freuten sich schon auf diesen oder jenen Torhüter oder Formel-1-Piloten. Aber der Entscheid des Publikums fiel klug und besonnen aus. Nicole Niquille und Erhard Loretan waren die Erwählten. Zwei Alpinisten reinsten Wassers, Herrscher in einer Disziplin, die sich nicht vereinnahmen lässt von Blendertum, von künstlicher Stimmungsmache, von aufgeblähtem Medienrummel. Ich gehe sogar noch weiter. Zwei Helden. Sie werden das entrüstet zurückweisen, und trotzdem . . . Zwei Menschen, die sich allein oder gemeinsam den höchsten Gipfeln gestellt haben – Gipfeln, die nichts verzeihen. Am wenigsten die Respektlosigkeit und die Überheblichkeit. Vielleicht verleiten Sie die folgenden Zeilen zum Nachdenken über die Helden, die uns faszinieren. Sind sie Ausserirdische, Halbgötter, sind sie auf der Jagd nach dem Dollar-Olymp, dem flüchtigen Ruhm? Oder gleichen sie vielmehr uns selbst – wenn auch grösser, stärker, entschlossener? Der beste Test für diese Frage sind die Rückschläge, die Hindernisse, das Pech. Dinge, die uns allen begegnen. Ihnen gelingt es, sie mit einzigartiger Entschlusskraft zu überwinden – Nicole und Erhard, zwei Menschen einer besonderen Kategorie.

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Nicole, Franรง0ise, Maritou und Charles im Jahre 1969.

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n der Schule galten Françoise und ich zwar als gute Schülerinnen, aber besonders fleissig waren wir nicht. Mit zwölf Jahren,

nach dem Abschluss der Primarschule, mussten wir alle während der Ferien arbeiten – so viel Disziplin war Teil unserer Erziehung. Françoise und ich begannen also mit dem Herstellen von allerlei Krimskrams in einer Boutique, die Dekorationen für Hochzeiten anbot. Wir klebten Wäscheklammern an Kiesel oder versahen kleine Engel aus Wachs mit Flügeln. Arbeiten, die mir in bester Erinnerung geblieben sind. Beim Eintritt ins Lycée Sainte-Croix von Fribourg wurden Françoise und ich zum ersten Mal getrennt; man teilte uns zwei Parallelklassen zu. Da wir uns glichen wie ein Ei dem anderen, wechselten wir die Klasse je nach anstehenden Prüfungen. Meine Zwillingsschwester war besser in Mathematik, ich übertraf sie im Französischen. Dieses Austauschsystem funktionierte über längere Zeit hinweg sehr gut, aber manchmal wurden wir doch entdeckt. Das erste Mal auf Grund der Handschrift, ein anderes Mal durch eine Schülerin, die uns verpetzte. Zur Strafe schleppten wir sie auf die Toilette, steckten ihren Kopf in die Schüssel und betätigten die

Spülung . . . Der grosse Vorteil, auf zwei Klassen aufgeteilt zu sein, zeigte sich beim Schwänzen. Wir konnten dem Unterricht an einem bestimmten Tag unerlaubterweise fernbleiben, ohne dass eine allzu auffällige Lücke entstand. Trotz all dieser Vorteile musste ich die fünfte Klasse wiederholen; Françoise war ein Jahr danach an der Reihe. In einem Gymnasium für Mädchen aus guter Familie, einer sehr korrekten Schule, mussten auf die Dauer solche Schülerinnen auffallen, die sich keinen Deut um die Vorschriften kümmerten, vielmehr die Professoren nervten, Stinkbomben versteckten oder zum Genfer Flohmarkt reisten, wenn sie gerade dazu Lust hatten . . . Dieser Flohmarkt war am Donnerstagnachmittag unser beliebtestes Ziel. Beide fabrizierten wir jeweils einen Grund für unsere Abwesenheit und entwickelten dabei sogar einen Wettbewerb für die dümmste Ausrede. Den gewann übrigens Françoise auf spektakuläre Weise, als sie einmal behauptete, sie sei im Lycée im Lift stecken geblieben. 34


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Schwester Romualda antwortete darauf ziemlich spitz: «Françoise, Sie machen sich lustig über mich. In Sainte-Croix gibt es gar keinen Lift.» Ein bevorzugtes Spiel, das ich mit meiner Freundin Odile betrieb, bestand darin, einen Lehrer in Verlegenheit zu bringen – mit allen Schlichen unserer pubertierenden 15 Jahre. So erklärte uns unser Französischprofessor einmal die Etymologie des Wortes «copain». «Co» und «pain» ergaben jemanden, der sein Brot mit jemandem teilt. Worauf Odile wissen wollte, woher das Wort «copine» stammte, wohl wissend, dass sich in der zweiten Silbe der Slangausdruck für das männliche Glied verbarg . . . Ich brauche nicht zu betonen, dass wir keine Antwort erhielten. Wenigstens können Odile und ich immer noch über die Sache lachen, auch wenn ich sie nur noch selten sehe. Aber wenn, zeigt sie den gleichen Verschwörergeist wie damals. Papa sammelte alles, was man nur sammeln konnte: Reisekoffer, Reisetaschen, Flöten, Peitschen, Faustwaffen. Ab und zu trat er uns ein paar von seinen Sachen ab, was unserem kleinen Stand auf dem Flohmarkt von Fribourg etwas mehr Gewicht gab. Die Geschäfte liefen nicht schlecht, vor allem weil Françoise und ich eine Menge Geräte und anderes Zeug bei unseren Freunden und Freundinnen abschleppten. Deren Eltern waren wahrscheinlich entzückt, wenn auf diese Weise etwas Ordnung in ihr Durcheinander kam. Auf diese Weise hatte jedermann etwas von der Sache: Unser kleiner Handel war einträglich, und im Haus unserer Freunde war etwas mehr Platz geschaffen. Man darf wirklich behaupten, dass unsere Jugend sehr abwechslungsreich war. Mit fünfzehn ergriff ich die Flucht. Nach Paris. Nur meine Zwillingsschwester war auf dem Laufenden. Sie hatte wohl versucht, mich abzuhalten, aber ich setzte meinen Willen durch. Wenn man in diesem Alter den ersten Liebeskummer erleidet, will man verreisen, damit es weniger schmerzt. Ich brach also nach Paris auf, per Anhalter. Besonders erinnere ich mich an einen Lastwagenfahrer der Firma Larousse mit Namen Serge, der mich in Auxerre mitnahm. 35


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1978 mit Raymond Angeloz, einem Bergf端hrerkollegen, in der Region von Orny.

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ines Tages habe ich beschlossen, in den Bergen und von den Bergen zu leben. Ich habe Mama und Françoise um ihre Mei-

nung gebeten und beide haben geantwortet, ich solle das anpacken, nur zu. Ich habe auch mit Erhard darüber gesprochen, damals meine grosse Liebe. Ich erinnere mich nicht mehr genau an seine Reaktion, aber sein Stummbleiben hat wahrscheinlich meine letzten Zweifel

beseitigt . . . So kam es, dass ich mich als Bergführer-Aspirantin einschrieb. Ich reichte das obligatorische Leumundszeugnis ein, mein Tourenbuch, einen Auszug aus dem Strafregister und ein ärztliches Zeugnis. Kein Leichtes, dieses ärztliche Zeugnis! Es war schwierig, einen Mediziner zu finden, der mir eines ausstellte, natürlich wegen dem Zustand des linken Beins. Schliesslich war es ein befreundeter Höhenmediziner, dem ich erklärte, ich bräuchte dieses Zeugnis unbedingt; meine kleine Lähmung stelle für das Leben meiner zukünftigen Kunden nicht das geringste Risiko dar. Er stellte das Zertifikat aus und blendete darin alles aus, was mit den unteren Gliedmassen zu tun hatte. Also meldete ich mich für die Bergführerprüfung an und hütete mich davor, mit irgendjemandem auf irgendwelche Details einzugehen. Erhard war am Berg sehr erfahren und begabt. Wenn wir zusammen kletterten, führte er unweigerlich. Ich hatte sozusagen nichts anderes zu tun, als ihn zu sichern und dann zu folgen. Die einzigen Bedingungen waren eine gute körperliche Form, ein ausgeglichenes Temperament (ahem!) und Kaltblütigkeit bei allen Herausforderungen, auch bei den heikelsten Situationen. Er war so viel kräftiger als ich, dass es lächerlich gewesen wäre, wenn ich als Erste geklettert wäre, nur um die Führung zu übernehmen. Und dann muss ich gestehen, dass ich den Platz hinter ihm keineswegs verabscheute; er war bequemer. Wir hängten die Seillängen jeweils in flottem Tempo aneinander und machten herrliche Touren, eine prächtiger als die andere. Umgekehrt fühlte ich mich manchmal schon etwas frustriert. Denn für den Ersten der Seilschaft ist der Unterschied enorm, vor allem der mentale. Bis zum ersten Sicherungspunkt ist keinerlei Fehler erlaubt und auch hinterher oft nicht! Natürlich hatte ich zahlreiche 62


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Touren oder Kletterpartien als Vorsteigerin geführt, aber den grössten Teil der Touren, die als schwierig erachtet wurden, absolvierte ich im Gefolge von Erhard. Es scheint, dass ich immer wieder Herausforderungen brauchte, mir im Leben immer neue Ziele setzen wollte. Und ich war begierig darauf, Fortschritte zu machen. Also begann ich für den Bergsteigerkurs zu trainieren. Ich gab an der Schule von Farvagny einen unbezahlten Urlaub von einem Jahr ein, der mir verweigert wurde. Nun gut, ich kündigte. Als ich mich im Jahre 1984 beim Aspirantenkurs einschrieb, wusste ich noch nicht, dass ich die erste Frau in der Schweiz sein würde, die das wagte. Es waren 85 Kandidaten – 84 Männer und ich! Man traf sich in St. Moritz in der Lobby eines Hotels; ich war ziemlich angespannt. Sogenannte «Kollegen» wollten wissen, wer der Freund sei, den ich begleitete, oder ob sich mein Bruder eingeschrieben habe . . . Ich muss anfügen, dass ich mit meinen 1 Meter 60 und einem Gewicht von 45 Kilo kaum dem Standardmass eines Bergführers entsprach. Kam hinzu, dass ich als «Herr Niquille» eingetragen wurde, als ich mit den verlangten Papieren vortrat. Oder dann wurde ich gefragt: «Du kommst aus dem Kanton Fribourg? Gibt es denn bei euch da unten Berge?» Oh ja, meine Herren Experten! Bei uns gibt es Berge, nicht nur Maulwurfhügel! Gott sei Dank waren zwei Kameraden aus dem Greyerzerland dabei, die mich unterstützten, Pommel und Jean-Claude. Aber leider wurde ich nie den gleichen Klassen zugeteilt wie sie. Ich befand mich in einer Gruppe von Deutschschweizern und hatte mehrere Male den Eindruck, unsere Gruppe würde härter geprüft als die anderen. So mussten wir einmal ein Iglu bauen und darin übernachten, während die anderen Gruppen die Nacht in einer Hütte verbrachten, schön gemütlich an der Wärme. Natürlich war es logisch, dass ich als erste Frau, die den Kurs wagte, unter besonderer Beobachtung stand, was die Tatsache jedoch mental nicht weniger anstrengend machte. Der erste Kurs, jener für Aspiranten, dauert acht Wochen, verteilt auf ein Jahr; ihn absolvierte ich 1984. Ab Jahresende arbeitete ich bereits in meiner Eigenschaft als Bergführeraspirant. Aber ein solcher – 63


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oder eine solche – hat noch nicht das Recht, einen Kunden allein auf den Gipfel zu führen. Doch es ist wichtig, eine möglichst grosse Anzahl Touren anzusammeln, wenn man zu Beginn des Bergführerkurses einen imposanten Fähigkeitsausweis vorlegen will. Im ersten Teil des Aspirantenkurses wurden die skifahrerischen Fähigkeiten geprüft. Man lehrte uns, lawinengefährdetes Terrain zu erkennen und zu vermeiden. Dabei galt es die Art des Schnees zu definieren, die potentiellen Gefahren des Hangs, das Wetter, die Hangneigung und so weiter. Beim Test gab man uns beispielsweise die Karte eines Gipfels in die Hände und überliess es uns, die Route festzulegen und die Seilschaft zu führen. Die Experten wechselten jede Woche, und jeden Tag gab es Noten: fürs Technische, für die menschliche Seite, unsere allgemeinen Kenntnisse, unsere Beziehung zum Kunden, unsere Wahrnehmung der natürlichen Umgebung. Wir waren dauernd unter Hochspannung – kein Wunder, blieben von den anfänglich 85 Kandidaten nur etwa 50, die abschlossen und damit Anrecht auf den Bergführerkurs hatten. Wenn die ganze Ausbildung vorbei ist, wird es ohnehin nochmals komplizierter, denn nur fünf oder sechs Führer üben ihren Beruf zu hundert Prozent aus, während die anderen ihre Leidenschaft mit einem Zweitjob kombinieren werden. Beim Schlussexamen des Aspirantenkurses musste ich einen Kollegen aus Zermatt, der über hundert Kilo wog, aus einer Spalte ziehen. Er simulierte einen Ausrutscher und einen Sturz in eben diese Spalte, und meine Aufgabe war es, das Seil zu sichern und ihn herauszuholen. Wir beiden bildeten auf dem Schnee eine schöne italienische Flagge: Er war grün und ich purpurrot. Er steckte da unten und ich klammerte mich an meinen Eispickel, fünf Meter vom Rand der Spalte entfernt. Frauen haben weniger physische Kraft als Männer, aber waren es nicht die männlichen Guides, die dauernd posaunten: «In unserem Beruf arbeitet man mehr mit dem Kopf als mit den Muskeln»? Ob es 1986, nach meiner Diplomierung, auch noch so klingen würde? Glücklicherweise gibt es verschiedene technische Hilfen, um das kleine weibliche Handicap auszugleichen – Sicherheitsvorkehrun64

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Vor dem Iharen, dem W端stenberg bei Tamanrasset in Algerien.

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ch lernte Pascal beim Klettern in den Gastlosen kennen. Das war im Herbst 1990, an einem Tag, an dem ich mit einer Gruppe

Jugendlicher unterwegs war. Pascal seinerseits hatte gehört, Nicole sei in den Gastlosen. Nun gab es zu dieser Zeit zwei Schweizer, die in

der Welt der Extremkletterer einen ausgezeichneten Namen hatten. Sie schafften eine 8a-Route (ein Schwierigkeitsgrad beim Felsklettern) onsight, sprich beim ersten Versuch und ohne vorhergehende Versuche in der Route. Um eine sehr schwierige Passage zu meistern, können die Kletterer entweder vor Ort üben, bis sie sie schaffen, oder sie rekonstruieren sie zu Hause auf einer kleinen Kletterwand und versuchen sich erst dann vor Ort an ihr, wenn sie sich sicher genug fühlen. Nun, diese beiden Schweizer hiessen Frédéric und François . . . Nicole! Und Pascal meinte, es müsse sich um die beiden handeln. Als er am Oberbergpass ankam, wo ich mit meiner Gruppe übte, fragte er mich: «Weisst du, wo genau die Gebrüder Nicole klettern?» Worauf ich antwortete, ich wüsste überhaupt nicht, dass sie sich hier in der Gegend aufhielten. Zu mir selbst sagte ich: Schau einer an, gar nicht schlecht, der Typ! Jedenfalls kamen wir schliesslich darauf, dass er jemanden suchte, der gar nicht da war und dass sich irgendeine Verwechslung mit meinem Vornamen ergeben hatte. Dieses Kuddelmuddel war also der Anlass, dass ich Pascal kennenlernte. Ein paar Stunden später trafen wir uns zufällig (wenn man denn an Zufall glauben will) auf dem Parkplatz. Sein Cousin und er waren für eine Woche zum Klettern in die Schweiz gekommen und wollten dann zurück nach Grenoble, wo sie wohnten. Wir beschlossen also, uns während ihres Urlaubs zu treffen und zusammen oberhalb von Interlaken zu klettern, auf einer Felswand, die für ihre schönen Routen berühmt ist. In den darauffolgenden Monaten haben wir uns mehrmals getroffen. Er kam öfters in die Schweiz, und wir übten uns hauptsächlich im Sportklettern. Als Bergführer macht man vor allem Hochgebirgstouren mit Eispickel und Steigeisen, Touren mit Ski, alpine Routen im Fels oder dann Touren, die alle diese Möglichkeiten kombinieren. Das Sportklettern betrieb ich zu dieser Zeit nur mal gelegentlich in meiner Freizeit. Tatsächlich meistern die wenigsten 164


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Hochgebirgsführer diese höchsten Schwierigkeitsgrade, ausser sie spezialisieren sich in dieser Disziplin. Trotzdem gibt es eine ganze Anzahl komplett ausgebildeter Bergführer, die ihre Kunden sowohl über eine Senkrechtroute im Eis wie über eine Hochgebirgsroute vom höchsten Schwierigkeitsgrad führen können, ebenso wie über eine steile und lange Route im Fels: Der Bergführer ist per Definition ein Spezialist des Bergs. Aber das reine Klettern an einer Felswand und das Klettern im alpinen Gelände sind zwei ziemlich verschiedene Dinge. Heute ist das Klettern eine eigene Sportart geworden. Es gibt das Klettern in der Halle, was bei schlechtem Wetter das Training erleichtert. Es gibt Klettern als Tanzspektakel, choreographisch gestaltet, oder dann Wettbewerbe nach Schwierigkeitsgrad oder sogar nach Geschwindigkeit. Kurz und gut, im Jahre 1990 war das Sportklettern eine Disziplin, die ich nicht oder nur ganz selten ausübte. Mit Erhard und den anderen Kollegen in den Gastlosen zog ich bei jedem Wetter los, und es brauchte schon einen Sturm, der die Ziegel von den Dächern riss, damit wir auf das Klettern am Berg verzichteten. So war es eigentlich erst nach der Begegnung mit Pascal, dass ich das Sportklettern intensiver zu betreiben begann, ob in der Halle oder im Freien. Mit ihm zusammen lernte ich alle – oder fast alle – der berühmten Felswände der Schweiz, in Frankreich oder im spanischen Navarra kennen. Für ihn zählte allein das Klettern, und wäre es nur an einem kleinen Felsblock. Bis zu unserer Begegnung kletterte er täglich mindestens eine Stunde. Über Mittag fuhr er zu einem Steinbruch ganz in seiner Nähe in Grenoble, um «Bouldering» zu betreiben – also das Klettern an grossen Felsblöcken in Absprunghöhe. Er liebte es, immer noch schwierigere Züge auszuprobieren, an Felsblöcken, die nicht einmal sehr hoch zu sein brauchten, da er sich oft seitlich vorwärtsbewegte, in der Traverse. Manchmal musste ich schmunzeln, wenn er eine besonders schwierige Passage ausprobierte – mit dem Hintern knapp über dem Boden! Aber eben, das waren ausgesprochen schwierige Aufgaben, bei denen es nichts zu lachen gab. Vielmehr ermutigte ich ihn, blieb diskret im Hintergrund, bis dann die Reihe an mir war. Zuerst wandte ich noch ein, ich käme mir 165


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Roter Teppich f端r einen Rollstuhl . . .

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ir schreiben den 8. Mai 1994. Sonntag, Muttertag. Françoise und ich sind just an einem solchen Sonntag und Mut-

tertag auf die Welt gekommen. Und es ist an diesem Tag, dass ich bei-

nahe gestorben wäre. Die ganze Familie hatte einen Ausflug mit Mama organisiert, aber ich war nicht mit von der Partie, auch nicht mein Mann Pascal. Weshalb, weiss ich beim besten Willen nicht mehr. Wir hatten Besuch von einem Freund aus Mazedonien und zusammen beschlossen wir, Morcheln suchen zu gehen, gleich hinter La Bourliandaz. Das letzte Bild, das mir von diesem Tag bleibt, zeigt mir Nicole im Regen, glücklich, mit einer Tüte Morcheln in der Hand. Was folgt, ist schwarze Nacht. Pascal und Neshret haben mir den Unfallhergang erzählt. Ich hob plötzlich vom Boden ab, als sei ich auf eine Mine getreten, und rollte dann in die Geröllhalde. Sie liefen zu mir hin und sahen, dass mein Schädel offen war. Neshret blieb bei mir; ich war bewusstlos. Pascal rannte zum Bauernhaus unterhalb des Waldes und rief unseren Freund Alfons an, der damals die Greyerzer Rettungskolonne leitete. Alfons veranlasste alles Nötige, um einen Rettungshelikopter vor Ort zu schicken. Ich wurde intubiert, erhielt eine Infusion, und der Helikopter brachte mich ins Universitätsspital nach Lausanne. So wie Pascal es sieht, hat der Kiesel die Felswand, unter der ich stand, nicht berührt. Er muss direkt von der Krete heruntergefallen sein, wo ihn wahrscheinlich eine Gämse losgetreten hat. Es war nichts als ein Steinchen, so gross wie eine Nuss, aber nach dem Fall aus einer Höhe von hundert Metern wog er so schwer wie das Äquivalent einer Tonne. Als ich die Augen aufschlug, stand niemand an meinem Bett. Aber ich erinnere mich sehr genau, dass ich mir sagte: Oh, là, là!, Nicole, das ist viel schlimmer als das letzte Mal! Was ich noch nicht wusste: Ich hatte drei Tage in einem künstlichen Koma verbracht. In den darauffolgenden Tagen erfuhr ich, dass die Ärzteschaft in dieser Zeit der Bewusstlosigkeit meiner Familie erlaubt hatte, mich zu besuchen, und dass sich dabei etwas Unglaubliches ereignet hatte: Kaum hatte Françoise die Intensivstation 182


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betreten, so veränderte sich das Schema meines Elektroenzephalogramms. Ob das Unbewusste diese Abläufe steuert? Als man mich aufweckte, konnte ich nicht mehr sprechen. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich mich auch nicht bewegen konnte. Ich hatte eine Infusion, um mich zu ernähren, eine Sonde zum Urinieren, einen Luftröhrenschnitt, um zu atmen, kurz: Ich war überall festgepikt. Ich konnte einzig den Kopf etwas nach links drehen, ganz langsam und mit unsäglicher Mühe. Nach langen Tagen vollständigen Stummseins war das erste Wort, das ich mir zuerst im Kopf vorsagte: «Oh». Ich hatte Durst und dachte mir, das müsste einfach auszusprechen sein. Mich dürstete nach Wasser, und dies trotz meiner Infusion! Ich brachte also mein «Oh!» heraus, einen kleinen, brüchigen Laut, der zwischen meinen wie ein Hühnerarsch zusammengezerrten Lippen hervordrang. Pascal, der im Zimmer war, fragte ganz erschreckt: «Water?», und ich antwortete mit «oui». Daraufhin trainierte ich ganze Tage lang. Am 13. Mai, meinem Geburtstag, brachte ich voller Stolz mein erstes Wort hervor, nach harter Arbeit: «Salut». Noch schaffte ich es nicht, ganze Sätze zu formulieren, aber das «Salut» war doch ein Anfang, und dieser kleine Fortschritt genügte, mir den unbändigen Willen zu kämpfen einzuflössen. Es ist wahr, dass ich anfänglich an Selbstmord dachte. Aber dann stellte ich fest, dass ich den linken Daumen bewegen konnte, und fasste neuen Mut. In manchen Augenblicken war ich sogar überzeugt, ich würde meine ganze Beweglichkeit wiedergewinnen. Ich blieb drei Wochen in der Lausanner Klinik. Keiner tat den Mund auf, man sagte mir nichts über meinen Zustand, ausser dass mir ein Stein auf den Kopf gefallen sei. Man erklärte mir nur, es handle sich um einen schweren Unfall, aber keiner der Ärzte wollte sich auf eine Prognose für die Zukunft einlassen. Dann wurde ich ins Rehabilitationszentrum für cranio-zerebrale Traumata in Basel überführt. Das war zu dieser Zeit das beste Zentrum seiner Art in der Schweiz. Schrecklich! Die ersten Monate in Basel waren fürchterlich. Natürlich, es ging mir schlecht, aber ich war ja nicht auf einen Schlag verblödet, ich war kein ahnungsloses Opfer . . . Im Gegenteil reali183


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sierte ich sehr wohl, dass man mich nach Basel gebracht hatte, weil die Ärzte eine vollständige Rehabilitation für unmöglich hielten. Auf einmal fand ich mich in der Welt der Leute, die man «Behinderte» nennt; im medizinischen Jargon war ich eine CZT, eine craniozerebral Traumatisierte. Konkret bedeutete das für mich, dass man mir den Schädel rasierte, dass ich durch eine Sonde urinierte, dass ich mich dem Ritual beugen musste, alle zwei Stunden umgelagert zu werden, damit keine wunden Stellen entstanden, und herunterzuschlucken, was immer man mir durch den Mund einflösste . . . Ganz zu schweigen von den Nächten, in denen man zum Ticktack des Sekundenzeigers die Hunderte und Tausende von Sekunden zählt, die einen vom nächsten Tag trennen, der aufs Neue unsägliche physische Leiden bringen wird. Die ersten zwei oder drei Tage verbrachte ich auf der Intensivstation, wo Tag und Nacht ein Pfleger an meinem Bett stand. Schon bald stellten sich zwei Physiotherapeuten ein, die mein Bett senkrecht aufrichteten. Das war super! Nachdem ich während Wochen nur die Nasenlöcher der Leute gesehen hatte, konnte ich endlich ihre Gesichter betrachten. Obwohl auch ziemlich viel abläuft, wenn man liegt. Wenn man zum Beispiel im Sommer einen Blumenstrauss geschenkt kriegt, tummeln sich die Bienen rund ums Kopfende. Und da ich ganze Berge von Blumen erhielt, leisteten mir ganze Bienenschwärme Gesellschaft. Man wird verstehen, dass ich manchmal wünschte, ab und zu würde einmal jemand eine Flasche Wein mitbringen . . . Trotzdem, es ging weiter mit den kleinen Erfolgserlebnissen. Nach dem Daumen nahmen auch die Finger der linken Hand den Dienst wieder auf. Im Kopf ging ich meinen ganzen Körper durch und sagte mir immer vor, wie auf einer Endlosschlaufe: «Nicole, du wirst wieder gehen.» Dann setzte ich in Gedanken einen Fuss vor den anderen, liess den Arm baumeln; ich stellte mir meine Glieder in Bewegung vor. So füllte ich meine Tage aus, zwischen den Pflegeeinheiten. Dazu gehörte, neben anderen Schrecknissen, die morgendliche Dusche. Mir war immer so kalt und ich verstand nicht, warum man mich dieser Eiseskälte aussetzen musste. Ich war vollständig nackt, 184


Nicole Niquille_Inhalt_1-240:Kleine Reihe

13.3.2013

17:24 Uhr

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und manchmal war es ein Pfleger, der mich zwischen den Beinen wusch. Ich unterwarf mich dieser Dusche wie einer Demütigung. Auch wenn dieser Pfleger ein ausgesprochener Profi war und ein wunderbarer Bursche dazu – aber: Nicht ich hatte ihn ausgewählt. Ich machte Krisen mit stechenden Schmerzen durch, wahrscheinlich weil meine Nervenbahnen völlig überreizt waren . . . Ich spürte, wie sich diese Krisen ankündigten, mit einer Art Ameisenlaufen . . . Und von Beginn weg litt ich unter einer Überempfindlichkeit des ganzen Körpers, konnte wegen einer Falte im Leintuch nicht schlafen; eine Fliege, die sich auf meinen Vorderarm setzte, tat bereits weh. Mehrere Male am Tag schrie und heulte ich vor Schmerz. Man gab mir Morphin, auf dem oralen Weg, nachdem ich bereits drei Spritzen mit Beruhigungsmitteln erhalten hatte; ja, es kam vor, dass man mich mit zusätzlichen Medikamenten total stilllegte. Ich war in einem Zimmer mit weiteren vier Patienten, und ich weckte sie nachts auf. Zwar bettete man mich jede halbe Stunde um, aber die Zwischenzeit war mir zu lang. Also klingelte ich immer wieder, belästigte dauernd eine holländische Krankenschwester, eine grosse Frau, die mir schliesslich Arme und Beine festschnallte, damit ich nicht mehr klingeln konnte. Macht nichts, wir sind anschliessend dicke Freundinnen geworden! Auch hatte ich schreckliche Angstzustände, eine unvernünftige Furcht davor, ich hätte nicht nur zerebrale Verletzungen davongetragen, sondern auch meine Psyche habe Schaden gelitten. Ich ging durch höllische Alpträume und sah immer wieder die gleichen Bilder aus diesem Film mit Jack Nicholson, «Einer flog über das Kuckucksnest»; ich träumte von diesem grossen Indianer, der seinen Mitpatienten mit einem Kopfkissen erstickt. Zwischendurch litt ich unter der Vorstellung, ich sei in einem Irrenhaus, mitten zwischen Patienten, denen es überhaupt nicht gut ging. Pascal war jeden Tag bei mir. Er las mir vor und übernahm die Basispflege. Auch Tante Colette kam regelmässig; sie war die Einzige, die mich dazu brachte, Birchermüsli zu essen! Françoise mit Familie machte ebenfalls regelmässig die Reise nach Basel, viel öfter als nur dann, wenn die Reihe an ihr war. Das Sozialamt kümmerte sich ein185


Nicole Niquille_Umschlag:Kleine Reihe

13.3.2013

16:21 Uhr

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Nicole Niquille, geboren 1956 in Freiburg, ist eine ehemalige Schweizer Bergführerin (1986 Patent als erste weibliche Kandidatin brevetiert). Gemeinsam mit Erhard Loretan Expeditionen im Himalaya, so 1985 zum K2, wo sie über 8000 m erreicht; ein Jahr darauf zum Mount Everest, an dem sie knapp scheitert. 1994 wird sie beim Pilzesammeln von einem Stein getroffen; der Unfall lässt sie gelähmt zurück. Nach der Fachprüfung als Wirtin führt Nicole Niquille während 14 Jahren ein Bergrestaurant in den Walliser Alpen. 2005 nimmt das auf ihre Initiative hin gegründete Spital Pasang Lhamu im nepalesischen Himalaya-Vorgebirge den Betrieb auf.

Emil Zopfi Dichter am Berg Alpine Literatur aus der Schweiz 376 Seiten, 21 Abb. 13,5 x 21,5 cm Hardcover mit SU ISBN 978-3-909111-67-1

P. Werner Lange Traumberg Kilimandscharo Vom Regenwald zum tropischen Eis. Ein Reisebericht 304 Seiten, 67 Abb. 13,5 x 21,5 cm Hardcover mit SU ISBN 978-3-909111-51-0

Nicole Niquille, die erste Schweizer Frau mit Bergführerdiplom, kennt die Höhen und Tiefen des Lebens. Sie, die über zahlreiche Gipfel im Himalaya und den Alpen triumphierte, erleidet einen beinahe tödlichen Unfall . . . beim Pilzesammeln. Obwohl in Zukunft an den Rollstuhl gefesselt, stellt sie sich ihrer grössten Herausforderung: der Gründung eines Spitals in den Bergen ihres geliebten Nepal.

ISBN 978-3-906055-10-7

Und plötzlich . . . am Himmel ein Berg

Andy Kirkpatrick Kalte Kriege – Der schmale Grat zwischen Risiko und Realität 432 Seiten, 48 Abb. 13,5 x 21,5 cm Hardcover mit SU ISBN 978-3-906055-01-5 CHF 39.80

Niquille

Alpinliteratur im AS Verlag

Nicole Niquille

Und plötzlich . . . am Himmel ein Berg Schicksal einer Unbeugsamen

Für Nicole Niquille, die junge Bergsteigerin aus dem freiburgischen Greyerzerland, scheint es keine Grenzen zu geben. Packend und amüsant zeichnet ihr Bericht die Lebensstationen einer Besessenen nach: erste Klettererfahrungen in den heimischen Gastlosen, die Partnerschaft mit dem Ausnahmetalent Erhard Loretan, die sie von den «grossen» Alpengipfeln bis zu den Achttausendern des Himalaya führt, der von zahlreichen Hindernissen gesäumte Weg zum Bergführerdiplom, das sie 1986 als erste Schweizer Frau schafft. Ihrer Unternehmungslust scheint alles möglich. Flaue Saisons füllt sie als Fassadenkletterin für eine Reinigungsfirma; sie gründet eine Sportmodekette und führt Reisegruppen durch den indischen Dschungel . . . Dann trifft sie auf eine Herausforderung, die steiler aufragt als die Hänge des Everest. Bei einem Ausflug wird sie von einem aus grosser Höhe stürzenden nussgrossen Kiesel getroffen – und bleibt für den Rest ihres Lebens auf den Rollstuhl angewiesen. Aber mit unzähmbarer Energie und Lebensmut erschliesst sich die Spitzensportlerin neue Horizonte. Sie erwirbt das Wirtepatent und macht aus einem verlassenen Bergrestaurant am Lac de Taney in den Walliser Bergen innert kürzester Zeit ein populäres Ausflugsziel. Aber die Erinnerung an die Höhenzüge Nepals und ihre liebenswerte Bevölkerung lässt sie nicht los. Zusammen mit ihrem Ehemann Marco Vuadens gründet sie eine Stiftung zum Bau eines Bergspitals am Fuss des Himalaya. Dank enthusiastischer Unterstützung aus den weitesten Kreisen – Alpinisten, Politiker und grosse Teile der Bevölkerung – wird das Hôpital Pasang Lhamu & Nicole Niquille in Lukla Wirklichkeit. Ihr Lebensbericht schildert voller Fröhlichkeit, ja geradezu geniesserisch, die schwindelerregende Zeit der Eroberungen und die Zeit danach – ohne Bitterkeit, ohne Bedauern.


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