E B O R P E S LE
OSWALD OELZ
Orte, die ich lebte, bevor ich starb
OSWA LD OE LZ Orte, die ich lebte, bevor ich starb
AS Verlag
Dank Ich danke allen, die dazu beitrugen, dass es das beste aller möglichen Leben wurde. Heinz von Arx, der die Idee für dieses Buch hatte und durchsetzte. Er und seine AS-Truppe haben meine Gedanken und Bilder umgesetzt, Karin Steinbach Tarnutzer hat meine Texte mit geduldiger Toleranz lektoriert. Meinen Freunden, die die Abenteuer geteilt haben und vorausgeklettert sind. Meinen vielen Kollegen und Freunden im weiten Feld der Medizin. Und Vanessa für ihre liebevolle Toleranz und Geduld.
www.as-verlag.ch
Bildnachweis
© AS Verlag & Buchkonzept AG, Zürich 2011 Gestaltung: Urs Bolz, Heinz von Arx, www.vonarxgrafik.ch, Zürich Lektorat: Karin Steinbach Tarnutzer, St. Gallen Korrektorat: Brigitte Frey, Kaiseraugst Fotolithos: Litho Atelier Thalmann GmbH, Wollerau Druck: B & K Offsetdruck GmbH, Ottersweier Einband: Grossbuchbinderei Josef Spinner GmbH, Ottersweier ISBN 978-3-909111-82-4
Fotos Oswald Oelz. Zusätzliche Fotos von: AS Verlag, Zürich: Seite 240 Sigi Brachmayer, Altenmarkt: Seite 154, 162 Mitte und unten, 174 unten, 193 Robert Bösch, Oberägeri: Seite 33, 40/41, 46 unten, 51, 85–86, 156–157, 159, 166/167, 171 links, 172 Kurt Brugger, Bozen: Seite 164 Hanspeter Eisendle, Sterzing: Seite 174 oben, 183 rechts Horst Fankhauser, Neustift: Seite 136 Mitte und unten, 184 oben, 188, 190/191 Paul Haas, Neustift: Seite 189 Markus Itten, Ins: Seite 70 unten, 226/227 Reinhard Karl, Heidelberg: Seite 58/59, 81
Milan Křivohlavý, Prag: Seite 224 oben Jerzy Kukuczka, Kattowitz: Seite 232 oben Simon Messner, Meran: Seite 165 unten Raymond Monnerat, Moutier: Seite 234 rechts Vanessa Oelz-Gütermann, Wernetshausen: Seite 75 unten, 82/83, 222/223 Albert Precht, Bischofshofen: Seite 8–13, 146/147, 151 oben, 155, 162 oben, 163, 175 oben, 192 Kobi Reichen, Lauenen: Seite 20/21, 36, 43 Jean Paul Richalet, Paris: Seite 234 links Regula Rüegg, Zürich: Seite 219, 221 Wanda Rutkiewicz, Warschau: Seite 232 oben links und unten Ueli Steck, Ringgenberg: Seite 50 oben, 54 Stadtspital Triemli, Zürich: Seite 212/213, 215 Georg Tappeiner, Bozen: Seite 27
Inhalt 6
Orte, die ich lebte, bevor ich starb
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Close calls Manchmal ist es schon fast passiert
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Alpeneinsamkeit Exklusive Wege fast vor der Haustür
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Ästhetik des Abgrunds Turnen über dem Bodenlosen
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Seven Summits Jahrzehnte der Eitelkeiten
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Meine schönsten Trekkings Von der wunderbaren Wirkung des Gehens
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Schnee über den Wolken Zu den afrikanischen Riesen
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Wadi Rum Im Reich der Sandsteinriesen
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Oman Morgenlandfahrten
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Inselklettern und -schottern Perlen im offenen Meer
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Der schönste Ort Das Spital und die Patienten
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Schafglück Vom Leben auf dem Lande
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Die grösseren Heere Tod in den Bergen
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Was bleibt Am Ende ist vieles unerledigt
Orte, die ich lebte, bevor ich starb Ich lebe noch ziemlich intensiv und habe nicht vor, demnächst zu sterben, ich will noch mindestens 20 Jahre klettern und überhaupt klettern, bis ich tot bin. Für das Höhenbergsteigen wird man irgendwann zu alt, klettern kann und muss ich bis zum Ende. Die Berge werden mit jedem Lebensjahr höher, die Zustiege länger, die Wände steiler und die Griffe kleiner. Deshalb muss ich die Ziele meinem Alter anpassen, mit 94 wird die Direktroute auf den Üetliberg zur Annapurna-Südwand. Im Kopf würden meine Pläne allerdings für die nächsten 200 Jahre reichen. Aber irgendwann wird mich, wie den Schreiner Valentin in Ferdinand Raimunds «Der Verschwender», der Tod am Ärmel zupfen: «Brüderl, kumm!» Noch stelle ich mich taub, obwohl die Todesanzeigen von meinem Jahrgang und von viel Jüngeren handeln. Am Endpunkt werde ich vor allem Unerledigtes zurücklassen, auch wenn ich gierig immer zugeschnappt habe und weiter zuschnappe, wenn es etwas zu erhaschen gab und gibt. Das Tun in der Medizin bis an die Spitze einer Klinik kontrastierte zum Tasten im löchrigen Omanfels, dem Schneebiwak in Lunana, zum Scheren der Schafe und zum Trekking im inneren Dolp0. Bergsteigen in allerlei Spielarten war für mich die ergänzende archaische Lebensform zum Wirken in der überregulierten Plastikwelt. Diese hat uns bequemen Komfort, physische Lebensqualität, mehr als verdoppelte Lebenserwartung sowie Allergien, krebserregende Chemikalien und Fettberge gebracht. Wir haben die Rhythmen der Natur ausgeschaltet, die Nacht ist taghell erleuchtet, Regen, Kälte und Sturm müssen wir nicht mehr spüren, kein Bär und kein Mammut drohen. Frauen und Gämsen sind nicht mehr mühsam zu erkämpfen und zu erjagen, die Kartoffeln graben wir nicht mehr selbst aus. Diesel und Flugbenzin ersparen uns das Gehen, Schichten aus Beton, allerlei Textilien und Metall haben uns von der Erde isoliert. Elektrische Leitungen und Ätherwellen transportieren täglich Milliarden von Banalitäten, Vermögen werden innert Mikrosekunden verschoben, alle simsen, aber nur noch wenige können reden. All das wird in ein immer dichteres Regulierungskorsett gezwängt, Sicherheitsvorschriften sind die modernen Terrornetze. Diese bringen in der Medizin und anderswo Qualitätskontrolle, behindern aber auch. Bald werde ich meine Fleischabfälle auch an Füchse nicht mehr verfüttern dürfen, und das Hirn meiner Lämmer dürfte ich schon jetzt nicht einmal mehr selbst verzehren. Da wächst das Verlangen nach dem Urleben. Die Urwelt, in der sich unsere Evolution vollzogen hat, war nämlich anders. Als wir vor einigen Millionen Jahren von den Bäumen heruntergestiegen waren, mussten wir kämpfen, um knapp zu überleben. Vor dem Bären konnte man entweder ganz schnell davonrennen oder sich ihm stellen. Wenige wurden dabei älter als 40 Jahre. Beim ernsthaften Bergsteigen kehren wir zu jenen Bedingungen zurück, unter denen die Entwicklung des Homo, der sich als sapiens qualifiziert hat, stattfand: Lebenswichtig ist ein ge-
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schützter Biwakplatz, ein Feuer, um Schnee zu schmelzen, Kartoffeln und etwas Parmesan sowie scharfe Steigeisenwaffen. Darin liegt die regenerative Potenz des Aufbruchs in die Wildnis. Beim Klettern in unbekanntes Gelände werden Sitzungsärger, Mobbing, das Finanzamt und die PS des eigenen Autos belanglos. Die Batterien laden sich beim Gehen im indischen Hochland für Herausforderungen in den Stadtschluchten von Zürich oder Berlin. Diese Therapie ist nicht ohne Risiken. Es fehlen viele Freunde, mit denen ich am gleichen Seil geklettert bin, mit denen ich gelacht habe und in deren Gesellschaft ich empfand, dass das Leben nicht mehr schöner werden könnte. Sie sind verschwunden, in Lawinen geblieben, abgestürzt, am Höhenödem gestorben und früh ins unbekannte Land vorausgegangen. Ob dieser Preis gerechtfertigt war, ist unergründbar. Einige Male hat Freund Hein auch schon auf mich gezielt und mich nur knapp verfehlt. Streifschüsse wie Felsbrocken, Eislawinen, Lungenödeme und ausbrechende Haken machten das herrliche Leben bewusster – wir klettern ja, um intensiv zu sein, nicht um zu sterben. «Das Geheimnis des fruchtbaren Lebens heisst gefährlich leben, darum: baut eure Häuser an den Vesuv», meinte Nietzsche. Die deutsche TV-Redakteurin Vera Bohle hängte ihren Job als TVRedakteurin an den Nagel und wurde Minenräumerin in Afghanistan. «Die ständige Gefahr und die Nähe des Todes haben mir das Leben und meine Unversehrtheit bewusster gemacht.» Bergsteigen ist eine wunderbare Alternative. Der grosse Bergsteiger Albert F. Mummery formulierte 1895 diese Unsicherheit bei einem Abstieg in unbekanntem Gelände: «Ob es möglich sein würde, den Bergschrund an diesem Ort zu queren, war ungewiss. Beim Bergsteigen sollte aber immer ein Rest dem Glück überlassen sein. Das macht die Prozedur würzig und interessant.» Die Sicherheits- und Plaisir-Industrie negiert das und hilft verdrängen, dass Leben «Sein zum Tode» (Heidegger) ist. Darum ist das ernsthafte Bergsteigen und der Versuch der Überwindung der Urangst vor dem Absturz in die Tiefe letzten Endes für die meisten so unverständlich. Vielleicht aber ist die Antwort nach dem Warum viel einfacher. Diego Wellig hat sie, als er gefragt wurde, warum er Achttausender besteigen wolle, so formuliert: «Weil es keine Neuntausender gibt.» Damit meinte er Ähnliches wie George Leigh Mallory, der 1924 eine Journalistenfrage, warum er den Everest besteigen wolle, mit «because it’s there» beantwortete. Beide drückten aus, wie unnütz und unbeantwortbar die Frage ist. So geniesse ich weiterhin jeden Tag, an dem ich einen Griff ertaste, die Sonne im Nacken brennt, der Durst wächst, der feuchte Schnee durchnässt oder zwei Lämmer zur Welt kommen. Die Botschaft von Jabal Misht, Cholatse, Heiligkreuzkofel und Triemlispital hat Max Frisch 1937 in «Antwort aus der Stille» unnachahmlich formuliert: «Warum leben wir nicht, wo wir doch wissen, dass wir nur ein einziges Mal da sind, nur ein einziges und unwiederholbares Mal, auf dieser unsagbar herrlichen Welt!»
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Close calls Manchmal ist es schon fast passiert
Hochkönig-Südwand, «Gloria Patri», August 2008 Die schweisstreibende Pilgerreise zum Wandfuss des Hochkönig im Salzburger Land. Vorangehende Doppelseite: Leben Nummer fünf ist verbraucht, das Jochbein hat gehalten. Ausstieg aus der Südwand des Hochkönig, 31. August 2008. Vor dem Transport ins Spital gab es in der Gipfelhütte als erste Hilfe noch Rotwein und Speckknödelsuppe.
«Gloria Patri» ist ein ziemlich bombastischer Name für eine Kletterroute. Diese Tour hat ihren Namen allerdings verdient, sie ist ein Ort der Herrlichkeit. Albert Precht kletterte 1985 mit drei Freunden erstmals frei durch die fast 600 Meter hohe Südwandflucht des Hochkönigs. Das Wasser hat in seinem eisenharten Kalk wundersame Wasserrillen geformt. Der Erstbegeher beschrieb diesen Alpinklassiker als «anspruchsvolle Freikletterei im gehobenen Schwierigkeitsgrad in ausnahmslos festem und kletterfreundlichem
Die Route «Gloria Patri» führt mitten durch den grauen Plattenpanzer, Albert hat die 600 Meter hohe Wand schon allein in 45 Minuten durchklettert, wir brauchten fünf Stunden.
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Fels». Er hatte mir die Tour als Belohnung für einen Vortrag versprochen. Zu meiner Freude war dann auch noch Sigi Brachmayer dabei. Am Abend zuvor verwöhnte uns Alberts Frau Herta mit Schwammerlgulasch, und wir spülten mit einigen Gläsern Rotwein nach. So wurde der lange Zustieg zur Wand zum schweisstreibenden Reinigungsritual. Wir waren vergnügt, ich musste nicht um mein Leben fürchten, denn mit den beiden Cracks zu klettern war zwar anstrengend, aber sicher und immer heiter. Zudem waren die Stand-
Wasserrillen vom Feinsten. Oswald und Sigi geniessen feinsten Kalk, Albert zieht die Seile ein und fotografiert.
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Andy Lapkass, der unsere verschütteten Sherpas rettete. Er war medizinische Versuchsperson bei der wichtigen höhenmedizinischen Studie «Operation Everest 2» und wurde dann Bergführer. Im Mai 2001 bestieg er mit dem Guatemalteken Jaime Vinals zum dritten Mal den Mount Everest. Vom Gipfel aus machte er damals seiner Freundin einen erfolgreichen Heiratsantrag. Er biwakierte dann mit seinem erschöpften Gast oberhalb des Second Step, rettete diesen so und erlitt schwere Erfrierungen. Seither ist er Instruktor für Ultrafitness und Teilnehmer der «Race across America».
Dann erholten wir uns im Basislager und beobachteten unsere drei Sherpas, die ein zweites Lager auf 7000 Metern aufstellen wollten. Die riesige Lawine, die sie verschüttete, konnte ich erst nach ihrem Stillstand fotografieren. Wir waren nur noch geschockt, es schien uns aus der weiten Distanz unmöglich, dass sie überlebt haben konnten. Als wir hastig gepackt hatten, um eine Suche und unwahrscheinliche Rettung zu versuchen, erfuhren wir im Walkie-Talkie, dass Andy Lapkass, ein Amerikaner, der den dreien gefolgt war, sie alle lebendig ausgegraben hatte. An diesem Abend floss sehr viel Kukri-Rum. Wir verliessen den Manaslu ziemlich fluchtartig. Das Auf und Nieder der Karriereleiter nahm ich danach wieder gelassener, und ein Jahr später folgte der Gipfelanstieg zum Chefarzt am Triemlispital. Jahre später traf ich am Eingang von Namche Bazar auf Adrian Burgess, einen besonders farbigen Typen der Himalaja-Szene. Seine Expedition hatte 1989 am Manaslu, etwas später als wir, ihr Lager an dem von Horst als zu unsicher klassierten Ort aufgeschlagen – weil es dort viel gemütlicher war und weil die lokalen Träger Tschang und Rakshi bis dorthin transportierten. Adrian erzählte mir, dass einige Tage nach unserer Abreise ein kleines Erdbeben eine gewaltige Eislawine ausgelöst habe. Der Platz unseres Basislagers sei von mehreren Metern Eis bedeckt worden. Knapp verpasster Höhentod Auch in der Höhe habe ich mich einige Male taub gestellt, wenn der klapprige Sen-
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senmann lockend rief. Das Höhenlungenödem 1972 in der Manaslu-Südwand war ein erstes Treffen. Ich konnte mich entziehen, indem ich mit Wolfgang Nairz nach unten in ein tieferes Lager flüchtete. Nach einem missglückten medizinischen Selbstversuch 1982 am Cho Oyu trieb Vanessa Träger und Freunde an, mich, den tief bewusstlos Röchelnden, in der Nacht nach unten zu tragen. Bei meinem Höhenhirnödem 1983 am Glacier Dome bezahlte ich mein Entkommen nicht nur mit vielen abgestorbenen Hirnzellen, sondern gleich auch noch mit vier Zehen. Der Blitzaufstieg am Makalu 1986 war auch keine sehr durchdachte Aktion und bescherte mir die unangenehme Erfahrung, wie es sich anfühlt, wenn man meint zu ersticken. In einer Hinsicht hatte ich allerdings zuvor doch vorausgedacht: Das mitgeführte Medikament, erstmals in dieser Situation ausprobiert, rettete mich und ermöglichte mir den Abstieg. Erkenntnis «Ich habe (noch nicht) genug» und freue mich nicht, wie der Sänger in der Bachkantate BWV 82, auf meinen Tod. Er ist mir aber vertraut geworden. Ich werde dereinst wohl kaum singen: «Willkommen will ich sagen, wenn der Tod ans Bette tritt» (BWV 27). Stattdessen werde ich, wenn der finstere Geselle – wie zum Schreiner Valentin – insistiert, mit einem gewissen Bedauern Bücher und Friends hinlegen und der Welt Ade sagen. Das hoffe ich zumindest.
Lawine am Manaslu. Gl端cklicherweise verlief unsere Aufstiegsroute rechts davon. Unsere versch端tteten und geretteten Sherpas kommen ins Vorgeschobene Basislager zur端ck, bald wird der Rakshi in Str旦men fliessen.
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Alpeneinsamkeit Exklusive Wege fast vor der Haust端r
Einige grandiose Abenteuerrouten hatte ich mit Hanspeter schon klettern dürfen, die «Grosse Mauer», die «Mayerlverschneidung», den «Mittelpfeiler» und die «Direkte Mauer» von Albert Precht. In Letzterer war ich einmal mehr an meine Grenze gekommen, Albert hatte hier erstmals eine seiner Routen mit dem siebten Grad bewertet. Immer noch fehlte aber die «Livanos», die ganz grosse klassische Linie. Der untere Teil der Route ist so brüchig, dass fast alle Aspiranten in den letzten Jahrzehnten über den unteren Teil der «Mayerlverschneidung» auf das Riesenband in der Wandmitte kletterten und dann nach links querten. Dabei hatte uns zweimal Gewitterregen zum Abseilen veranlasst, einmal waren wir schnell noch durch die «Mayerl» entkommen, bevor das Blitzen losging. Eigentlich hatte ich die «Livanos» schon unter dem für immer Unerledigten abgelegt, allein die Dächer des oberen Wandteils, zwischen denen die Route durchführt, gingen mir nicht aus dem Sinn. Ein ziemlich luftiges Purgatorium. Es war der 6. August 2009, als wir in die Wandmitte kamen. Schon war es Mittag, einige Wolken, die sich bei gutem Willen als Vorboten eines Gewitters deuten liessen,
Lebensversicherung «Stand Art» nach Eisendle. Weil jene, die diese Kunst noch praktizieren, dies auch können, hat es im letzten Jahrzehnt in den Dolomiten kaum Abstürze von Seilschaften gegeben.
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waren auch aufgezogen. Hanspeter merkte meine Ambivalenz instinktiv und kletterte ohne weitere Diskussion zum Pfeiler nach links. Rotgelber, bröckliger Kalk, einige alte Haken und die grandiosen Dächer direkt über uns, ganz tief unten das Heiligkreuzhospiz mit Touristen bei Lunch und Bier. Wir in einer anderen Welt, losgelöst, ganz allein, an drei Haken angehängt. Natürlich tanzte Hanspeter frei und elegant zwischen den Dächern durch, natürlich musste ich mich weit weniger elegant abrackern und hielt mich an zweifelhaften Felsstrukturen, abgebogenen Haken und Resten von Holzkeilen. Wieder einmal war ich am schönsten Ort und genoss des Lebens ungetrübte Freude. Nach den Überhängen seien es nur noch wenige, einfachere Seillängen bis zum Gipfel, meinte Hanspeter. Er hatte schlicht vergessen, wie kompakt die nachfolgende Wandzone ist. Ich jedenfalls werde diese 100 Meter im oberen sechsten Grad mit einem Zwischenhaken alle 20 Meter nicht mehr vergessen. Erst am Ende machte ich wieder ein Foto. Am Abend gab es ein besonders grosses Schnitzel und Rotwein vom Wirt: Die Tour werde nur noch ein- bis zweimal pro Jahr gemacht.
Schöner kann es nicht mehr werden: Ende der Schwierigkeiten in der «Livanos».
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Mont Blanc, Frêneypfeiler
Kobi Reichen, der schon einen Siebzigjährigen durch die Eiger-Nordwand führte, am Quergang in der Chandelle.
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Einmal im Jahr organisierte ich für Spitalmitarbeiter, die daran Interesse hatten, einen Wochenendausflug auf einen Viertausender. Beim ersten Mal, im Sommer 1992, stiegen wir von der Monte-Rosa-Hütte über den Grenzgletscher auf die 4554 Meter hohe Signalkuppe. Dort warteten meine Forscherkollegen in der Hütte der Königin Margherita auf Opfer der akuten Bergkrankheit. Die daraus resultierenden Experimente und Therapiebemühungen hatte ich den Mitarbeitern ersparen wollen und ihnen ein Medikament zur Vorbeugung empfohlen. Der Weg über den zerklüfteten Gletscher beinhaltete 1600 Höhenmeter Aufstieg und einen Schnellkurs zum Erlernen der basalen Eistechnik. Die Teilnehmer wurden von Bergführern betreut, manche brauchten bis zum erlösenden Gipfel mehr als acht Stunden. Wir übernachteten dann dort oben; ernsthaft krank wurde niemand. Am nächsten Tag stiegen wir zurück ins Tal. Manche der Sonnengebräunten bewegten sich am Montag etwas verkrampft durch das Spital, die Unternehmung hatte für künftige Touren auch selektionierenden Charakter. Mein Ruf als etwas wilder Chefarzt war gefestigt. Im August 1999 bestiegen wir bei einem derartigen Ausflug den Castor bei Zermatt. Es war vergnüglicher, selbst auferlegter Teil meiner Tätigkeit im Sinne von Teambildung und Personalförderung. Die Essenz des Alpinismus war das Gletscherwandern in einer grossen Gruppe für mich jedoch nicht. Als wir uns in Zermatt trennten, fragte ich Kobi Reichen, einen unserer Bergführer, ob er Mit-
te der Woche Zeit habe, ich könne mir noch zwei Tage freinehmen. Kobi, mit dem ich schon Touren wie Walkerpfeiler oder EigerNordwand an einem freien Tag gemacht hatte, war verfügbar, und so trafen wir uns am Mittwochvormittag in Chamonix. Wir wollten zum Frêneypfeiler, dem zentralen Südpfeiler des Mont Blanc. Er gilt als der schwierigste der grossen, klassischen Anstiege auf den Monarchen. Die eigentliche Kletterei an diesem Pfeiler beginnt dort, wo die meisten Touren in den Alpen enden, nämlich auf 4000 Meter über Meer. Die Schlüsselstelle, eine 90 Meter hohe, senkrechte bis überhängende Granitkerze – Chandelle genannt –, beginnt auf 4500 Metern. Walter Bonatti ging den Pfeiler zusammen mit seinem Freund Andrea Oggioni bereits in den Fünfzigerjahren erstmals an und gelangte fast bis zur Chandelle. Am 7. Juli 1961 startete er mit Oggioni und dem Gast Roberto Gallieni einen zweiten Versuch. Dabei traf er zu seiner Überraschung auf der Turiner Hütte Pierre Mazeaud, Robert Guillaume, Antoine Vieille und Pierre Kohlmann – die Crème der französischen BergsteigerElite jener Zeit hatte das gleiche Ziel. Die Konkurrenten taten sich zusammen, querten in der Nacht den Brenvagletscher und den Col de Peuterey und kletterten am 8. Juli bis auf zwei Fünftel der Pfeilerhöhe. Am nächsten Tag erreichten sie gegen Mittag die Basis der Chandelle. Nur noch 90, allerdings schwierigste und unbekannte Felsmeter trennten die Gruppe vom Ausstieg, der in das leichtere Gelände der Gipfelregion führte.
Der Frêneypfeiler, fotografiert vom Meister Robert Bösch. Die Route beginnt bei 4000 Meter Meereshöhe und führt über den prominenten Pfeiler etwas links der Bildmitte. Oben angelangt, steigt man über Grat und Flanke nach rechts hinauf zum Mont Blanc de Courmayeur.
Die Geruchsemissionen aus den Rissen nehmen zu, das Hochgefühl ebenso.
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nicht aufgepasst, und 50 Meter schräg links unten hat sich alles verhängt. Gägi schimpft nicht einmal, er steigt an diesen Seilen auf und ab, als ob er nie etwas anderes gemacht hätte. Er fährt in die Luft hinaus, löst die verklemmten Seilschlingen und kommt wieder zu mir wie auf einer senkrechten Treppe. Die elegante Selbstverständlichkeit des Profis. Derweil macht Steck die Wand mehrmals: Sobald er einen Standplatz erreicht hat, zieht er über eine Umlenkrolle mit seinem ganzen Gewicht den ersten Haulbag nach oben, Gägi, wenn er gerade nicht anderweitig beschäftigt ist, den zweiten. Am Schluss sind die Bags eine Seillänge höher und die beiden wieder unten. Der nächste Aufstieg folgt. «Climbing and flying El Cap», kommentiert Ueli. Er ist ein wirbelnder Kobold, irrlichternd saust er die Wand auf und ab. Nur manchmal klagt er über seine rechte Handwurzel. Vor 14 Tagen ist er bei einem Erstbegehungsversuch in der Eiger-Nordwand gestürzt, im Spital wurde ihm versichert, es sei alles in Ordnung. Erst nach unserer Kalifornienreise zeigt ein erneutes Röntgenbild die Fraktur eines Handwurzelknochens. Die 22. Seillänge, das Great Roof, ist wahrlich grandios. Auf einer vollständig glatten Granitplatte klebt ein überhängender Wulst und bildet einen Riss, der in eleganter Linie waagrecht wird und das Dach bildet. Zwischen Platte und Wulst versteckt sich ein dünner Riss, in dem Haken, Klemmkeile und Micro Friends versenkt werden. Technische Kletterei – erst die zierliche Lynn Hill konnte
diese Stelle frei klettern, die Finger der männlichen Cracks, die vor ihr diese Stelle versuchten, waren zu dick. Der Standplatz am Ende des Dachs ist spektakulär ausgesetzt, hier bricht die Wand nun völlig frei bis zum Boden ab. Darüber folgt die Pancake Flake und wenig später unser nächstes Nachtquartier, Camp 5. Wir hängen auf verschiedenen Höhen und richten uns gemütlich ein. Biwakromantik kommt erst nach der ersten Bierdose auf, es ist ein Veteranenbiwak. Die überbeanspruchten Gelenke, gebrochenen Knochen, gezerrten Sehnen, schmerzenden Rücken und malträtierten Schleimbeutel verlangen nach Voltaren. Vor 20 bis 30 Jahren war das noch anders. Dritter Tag: Die Verschneidungen und Risse enden irgendwo in Wülsten und im Himmel. Diese Wülste, wissen wir, führen direkt auf das Gipfelplateau. Der Abgrund ist noch selbstverständlicher geworden, hat nichts Bedrohliches. Eine Linie, die bald unter einem Überhang verschwindet, sich weiter nach unten fortsetzt und dann im Sockel ausläuft. Ein gigantischer Bogen für YosemiteRiesen. 800 Meter über dem Boden ist der Raum für das Bewusstsein erweitert. Mit Ueli habe ich eineinhalb Stunden am Platz von Camp 6 zu warten. Hier hat die Moral mancher Kletterer offensichtlich nachgelassen; die Geruchsemissionen der Risse zeigen, dass nicht mehr alle Urinflaschen voll bis zum Gipfel transportiert wurden. Dafür freuen uns riesige Spinnennetze, die, fliegenden Festungen gleich, im freundlichen Wind
The Great Roof. Röbi wird jetzt den rechten Riss zum Dachgrund klettern und dann an kleinen Friends und Keilen nach rechts zum Standplatz queren. Gägi hat wieder einmal ein verhängtes Seil befreit und folgt zügig nach.
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Am Ende der Reise auf dem Gipfelplateau haben wir sogar noch Bier.
an uns vorbeifliegen, stundenlang immer neue Spinnfäden in immer neuen Formationen. Sie wurden irgendwo im Tal abgerissen und schwärmen nun durch das Yosemite Valley, Spinnennetze wie Blütenteppiche über dem Abgrund. Hardings 28 Bohrhaken sind durch neue, blinkende Bolts ersetzt. Röbi ist mit ihrer Hilfe schon zum Gipfelplateau geklettert. Vor mir liegen noch 50 überhängende Meter, die ich weit draussen in der Luft am Seil aufsteigen werde. Bewegt von den Dimensionen und der Schönheit, habe ich Mühe, mich loszureissen, die makellose Linie hat mich zum
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fasziniert Staunenden gemacht. Der Abgrund ist unendliche Leichtigkeit, poliert, wenn ich jetzt fiele, würde ich frei bis zum Talboden fliegen. Ich muss den Abgrund verlassen, zögernd hänge ich meine Jümars ein und pendle hinaus in den Raum. Hier hat also Harding gebohrt, 14 Stunden lang durch die Kälte der Novembernacht. Für mich ist es ein anderes Tempo. Auch wenn ich langsam höhersteige, bin ich in einer Viertelstunde ganz oben. So staune ich, während ich steige, und während ich staune, stirbt der Traum.
Die letzte von 32 Seill채ngen, Harding bohrte daf체r eine ganze Novembernacht.
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Seven Summits Jahrzehnte der Eitelkeiten
Mount Vinson (4892 m), 3. Dezember 1986 Reinhold Messner auf seinem «siebten Gipfel». Er ist nach Pat Morrow der zweite Bergsteiger, der diese Serie komplettierte.
Der höchste Punkt der Antarktis war für mich geheimnisvoll und faszinierend, seit ich von seiner Existenz und ersten Besteigung 1966 durch eine von der amerikanischen Navy unterstützte Expedition gelesen hatte. Der Zugang zu den Bergen im Eis schien verschlossen, sosehr wir uns auch darum bemühten. Nach der Vollendung der Achttausenderserie erhielt Reinhold vom italienischen Fernsehen die nötige finanzielle Ausstattung für eine Reise in die Antarktis. Von Punta Arenas, der Stadt an der Südspitze Chiles mit den weltweit meisten Bordellen pro Einwohner, flog uns Giles
1992 stieg ich mit Markus Itten, Diego Wellig und Peter Weber noch einmal auf einen der schönsten Orte der Welt.
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Kershaw, der beste Pilot der Antarktis, in einer winzigen Maschine zu den Ellsworth Mountains. Klirrende Kälte und eine unwirkliche Mondlandschaft empfingen uns. Ähnlich wie ganz weit oben am Everest befanden wir uns in einer anderen Welt. Den Gipfel erreichten wir 26 Stunden nach der Landung. Die Eindrücke waren reduziert auf Licht, Schnee, schroffe Gipfel und die Sonne in einem manchmal fast schwarzen Himmel. Fünf Jahre später stieg ich noch einmal da hinauf, wo ich die schönste, eindrücklichste Landschaft der Welt erlebte.
Vom höchsten Punkt der Antarktis locken ungezählte jungfräuliche Gipfel. Wolfi Thomaseth, unser Kameramann vom Dezember 1986, machte für eine gute Einstellung viele Wege mehrfach. Hinten rechts über dem Nebelmeer der Mount Tyree und der Mount Shinn.
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